Kognitive Störungen und Verkehrssicherheit - Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen - OPUS

 
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Kognitive Störungen
                                                                        und Verkehrssicherheit

                         Heft M 303
                         Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen

                                                                                           Berichte der
                                                                       Bundesanstalt für Straßenwesen
                                                                               Mensch und Sicherheit   Heft M 303
ISSN 0943-9315
ISBN 978-3-95606-544-6
Kognitive Störungen
 und Verkehrssicherheit

                                           von

                                 Fabian Surges

                 Bundesanstalt für Straßenwesen

                    Berichte der
Bundesanstalt für Straßenwesen
        Mensch und Sicherheit    Heft M 303
Die Bundesanstalt für Straßenwesen
veröffentlicht ihre Arbeits- und Forschungs-
ergebnisse in der Schriftenreihe Berichte der
Bundesanstalt für Straßenwesen. Die Reihe
besteht aus folgenden Unterreihen:
A - Allgemeines
B - Brücken- und Ingenieurbau
F - Fahrzeugtechnik
M - Mensch und Sicherheit
S - Straßenbau
V - Verkehrstechnik
Es wird darauf hingewiesen, dass die unter
dem Namen der Verfasser veröffentlichten
Berichte nicht in jedem Fall die Ansicht des
Herausgebers wiedergeben.
Nachdruck und photomechanische Wieder-
gabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmi-
gung der Bundesanstalt für Straßenwesen,
Stabsstelle Presse und Kommunikation.
Die Hefte der Schriftenreihe Berichte der
Bundesanstalt für Straßenwesen können
direkt bei der Carl Ed. Schünemann KG,
Zweite Schlachtpforte 7, D-28195 Bremen,
Telefon: (04 21) 3 69 03 - 53, bezogen werden.
Über die Forschungsergebnisse und ihre
Veröffentlichungen wird in der Regel in Kurzform im
Informationsdienst Forschung kompakt berichtet.
Dieser Dienst wird kostenlos angeboten;
Interessenten wenden sich bitte an die
Bundesanstalt für Straßenwesen,
Stabsstelle Presse und Kommunikation.
Die Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt)
stehen zum Teil als kostenfreier Download im elektronischen
BASt-Archiv ELBA zur Verfügung.
https://bast.opus.hbz-nrw.de

Impressum

Bericht zum Forschungsprojekt 4317019
Kognitive Störungen und Verkehrssicherheit
Referat
Grundlagen des Verkehrs- und Mobilitätsverhaltens
Herausgeber
Bundesanstalt für Straßenwesen
Brüderstraße 53, D-51427 Bergisch Gladbach
Telefon: (0 22 04) 43 - 0
Redaktion
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Druck und Verlag
Fachverlag NW in der
Carl Ed. Schünemann KG
Zweite Schlachtpforte 7, D-28195 Bremen
Telefon: (04 21) 3 69 03 - 53
Telefax: (04 21) 3 69 03 - 48
www.schuenemann-verlag.de
ISSN 0943-9315
ISBN 978-3-95606-544-6
Bergisch Gladbach, November 2020
3

Kurzfassung – Abstract

Kognitive Störungen und Verkehrssicherheit              kehrssicherheitsarbeit dar. Die Relevanz von
                                                        Schlaganfällen für die Verkehrssicherheitsarbeit ist
Infolge bestimmter Erkrankungen kann es zu moto-        anhand der zur Verfügung stehenden Daten am
rischen, sensorischen und/oder kognitiven Leis-         ehesten als moderat, die der leichten kognitiven
tungsbeeinträchtigungen kommen, die sich negativ        Störung (LKS) am ehesten als gering zu bezeich-
auf das Führen eines Fahrzeuges auswirken kön-          nen. Diese Aussagen beziehen sich dabei auf ein
nen. Trotz intensiver Forschungsbemühungen sind         aus den berücksichtigten Forschungsarbeiten ab-
aktuell die komplexen Zusammenhänge zwischen            geleitetes theoretisches Risiko auf Gruppenebene.
kognitiven Leistungsbeeinträchtigungen und der          Dieses eignet sich ausdrücklich nicht, um fahreig-
Fahrkompetenz noch nicht vollumfänglich verstan-        nungsbezogene Rückschlüsse zu ziehen. Ableitun-
den.                                                    gen auf das individuelle Risiko eines erkrankten
Primäres Ziel dieses Berichtes war es, anhand der       Fahrers sind unzulässig.
Darstellung und Analyse aktueller und zentraler         Anhand der berücksichtigten Veröffentlichungen
wissenschaftlicher Erkenntnisse zu einem besse-         konnten zudem Zusammenhänge zwischen kogniti-
ren Verständnis krankheitsbedingter Beeinträchti-       ven Leistungen und der Fahrkompetenz beschrie-
gungen der Fahrkompetenz beizutragen.                   ben werden. Dabei scheint neben den Aufmerk-
Dazu wurde zunächst der Einfluss von sechs neu-         samkeits- und visuell-räumlichen Leistungen insbe-
rologischen und neurodegenerativen Erkrankungen         sondere exekutiven Leistungen eine besondere
auf das Fahrverhalten der Betroffenen beschrieben       Relevanz bei der Bewältigung der Fahraufgabe zu-
und analysiert. Die Auswahl der Erkrankungen er-        zukommen. Es ergeben sich Hinweise, dass die
folgte dabei aufgrund ihrer vergleichsweise hohen       Durchführung individueller Trainings zur Steigerung
Prävalenzen und den typischerweise bei ihnen auf-       der kognitiven Leistungsfähigkeit, praktische Fahr-
tretenden neurologischen und neuropsychologi-           trainings sowie zielgruppenspezifische Maßnah-
schen Symptomen, welche für die Beantwortung            men zu einer nachhaltigen Verbesserung der Ver-
zentraler Fragestellungen dieses Berichtes von be-      kehrssicherheit beitragen können. Insgesamt gilt
sonderer Bedeutung sind. Aus der Kombination            es, Betroffene, Behandelnde und Akteure der Ver-
ausgewählter verkehrssicherheitskritischer Para-        kehrssicherheit verstärkt für das Thema krankheits-
meter wurde die Relevanz der einzelnen Erkran-          bedingt beeinträchtigte Fahrkompetenz zu sensibili-
kungen für die Verkehrssicherheitsarbeit abgeleitet.    sieren.
Diese Erkenntnisse liefern wichtige Hinweise dar-       Im Hinblick auf zukünftige Aktivitäten wird aufgrund
auf, welche Erkrankungen zukünftig, beispielsweise      der Limitation aktueller wissenschaftlicher Veröf-
im Rahmen von Informations- und Aufklärungsmaß-         fentlichungen empfohlen, einen theoretisch und/
nahmen oder Forschungsprojekten, verstärkt ad-          oder empirisch fundierten methodischen Leitfa-
ressiert werden sollten. Um ein möglichst vollständi-   den zur Erstellung von Fahrkompetenzstudien zu
ges Bild des aktuellen Forschungsstandes wieder-        entwickeln und zu veröffentlichen. Zukünftige For-
zugeben, wurden auch Studien, die aufgrund von          schungsschwerpunkte könnten kognitive Anfor-
methodischen Schwächen (z. B. kleine Stichprobe)        derungen spezifischer Fahraufgaben, vertiefende
nur eine begrenzte Aussagekraft haben, bei der Be-      Analysen von Erkrankungen und ihrem Zusammen-
wertung der einzelnen Störungen berücksichtigt.         hang mit der Fahrkompetenz sowie die Entwicklung
Durch dieses Vorgehen sollten zudem mögliche            valider Mess- und Testverfahren sein.
(systematische) Schwächen in dem Forschungsge-
biet identifiziert und analysiert werden können.        Mittel- bis langfristig sollen sich anhand der darge-
                                                        stellten Maßnahmen krankheitsbedingte Risiken im
Anhand der zur Verfügung stehenden Daten ergibt         Straßenverkehr reduzieren lassen und neue Wege
sich für die Demenzen, Schädel-Hirn-Traumata und        zum Erhalt der Mobilität erkrankter Fahrer identifi-
die hepatische Enzephalopathie eine hohe Rele-          ziert werden können.
vanz für die Verkehrssicherheitsarbeit. Etwas gerin-
ger, aber weiterhin als hoch zu bewerten, stellt sich
die Relevanz von Morbus Parkinson für die Ver-
4

Cognitive disorders and traffic safety                      coping with the driving task. There are indications
                                                            that individual training to improve cognitive
As a result of certain diseases, motor, sensory and/        performance and practical driving training can
or cognitive impairment can occur, which can have           contribute to a sustainable improvement in road
a negative effect on driving a vehicle. Despite             safety. Overall, it is important to sensitize people
intensive research efforts, the complex relationships       which suffer from one of the diseases, those who
between cognitive impairments and driving skills            are treating them and those who are involved in
are not yet fully understood.                               road safety activities to the relevance of certain
The primary objective of this report was to contribute      diseases in this context.
to a better understanding of disease-related                With regard to future activities and due to the
impairments of driving skills through the presentation      limitations of the current research, it is recommended
and analysis of current and central scientific              to develop a theoretically and/or empirically
findings.                                                   guideline for the implementation of driving com-
Therefore, the influence of six neurological and            petence studies with patients. Future research
neurodegenerative diseases on driving behaviour             priorities could be cognitive requirements of specific
was described and analyzed. The diseases were               driving tasks, in-depth analyses of the correlations
selected on the basis of their comparatively high           between diseases and driving skills as well as the
prevalence and the neurological and neuro-                  development of valid measurement and test
psychological symptoms that typically occur among           procedures.
them, which are of particular significance for              In the medium to long term, the presented measures
answering the central questions of this report. The         should make it possible to reduce disease-related
relevance of the diseases regarding activities to           risks in road traffic and to identify new ways of
improve road safety was derived from the                    maintaining the mobility of sick drivers.
combination of selected parameters. These findings
provide important indications which diseases should
be addressed more intensively in the future, for
example within the framework of communicative
measures or in research. In order to present a
complete picture of the current state of research,
studies with methodological limitations (e.g. small
sample) were also taken into account in the
evaluation of the diseases. This procedure should
also make it possible to identify and analyze
(systematic) weaknesses in this field of research.

Based on the available data, dementia, traumatic
brain injuries (TBI) and hepatic encephalopathy are
highly relevant for road safety. The relevance of
Parkinson‘s disease for road safety is somewhat
lower, but still high. Based on the available data, the
relevance of strokes for road safety is most likely to
be moderate, while that of mild cognitive impairment
(MCI) is most likely to be low. These conclusions
refer to a theoretical risk at a group level derived
from literature. This risk is not suitable for drawing
conclusions related to fitness to drive. Derivations
on the individual risk of an ill driver are inadmissible.

The reviewed literature gave insights into
correlations between cognitive performance and
driving competence. Besides several forms of
attention and visual spatial performance, executive
functions seem to be of particular relevance for
5

Inhalt

1      Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      7   5.2      Zusammenhang zwischen kogni-
                                                                                  tiven Leistungen und spezifischen
2      Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . .                   7            Fahraufgaben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .          57

2.1    Kognitive Leistungen . . . . . . . . . . . . . . .           10   5.3      Maßnahmenempfehlungen zur
                                                                                  Verbesserung der Verkehrssicher-
2.1.1 Aufmerksamkeitsleistungen  . . . . . . . . .                  11            heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   60
2.1.2 Sensorische Leistungen  . . . . . . . . . . . .               12   5.3.1 Training zur Verbesserung der
2.1.3 Visuell-räumliche Leistungen  . . . . . . . .                 12         individuellen Fahrkompetenz . . . . . . . .                       60

2.1.4 Exekutive Leistungen  . . . . . . . . . . . . . .             12   5.3.2 Zielgruppenspezifische Maßnahmen-
                                                                               empfehlungen zu Verbesserung der
2.1.5 Gedächtnisleistung . . . . . . . . . . . . . . . .            13         Verkehrssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . .              62
2.1.6 Störungsbewusstsein  . . . . . . . . . . . . . .              13   5.4      Limitationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       65
2.2    Die Fahraufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . .          13   5.4.1 Limitationen der aktuellen
                                                                               Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .           65
3      Ausgewählte neurologische und
                                                                         5.4.2 Limitationen des vorliegenden
       neurodegenerative Erkrankungen
                                                                               Berichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         66
       und ihr Einfluss auf die Fahrkom-
       petenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   16
                                                                         6        Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . .             67
3.1    Leichte kognitive Störung  . . . . . . . . . . .             16
3.2    Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     20   Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    69
3.3    Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . .           25
                                                                         Bilder  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   82
3.4    Kreislaufabhängige Störungen der
       Hirntätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    30   Tabellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     82
3.5    Schädel-Hirn-Traumata . . . . . . . . . . . . .              36
3.6    Hepatische Enzephalopathie . . . . . . . .                   40

4      Zusammenhänge zwischen kog-
       nitiven Leistungen und der Fahr-
       kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        43
4.1    Exekutive Funktionen  . . . . . . . . . . . . . .            44
4.2    Aufmerksamkeitsleistungen  . . . . . . . . .                 44
4.3    Visuell-räumliche Leistungen  . . . . . . . .                45
4.4    Sonstige Leistungen . . . . . . . . . . . . . . .            46
4.5    Beobachtbare Zusammenhänge
       bei gesunden Fahrern . . . . . . . . . . . . . .             46
4.6    Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .              47

5      Zusammenfassung und
       Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       50
5.1    Relevanz ausgewählter Erkrankungen
       für die Verkehrssicherheitsarbeit . . . . . .                50
7

1    Einleitung                                         Hinblick auf das fahrkompetenzeinschränkende Po-
                                                        tenzial ausgewählter Erkrankungen. Aufgrund der
Automobilität erleichtert die Teilhabe am gesell-       Berücksichtigung auch methodisch schwächerer
schaftlichen Leben und ist für die meisten Men-         Studien können aber auch die Defizite der bisheri-
schen fester Bestandteil ihrer alltäglichen Routine.    gen Forschung dezidiert beschrieben und bewertet
Ob auf dem Weg zur Arbeit, beim wöchentlichen           werden. Daraus lassen sich konkrete Handlungs-
Einkauf oder beim Besuch von Bekannten und Ver-         empfehlungen und zukünftige Forschungsschwer-
wandten in umliegenden Städten: die Fortbewe-           punkte ableiten. Entsprechend ausführlich sollen die
gung mit einem Kraftfahrzeug hat in den vergange-       Limitationen der berücksichtigten Studien im letzten
nen Jahrzehnten zunehmend an Relevanz gewon-            Drittel des Berichtes diskutiert werden.
nen. Auch wenn sich in den letzten Jahren durch
neue Mobilitätskonzepte die Nutzung des Autos zu        Um der Komplexität der Thematik gerecht zu wer-
verändern scheint, ist es nach wie vor das am meis-     den, soll nach einer kurzen thematischen Einfüh-
ten genutzte Verkehrsmittel in Deutschland (Statis-     rung einleitend eine Beschreibung der im Kontext
tisches Bundesamt, 2018a), unter anderem wohl           der Fahraufgabe als relevant erachteten kognitiven
auch, da öffentliche Verkehrsmittel in ländlicheren     Funktionen erfolgen. Anschließend werden theoreti-
Regionen häufig schwer zugänglich und gerade für        sche Modelle zur Beschreibung der Fahraufgabe
Ältere unattraktiv sind (SCHEINER, 2006; WILL-          und verschiedene Kompensationsstrategien darge-
STRAND, HENRIKSSON, SVENSSON & LEVIN,                   stellt. Nach der Analyse relevanter Erkrankungen
2018). Bei vielen Menschen ist der Erhalt ihrer bis-    und kognitiver Leistungen sollen Maßnahmen zur
herigen Lebensqualität unabdingbar an den Erhalt        Verbesserung der individuellen Fahrkompetenz er-
ihrer Automobilität geknüpft.                           krankter Fahrer sowie zur Optimierung des bisheri-
                                                        gen klinischen und wissenschaftlichen Vorgehens
Verschiedene Erkrankungen und Störungen kön-            beschrieben und diskutiert werden. Es folgt ein Fazit
nen die Fahrkompetenz der Betroffenen nachhaltig        sowie eine Empfehlung für zukünftige Aktivitäten.
beeinträchtigen. Daraus können sich Risiken für die
Betroffenen selbst, aber auch für andere Verkehrs­
teilnehmer ergeben. Aufgrund der hohen Relevanz
für die Verkehrssicherheit kommt der Thematik           2      Theoretischer Hintergrund
Krankheit und Fahrkompetenz sowohl aus verkehrs­
psychologischer, als auch aus klinischer und gesell-    Aufgrund intensiver Bemühungen von Politik, Wis-
schaftlicher Sicht, eine besondere Bedeutung zu.        senschaft, Verbänden und Automobilindustrie konn-
                                                        te die Verkehrssicherheit in den letzten Jahrzehnten
Ziel dieses Berichtes ist es, anhand der Darstellung    stetig verbessert werden. Dennoch ist die Teilnah-
und Analyse aktueller und zentraler wissenschaftli-     me am Straßenverkehr weiterhin mit Risiken ver-
cher Erkenntnisse zu einem besseren Verständnis         bunden. So wurden im Jahr 2017 insgesamt 3.180
krankheitsbedingter Beeinträchtigungen der Fahr-        Menschen bei Verkehrsunfällen in Deutschland ge-
kompetenz beizutragen. Von besonderem Interesse         tötet, insgesamt 390.312 Menschen wurden ver­       -
ist dabei der Einfluss krankheitsbedingter kognitiver   letzt (Statistisches Bundesamt, 2018b). Schätzun-
Störungen auf die Fahrkompetenz. Hierfür ist eine       gen gehen davon aus, dass sich rund 70 – 90 %
Betrachtung der Zusammenhänge über mehrere re-          der Straßenverkehrsunfälle auf menschliches Ver-
levante Störungen hinweg erforderlich. Im Rahmen        sagen zurückführen lassen (SALMON, YOUNG,
des Berichtes soll ein möglichst umfassender Über-      LENNÉ, WILLIAMSON & TOMASEVIC, 2011;
blick über die Thematik und den aktuellen For-          TREAT, 1980). Um den Unfallfaktor Mensch mög-
schungsstand gegeben werden. Vor dieser Zielset-        lichst klein zu halten, wird für die Teilnahme am mo-
zung wurden auch Studien, die aufgrund von metho-       torisierten Straßenverkehr unter anderem die kör-
dischen Schwächen (z. B. eine geringe Stichpro-         perliche und kognitive Belastbarkeit des Fahrers1
bengröße) nur über eine begrenzte Aussagekraft
verfügen, in den Bericht mit aufgenommen. Mögli-
che Limitationen einzelner Studien werden ausführ-
                                                        1
lich beschrieben und im Rahmen der Diskussion kri-          Der besseren Lesbarkeit halber werden Personenbezeich-
                                                            nungen in diesem Bericht ausschließlich in der grammatika-
tisch analysiert (vgl. Kapitel 5.4). Diese umfassende
                                                            lisch maskulinen Form verwendet. Sofern nicht anders
Zusammenstellung und Bewertung empirischer                  gekennzeichnet, bezeichnen sie Personen beiderlei Ge-
Arbeiten ermöglicht zunächst neue Erkenntnisse im           schlechts.
8

vorausgesetzt. So heißt es in § 2 Absatz 4 des Stra-            wieder in ausreichender Form nachgewiesen wer-
ßenverkehrsgesetztes (StVG), dass derjenige ge-                 den kann.
eignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, „der die
                                                                Eine Kompetenz beruht auf Wissen und Fähigkei-
notwendigen körperlichen und geistigen Anforde-
                                                                ten eines Individuums (HARTIG & KLIEME, 2007).
rungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wieder-
                                                                Die Verwendung des Begriffs Fahrkompetenz be-
holt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder ge-
                                                                tont entsprechend die Möglichkeit, durch Training
gen Strafgesetzte verstoßen hat“.
                                                                und Kompensation beobachtbares Fahrverhalten
Kommt es im Krankheitsfall oder mit steigendem Al-              verbessern zu können (JACOBS, 2016). Gleichzei-
ter zu Leistungseinbußen in den genannten Berei-                tig wird deutlich, dass es sich beim Führen eines
chen, so droht die Beeinträchtigung der Fahrkom-                Fahrzeuges – im Sinne einer Kompetenz – um ein
petenz. Der Begriff der Fahrkompetenz umfasst da-               Zusammenspiel mehrerer Teilleistungen handelt.
bei alle Fertigkeiten oder „Skills“ die erforderlich            Da der vorliegende Bericht eben diese Teilleistun-
sind, um ein Fahrzeug sicher führen zu können. Ne-              gen im Detail untersuchen will, gleichzeitig aber kei-
ben dem Begriff Fahrkompetenz werden in der Lite-               ne Aussage über rechtlich relevante Aspekte im
ratur weitere Begriffe verwendet, um die Fähigkeit              Sinne der Fahreignung macht, beziehen sich die
einer Person, ein Fahrzeug sicher im Straßenver-                folgenden Aussagen, sofern nicht anders gekenn-
                                                                zeichnet, ausschließlich auf die Fahrkompetenz.
kehr steuern zu können, zu beschreiben (JACOBS,
2016; vgl. Bild 1). Der Begriff Fahrtüchtigkeit hat ei-         Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft
nen stark situativen Fokus und betont, dass die Fä-             und der daraus resultierenden Zunahme altersas-
higkeit ein Fahrzeug sicher zu führen zeitweise,                soziierter Erkrankungen ist der Einfluss krankheits-
z. B. nach dem Konsum von Alkohol oder bei Über-                bedingter Leistungsbeeinträchtigungen auf die Ver-
müdung, eingeschränkt sein kann (z. B. MADEA,                   kehrssicherheit zunehmend in den Fokus von Öf-
MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012). Nach Beendi-                         fentlichkeit und Forschung geraten (HOLTE & AL­
gung des beeinträchtigenden Zustands ist die Fahr-              BRECHT, 2004). Es besteht eine große Anzahl von
tüchtigkeit in aller Regel wieder gegeben. Eine aus-            Erkrankungen und Störungen mit Einfluss auf die
reichende Fahrkompetenz und Fahrtüchtigkeit wie-                Fahrkompetenz. Führt eine Einschränkung der
derum bilden die Grundlage für die Fahreignung                  Fahrkompetenz zum Verlust der Fahreignung, be-
(vgl. Bild 1). Fahreignung ist ein im rechtlichen Kon-          steht für den Betroffenen zunächst die Notwendig-
text häufig verwendeter Begriff, der die fahrerische            keit, neue Möglichkeiten zum Erhalt seiner Mobili-
Leistung als über die Zeit stabile Disposition be-              tät zu erschließen (LOGAN, DYAS & GLADMAN,
schreibt. Bei fehlender Fahreignung darf ein Fahr-              2004). Der Verlust der Automobilität kann weiterhin
zeug so lange nicht mehr geführt werden, bis diese              zu einen sinkenden Selbstwert oder der Entstehung

Bild 1: Teilaspekte der sicheren Fahrzeugführung nach JACOBS (2016)
9

depressiver Symptome führen (JOHNSON, FRANK,            nen, weshalb die Begriffe psychische Leistungsfä-
POND & STOCKS, 2013; SIREN et al., 2010;                higkeit und kognitive Leistungsfähigkeit hier syno-
VAUGHAN et al., 2015).                                  nym verwendet werden sollen.

Eine Zusammenstellung eignungsausschließender           Kognitive Defizite sind je nach Ausprägung erst im
und eignungseinschränkender körperlicher und            näheren Kontakt oder durch den Einsatz diagnosti-
oder geistiger Mängel findet sich in den durch die      scher Instrumente ersichtlich. Auch die Betroffenen
Bundesanstalt für Straßenwesen herausgegebe-            selber haben zum Teil nur eine unzureichende Ein-
nen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung        sicht in die bestehenden kognitiven Defizite (MARX,
(GRÄCMANN & ALBRECHT, 2018). Darin enthal-              2014; ORFEI et al., 2007; SHERER et al., 2003),
ten sind Hinweise zur Begutachtung der Fahreig-         und viele der kognitiven Störungen sind für eine
nung von Patienten mit Krankheiten unterschiedli-       medikamentöse Therapie kaum zugänglich (MA-
cher Ätiologie.                                         DEA, MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012).

Seit vielen Jahren versuchen unterschiedliche For-      In Deutschland sind in den Begutachtungsleitlinien
schergruppen die für die Fahrkompetenz relevan-         für Kraftfahreignung die kognitiven Vorrausetzun-
te Einflussfaktoren zu identifizieren. Laut MARX        gen zum Führen eines Fahrzeuges festgelegt
(2018) ist der Einfluss einer Erkrankung auf die Ver-   (GRÄCMANN & ALBRECHT, 2018). LUNDQVIST,
kehrssicherheit im wesentlichen durch drei Fakto-       ALINDER, MODIG-ARDING und SAMUELSSON
ren bedingt:                                            (2011) erachten darüber hinaus kognitive Flexibili-
                                                        tät, eine schnelle Informationsverarbeitung sowie
•   Bestehen dauerhafte körperliche oder geistige       Einsicht in gegebenenfalls vorhandende Defizite als
    Funktionseinschränkungen als Folge der Er-          zwingend erforderlich, um ein Fahrzeug sicher im
    krankung, beeinflussen diese die Fahrkompe-         Verkehr steuern zu können. Weiterhin als relevant
    tenz und können sie gegebenenfalls kompen-          angesehen werden visuell-räumliche Leistungen
    siert werden?                                       und die selektive Aufmerksamkeit (SUN, XIA,
                                                        FOSTER, FALKMER & LEE, 2018) oder Vigilanz
•   Besteht das Risiko eines plötzlichen Kontrollver-
                                                        und Gefahrenantizipation (MADEA, MUẞHOFF &
    lustes, zum Beispiel im Falle eines erneuten
                                                        BERG­HAUS, 2012). Beobachtbare Auffälligkeiten,
    Krankheitsereignisses?
                                                        selbst in mehreren der als relevant erachteten Be-
•   Besteht auf Seiten des Betroffenen Einsicht in      reichen, führen jedoch nicht zwingend zu einer sig-
    bestehende Defizite?                                nifikanten Beeinträchtigung der Fahrkompetenz
                                                        (MADEA, MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012). Die
Mehrere Studien konnten zeigen, dass isoliert auf-      aktuell bestehenden Konzepte zur Beschreibung
tretende motorische und sensorische Defizite bis zu     fahrrelevanter kognitiver Leistungen werden ent-
einem gewissen Grad durch medizinische Hilfsmit-        sprechend kritisch diskutiert (FASTENMEIER,
tel (Sehhilfe, Hörgeräte, Prothesen), Pharmakothe-      GSTALTER, ROMPE & RISSER, 2015; MÜLLER,
rapie (MADEA, MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012)                 REIMANN & WAGNER, 2018; POSCHADEL, FAL-
oder technische Änderungen am Fahrzeug (z. B.           KENSTEIN, PAPPACHAN, POLL & WILLMES VON
Umlenkung des Gaspedals, Lenkknauf; DEVOS et            HINCKELDEY, 2009).
al., 2011; JACOBS, 2016; KÜST, 2011; MADEA,
MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012; MARX, 2018) an-               Eine Möglichkeit, ein besseres Verständnis für die
gemessen kompensiert werden können.                     bestehenden Zusammenhänge zwischen kogniti-
                                                        ven Leistungen und der Bewältigung der Fahrauf-
Noch nicht eindeutig geklärt ist, welchen Einfluss      gabe entwickeln zu können, ist die systematische
psychische Leistungsdefizite auf die Fahrkompe-         und möglichst umfassende Untersuchung von kog-
tenz haben können. Die psychische Leistungsfähig-       nitiv beeinträchtigten Fahrern. Kognitive Defizite
keit basiert laut der Begutachtungsleitlinien für       treten besonders häufig als Folge von akuten Hirn-
Kraftfahreignung auf der optischen Orientierungs-       schädigungen oder bei Krankheiten, die das zentra-
leistung, der Konzentrationsfähigkeit, der Auf-         le Nervensystem betreffen, auf (MARX, 2014).
merksamkeitsleistung, der Reaktionsfähigkeit und        Dazu zählen insbesondere neurologische und neu-
der (kognitiven) Belastbarkeit (GRÄCMANN & AL­          rodegenerative Erkrankungen, weshalb sich diese
BRECHT, 2018). Diese Leistungen lassen sich all-        besonders gut zur Untersuchung bestehender Zu-
gemeinhin auch als kognitive Leistungen bezeich-        sammenhänge und Wechselwirkungen zwischen
10

kognitiven Leistungen und der Fahrkompetenz eig-        stehenden Defizite kompensiert werden können
nen.                                                    (AKSAN, ANDERSON, DAWSON, UC & RIZZO,
                                                        2015; CUENEN, JONGEN, BRIJS, BRIJS, LUTIN
Dieser Annahme entsprechend, ist die Fahrkompe-         et al., 2016; VANLAAR et al., 2014). Zur besseren
tenz bei einem Teil der neurologischen Patienten        Übersicht sollen zunächst zentrale kognitive Leis-
als Folge der Erkrankung nachweislich einge-            tungen im Folgenden aufgelistet und beschrieben
schränkt (JACOBS, HART & ROOS, 2017; NIE-               werden.
MANN & HARTJE, 2013; UC & RIZZO, 2008). Da-
bei führen die krankheitsbedingten Beeinträchtigun-
gen nicht immer im gleichen Ausmaß zu Auffällig-
keiten im Fahrverhalten. So zeigten in einer Studie
                                                        2.1 Kognitive Leistungen
mit 494 neurologischen Patienten mit unterschiedli-     Das menschliche Denken und Handeln, worunter
chen Grunderkrankungen rund 28 % deutliche Auf-         auch das Führen eines Fahrzeuges fällt, basiert auf
fälligkeiten in ihrem Fahrverhalten und hatten in der   neurophysiologischer Aktivität unseres Gehirns.
Folge eine Fahrverhaltensprobe nicht bestanden          Bereits im 19. Jahrhundert wurde im Rahmen der
(NIEMANN & HARTJE, 2013). Bei den im Rahmen             damals entwickelten Psychophysik versucht, psy-
einer Metaanalyse einbezogenen Studien, die aus-        chische oder kognitive Leistungen in Zusammen-
schließlich Schlaganfallpatienten hinsichtlich ihrer    hang mit Gehirnprozessen zu bringen (PRINZ &
Fahrkompetenz untersuchten, bestanden hingegen          MÜSSELER, 2008). Durch die Entwicklung moder-
insgesamt 46 % der Probanden die Fahreignungs-          ner Forschungsmethoden wurde ein zunehmend
überprüfung nicht (DEVOS et al., 2011). Allerdings      besseres Verständnis hinsichtlich der den kogniti-
gab es auch hier zwischen den einzelnen Studien         ven Leistungen zugrundeliegenden neurophysiolo-
deutliche Unterschiede in der Anzahl der Fahrer, die    gischen Mechanismen ermöglicht. Dennoch sind
deutlich in ihrer Fahrkompetenz eingeschränkt wa-       viele Prozesse nach wie vor nicht vollumfänglich
ren.                                                    verstanden. Der Ursprung kognitiver Funktionalität
                                                        liegt dabei im anatomischen Aufbau des Gehirns.
Die stark variierende Anzahl der Fahrer mit unzurei-
chender Fahrkompetenz lässt sich zum Teil auf me-       Stark vereinfacht lässt sich das menschliche Gehirn
thodologische Unterschiede zwischen verschiede-         in drei (vier) entwicklungsbiologisch unterschiedlich
nen Studien zurückführen. Gleichzeitig scheinen         alte Strukturen unterteilen: das Stammhirn (und
unterschiedliche Grunderkrankungen, aber auch in-       Zwischenhirn), das Kleinhirn und das Großhirn
terindividuelle Unterschiede in der Krankheits-         (TSCHABITSCHER, 2011). Das Großhirn besteht
schwere und bei der Kompensationsfähigkeit von          aus zwei äquivalenten Hemisphären, die über den
Defiziten, maßgeblichen Einfluss auf die Fahrkom-       sogenannten Balken miteinander verbunden sind.
petenz im Krankheitsfall zu haben. Zu ähnlichen         Die äußere Schicht des Großhirns, die Großhirnrin-
Ergebnissen kommt auch die Metaanalyse von              de oder auch zerebraler Cortex, lässt sich wieder-
HIRD, VETIVELU, SAPOSNIK und SCHWEIZER                  um in vier miteinander vernetzte Areale aufteilen:
(2014). Pauschale Urteile hinsichtlich der Fahrkom-     Den Frontal-, Parietal-, Okzipital- und Temporallap-
petenz anhand einer Diagnose oder Grunderkran-          pen (TSCHABITSCHER, 2011). Im Falle einer Er-
kung sind somit unzulässig (AKSAN, ANDERSON,            krankung oder eines Unfalls kommt es abhängig
DAWSON, UC & RIZZO, 2015; Deutsche Diabetes             vom Schädigungsort im Gehirn zu unterschiedli-
Gesellschaft, 2017; NIEMANN & HARTJE, 2016;             chen Störungen und Ausfällen, die Rückschlüsse
SHINAR, 2007; UC & RIZZO, 2008).                        auf die dort verarbeiteten kognitiven Prozesse zu-
                                                        lassen. Da eine detaillierte Darstellung der Lokali-
Anhand der zitierten Überblicksarbeiten wird deut-
                                                        sation einzelner Hirnfunktionen den Umfang dieses
lich, dass von aktiven Fahrern mit einer zerebralen
                                                        Berichtes überschreitet, wird für eine vertiefende
Schädigung eine erhöhte Gefährdung der Verkehrs-
                                                        Beschreibung an NIEUWENHUYS, VOOGD und
sicherheit ausgehen kann. Aktuell bedarf es jedoch
                                                        VAN HUIJZEN (2008) verwiesen.
nach wie vor eines großen Aufwandes, um Fahrer
mit eingeschränkter Fahrkompetenz zu identifizie-       Das Spektrum kognitiver Leistungen ist vielfältig
ren. Unter anderem deshalb, weil nach wie vor nicht     und nur schwer kategorisch abzubilden, da viele
ausreichend untersucht ist, welche spezifischen         der zugrundeliegenden Prozesse parallel ablaufen
Leistungsdefizite sich wie auf die Fahrkompetenz        und nicht eindeutig voneinander zu trennen sind
auswirken und unter welchen Umständen die be-           (JACOBS, 2016). Auch wenn es in den letzten Jah-
11

ren große Fortschritte im Bereich der Neurowissen-      wählen und gegenüber anderen konkurrierenden
schaften gab, ist nach wie vor nicht abschließend       Informationen zu priorisieren (MÜLLER & KRUM-
geklärt, welche kognitiven Leistungen für die Be-       MENACHER, 2008). Die Aufmerksamkeitsausrich-
wältigung der Fahraufgabe erforderlich sind. Es ist     tung kann dabei sowohl orts- als auch objektbasiert
allerdings bereits jetzt ersichtlich, dass während      erfolgen. Diese Leistung ist beispielsweise notwen-
des Führens eines Fahrzeuges große Anforderun-          dig, um aus der Fülle der uns im Auto umgebenden
gen an die psychische Leistungsfähigkeit bestehen:      Reize relevante Reize, wie z. B. Verkehrsschilder,
Der Fahrer muss Entfernungen sicher einschätzen         in angemessener Zeit herausfiltern und verarbeiten
können, mehrere Stimuli gleichzeitig verarbeiten,       zu können.
die Aufmerksamkeit ausrichten und aufrechterhal-
ten, schnell auf Ereignisse reagieren und Verkehrs-     Viele Situationen beim Führen eines Fahrzeuges
situationen richtig interpretieren (REGER et al.,       erfordern jedoch die Ausrichtung der Aufmerksam-
2004). Um ein Fahrzeug sicher zu steuern und zu         keit auf mehrere relevante Reize und Handlungen.
stabilisieren, bedarf es dementsprechend neben ei-      Entsprechend der Theorie der geteilten Aufmerk-
ner ausreichenden Aufmerksamkeitsleistung ver-          samkeit lassen sich mehrere Aufgaben, zum Bei-
mutlich auch weiterer kognitiver Funktionen. Dazu       spiel ein Fahrzeug steuern und sich mit dem Beifah-
zählen zum Beispiel eine hinreichende kognitive         rer unterhalten, gleichzeitig durchführen. Diese
Verarbeitungsgeschwindigkeit, visuelle Explorati-       Leistungen sind hochkomplex und durch die Aufga-
onsleistung oder eine angemessene Planungsfä-           benähnlichkeit, die vorhandene Übung und die
higkeit. Diese Funktionen basieren in der Regel auf     Aufgabenschwierigkeit determiniert (MÜLLER &
mehreren kognitiven Teilleistungen die im Krank-        KRUMMENACHER, 2008). Kommt es bei ausrei-
heitsfall, abhängig von der Grunderkrankung, in un-     chender Übung zu einer zunehmend unbewussten
terschiedlichem Maße gestört sein können.               und automatischen Ausübung eines Verhaltens
                                                        (z. B. ein erfahrener Fahrer fährt auf einer bekann-
                                                        ten Strecke), werden Kapazitäten frei, die für weite-
2.1.1 Aufmerksamkeitsleistungen                         re Aufgaben und Handlungen genutzt werden kön-
                                                        nen (z. B. einen Sendersuchlauf im Radio starten).
Aufgrund des Anforderungsprofils der Fahraufgabe        Ebenso zeigt sich bei einer Reduktion der Kapazitä-
und den dort erforderlichen Reaktionen wird davon       ten, zum Beispiel aufgrund einer höheren Aufga-
ausgegangen, dass der Aufmerksamkeit und Reak-          benschwierigkeit (Rückwärts einparken), die Fokus-
tionsfähigkeit im Kontext des Fahrens eine beson-       sierung auf lediglich einen Handlungsaspekt (Ge-
dere Bedeutung zukommt (KÜST, 2011; REGER et            spräch mit dem Beifahrer verstummt).
al., 2004). Es wird angenommen, dass sich die Auf-
merksamkeitsleistung in ineinandergreifende Un-         Um ein Fahrzeug auch auf langen Strecken sicher
terfunktionen gliedert, die in unterschiedlichem        führen zu können, sind abhängig von der Auf­
Maße gestört sein können (SCHMIDBAUER, 2011).           tretenswahrscheinlichkeit relevanter Reize ein aus-
Dazu zählen nach SCHMIDBAUER (2011) die Ori-            reichendes Maß an Daueraufmerksamkeit (Reiz-
entierungsreaktion, die selektive Aufmerksamkeit,       dichte hoch) oder Vigilanz (Reizdichte niedrig) er-
die geteilte Aufmerksamkeit und die Daueraufmerk-       forderlich. Vigilanz ist entsprechend bei monotonen
samkeit. Andere theoretische Konzepte kategorisie-      Fahrten, beispielsweise bei Nacht oder auf Auto-
ren die Aufmerksamkeitsleistungen abhängig von          bahnen, besonders wichtig, um auch noch nach
den zwei Dimensionen Intensität (Alertness, Vigi-       längerer Zeit kritische Stimuli ausreichend schnell
lanz, Daueraufmerksamkeit) und Selektivität (selek-     und korrekt erfassen und verarbeiten zu können.
tive Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit und        Daueraufmerksamkeit ist hingegen erforderlich,
Aufmerksamkeitswechsel) (vgl. RÜSSELER, 2010).          wenn über längere Zeit viele relevante Reize unter
STURM (2009) ergänzt diese um die Dimension             anspruchsvollen Bedingungen verarbeitet werden
Räumliche Aufmerksamkeit, die die Aufmerksam-           müssen. Im Kontext des Straßenverkehrs könnte
keitsausrichtung auf räumlich voneinander getrenn-      dies beispielsweise bei der Durchquerung einer un-
te Hinweisreize beschreibt.                             bekannten Stadt bei hohem Verkehrsaufkommen
                                                        der Fall sein.
Besondere Relevanz im Kontext der Fahraufgabe
kommt der selektiven Aufmerksamkeit zu. Damit
bezeichnet man die Leistung, ausgewählte Informa-
tionen (visuell, auditiv, sensorisch) selektiv auszu-
12

2.1.2 Sensorische Leistungen                          gebung oder der Abschätzung von Fahrbewegun-
                                                      gen der umgebenden Verkehrsteilnehmer beteiligt
Gemessen wird die Aufmerksamkeitsleistung häufig      (GROH-BORDIN & KERKHOFF, 2009; SCHMIDT-
über die Auswertung von Reaktionszeiten in stan-      KE, 2018).
dardisierten psychometrischen Verfahren (PO-
SCHADEL, FALKENSTEIN, PAPPACHAN, POLL                 Räumlich-konstruktive oder auch visuokonstruktive
& WILLMES VON HINCKELDEY, 2009). Dabei ist            Leistungen sind durch eine Interaktion zwischen
anzunehmen, dass abhängig vom Testparadigma           motorischen und visuell-räumlichen Leistungen
die Testleistung maßgeblich von der Funktionstüch-    charakterisiert (GROH-BORDIN & KERKHOFF,
tigkeit der verschiedenen Sinnesorgane abhängig       2009). Sie beziehen sich auf die Fähigkeit, einzelne
ist. Diese ist aber bei neurologischen Erkrankungen   lokale Elemente zu einem kohärenten Objekt zu-
zum Teil eingeschränkt, beispielsweise bei zerebral   sammenzufügen, zum Beispiel zeichnerisch oder
bedingten Sehstörungen. So besteht die Möglich-       beim Zusammensetzen von Bauelementen. Diese
keit von neurologisch bedingten Gesichtsfeldausfäl-   Leistung hängt dabei eng mit planerischen Fähig-
len, Einschränkungen der Sehschärfe oder dem          keiten zusammen, die im Allgemeinen den exekuti-
Vorhandensein von Doppelbildern. Diese könnten        ven Leistungen zugeschrieben werden.
zum Beispiel das Ergebnis eines auf einer visuellen
(Such-)Aufgabe basierenden Tests verfälschen. Im
Fall eines Gesichtsfeldausfalls können Reize in       2.1.4 Exekutive Leistungen
dem betroffenen Gesichtsfeld nicht mehr wahrge-
                                                      Bei exekutiven Leistungen handelt es sich um eine
nommen werden. Während des Autofahrens könnte
                                                      nicht eindeutig definierte Sammlung kognitiver
dies zum Beispiel dazu führen, dass andere Ver-
                                                      Funktionen, die unmittelbar mit der Planung und
kehrsteilnehmer übersehen werden. Auch eine ein-
                                                      Kontrolle von menschlichem Handeln in Zusam-
geschränkte taktile Wahrnehmung kann eine Test-
                                                      menhang stehen (SATTLER, 2011). Exekutive Leis-
leistung im oben genannten Sinne signifikant beein-
                                                      tungen sind an der Koordination von Zwischen-
flussen.
                                                      schritten unserer Handlungsplanung und bei der
                                                      Entwicklung von Lösungsansätzen beteiligt, wenn
2.1.3 Visuell-räumliche Leistungen                    es zu Komplikationen oder unerwarteten Ereignis-
                                                      sen kommt (MÜLLER & MÜNTE, 2009). Patienten
Ebenfalls von einer angemessenen Funktion der         mit einer Beeinträchtigung der exekutiven Funktio-
sensorischen Wahrnehmung abhängig sind die vi-        nen haben Schwierigkeiten, Handlungen zu planen
suelle Raumwahrnehmung und die Raumkognition          und abzuschirmen oder Handlungsziele zu erinnern
(GROH-BORDIN & KERKHOFF, 2009). Hierzu zäh-           (HOMMEL, 2008).
len zunächst basale räumlich-perzeptive Leistun-
gen (Wahrnehmung von Entfernung, Größe und            Zentrale Funktionen, die von den meisten Autoren
Ausrichtung eines Objektes im Raum). Diese Leis-      als exekutive Leistungen subsummiert werden, sind
tung ist beispielsweise bei der Wahrnehmung und       die Fähigkeit zur Inhibition, das Arbeitsgedächtnis
Identifikation anderer Verkehrsteilnehmer relevant.   und die mentale Flexibilität sich neuen Bedingun-
                                                      gen anpassen zu können. Kommt es zur Beein-
Die kognitiv komplexere Umstrukturierung von Ob-      trächtigung dieser Leistungen, typischerweise nach
jekten durch mentale Rotation im Raum oder Maß-       Frontalhirnläsionen, kann es darüber hinaus zu We-
stabstransformationen bezeichnet man als räum-        sensveränderungen der Betroffenen kommen. Die
lich-kognitive Leistung (GROH-BORDIN & KERK-          Patienten verhalten sich zum Beispiel impulsiv und
HOFF, 2009). Klinische Läsionsstudien zeigen,         reizgesteuert, scheinen nur noch in der Gegenwart
dass diese von den räumlich-perzeptiven Leistun-      zu leben und haben Mühe, zielgerichtete Handlun-
gen abzugrenzen sind, da es abhängig vom Schä-        gen zu planen und zu initiieren (CIURLI et al., 2010;
digungsort zu selektiven Störungen der beiden         GREVE et al., 2001; NIEMANN & HARTJE, 2016;
Leistungen kommen kann.                               SATTLER, 2011). Betroffene sind zum Teil schnell
                                                      abgelenkt (Interferenzanfälligkeit), können sich
Räumlich-topografische Leistungen beziehen sich       gleichzeitig aber nur schwer bewusst von einer Auf-
auf die vorgestellte oder reale Navigation und Ori-   gabe lösen (Perseverationstendenz). Zudem wird
entierung im dreidimensionalen Raum und sind so-      angenommen, dass exekutive Funktionen einen
mit maßgeblich an der mentalen Kartierung der Um-     steuernden und kontrollierenden Einfluss auf ande-
13

re kognitive Leistungen wie die Visuokonstruktion       LEHOCKEY, 2016). Während des Führens eines
oder die Aufmerksamkeit haben (MÜLLER & MÜN-            Fahrzeuges kann es aufgrund mangelnder Einsicht
TE, 2009; SNELLGROVE, 2005).                            zu einer Überschätzung der eigenen Fahrkompe-
                                                        tenz und in der Folge einer Exposition mit überfor-
In einigen Fällen kann es aufgrund exekutiver Defi-     dernden Situationen kommen (HAY, ADAM, BOC-
zite zu krankhaften Akzentuierungen der Persön-         CA & GABAUDE, 2016). Es ergeben sich Hinweise,
lichkeit kommen, da aufgrund mangelnder Inhibi­         dass sich eine unzureichende Awareness negativ
tionsfähigkeit eigentlich gut regulierte Persönlich-    auf die Ausübung kompensatorischer Verhaltens-
keitsakzente, wie Aggressivität oder antisoziale        weisen, wie beispielsweise dem Vermeiden von
Tendenzen, deutlicher zutage treten. Erschwerend        Fahrten bei Nacht oder zu Hauptverkehrszeiten,
kommt hinzu, dass es bei exekutiven Defiziten häu-      auswirkt (ANSTEY, WOOD, LORD & WALKER,
fig zu einem unzureichenden Störungsbewusstsein,        2005). Weiterhin scheint ein Zusammenhang zwi-
also einer unzureichenden Einsicht in eigene Defizi-    schen der Awareness bezüglich der nachlassenden
te, kommt (MÜLLER, 2013).                               Leistungsfähigkeit und dem Einstellen des aktiven
                                                        Autofahrens zu bestehen (BOON, OXLEY, WON &
Aufgrund der hohen Alltagsrelevanz der betroffenen
                                                        SHAUN, 2019)
Funktionen ist selbst bei geringfügigen Beeinträch-
tigungen der exekutiven Funktionen ein deutlicher       Die hier aufgeführte Liste an kognitiven Funktionen
Einfluss auf die Fahrkompetenz zu erwarten. Kon-        erhebt bei weitem nicht den Anspruch auf Vollstän-
kret sind sie erforderlich, um beispielsweise in un-    digkeit. Es handelt sich jedoch, nach aktuellem For-
klaren Situationen im Fahrzeug eine adäquate Ent-       schungsstand, um die vermutlich zentralen Funktio-
scheidung zu treffen oder bei der Ausübung einer        nen zur Bewältigung der Fahraufgabe. Dabei ist da-
vorausschauenden Fahrweise.                             von auszugehen, dass nicht einzelne kognitive
                                                        Leistungen, sondern nur die Interaktion mehrerer
                                                        Teilleistungen der Komplexität der Gesamtaufgabe
2.1.5 Gedächtnisleistung                                des Autofahrens gerecht wird. Wie genau diese In-
Ebenfalls potenziell relevant für die Bewältigung der   teraktionen ablaufen und welche Anforderungen
Fahraufgabe sind die Gedächtnisleistungen (JA-          wann relevant sind, ist jedoch erst in Ansätzen un-
COBS, 2016). Verschiedene Modelle unterschiedli-        tersucht worden.
cher Komplexität unterscheiden in der Regel zwi-
schen Arbeits-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis,
in denen Informationen modalitätsspezifisch (z. B.      2.2 Die Fahraufgabe
visuell, akustisch, olfaktorisch) abgespeichert und
verarbeitet werden können (für einen Überblick sie-     Um krankheitsbedingte Einflüsse auf die Fahrkom-
he BUCHNER & BRANDT, 2008). Im Kontext der              petenz bewerten zu können, sollte zunächst die
Fahraufgabe sind Gedächtnisfunktionen relevant,         Fahraufgabe als solche analysiert werden, um die
um beispielsweise Verkehrsregeln zu erinnern oder       daraus resultierenden Anforderungen an den Fah-
kritische Reize, wie die den Fahrer umgebenden          rer ableiten zu können. Die erfolgreiche Bewälti-
Verkehrsteilnehmer, kurzfristig zu speichern und        gung der Fahraufgabe ist vom Verhalten des Fah-
wieder abrufen zu können.                               rers selbst, aber auch durch eine Vielzahl situativer
                                                        und umweltbedingter Einflüsse abhängig (SHINAR,
                                                        2007). Um Fahrverhalten zu beschreiben, erklären
2.1.6 Störungsbewusstsein                               und voraussagen zu können, haben sich in der Ver-
                                                        kehrspsychologie verschiedene Modelle als nütz-
Bei verschiedenen Erkrankungen und neuropsy-            lich erwiesen.
chologischen Störungen, wie zu Beispiel einem
Neglect, kann es zu einem unzureichenden Stö-           Dabei beziehen sich viele Autoren auf den Ansatz
rungsbewusstsein kommen (MADEA, MUẞHOFF &               von MICHON (1985), welcher die Fahraufgabe in
BERGHAUS, 2012). Dieses, auch als Unaware-              die drei Ebenen strategisch (planen), taktisch (ma-
ness (von engl. Awareness = Bewusstsein) be-            növrieren) und operativ (kontrollieren) unterteilt. Die
zeichnete, Phänomen ist durch eine mangelnde            strategische Ebene ist die höchste Ebene auf der
Einsicht in bestehende Defizite und Beeinträchti-       Vorüberlegungen zur Routenplanung, dem Zeit-
gungen charakterisiert (MÜLLER, 2013; WOLFE &           punkt der Fahrt oder dem verwendeten Verkehrs-
14

mittel getroffen werden. Auf der taktischen Ebene             siert, zum Beispiel im Rahmen der ersten Fahrstun-
trifft der Fahrer Entscheidungen bezüglich seines             de oder bei einer Fahrt im Nebel. Im Gegensatz
Fahrverhaltens während der Fahrt, beispielsweise              dazu kann mit zunehmender Fahrerfahrung und
den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug, die                 sinkenden Anforderungen, beispielsweise auf all-
Anpassung der aktuellen Geschwindigkeit oder das              täglichen Routen wie dem Arbeitsweg, Verhalten
Initiieren von Überholvorgängen. Die operative                eher unbewusst und automatisiert ausgeführt wer-
Ebene hingegen beschreibt Maßnahmen zur Steu-                 den. Durch die Kombination der Modelle erhalten
erung und Stabilisierung des Fahrzeuges, zum Bei-             die drei Ebenen von MICHON abhängig von der
spiel Lenkbewegungen oder Bremsmanöver als                    subjektiven Bekanntheit der vorliegenden Situation
Reaktion auf Ereignisse oder Stimuli (MICHON,                 eine zusätzliche Dimension zur Bewertung der Auf-
1985).                                                        gabenschwierigkeit. Dabei postulieren die Autoren
                                                              mit zunehmender Aufgabenschwierigkeit einen zu-
Dabei haben von der strategischen zur operativen              nehmenden kognitiven Workload.
Ebene hin die zu bewältigenden Aufgaben eine im-
mer stärker werdende psychomotorische Kompo-                  In Bild 2 sind die einzelnen Ebenen und Dimensio-
nente. So muss eine Reaktion auf der operativen               nen der Fahraufgabe anhand beispielhafter Situa­
Ebene häufig im Bruchteil von Sekunden in Form                tionen dargestellt. Dabei bleibt jedoch weitestge-
einer motorischen Reaktion erfolgen, während                  hend unklar, welche körperlichen und kognitiven
Planungsprozesse auf der strategischen Ebene                  Voraussetzungen die einzelnen Ebenen erfordern
auch mehrere Minuten in Anspruch nehmen können                und ob sich diese gegebenenfalls über die Ebenen
und häufig theoretischer Natur sind (VERSTER &                hinweg unterscheiden. Hinweise darauf ergeben
ROTH, 2011). Insofern wird aus dem Modell deut-               sich anhand der für die einzelnen Ebenen ableitba-
lich, dass sowohl psychomotorische als auch meta-             ren Kompensationsstrategien. Diese können, eben-
kognitive Prozesse für die erfolgreiche Bewältigung           so wie die Bewältigung der Fahraufgabe selber, so-
der Fahraufgabe zwingend erforderlich sind.                   wohl bewusst, beispielsweise im Sinne einer Ver-
                                                              meidung oder Selektion bestimmter Verhaltens­
VERSTER und ROTH (2011) haben das Modell um                   tendenzen, als auch unbewusst erfolgen.
weitere, insbesondere kognitive, Elemente erwei-
tert. So kombinierten sie das Modell von MICHON               Eine mögliche Kompensationsstrategie auf der ope-
(1985) mit dem von RASMUSSEN (1987, zit. n.                   rativen Ebene wäre zum Beispiel eine konservative
VERSTER & ROTH, 2011) und ergänzten es um die                 Fahrstreifenwahl. Auf taktischer Ebene wären mög-
Bereiche wissensbasiertes, regelbasiertes und fä-             liche Kompensationsstrategien mit geringerer Ge-
higkeitsbasiertes (automatisiertes) Verhalten. Da-            schwindigkeit fahren oder größere Abstände zum
bei erfolgt bei höheren Anforderungen die Auswahl             vorausfahrenden Fahrzeug einhalten. Auf der stra-
des Fahrverhaltens eher bewusst und wissensba-                tegischen Ebene erfolgt die Kompensation hinge-

Bild 2: Schematische Darstellung der einzelnen Ebenen der Fahraufgabe (VERSTER & ROTH, 2011)
15

gen in Form von Entscheidungen vor Fahrtantritt,     sen. Um individuelle Mängel identifizieren zu kön-
die zum Beispiel durch selbstregulatorisches Ver-    nen, werden neben einer klinischen Beurteilung un-
halten den Schwierigkeitsgrad der Fahraufgabe ab-    ter anderem Persönlichkeitstests, Leistungstests
senken. So könnte man anhand von Vorüberlegun-       und Fahrverhaltensproben eingesetzt (PIENDL,
gen Hauptverkehrszeiten meiden oder nur noch be-     2015). Dieses Vorgehen ist mit einem großen Auf-
kannte Strecken fahren. Diese und weitere Kom-       wand verbunden und die Vorhersagekraft der Er-
pensationsstrategien konnten sowohl bei älteren      gebnisse einzelner Verfahren ist teils nicht zufrie-
(MOLNAR et al., 2014; SCHUMACHER & SCHU-             denstellend (FASTENMEIER, GSTALTER, ROMPE
BERT, 2018; SHINAR, 2007; WONG, SMITH &              & RISSER, 2015). Um zukünftig den Einfluss krank-
SULLIVAN, 2012) als auch bei erkrankten Fahrern      heitsbedingter Beeinträchtigungen auf die Fahr-
(DEVLIN & McGILLIVRAY, 2016; JOHNSON,                kompetenz adäquater und ökonomischer beurteilen
FRANK, POND & STOCKS, 2013; LUNDQVIST,               zu können, ist mittel- bis langfristig ein tiefergehen-
ALINDER & RÖNNBERG, 2008; SINGH, PENT-               des Verständnis der komplexen Zusammenhänge
LAND, HUNTER & PROVAN, 2007) beobachtet              zwischen einzelnen kognitiven Leistungsdimen­
werden. Welche Voraussetzungen für eine erfolg-      sionen und der Bewältigung der Fahraufgabe er­
reiche Kompensation erforderlich sind, wird in den   forderlich.
Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung be-
schrieben. Hier werden unter anderem psychische      Die besondere Relevanz neurodegenerativer und
Qualitäten, wie besondere Umsicht oder Gewissen-     neurologischer Erkrankungen bei der Identifikation
haftigkeit, für die Kompensation überdauernder       von für die Fahrkompetenz relevanten Leistungs­
oder chronischer Eignungsmängel als relevant         dimensionen wurde einleitend dargestellt (vgl. Kapi-
beschrieben (GRÄCMANN & ALBRECHT, 2018).             tel 2). Im Folgenden soll ein Überblick über die im
Weitere für die Kompensation relevante Faktoren      Kontext der Verkehrssicherheit als besonders rele-
seien eine insgesamt ausreichende intellektuelle,    vant erachteten neurologischen und neurodegene-
körperliche und sinnesphysiologische Leistungs­      rativen Erkrankungen gegeben werden. Die Vor-
fähigkeit, Fahrerfahrung sowie eine sicherheits-     auswahl der Erkrankungen, die in diesen Bericht
und verantwortungsbewusste Grundeinstellung.         aufgenommen wurden, erfolgte dabei unter Berück-
HOLTE (2018) konnte zudem Zusammenhänge              sichtigung der Prävalenz und der zu erwartenden
zwischen unterschiedlichen Lebensstilen und spe-     Beeinträchtigung der Fahrkompetenz durch die
zifischen Kompensationsmechanismen bei älteren       im Kontext der Krankheit auftretenden neurologi-
Fahrern feststellen. Diese hingen dabei insbeson-    schen und/oder neuropsychologischen Symptome.
dere mit der Veränderung verkehrssicherheits­    -   Zunächst soll ein kurzer Überblick über die Ätio-
re­levanter Erwartungen, wahrgenommenen Ver-         logie und Symptomatik der Erkrankung gegeben
haltensveränderungen sowie wahrgenommenen            werden. Anschließend sollen der Einfluss der Er-
Kontextveränderungen, z. B. weniger finanzielle      krankung auf die Fahrkompetenz und mögliche
Mittel oder schlechterer Gesundheitszustand, zu-     moderierende Faktoren diskutiert werden.
sammen. Nicht eindeutig geklärt ist hingegen, wel-
che kognitiven Leistungen bei der Kompensation
von Leistungsdefiziten von Relevanz sind und wie
möglicherweise bestehende Zusammenhänge kon-
kret aussehen.

Unter anderem aufgrund der bestehenden Wis-
senslücken kann der verkehrsgefährdende Einfluss
einer vorliegenden Erkrankung sowohl in der Klinik
als auch in der Forschung aktuell nur schwer beur-
teilt werden. Die Defizite zweier Menschen mit der
gleichen Diagnose (z. B. Schlaganfall) können sich
stark unterscheiden, während zwei Menschen mit
unterschiedlichen Diagnosen (z. B. Schädel-Hirn-­
Trauma und frontotemporale Demenz) möglicher-
weise ein sehr ähnliches Symptommuster aufwei-
16

3    Ausgewählte neurologische                          schaftlichen Veröffentlichungen zu dem Thema wie-
                                                        der und soll entsprechend auch die Grundlage für
     und neurodegenerative Er-                          die inhaltliche Struktur dieses Kapitels darstellen.
     krankungen und ihr Einfluss
     auf die Fahrkompetenz                              Aufgrund der einleitend beschriebenen interindivi-
                                                        duellen Variabilität werden krankheitsbedingte Be-
Im Rahmen der bisherigen Forschungsarbeiten             einträchtigungen der Fahrkompetenz jedoch zu-
wird die krankheitsbedingte Gefährdung der Ver-         nehmend mithilfe eines symptomorientierten Ansat-
kehrssicherheit häufig anhand des beobachtbaren         zes untersucht. Dieser folgt der Annahme, dass
oder berichteten Unfallrisikos der Betroffenen ope-     nicht die Diagnose bzw. Erkrankung, sondern die im
rationalisiert. Da Unfallereignisse selten auftreten    Einzelfall auftretende Symptomatik, unabhängig
(BAJAJ, SAEIAN et al., 2009), erscheint die alleini-    von deren Ätiologie, die bestmögliche Vorhersage
ge Berücksichtigung dieses Kriteriums zur Bewer-        auf das Fahrverhalten der Betroffenen ermöglicht.
tung des verkehrsgefährdenden Einflusses einer          Diesem Ansatz folgend, sollen in Kapitel 4 Zusam-
Erkrankung nur bedingt geeignet. Um den Einfluss        menhänge zwischen einzelnen (kognitiven) Leis-
von neurologischen und neurodegenerativen Er-           tungsbeeinträchtigungen und der Bewältigung spe-
krankung auf die Verkehrssicherheit und in der Fol-     zifischer Fahraufgaben berichtet werden.
ge ihre Relevanz für die Verkehrssicherheitsarbeit
adäquat einschätzen zu können, wird daher vorge-
schlagen, zusätzliche Parameter, die zur Beeinflus-
                                                        3.1 Leichte kognitive Störung
sung eines theoretischen Gesamtrisikos beitragen,
zu berücksichtigen. Hierzu geeignet erscheinen ne-      Mit zunehmendem Alter kommt es zu einem Leis-
ben epidemiologischen Daten vor allem die Anzahl        tungsabbau in sensorischen, kognitiven und motori-
aktiver Fahrer in der jeweiligen Gruppe der Erkrank-    schen Funktionsbereichen (für einen Überblick
ten sowie die beobachtbare Beeinträchtigung der         siehe SCHUBERT, GRÄCMANN & BARTMANN,
Fahrkompetenz infolge einer Erkrankung. Die Fahr-       2018). Es handelt es sich um einen natürlichen Ver-
kompetenz umfasst, wie bereits einleitend in Kapitel    änderungsprozess, der jedoch nicht alle Leistungs-
2 erläutert, einzelne Fähigkeiten und Skills zur Be-    bereiche gleichermaßen betrifft und der interindivi-
wältigung spezifischer Fahraufgaben. Ist die Fahr-      duell unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann
kompetenz beeinträchtigt, so muss nicht zwingend        (POTTGIEẞER et al., 2012). Kognitive Leistun-
die Fahreignung in Frage gestellt werden. Beispiels-    gen, die deutlich von der Norm gesunder und
weise können durch eine besonnene und umsichti-         gleichalter Kontrollpersonen abweichen und die
ge Fahrweise oder eine am individuellen Leistungs-      sich nicht durch eine Erkrankung oder eingenom-
niveau orientiere Routenwahl Defizite in der Fahr-      mene Medikation erklären lassen, bezeichnet man
kompetenz bei alltäglichen Fahrten kompensiert          als leichte kognitive Störung (LKS) oder englisch
werden.                                                 als Mild Cognitive Impairment (MCI) (ESCHWEI-
                                                        LER, LEYHE, KLÖPPEL & HÜLL, 2010). Abhängig
Hinter der Auswahl dieser Kriterien steht die
                                                        von der oder den betroffenen Domäne/n unterschei-
Schlussfolgerung, dass je häufiger eine Erkrankung
                                                        det man verschiedene Formen der LKS (PALMER,
in der Bevölkerung vorkommt, je mehr Betroffene
                                                        BÄCKMAN, WINBLAD & FRATIGLIONI, 2008).
weiterhin aktiv Auto fahren und je deutlicher sich
                                                        Allgemein wird zwischen der amnestischen und
ihre Symptome auf die Fahrkompetenz auswirken,
                                                        der non-amnestischen LKS unterschieden. Die
umso größer sollte der potenzielle Einfluss der Er-
                                                        LKS kann dabei eine oder auch mehrere kognitive
krankung auf die Verkehrssicherheit sein.
                                                        Domänen (z. B. Exekutive, Sprache, Gedächtnis
Aktuell werden in der Regel krankheitsbedingte Ein-     usw.) betreffen (PETERSEN, 2004). Je nach Ätio-
flüsse selektiv nach verschiedenen Grunderkran-         logie und Form der LKS können dabei beispielswei-
kungen beschrieben und bewertet. Dieser Ansatz          se Gedächtnisdefizite, Konzentrationsstörungen,
fußt unter anderem auf der Annahme, dass bei ein-       Wortfindungsstörungen oder Schwierigkeiten beim
zelnen Erkrankungen aufgrund von unterschiedli-         Planen und Organisieren auftreten. Die Erkrankten
chen Symptomen, Verläufen und daraus resultie-          sind dabei per Definition nicht wesentlich in ihrer All-
renden Leistungseinbußen auch ein unterschiedlich       tagsfähigkeit eingeschränkt und leiden nicht an ei-
starker Einfluss auf die Fahrkompetenz zu erwarten      ner Demenz (BRUNNAUER, BUSCHERT & LAUX,
ist. Dieser Ansatz findet sich in den meisten wissen-   2014).
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