Kognitive Störungen und Verkehrssicherheit - Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen - OPUS
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Kognitive Störungen und Verkehrssicherheit Heft M 303 Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen Mensch und Sicherheit Heft M 303 ISSN 0943-9315 ISBN 978-3-95606-544-6
Kognitive Störungen und Verkehrssicherheit von Fabian Surges Bundesanstalt für Straßenwesen Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen Mensch und Sicherheit Heft M 303
Die Bundesanstalt für Straßenwesen veröffentlicht ihre Arbeits- und Forschungs- ergebnisse in der Schriftenreihe Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Die Reihe besteht aus folgenden Unterreihen: A - Allgemeines B - Brücken- und Ingenieurbau F - Fahrzeugtechnik M - Mensch und Sicherheit S - Straßenbau V - Verkehrstechnik Es wird darauf hingewiesen, dass die unter dem Namen der Verfasser veröffentlichten Berichte nicht in jedem Fall die Ansicht des Herausgebers wiedergeben. Nachdruck und photomechanische Wieder- gabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmi- gung der Bundesanstalt für Straßenwesen, Stabsstelle Presse und Kommunikation. Die Hefte der Schriftenreihe Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen können direkt bei der Carl Ed. Schünemann KG, Zweite Schlachtpforte 7, D-28195 Bremen, Telefon: (04 21) 3 69 03 - 53, bezogen werden. Über die Forschungsergebnisse und ihre Veröffentlichungen wird in der Regel in Kurzform im Informationsdienst Forschung kompakt berichtet. Dieser Dienst wird kostenlos angeboten; Interessenten wenden sich bitte an die Bundesanstalt für Straßenwesen, Stabsstelle Presse und Kommunikation. Die Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) stehen zum Teil als kostenfreier Download im elektronischen BASt-Archiv ELBA zur Verfügung. https://bast.opus.hbz-nrw.de Impressum Bericht zum Forschungsprojekt 4317019 Kognitive Störungen und Verkehrssicherheit Referat Grundlagen des Verkehrs- und Mobilitätsverhaltens Herausgeber Bundesanstalt für Straßenwesen Brüderstraße 53, D-51427 Bergisch Gladbach Telefon: (0 22 04) 43 - 0 Redaktion Stabsstelle Presse und Kommunikation Druck und Verlag Fachverlag NW in der Carl Ed. Schünemann KG Zweite Schlachtpforte 7, D-28195 Bremen Telefon: (04 21) 3 69 03 - 53 Telefax: (04 21) 3 69 03 - 48 www.schuenemann-verlag.de ISSN 0943-9315 ISBN 978-3-95606-544-6 Bergisch Gladbach, November 2020
3 Kurzfassung – Abstract Kognitive Störungen und Verkehrssicherheit kehrssicherheitsarbeit dar. Die Relevanz von Schlaganfällen für die Verkehrssicherheitsarbeit ist Infolge bestimmter Erkrankungen kann es zu moto- anhand der zur Verfügung stehenden Daten am rischen, sensorischen und/oder kognitiven Leis- ehesten als moderat, die der leichten kognitiven tungsbeeinträchtigungen kommen, die sich negativ Störung (LKS) am ehesten als gering zu bezeich- auf das Führen eines Fahrzeuges auswirken kön- nen. Diese Aussagen beziehen sich dabei auf ein nen. Trotz intensiver Forschungsbemühungen sind aus den berücksichtigten Forschungsarbeiten ab- aktuell die komplexen Zusammenhänge zwischen geleitetes theoretisches Risiko auf Gruppenebene. kognitiven Leistungsbeeinträchtigungen und der Dieses eignet sich ausdrücklich nicht, um fahreig- Fahrkompetenz noch nicht vollumfänglich verstan- nungsbezogene Rückschlüsse zu ziehen. Ableitun- den. gen auf das individuelle Risiko eines erkrankten Primäres Ziel dieses Berichtes war es, anhand der Fahrers sind unzulässig. Darstellung und Analyse aktueller und zentraler Anhand der berücksichtigten Veröffentlichungen wissenschaftlicher Erkenntnisse zu einem besse- konnten zudem Zusammenhänge zwischen kogniti- ren Verständnis krankheitsbedingter Beeinträchti- ven Leistungen und der Fahrkompetenz beschrie- gungen der Fahrkompetenz beizutragen. ben werden. Dabei scheint neben den Aufmerk- Dazu wurde zunächst der Einfluss von sechs neu- samkeits- und visuell-räumlichen Leistungen insbe- rologischen und neurodegenerativen Erkrankungen sondere exekutiven Leistungen eine besondere auf das Fahrverhalten der Betroffenen beschrieben Relevanz bei der Bewältigung der Fahraufgabe zu- und analysiert. Die Auswahl der Erkrankungen er- zukommen. Es ergeben sich Hinweise, dass die folgte dabei aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Durchführung individueller Trainings zur Steigerung Prävalenzen und den typischerweise bei ihnen auf- der kognitiven Leistungsfähigkeit, praktische Fahr- tretenden neurologischen und neuropsychologi- trainings sowie zielgruppenspezifische Maßnah- schen Symptomen, welche für die Beantwortung men zu einer nachhaltigen Verbesserung der Ver- zentraler Fragestellungen dieses Berichtes von be- kehrssicherheit beitragen können. Insgesamt gilt sonderer Bedeutung sind. Aus der Kombination es, Betroffene, Behandelnde und Akteure der Ver- ausgewählter verkehrssicherheitskritischer Para- kehrssicherheit verstärkt für das Thema krankheits- meter wurde die Relevanz der einzelnen Erkran- bedingt beeinträchtigte Fahrkompetenz zu sensibili- kungen für die Verkehrssicherheitsarbeit abgeleitet. sieren. Diese Erkenntnisse liefern wichtige Hinweise dar- Im Hinblick auf zukünftige Aktivitäten wird aufgrund auf, welche Erkrankungen zukünftig, beispielsweise der Limitation aktueller wissenschaftlicher Veröf- im Rahmen von Informations- und Aufklärungsmaß- fentlichungen empfohlen, einen theoretisch und/ nahmen oder Forschungsprojekten, verstärkt ad- oder empirisch fundierten methodischen Leitfa- ressiert werden sollten. Um ein möglichst vollständi- den zur Erstellung von Fahrkompetenzstudien zu ges Bild des aktuellen Forschungsstandes wieder- entwickeln und zu veröffentlichen. Zukünftige For- zugeben, wurden auch Studien, die aufgrund von schungsschwerpunkte könnten kognitive Anfor- methodischen Schwächen (z. B. kleine Stichprobe) derungen spezifischer Fahraufgaben, vertiefende nur eine begrenzte Aussagekraft haben, bei der Be- Analysen von Erkrankungen und ihrem Zusammen- wertung der einzelnen Störungen berücksichtigt. hang mit der Fahrkompetenz sowie die Entwicklung Durch dieses Vorgehen sollten zudem mögliche valider Mess- und Testverfahren sein. (systematische) Schwächen in dem Forschungsge- biet identifiziert und analysiert werden können. Mittel- bis langfristig sollen sich anhand der darge- stellten Maßnahmen krankheitsbedingte Risiken im Anhand der zur Verfügung stehenden Daten ergibt Straßenverkehr reduzieren lassen und neue Wege sich für die Demenzen, Schädel-Hirn-Traumata und zum Erhalt der Mobilität erkrankter Fahrer identifi- die hepatische Enzephalopathie eine hohe Rele- ziert werden können. vanz für die Verkehrssicherheitsarbeit. Etwas gerin- ger, aber weiterhin als hoch zu bewerten, stellt sich die Relevanz von Morbus Parkinson für die Ver-
4 Cognitive disorders and traffic safety coping with the driving task. There are indications that individual training to improve cognitive As a result of certain diseases, motor, sensory and/ performance and practical driving training can or cognitive impairment can occur, which can have contribute to a sustainable improvement in road a negative effect on driving a vehicle. Despite safety. Overall, it is important to sensitize people intensive research efforts, the complex relationships which suffer from one of the diseases, those who between cognitive impairments and driving skills are treating them and those who are involved in are not yet fully understood. road safety activities to the relevance of certain The primary objective of this report was to contribute diseases in this context. to a better understanding of disease-related With regard to future activities and due to the impairments of driving skills through the presentation limitations of the current research, it is recommended and analysis of current and central scientific to develop a theoretically and/or empirically findings. guideline for the implementation of driving com- Therefore, the influence of six neurological and petence studies with patients. Future research neurodegenerative diseases on driving behaviour priorities could be cognitive requirements of specific was described and analyzed. The diseases were driving tasks, in-depth analyses of the correlations selected on the basis of their comparatively high between diseases and driving skills as well as the prevalence and the neurological and neuro- development of valid measurement and test psychological symptoms that typically occur among procedures. them, which are of particular significance for In the medium to long term, the presented measures answering the central questions of this report. The should make it possible to reduce disease-related relevance of the diseases regarding activities to risks in road traffic and to identify new ways of improve road safety was derived from the maintaining the mobility of sick drivers. combination of selected parameters. These findings provide important indications which diseases should be addressed more intensively in the future, for example within the framework of communicative measures or in research. In order to present a complete picture of the current state of research, studies with methodological limitations (e.g. small sample) were also taken into account in the evaluation of the diseases. This procedure should also make it possible to identify and analyze (systematic) weaknesses in this field of research. Based on the available data, dementia, traumatic brain injuries (TBI) and hepatic encephalopathy are highly relevant for road safety. The relevance of Parkinson‘s disease for road safety is somewhat lower, but still high. Based on the available data, the relevance of strokes for road safety is most likely to be moderate, while that of mild cognitive impairment (MCI) is most likely to be low. These conclusions refer to a theoretical risk at a group level derived from literature. This risk is not suitable for drawing conclusions related to fitness to drive. Derivations on the individual risk of an ill driver are inadmissible. The reviewed literature gave insights into correlations between cognitive performance and driving competence. Besides several forms of attention and visual spatial performance, executive functions seem to be of particular relevance for
5 Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 5.2 Zusammenhang zwischen kogni- tiven Leistungen und spezifischen 2 Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . 7 Fahraufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1 Kognitive Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . 10 5.3 Maßnahmenempfehlungen zur Verbesserung der Verkehrssicher- 2.1.1 Aufmerksamkeitsleistungen . . . . . . . . . 11 heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.1.2 Sensorische Leistungen . . . . . . . . . . . . 12 5.3.1 Training zur Verbesserung der 2.1.3 Visuell-räumliche Leistungen . . . . . . . . 12 individuellen Fahrkompetenz . . . . . . . . 60 2.1.4 Exekutive Leistungen . . . . . . . . . . . . . . 12 5.3.2 Zielgruppenspezifische Maßnahmen- empfehlungen zu Verbesserung der 2.1.5 Gedächtnisleistung . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Verkehrssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.1.6 Störungsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . 13 5.4 Limitationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.2 Die Fahraufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 5.4.1 Limitationen der aktuellen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3 Ausgewählte neurologische und 5.4.2 Limitationen des vorliegenden neurodegenerative Erkrankungen Berichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 und ihr Einfluss auf die Fahrkom- petenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 6 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.1 Leichte kognitive Störung . . . . . . . . . . . 16 3.2 Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.3 Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.4 Kreislaufabhängige Störungen der Hirntätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.5 Schädel-Hirn-Traumata . . . . . . . . . . . . . 36 3.6 Hepatische Enzephalopathie . . . . . . . . 40 4 Zusammenhänge zwischen kog- nitiven Leistungen und der Fahr- kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.1 Exekutive Funktionen . . . . . . . . . . . . . . 44 4.2 Aufmerksamkeitsleistungen . . . . . . . . . 44 4.3 Visuell-räumliche Leistungen . . . . . . . . 45 4.4 Sonstige Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . 46 4.5 Beobachtbare Zusammenhänge bei gesunden Fahrern . . . . . . . . . . . . . . 46 4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5 Zusammenfassung und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5.1 Relevanz ausgewählter Erkrankungen für die Verkehrssicherheitsarbeit . . . . . . 50
7 1 Einleitung Hinblick auf das fahrkompetenzeinschränkende Po- tenzial ausgewählter Erkrankungen. Aufgrund der Automobilität erleichtert die Teilhabe am gesell- Berücksichtigung auch methodisch schwächerer schaftlichen Leben und ist für die meisten Men- Studien können aber auch die Defizite der bisheri- schen fester Bestandteil ihrer alltäglichen Routine. gen Forschung dezidiert beschrieben und bewertet Ob auf dem Weg zur Arbeit, beim wöchentlichen werden. Daraus lassen sich konkrete Handlungs- Einkauf oder beim Besuch von Bekannten und Ver- empfehlungen und zukünftige Forschungsschwer- wandten in umliegenden Städten: die Fortbewe- punkte ableiten. Entsprechend ausführlich sollen die gung mit einem Kraftfahrzeug hat in den vergange- Limitationen der berücksichtigten Studien im letzten nen Jahrzehnten zunehmend an Relevanz gewon- Drittel des Berichtes diskutiert werden. nen. Auch wenn sich in den letzten Jahren durch neue Mobilitätskonzepte die Nutzung des Autos zu Um der Komplexität der Thematik gerecht zu wer- verändern scheint, ist es nach wie vor das am meis- den, soll nach einer kurzen thematischen Einfüh- ten genutzte Verkehrsmittel in Deutschland (Statis- rung einleitend eine Beschreibung der im Kontext tisches Bundesamt, 2018a), unter anderem wohl der Fahraufgabe als relevant erachteten kognitiven auch, da öffentliche Verkehrsmittel in ländlicheren Funktionen erfolgen. Anschließend werden theoreti- Regionen häufig schwer zugänglich und gerade für sche Modelle zur Beschreibung der Fahraufgabe Ältere unattraktiv sind (SCHEINER, 2006; WILL- und verschiedene Kompensationsstrategien darge- STRAND, HENRIKSSON, SVENSSON & LEVIN, stellt. Nach der Analyse relevanter Erkrankungen 2018). Bei vielen Menschen ist der Erhalt ihrer bis- und kognitiver Leistungen sollen Maßnahmen zur herigen Lebensqualität unabdingbar an den Erhalt Verbesserung der individuellen Fahrkompetenz er- ihrer Automobilität geknüpft. krankter Fahrer sowie zur Optimierung des bisheri- gen klinischen und wissenschaftlichen Vorgehens Verschiedene Erkrankungen und Störungen kön- beschrieben und diskutiert werden. Es folgt ein Fazit nen die Fahrkompetenz der Betroffenen nachhaltig sowie eine Empfehlung für zukünftige Aktivitäten. beeinträchtigen. Daraus können sich Risiken für die Betroffenen selbst, aber auch für andere Verkehrs teilnehmer ergeben. Aufgrund der hohen Relevanz für die Verkehrssicherheit kommt der Thematik 2 Theoretischer Hintergrund Krankheit und Fahrkompetenz sowohl aus verkehrs psychologischer, als auch aus klinischer und gesell- Aufgrund intensiver Bemühungen von Politik, Wis- schaftlicher Sicht, eine besondere Bedeutung zu. senschaft, Verbänden und Automobilindustrie konn- te die Verkehrssicherheit in den letzten Jahrzehnten Ziel dieses Berichtes ist es, anhand der Darstellung stetig verbessert werden. Dennoch ist die Teilnah- und Analyse aktueller und zentraler wissenschaftli- me am Straßenverkehr weiterhin mit Risiken ver- cher Erkenntnisse zu einem besseren Verständnis bunden. So wurden im Jahr 2017 insgesamt 3.180 krankheitsbedingter Beeinträchtigungen der Fahr- Menschen bei Verkehrsunfällen in Deutschland ge- kompetenz beizutragen. Von besonderem Interesse tötet, insgesamt 390.312 Menschen wurden ver - ist dabei der Einfluss krankheitsbedingter kognitiver letzt (Statistisches Bundesamt, 2018b). Schätzun- Störungen auf die Fahrkompetenz. Hierfür ist eine gen gehen davon aus, dass sich rund 70 – 90 % Betrachtung der Zusammenhänge über mehrere re- der Straßenverkehrsunfälle auf menschliches Ver- levante Störungen hinweg erforderlich. Im Rahmen sagen zurückführen lassen (SALMON, YOUNG, des Berichtes soll ein möglichst umfassender Über- LENNÉ, WILLIAMSON & TOMASEVIC, 2011; blick über die Thematik und den aktuellen For- TREAT, 1980). Um den Unfallfaktor Mensch mög- schungsstand gegeben werden. Vor dieser Zielset- lichst klein zu halten, wird für die Teilnahme am mo- zung wurden auch Studien, die aufgrund von metho- torisierten Straßenverkehr unter anderem die kör- dischen Schwächen (z. B. eine geringe Stichpro- perliche und kognitive Belastbarkeit des Fahrers1 bengröße) nur über eine begrenzte Aussagekraft verfügen, in den Bericht mit aufgenommen. Mögli- che Limitationen einzelner Studien werden ausführ- 1 lich beschrieben und im Rahmen der Diskussion kri- Der besseren Lesbarkeit halber werden Personenbezeich- nungen in diesem Bericht ausschließlich in der grammatika- tisch analysiert (vgl. Kapitel 5.4). Diese umfassende lisch maskulinen Form verwendet. Sofern nicht anders Zusammenstellung und Bewertung empirischer gekennzeichnet, bezeichnen sie Personen beiderlei Ge- Arbeiten ermöglicht zunächst neue Erkenntnisse im schlechts.
8 vorausgesetzt. So heißt es in § 2 Absatz 4 des Stra- wieder in ausreichender Form nachgewiesen wer- ßenverkehrsgesetztes (StVG), dass derjenige ge- den kann. eignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, „der die Eine Kompetenz beruht auf Wissen und Fähigkei- notwendigen körperlichen und geistigen Anforde- ten eines Individuums (HARTIG & KLIEME, 2007). rungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wieder- Die Verwendung des Begriffs Fahrkompetenz be- holt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder ge- tont entsprechend die Möglichkeit, durch Training gen Strafgesetzte verstoßen hat“. und Kompensation beobachtbares Fahrverhalten Kommt es im Krankheitsfall oder mit steigendem Al- verbessern zu können (JACOBS, 2016). Gleichzei- ter zu Leistungseinbußen in den genannten Berei- tig wird deutlich, dass es sich beim Führen eines chen, so droht die Beeinträchtigung der Fahrkom- Fahrzeuges – im Sinne einer Kompetenz – um ein petenz. Der Begriff der Fahrkompetenz umfasst da- Zusammenspiel mehrerer Teilleistungen handelt. bei alle Fertigkeiten oder „Skills“ die erforderlich Da der vorliegende Bericht eben diese Teilleistun- sind, um ein Fahrzeug sicher führen zu können. Ne- gen im Detail untersuchen will, gleichzeitig aber kei- ben dem Begriff Fahrkompetenz werden in der Lite- ne Aussage über rechtlich relevante Aspekte im ratur weitere Begriffe verwendet, um die Fähigkeit Sinne der Fahreignung macht, beziehen sich die einer Person, ein Fahrzeug sicher im Straßenver- folgenden Aussagen, sofern nicht anders gekenn- zeichnet, ausschließlich auf die Fahrkompetenz. kehr steuern zu können, zu beschreiben (JACOBS, 2016; vgl. Bild 1). Der Begriff Fahrtüchtigkeit hat ei- Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft nen stark situativen Fokus und betont, dass die Fä- und der daraus resultierenden Zunahme altersas- higkeit ein Fahrzeug sicher zu führen zeitweise, soziierter Erkrankungen ist der Einfluss krankheits- z. B. nach dem Konsum von Alkohol oder bei Über- bedingter Leistungsbeeinträchtigungen auf die Ver- müdung, eingeschränkt sein kann (z. B. MADEA, kehrssicherheit zunehmend in den Fokus von Öf- MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012). Nach Beendi- fentlichkeit und Forschung geraten (HOLTE & AL gung des beeinträchtigenden Zustands ist die Fahr- BRECHT, 2004). Es besteht eine große Anzahl von tüchtigkeit in aller Regel wieder gegeben. Eine aus- Erkrankungen und Störungen mit Einfluss auf die reichende Fahrkompetenz und Fahrtüchtigkeit wie- Fahrkompetenz. Führt eine Einschränkung der derum bilden die Grundlage für die Fahreignung Fahrkompetenz zum Verlust der Fahreignung, be- (vgl. Bild 1). Fahreignung ist ein im rechtlichen Kon- steht für den Betroffenen zunächst die Notwendig- text häufig verwendeter Begriff, der die fahrerische keit, neue Möglichkeiten zum Erhalt seiner Mobili- Leistung als über die Zeit stabile Disposition be- tät zu erschließen (LOGAN, DYAS & GLADMAN, schreibt. Bei fehlender Fahreignung darf ein Fahr- 2004). Der Verlust der Automobilität kann weiterhin zeug so lange nicht mehr geführt werden, bis diese zu einen sinkenden Selbstwert oder der Entstehung Bild 1: Teilaspekte der sicheren Fahrzeugführung nach JACOBS (2016)
9 depressiver Symptome führen (JOHNSON, FRANK, nen, weshalb die Begriffe psychische Leistungsfä- POND & STOCKS, 2013; SIREN et al., 2010; higkeit und kognitive Leistungsfähigkeit hier syno- VAUGHAN et al., 2015). nym verwendet werden sollen. Eine Zusammenstellung eignungsausschließender Kognitive Defizite sind je nach Ausprägung erst im und eignungseinschränkender körperlicher und näheren Kontakt oder durch den Einsatz diagnosti- oder geistiger Mängel findet sich in den durch die scher Instrumente ersichtlich. Auch die Betroffenen Bundesanstalt für Straßenwesen herausgegebe- selber haben zum Teil nur eine unzureichende Ein- nen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung sicht in die bestehenden kognitiven Defizite (MARX, (GRÄCMANN & ALBRECHT, 2018). Darin enthal- 2014; ORFEI et al., 2007; SHERER et al., 2003), ten sind Hinweise zur Begutachtung der Fahreig- und viele der kognitiven Störungen sind für eine nung von Patienten mit Krankheiten unterschiedli- medikamentöse Therapie kaum zugänglich (MA- cher Ätiologie. DEA, MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012). Seit vielen Jahren versuchen unterschiedliche For- In Deutschland sind in den Begutachtungsleitlinien schergruppen die für die Fahrkompetenz relevan- für Kraftfahreignung die kognitiven Vorrausetzun- te Einflussfaktoren zu identifizieren. Laut MARX gen zum Führen eines Fahrzeuges festgelegt (2018) ist der Einfluss einer Erkrankung auf die Ver- (GRÄCMANN & ALBRECHT, 2018). LUNDQVIST, kehrssicherheit im wesentlichen durch drei Fakto- ALINDER, MODIG-ARDING und SAMUELSSON ren bedingt: (2011) erachten darüber hinaus kognitive Flexibili- tät, eine schnelle Informationsverarbeitung sowie • Bestehen dauerhafte körperliche oder geistige Einsicht in gegebenenfalls vorhandende Defizite als Funktionseinschränkungen als Folge der Er- zwingend erforderlich, um ein Fahrzeug sicher im krankung, beeinflussen diese die Fahrkompe- Verkehr steuern zu können. Weiterhin als relevant tenz und können sie gegebenenfalls kompen- angesehen werden visuell-räumliche Leistungen siert werden? und die selektive Aufmerksamkeit (SUN, XIA, FOSTER, FALKMER & LEE, 2018) oder Vigilanz • Besteht das Risiko eines plötzlichen Kontrollver- und Gefahrenantizipation (MADEA, MUẞHOFF & lustes, zum Beispiel im Falle eines erneuten BERGHAUS, 2012). Beobachtbare Auffälligkeiten, Krankheitsereignisses? selbst in mehreren der als relevant erachteten Be- • Besteht auf Seiten des Betroffenen Einsicht in reichen, führen jedoch nicht zwingend zu einer sig- bestehende Defizite? nifikanten Beeinträchtigung der Fahrkompetenz (MADEA, MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012). Die Mehrere Studien konnten zeigen, dass isoliert auf- aktuell bestehenden Konzepte zur Beschreibung tretende motorische und sensorische Defizite bis zu fahrrelevanter kognitiver Leistungen werden ent- einem gewissen Grad durch medizinische Hilfsmit- sprechend kritisch diskutiert (FASTENMEIER, tel (Sehhilfe, Hörgeräte, Prothesen), Pharmakothe- GSTALTER, ROMPE & RISSER, 2015; MÜLLER, rapie (MADEA, MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012) REIMANN & WAGNER, 2018; POSCHADEL, FAL- oder technische Änderungen am Fahrzeug (z. B. KENSTEIN, PAPPACHAN, POLL & WILLMES VON Umlenkung des Gaspedals, Lenkknauf; DEVOS et HINCKELDEY, 2009). al., 2011; JACOBS, 2016; KÜST, 2011; MADEA, MUẞHOFF & BERGHAUS, 2012; MARX, 2018) an- Eine Möglichkeit, ein besseres Verständnis für die gemessen kompensiert werden können. bestehenden Zusammenhänge zwischen kogniti- ven Leistungen und der Bewältigung der Fahrauf- Noch nicht eindeutig geklärt ist, welchen Einfluss gabe entwickeln zu können, ist die systematische psychische Leistungsdefizite auf die Fahrkompe- und möglichst umfassende Untersuchung von kog- tenz haben können. Die psychische Leistungsfähig- nitiv beeinträchtigten Fahrern. Kognitive Defizite keit basiert laut der Begutachtungsleitlinien für treten besonders häufig als Folge von akuten Hirn- Kraftfahreignung auf der optischen Orientierungs- schädigungen oder bei Krankheiten, die das zentra- leistung, der Konzentrationsfähigkeit, der Auf- le Nervensystem betreffen, auf (MARX, 2014). merksamkeitsleistung, der Reaktionsfähigkeit und Dazu zählen insbesondere neurologische und neu- der (kognitiven) Belastbarkeit (GRÄCMANN & AL rodegenerative Erkrankungen, weshalb sich diese BRECHT, 2018). Diese Leistungen lassen sich all- besonders gut zur Untersuchung bestehender Zu- gemeinhin auch als kognitive Leistungen bezeich- sammenhänge und Wechselwirkungen zwischen
10 kognitiven Leistungen und der Fahrkompetenz eig- stehenden Defizite kompensiert werden können nen. (AKSAN, ANDERSON, DAWSON, UC & RIZZO, 2015; CUENEN, JONGEN, BRIJS, BRIJS, LUTIN Dieser Annahme entsprechend, ist die Fahrkompe- et al., 2016; VANLAAR et al., 2014). Zur besseren tenz bei einem Teil der neurologischen Patienten Übersicht sollen zunächst zentrale kognitive Leis- als Folge der Erkrankung nachweislich einge- tungen im Folgenden aufgelistet und beschrieben schränkt (JACOBS, HART & ROOS, 2017; NIE- werden. MANN & HARTJE, 2013; UC & RIZZO, 2008). Da- bei führen die krankheitsbedingten Beeinträchtigun- gen nicht immer im gleichen Ausmaß zu Auffällig- keiten im Fahrverhalten. So zeigten in einer Studie 2.1 Kognitive Leistungen mit 494 neurologischen Patienten mit unterschiedli- Das menschliche Denken und Handeln, worunter chen Grunderkrankungen rund 28 % deutliche Auf- auch das Führen eines Fahrzeuges fällt, basiert auf fälligkeiten in ihrem Fahrverhalten und hatten in der neurophysiologischer Aktivität unseres Gehirns. Folge eine Fahrverhaltensprobe nicht bestanden Bereits im 19. Jahrhundert wurde im Rahmen der (NIEMANN & HARTJE, 2013). Bei den im Rahmen damals entwickelten Psychophysik versucht, psy- einer Metaanalyse einbezogenen Studien, die aus- chische oder kognitive Leistungen in Zusammen- schließlich Schlaganfallpatienten hinsichtlich ihrer hang mit Gehirnprozessen zu bringen (PRINZ & Fahrkompetenz untersuchten, bestanden hingegen MÜSSELER, 2008). Durch die Entwicklung moder- insgesamt 46 % der Probanden die Fahreignungs- ner Forschungsmethoden wurde ein zunehmend überprüfung nicht (DEVOS et al., 2011). Allerdings besseres Verständnis hinsichtlich der den kogniti- gab es auch hier zwischen den einzelnen Studien ven Leistungen zugrundeliegenden neurophysiolo- deutliche Unterschiede in der Anzahl der Fahrer, die gischen Mechanismen ermöglicht. Dennoch sind deutlich in ihrer Fahrkompetenz eingeschränkt wa- viele Prozesse nach wie vor nicht vollumfänglich ren. verstanden. Der Ursprung kognitiver Funktionalität liegt dabei im anatomischen Aufbau des Gehirns. Die stark variierende Anzahl der Fahrer mit unzurei- chender Fahrkompetenz lässt sich zum Teil auf me- Stark vereinfacht lässt sich das menschliche Gehirn thodologische Unterschiede zwischen verschiede- in drei (vier) entwicklungsbiologisch unterschiedlich nen Studien zurückführen. Gleichzeitig scheinen alte Strukturen unterteilen: das Stammhirn (und unterschiedliche Grunderkrankungen, aber auch in- Zwischenhirn), das Kleinhirn und das Großhirn terindividuelle Unterschiede in der Krankheits- (TSCHABITSCHER, 2011). Das Großhirn besteht schwere und bei der Kompensationsfähigkeit von aus zwei äquivalenten Hemisphären, die über den Defiziten, maßgeblichen Einfluss auf die Fahrkom- sogenannten Balken miteinander verbunden sind. petenz im Krankheitsfall zu haben. Zu ähnlichen Die äußere Schicht des Großhirns, die Großhirnrin- Ergebnissen kommt auch die Metaanalyse von de oder auch zerebraler Cortex, lässt sich wieder- HIRD, VETIVELU, SAPOSNIK und SCHWEIZER um in vier miteinander vernetzte Areale aufteilen: (2014). Pauschale Urteile hinsichtlich der Fahrkom- Den Frontal-, Parietal-, Okzipital- und Temporallap- petenz anhand einer Diagnose oder Grunderkran- pen (TSCHABITSCHER, 2011). Im Falle einer Er- kung sind somit unzulässig (AKSAN, ANDERSON, krankung oder eines Unfalls kommt es abhängig DAWSON, UC & RIZZO, 2015; Deutsche Diabetes vom Schädigungsort im Gehirn zu unterschiedli- Gesellschaft, 2017; NIEMANN & HARTJE, 2016; chen Störungen und Ausfällen, die Rückschlüsse SHINAR, 2007; UC & RIZZO, 2008). auf die dort verarbeiteten kognitiven Prozesse zu- lassen. Da eine detaillierte Darstellung der Lokali- Anhand der zitierten Überblicksarbeiten wird deut- sation einzelner Hirnfunktionen den Umfang dieses lich, dass von aktiven Fahrern mit einer zerebralen Berichtes überschreitet, wird für eine vertiefende Schädigung eine erhöhte Gefährdung der Verkehrs- Beschreibung an NIEUWENHUYS, VOOGD und sicherheit ausgehen kann. Aktuell bedarf es jedoch VAN HUIJZEN (2008) verwiesen. nach wie vor eines großen Aufwandes, um Fahrer mit eingeschränkter Fahrkompetenz zu identifizie- Das Spektrum kognitiver Leistungen ist vielfältig ren. Unter anderem deshalb, weil nach wie vor nicht und nur schwer kategorisch abzubilden, da viele ausreichend untersucht ist, welche spezifischen der zugrundeliegenden Prozesse parallel ablaufen Leistungsdefizite sich wie auf die Fahrkompetenz und nicht eindeutig voneinander zu trennen sind auswirken und unter welchen Umständen die be- (JACOBS, 2016). Auch wenn es in den letzten Jah-
11 ren große Fortschritte im Bereich der Neurowissen- wählen und gegenüber anderen konkurrierenden schaften gab, ist nach wie vor nicht abschließend Informationen zu priorisieren (MÜLLER & KRUM- geklärt, welche kognitiven Leistungen für die Be- MENACHER, 2008). Die Aufmerksamkeitsausrich- wältigung der Fahraufgabe erforderlich sind. Es ist tung kann dabei sowohl orts- als auch objektbasiert allerdings bereits jetzt ersichtlich, dass während erfolgen. Diese Leistung ist beispielsweise notwen- des Führens eines Fahrzeuges große Anforderun- dig, um aus der Fülle der uns im Auto umgebenden gen an die psychische Leistungsfähigkeit bestehen: Reize relevante Reize, wie z. B. Verkehrsschilder, Der Fahrer muss Entfernungen sicher einschätzen in angemessener Zeit herausfiltern und verarbeiten können, mehrere Stimuli gleichzeitig verarbeiten, zu können. die Aufmerksamkeit ausrichten und aufrechterhal- ten, schnell auf Ereignisse reagieren und Verkehrs- Viele Situationen beim Führen eines Fahrzeuges situationen richtig interpretieren (REGER et al., erfordern jedoch die Ausrichtung der Aufmerksam- 2004). Um ein Fahrzeug sicher zu steuern und zu keit auf mehrere relevante Reize und Handlungen. stabilisieren, bedarf es dementsprechend neben ei- Entsprechend der Theorie der geteilten Aufmerk- ner ausreichenden Aufmerksamkeitsleistung ver- samkeit lassen sich mehrere Aufgaben, zum Bei- mutlich auch weiterer kognitiver Funktionen. Dazu spiel ein Fahrzeug steuern und sich mit dem Beifah- zählen zum Beispiel eine hinreichende kognitive rer unterhalten, gleichzeitig durchführen. Diese Verarbeitungsgeschwindigkeit, visuelle Explorati- Leistungen sind hochkomplex und durch die Aufga- onsleistung oder eine angemessene Planungsfä- benähnlichkeit, die vorhandene Übung und die higkeit. Diese Funktionen basieren in der Regel auf Aufgabenschwierigkeit determiniert (MÜLLER & mehreren kognitiven Teilleistungen die im Krank- KRUMMENACHER, 2008). Kommt es bei ausrei- heitsfall, abhängig von der Grunderkrankung, in un- chender Übung zu einer zunehmend unbewussten terschiedlichem Maße gestört sein können. und automatischen Ausübung eines Verhaltens (z. B. ein erfahrener Fahrer fährt auf einer bekann- ten Strecke), werden Kapazitäten frei, die für weite- 2.1.1 Aufmerksamkeitsleistungen re Aufgaben und Handlungen genutzt werden kön- nen (z. B. einen Sendersuchlauf im Radio starten). Aufgrund des Anforderungsprofils der Fahraufgabe Ebenso zeigt sich bei einer Reduktion der Kapazitä- und den dort erforderlichen Reaktionen wird davon ten, zum Beispiel aufgrund einer höheren Aufga- ausgegangen, dass der Aufmerksamkeit und Reak- benschwierigkeit (Rückwärts einparken), die Fokus- tionsfähigkeit im Kontext des Fahrens eine beson- sierung auf lediglich einen Handlungsaspekt (Ge- dere Bedeutung zukommt (KÜST, 2011; REGER et spräch mit dem Beifahrer verstummt). al., 2004). Es wird angenommen, dass sich die Auf- merksamkeitsleistung in ineinandergreifende Un- Um ein Fahrzeug auch auf langen Strecken sicher terfunktionen gliedert, die in unterschiedlichem führen zu können, sind abhängig von der Auf Maße gestört sein können (SCHMIDBAUER, 2011). tretenswahrscheinlichkeit relevanter Reize ein aus- Dazu zählen nach SCHMIDBAUER (2011) die Ori- reichendes Maß an Daueraufmerksamkeit (Reiz- entierungsreaktion, die selektive Aufmerksamkeit, dichte hoch) oder Vigilanz (Reizdichte niedrig) er- die geteilte Aufmerksamkeit und die Daueraufmerk- forderlich. Vigilanz ist entsprechend bei monotonen samkeit. Andere theoretische Konzepte kategorisie- Fahrten, beispielsweise bei Nacht oder auf Auto- ren die Aufmerksamkeitsleistungen abhängig von bahnen, besonders wichtig, um auch noch nach den zwei Dimensionen Intensität (Alertness, Vigi- längerer Zeit kritische Stimuli ausreichend schnell lanz, Daueraufmerksamkeit) und Selektivität (selek- und korrekt erfassen und verarbeiten zu können. tive Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit und Daueraufmerksamkeit ist hingegen erforderlich, Aufmerksamkeitswechsel) (vgl. RÜSSELER, 2010). wenn über längere Zeit viele relevante Reize unter STURM (2009) ergänzt diese um die Dimension anspruchsvollen Bedingungen verarbeitet werden Räumliche Aufmerksamkeit, die die Aufmerksam- müssen. Im Kontext des Straßenverkehrs könnte keitsausrichtung auf räumlich voneinander getrenn- dies beispielsweise bei der Durchquerung einer un- te Hinweisreize beschreibt. bekannten Stadt bei hohem Verkehrsaufkommen der Fall sein. Besondere Relevanz im Kontext der Fahraufgabe kommt der selektiven Aufmerksamkeit zu. Damit bezeichnet man die Leistung, ausgewählte Informa- tionen (visuell, auditiv, sensorisch) selektiv auszu-
12 2.1.2 Sensorische Leistungen gebung oder der Abschätzung von Fahrbewegun- gen der umgebenden Verkehrsteilnehmer beteiligt Gemessen wird die Aufmerksamkeitsleistung häufig (GROH-BORDIN & KERKHOFF, 2009; SCHMIDT- über die Auswertung von Reaktionszeiten in stan- KE, 2018). dardisierten psychometrischen Verfahren (PO- SCHADEL, FALKENSTEIN, PAPPACHAN, POLL Räumlich-konstruktive oder auch visuokonstruktive & WILLMES VON HINCKELDEY, 2009). Dabei ist Leistungen sind durch eine Interaktion zwischen anzunehmen, dass abhängig vom Testparadigma motorischen und visuell-räumlichen Leistungen die Testleistung maßgeblich von der Funktionstüch- charakterisiert (GROH-BORDIN & KERKHOFF, tigkeit der verschiedenen Sinnesorgane abhängig 2009). Sie beziehen sich auf die Fähigkeit, einzelne ist. Diese ist aber bei neurologischen Erkrankungen lokale Elemente zu einem kohärenten Objekt zu- zum Teil eingeschränkt, beispielsweise bei zerebral sammenzufügen, zum Beispiel zeichnerisch oder bedingten Sehstörungen. So besteht die Möglich- beim Zusammensetzen von Bauelementen. Diese keit von neurologisch bedingten Gesichtsfeldausfäl- Leistung hängt dabei eng mit planerischen Fähig- len, Einschränkungen der Sehschärfe oder dem keiten zusammen, die im Allgemeinen den exekuti- Vorhandensein von Doppelbildern. Diese könnten ven Leistungen zugeschrieben werden. zum Beispiel das Ergebnis eines auf einer visuellen (Such-)Aufgabe basierenden Tests verfälschen. Im Fall eines Gesichtsfeldausfalls können Reize in 2.1.4 Exekutive Leistungen dem betroffenen Gesichtsfeld nicht mehr wahrge- Bei exekutiven Leistungen handelt es sich um eine nommen werden. Während des Autofahrens könnte nicht eindeutig definierte Sammlung kognitiver dies zum Beispiel dazu führen, dass andere Ver- Funktionen, die unmittelbar mit der Planung und kehrsteilnehmer übersehen werden. Auch eine ein- Kontrolle von menschlichem Handeln in Zusam- geschränkte taktile Wahrnehmung kann eine Test- menhang stehen (SATTLER, 2011). Exekutive Leis- leistung im oben genannten Sinne signifikant beein- tungen sind an der Koordination von Zwischen- flussen. schritten unserer Handlungsplanung und bei der Entwicklung von Lösungsansätzen beteiligt, wenn 2.1.3 Visuell-räumliche Leistungen es zu Komplikationen oder unerwarteten Ereignis- sen kommt (MÜLLER & MÜNTE, 2009). Patienten Ebenfalls von einer angemessenen Funktion der mit einer Beeinträchtigung der exekutiven Funktio- sensorischen Wahrnehmung abhängig sind die vi- nen haben Schwierigkeiten, Handlungen zu planen suelle Raumwahrnehmung und die Raumkognition und abzuschirmen oder Handlungsziele zu erinnern (GROH-BORDIN & KERKHOFF, 2009). Hierzu zäh- (HOMMEL, 2008). len zunächst basale räumlich-perzeptive Leistun- gen (Wahrnehmung von Entfernung, Größe und Zentrale Funktionen, die von den meisten Autoren Ausrichtung eines Objektes im Raum). Diese Leis- als exekutive Leistungen subsummiert werden, sind tung ist beispielsweise bei der Wahrnehmung und die Fähigkeit zur Inhibition, das Arbeitsgedächtnis Identifikation anderer Verkehrsteilnehmer relevant. und die mentale Flexibilität sich neuen Bedingun- gen anpassen zu können. Kommt es zur Beein- Die kognitiv komplexere Umstrukturierung von Ob- trächtigung dieser Leistungen, typischerweise nach jekten durch mentale Rotation im Raum oder Maß- Frontalhirnläsionen, kann es darüber hinaus zu We- stabstransformationen bezeichnet man als räum- sensveränderungen der Betroffenen kommen. Die lich-kognitive Leistung (GROH-BORDIN & KERK- Patienten verhalten sich zum Beispiel impulsiv und HOFF, 2009). Klinische Läsionsstudien zeigen, reizgesteuert, scheinen nur noch in der Gegenwart dass diese von den räumlich-perzeptiven Leistun- zu leben und haben Mühe, zielgerichtete Handlun- gen abzugrenzen sind, da es abhängig vom Schä- gen zu planen und zu initiieren (CIURLI et al., 2010; digungsort zu selektiven Störungen der beiden GREVE et al., 2001; NIEMANN & HARTJE, 2016; Leistungen kommen kann. SATTLER, 2011). Betroffene sind zum Teil schnell abgelenkt (Interferenzanfälligkeit), können sich Räumlich-topografische Leistungen beziehen sich gleichzeitig aber nur schwer bewusst von einer Auf- auf die vorgestellte oder reale Navigation und Ori- gabe lösen (Perseverationstendenz). Zudem wird entierung im dreidimensionalen Raum und sind so- angenommen, dass exekutive Funktionen einen mit maßgeblich an der mentalen Kartierung der Um- steuernden und kontrollierenden Einfluss auf ande-
13 re kognitive Leistungen wie die Visuokonstruktion LEHOCKEY, 2016). Während des Führens eines oder die Aufmerksamkeit haben (MÜLLER & MÜN- Fahrzeuges kann es aufgrund mangelnder Einsicht TE, 2009; SNELLGROVE, 2005). zu einer Überschätzung der eigenen Fahrkompe- tenz und in der Folge einer Exposition mit überfor- In einigen Fällen kann es aufgrund exekutiver Defi- dernden Situationen kommen (HAY, ADAM, BOC- zite zu krankhaften Akzentuierungen der Persön- CA & GABAUDE, 2016). Es ergeben sich Hinweise, lichkeit kommen, da aufgrund mangelnder Inhibi dass sich eine unzureichende Awareness negativ tionsfähigkeit eigentlich gut regulierte Persönlich- auf die Ausübung kompensatorischer Verhaltens- keitsakzente, wie Aggressivität oder antisoziale weisen, wie beispielsweise dem Vermeiden von Tendenzen, deutlicher zutage treten. Erschwerend Fahrten bei Nacht oder zu Hauptverkehrszeiten, kommt hinzu, dass es bei exekutiven Defiziten häu- auswirkt (ANSTEY, WOOD, LORD & WALKER, fig zu einem unzureichenden Störungsbewusstsein, 2005). Weiterhin scheint ein Zusammenhang zwi- also einer unzureichenden Einsicht in eigene Defizi- schen der Awareness bezüglich der nachlassenden te, kommt (MÜLLER, 2013). Leistungsfähigkeit und dem Einstellen des aktiven Autofahrens zu bestehen (BOON, OXLEY, WON & Aufgrund der hohen Alltagsrelevanz der betroffenen SHAUN, 2019) Funktionen ist selbst bei geringfügigen Beeinträch- tigungen der exekutiven Funktionen ein deutlicher Die hier aufgeführte Liste an kognitiven Funktionen Einfluss auf die Fahrkompetenz zu erwarten. Kon- erhebt bei weitem nicht den Anspruch auf Vollstän- kret sind sie erforderlich, um beispielsweise in un- digkeit. Es handelt sich jedoch, nach aktuellem For- klaren Situationen im Fahrzeug eine adäquate Ent- schungsstand, um die vermutlich zentralen Funktio- scheidung zu treffen oder bei der Ausübung einer nen zur Bewältigung der Fahraufgabe. Dabei ist da- vorausschauenden Fahrweise. von auszugehen, dass nicht einzelne kognitive Leistungen, sondern nur die Interaktion mehrerer Teilleistungen der Komplexität der Gesamtaufgabe 2.1.5 Gedächtnisleistung des Autofahrens gerecht wird. Wie genau diese In- Ebenfalls potenziell relevant für die Bewältigung der teraktionen ablaufen und welche Anforderungen Fahraufgabe sind die Gedächtnisleistungen (JA- wann relevant sind, ist jedoch erst in Ansätzen un- COBS, 2016). Verschiedene Modelle unterschiedli- tersucht worden. cher Komplexität unterscheiden in der Regel zwi- schen Arbeits-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, in denen Informationen modalitätsspezifisch (z. B. 2.2 Die Fahraufgabe visuell, akustisch, olfaktorisch) abgespeichert und verarbeitet werden können (für einen Überblick sie- Um krankheitsbedingte Einflüsse auf die Fahrkom- he BUCHNER & BRANDT, 2008). Im Kontext der petenz bewerten zu können, sollte zunächst die Fahraufgabe sind Gedächtnisfunktionen relevant, Fahraufgabe als solche analysiert werden, um die um beispielsweise Verkehrsregeln zu erinnern oder daraus resultierenden Anforderungen an den Fah- kritische Reize, wie die den Fahrer umgebenden rer ableiten zu können. Die erfolgreiche Bewälti- Verkehrsteilnehmer, kurzfristig zu speichern und gung der Fahraufgabe ist vom Verhalten des Fah- wieder abrufen zu können. rers selbst, aber auch durch eine Vielzahl situativer und umweltbedingter Einflüsse abhängig (SHINAR, 2007). Um Fahrverhalten zu beschreiben, erklären 2.1.6 Störungsbewusstsein und voraussagen zu können, haben sich in der Ver- kehrspsychologie verschiedene Modelle als nütz- Bei verschiedenen Erkrankungen und neuropsy- lich erwiesen. chologischen Störungen, wie zu Beispiel einem Neglect, kann es zu einem unzureichenden Stö- Dabei beziehen sich viele Autoren auf den Ansatz rungsbewusstsein kommen (MADEA, MUẞHOFF & von MICHON (1985), welcher die Fahraufgabe in BERGHAUS, 2012). Dieses, auch als Unaware- die drei Ebenen strategisch (planen), taktisch (ma- ness (von engl. Awareness = Bewusstsein) be- növrieren) und operativ (kontrollieren) unterteilt. Die zeichnete, Phänomen ist durch eine mangelnde strategische Ebene ist die höchste Ebene auf der Einsicht in bestehende Defizite und Beeinträchti- Vorüberlegungen zur Routenplanung, dem Zeit- gungen charakterisiert (MÜLLER, 2013; WOLFE & punkt der Fahrt oder dem verwendeten Verkehrs-
14 mittel getroffen werden. Auf der taktischen Ebene siert, zum Beispiel im Rahmen der ersten Fahrstun- trifft der Fahrer Entscheidungen bezüglich seines de oder bei einer Fahrt im Nebel. Im Gegensatz Fahrverhaltens während der Fahrt, beispielsweise dazu kann mit zunehmender Fahrerfahrung und den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug, die sinkenden Anforderungen, beispielsweise auf all- Anpassung der aktuellen Geschwindigkeit oder das täglichen Routen wie dem Arbeitsweg, Verhalten Initiieren von Überholvorgängen. Die operative eher unbewusst und automatisiert ausgeführt wer- Ebene hingegen beschreibt Maßnahmen zur Steu- den. Durch die Kombination der Modelle erhalten erung und Stabilisierung des Fahrzeuges, zum Bei- die drei Ebenen von MICHON abhängig von der spiel Lenkbewegungen oder Bremsmanöver als subjektiven Bekanntheit der vorliegenden Situation Reaktion auf Ereignisse oder Stimuli (MICHON, eine zusätzliche Dimension zur Bewertung der Auf- 1985). gabenschwierigkeit. Dabei postulieren die Autoren mit zunehmender Aufgabenschwierigkeit einen zu- Dabei haben von der strategischen zur operativen nehmenden kognitiven Workload. Ebene hin die zu bewältigenden Aufgaben eine im- mer stärker werdende psychomotorische Kompo- In Bild 2 sind die einzelnen Ebenen und Dimensio- nente. So muss eine Reaktion auf der operativen nen der Fahraufgabe anhand beispielhafter Situa Ebene häufig im Bruchteil von Sekunden in Form tionen dargestellt. Dabei bleibt jedoch weitestge- einer motorischen Reaktion erfolgen, während hend unklar, welche körperlichen und kognitiven Planungsprozesse auf der strategischen Ebene Voraussetzungen die einzelnen Ebenen erfordern auch mehrere Minuten in Anspruch nehmen können und ob sich diese gegebenenfalls über die Ebenen und häufig theoretischer Natur sind (VERSTER & hinweg unterscheiden. Hinweise darauf ergeben ROTH, 2011). Insofern wird aus dem Modell deut- sich anhand der für die einzelnen Ebenen ableitba- lich, dass sowohl psychomotorische als auch meta- ren Kompensationsstrategien. Diese können, eben- kognitive Prozesse für die erfolgreiche Bewältigung so wie die Bewältigung der Fahraufgabe selber, so- der Fahraufgabe zwingend erforderlich sind. wohl bewusst, beispielsweise im Sinne einer Ver- meidung oder Selektion bestimmter Verhaltens VERSTER und ROTH (2011) haben das Modell um tendenzen, als auch unbewusst erfolgen. weitere, insbesondere kognitive, Elemente erwei- tert. So kombinierten sie das Modell von MICHON Eine mögliche Kompensationsstrategie auf der ope- (1985) mit dem von RASMUSSEN (1987, zit. n. rativen Ebene wäre zum Beispiel eine konservative VERSTER & ROTH, 2011) und ergänzten es um die Fahrstreifenwahl. Auf taktischer Ebene wären mög- Bereiche wissensbasiertes, regelbasiertes und fä- liche Kompensationsstrategien mit geringerer Ge- higkeitsbasiertes (automatisiertes) Verhalten. Da- schwindigkeit fahren oder größere Abstände zum bei erfolgt bei höheren Anforderungen die Auswahl vorausfahrenden Fahrzeug einhalten. Auf der stra- des Fahrverhaltens eher bewusst und wissensba- tegischen Ebene erfolgt die Kompensation hinge- Bild 2: Schematische Darstellung der einzelnen Ebenen der Fahraufgabe (VERSTER & ROTH, 2011)
15 gen in Form von Entscheidungen vor Fahrtantritt, sen. Um individuelle Mängel identifizieren zu kön- die zum Beispiel durch selbstregulatorisches Ver- nen, werden neben einer klinischen Beurteilung un- halten den Schwierigkeitsgrad der Fahraufgabe ab- ter anderem Persönlichkeitstests, Leistungstests senken. So könnte man anhand von Vorüberlegun- und Fahrverhaltensproben eingesetzt (PIENDL, gen Hauptverkehrszeiten meiden oder nur noch be- 2015). Dieses Vorgehen ist mit einem großen Auf- kannte Strecken fahren. Diese und weitere Kom- wand verbunden und die Vorhersagekraft der Er- pensationsstrategien konnten sowohl bei älteren gebnisse einzelner Verfahren ist teils nicht zufrie- (MOLNAR et al., 2014; SCHUMACHER & SCHU- denstellend (FASTENMEIER, GSTALTER, ROMPE BERT, 2018; SHINAR, 2007; WONG, SMITH & & RISSER, 2015). Um zukünftig den Einfluss krank- SULLIVAN, 2012) als auch bei erkrankten Fahrern heitsbedingter Beeinträchtigungen auf die Fahr- (DEVLIN & McGILLIVRAY, 2016; JOHNSON, kompetenz adäquater und ökonomischer beurteilen FRANK, POND & STOCKS, 2013; LUNDQVIST, zu können, ist mittel- bis langfristig ein tiefergehen- ALINDER & RÖNNBERG, 2008; SINGH, PENT- des Verständnis der komplexen Zusammenhänge LAND, HUNTER & PROVAN, 2007) beobachtet zwischen einzelnen kognitiven Leistungsdimen werden. Welche Voraussetzungen für eine erfolg- sionen und der Bewältigung der Fahraufgabe er reiche Kompensation erforderlich sind, wird in den forderlich. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung be- schrieben. Hier werden unter anderem psychische Die besondere Relevanz neurodegenerativer und Qualitäten, wie besondere Umsicht oder Gewissen- neurologischer Erkrankungen bei der Identifikation haftigkeit, für die Kompensation überdauernder von für die Fahrkompetenz relevanten Leistungs oder chronischer Eignungsmängel als relevant dimensionen wurde einleitend dargestellt (vgl. Kapi- beschrieben (GRÄCMANN & ALBRECHT, 2018). tel 2). Im Folgenden soll ein Überblick über die im Weitere für die Kompensation relevante Faktoren Kontext der Verkehrssicherheit als besonders rele- seien eine insgesamt ausreichende intellektuelle, vant erachteten neurologischen und neurodegene- körperliche und sinnesphysiologische Leistungs rativen Erkrankungen gegeben werden. Die Vor- fähigkeit, Fahrerfahrung sowie eine sicherheits- auswahl der Erkrankungen, die in diesen Bericht und verantwortungsbewusste Grundeinstellung. aufgenommen wurden, erfolgte dabei unter Berück- HOLTE (2018) konnte zudem Zusammenhänge sichtigung der Prävalenz und der zu erwartenden zwischen unterschiedlichen Lebensstilen und spe- Beeinträchtigung der Fahrkompetenz durch die zifischen Kompensationsmechanismen bei älteren im Kontext der Krankheit auftretenden neurologi- Fahrern feststellen. Diese hingen dabei insbeson- schen und/oder neuropsychologischen Symptome. dere mit der Veränderung verkehrssicherheits - Zunächst soll ein kurzer Überblick über die Ätio- relevanter Erwartungen, wahrgenommenen Ver- logie und Symptomatik der Erkrankung gegeben haltensveränderungen sowie wahrgenommenen werden. Anschließend sollen der Einfluss der Er- Kontextveränderungen, z. B. weniger finanzielle krankung auf die Fahrkompetenz und mögliche Mittel oder schlechterer Gesundheitszustand, zu- moderierende Faktoren diskutiert werden. sammen. Nicht eindeutig geklärt ist hingegen, wel- che kognitiven Leistungen bei der Kompensation von Leistungsdefiziten von Relevanz sind und wie möglicherweise bestehende Zusammenhänge kon- kret aussehen. Unter anderem aufgrund der bestehenden Wis- senslücken kann der verkehrsgefährdende Einfluss einer vorliegenden Erkrankung sowohl in der Klinik als auch in der Forschung aktuell nur schwer beur- teilt werden. Die Defizite zweier Menschen mit der gleichen Diagnose (z. B. Schlaganfall) können sich stark unterscheiden, während zwei Menschen mit unterschiedlichen Diagnosen (z. B. Schädel-Hirn- Trauma und frontotemporale Demenz) möglicher- weise ein sehr ähnliches Symptommuster aufwei-
16 3 Ausgewählte neurologische schaftlichen Veröffentlichungen zu dem Thema wie- der und soll entsprechend auch die Grundlage für und neurodegenerative Er- die inhaltliche Struktur dieses Kapitels darstellen. krankungen und ihr Einfluss auf die Fahrkompetenz Aufgrund der einleitend beschriebenen interindivi- duellen Variabilität werden krankheitsbedingte Be- Im Rahmen der bisherigen Forschungsarbeiten einträchtigungen der Fahrkompetenz jedoch zu- wird die krankheitsbedingte Gefährdung der Ver- nehmend mithilfe eines symptomorientierten Ansat- kehrssicherheit häufig anhand des beobachtbaren zes untersucht. Dieser folgt der Annahme, dass oder berichteten Unfallrisikos der Betroffenen ope- nicht die Diagnose bzw. Erkrankung, sondern die im rationalisiert. Da Unfallereignisse selten auftreten Einzelfall auftretende Symptomatik, unabhängig (BAJAJ, SAEIAN et al., 2009), erscheint die alleini- von deren Ätiologie, die bestmögliche Vorhersage ge Berücksichtigung dieses Kriteriums zur Bewer- auf das Fahrverhalten der Betroffenen ermöglicht. tung des verkehrsgefährdenden Einflusses einer Diesem Ansatz folgend, sollen in Kapitel 4 Zusam- Erkrankung nur bedingt geeignet. Um den Einfluss menhänge zwischen einzelnen (kognitiven) Leis- von neurologischen und neurodegenerativen Er- tungsbeeinträchtigungen und der Bewältigung spe- krankung auf die Verkehrssicherheit und in der Fol- zifischer Fahraufgaben berichtet werden. ge ihre Relevanz für die Verkehrssicherheitsarbeit adäquat einschätzen zu können, wird daher vorge- schlagen, zusätzliche Parameter, die zur Beeinflus- 3.1 Leichte kognitive Störung sung eines theoretischen Gesamtrisikos beitragen, zu berücksichtigen. Hierzu geeignet erscheinen ne- Mit zunehmendem Alter kommt es zu einem Leis- ben epidemiologischen Daten vor allem die Anzahl tungsabbau in sensorischen, kognitiven und motori- aktiver Fahrer in der jeweiligen Gruppe der Erkrank- schen Funktionsbereichen (für einen Überblick ten sowie die beobachtbare Beeinträchtigung der siehe SCHUBERT, GRÄCMANN & BARTMANN, Fahrkompetenz infolge einer Erkrankung. Die Fahr- 2018). Es handelt es sich um einen natürlichen Ver- kompetenz umfasst, wie bereits einleitend in Kapitel änderungsprozess, der jedoch nicht alle Leistungs- 2 erläutert, einzelne Fähigkeiten und Skills zur Be- bereiche gleichermaßen betrifft und der interindivi- wältigung spezifischer Fahraufgaben. Ist die Fahr- duell unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann kompetenz beeinträchtigt, so muss nicht zwingend (POTTGIEẞER et al., 2012). Kognitive Leistun- die Fahreignung in Frage gestellt werden. Beispiels- gen, die deutlich von der Norm gesunder und weise können durch eine besonnene und umsichti- gleichalter Kontrollpersonen abweichen und die ge Fahrweise oder eine am individuellen Leistungs- sich nicht durch eine Erkrankung oder eingenom- niveau orientiere Routenwahl Defizite in der Fahr- mene Medikation erklären lassen, bezeichnet man kompetenz bei alltäglichen Fahrten kompensiert als leichte kognitive Störung (LKS) oder englisch werden. als Mild Cognitive Impairment (MCI) (ESCHWEI- LER, LEYHE, KLÖPPEL & HÜLL, 2010). Abhängig Hinter der Auswahl dieser Kriterien steht die von der oder den betroffenen Domäne/n unterschei- Schlussfolgerung, dass je häufiger eine Erkrankung det man verschiedene Formen der LKS (PALMER, in der Bevölkerung vorkommt, je mehr Betroffene BÄCKMAN, WINBLAD & FRATIGLIONI, 2008). weiterhin aktiv Auto fahren und je deutlicher sich Allgemein wird zwischen der amnestischen und ihre Symptome auf die Fahrkompetenz auswirken, der non-amnestischen LKS unterschieden. Die umso größer sollte der potenzielle Einfluss der Er- LKS kann dabei eine oder auch mehrere kognitive krankung auf die Verkehrssicherheit sein. Domänen (z. B. Exekutive, Sprache, Gedächtnis Aktuell werden in der Regel krankheitsbedingte Ein- usw.) betreffen (PETERSEN, 2004). Je nach Ätio- flüsse selektiv nach verschiedenen Grunderkran- logie und Form der LKS können dabei beispielswei- kungen beschrieben und bewertet. Dieser Ansatz se Gedächtnisdefizite, Konzentrationsstörungen, fußt unter anderem auf der Annahme, dass bei ein- Wortfindungsstörungen oder Schwierigkeiten beim zelnen Erkrankungen aufgrund von unterschiedli- Planen und Organisieren auftreten. Die Erkrankten chen Symptomen, Verläufen und daraus resultie- sind dabei per Definition nicht wesentlich in ihrer All- renden Leistungseinbußen auch ein unterschiedlich tagsfähigkeit eingeschränkt und leiden nicht an ei- starker Einfluss auf die Fahrkompetenz zu erwarten ner Demenz (BRUNNAUER, BUSCHERT & LAUX, ist. Dieser Ansatz findet sich in den meisten wissen- 2014).
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