Komische Frisuren! Carlos Rodrigues Gesualdi! - (Deutsche Fassung: Carlos Rodrigues Gesualdi & Marita Urfey-Mülhens)!

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               Komische Frisuren!
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                 Carlos Rodrigues Gesualdi!
    (Deutsche Fassung: Carlos Rodrigues Gesualdi & Marita Urfey-Mülhens)!
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                              september, 2014!
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                                                                                                      !
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                                Für Sinéad,!
                                 John Irving !
        und den Baron Münchhausen !
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                                                       !
            Komische Frisuren Rodrigues Gesualdi   2
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                      „Wenn du Liebeslieder magst!
    und du diese neuen komischen Frisuren magst…“!
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              Charly García (argentinischer Sänger)!
           aus dem Lied: Neuen komischen Frisuren!
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                           Komische Frisuren Rodrigues Gesualdi   3
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!     Jeder denkt, seine Familie ist etwas Besonderes. Ich auch, aber meine Familie ist
besonders.!
!     Alles bei uns ist anders: das Haus, in dem wir wohnen; die Sachen, die wir
zusammen unternehmen; die Zeit, die wir miteinander verbringen; unsere Namen und
unsere neuen komischen Frisuren. !
!      Wir gehören zu einem Clan, der so etwas ist wie eine Großfamilie, die aus lauter
Familien besteht, die so sind wie wir. Jeder im Clan hat von Geburt an eine einmalige
Fähigkeit; jeder kann etwas Besonderes, das niemand sonst schafft. Es handelt sich um
eine Kraft, die uns von allen anderen Menschen auf der Welt unterscheidet. Wir nennen
es: die Gabe. !
!     Unsere Gabe benutzen wir nur, wenn wir zu Hause sind oder wenn uns niemand
sehen kann. Unter den „normalen“ Menschen benehmen wir uns, als wären wir wie alle
anderen; aber das ist manchmal schwierig, besonders wenn man sich verliebt. !
!     Ich kann das eigentlich nicht nachvollziehen, aber manche Menschen möchten
einfach nicht akzeptieren, dass sich einer ihrer Nachbarn unsichtbar macht oder ein
Schüler aus ihrer Klasse fliegen kann. Das erklärt, warum der Clan in alten Zeiten verfolgt
wurde und noch heute in Märchen böse dargestellt wird: alle sollen Angst vor uns
bekommen. Über uns erzählte man sich, dass wir alte hässliche Frauen seien, immer in
schwarz bekleidet, die nur mit Besen fliegen und giftige Äpfel verschenken.!
!     Die Geschichten über uns sind nicht wahr. Ich bin nicht alt und die Jungs sind weit
davon entfernt zu denken, dass ich hässlich bin. Natürlich sagen sie mir das nicht, aber ich
weiß das, weil mein Bruder Ahl ihre Gedanken liest.!
!     Und das Wichtigste: Ich brauche keinen Besen zum Fliegen. Fliegen ist meine
Gabe, die besondere Fähigkeit, die mich von allen anderen unterscheidet.!
!     Um zu fliegen brauche ich nur den Wunsch, es zu tun. Ich nehme es mir einfach vor
und hebe mich vom Boden. So wie andere ohne jeden Aufwand stehen oder laufen – so
kann ich fliegen. Das ist manchmal gut, manchmal schlecht, aber auf jeden Fall für immer.

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                                             2!
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!      Ich werde euch eine Liebesgeschichte erzählen, die ich selbst erlebt habe. !

!      Mein Name ist Val, ich bin 12 Jahre alt, und wie ich euch schon gesagt habe, ich
kann fliegen. Deshalb trage ich meine Haare so kurz, damit sie mich beim Fliegen nicht
stören. Meine Haare sind so kurz, dass man auf den ersten Blick glauben könnte, ich hätte
gar keine. Mein Kopf ist bedeckt von ganz kurzen schwarzen Haaren, die so eng anliegen,
dass sie fast unsichtbar sind. Denkt aber nicht, dass mir das nicht steht. Mein Bruder hat
mir gesagt, dass viele Jungs mich hübsch finden, dass sie meine großen dunklen Augen
und mein Lächeln mögen, und dass mich meine super kurzen Haare noch interessanter
machen. !
!      Aber natürlich mögen mich nicht alle. Es gibt Kinder, die über mich lästern, obwohl
ich ihnen nichts getan habe. Mama sagt mir immer wieder, dass ich nicht darauf hören
soll, weil die normalen Leute immer Angst vor Dingen bekommen, die sie nicht verstehen.
Und weil diese Leute gelernt haben, dass sie keine Angst haben dürfen, greifen sie ganz
einfach jeden an, der anders ist als sie.!
!      Ich kann fliegen, aber nicht wie die Vögel, weil ich keine Flügel habe; ich kann
fliegen ohne, dass ich meinen Körper bewege: es reicht, dass ich mir wünsche, mich
einfach vom Boden abzuheben. Ob ich stehe, sitze oder liege, ich kann mich jederzeit
vom Boden abheben, so hoch wie ich will. Ich erreiche die Wolken oder bleibe ein paar
Zentimeter über dem Boden. Ich bin sehr langsam oder so schnell, dass niemand mich
sieht. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schön es ist, den Wind zwischen den Wolken zu
hören; Parks zu sehen, deren Bäume von ganz weit oben wie Miniaturen aussehen und
nach Hause einfach durchs Fenster hineinzufliegen. Stellt euch vor, wie wunderschön es
ist, in einem Augenblick in einem anderen Land zu sein; für den Erdkundeunterricht über
die Wüste zu fliegen und für Geschichte die Pyramiden von Ägypten mit eigenen Augen zu
sehen. !
!      Ich bin verliebt und darum geht es (unter anderem) in dieser Geschichte, die ich
euch nun erzähle.!
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!     Alles fing in der Schule an. Wir alle im Clan lieben das Lernen. Wir besuchen
Schulen und Universitäten. Sogar mein Bruder Max geht gerne in die Schule, obwohl er
schon über alles Bescheid weiß. Viele unserer Verwandten sind berühmte Wissenschaftler
und Künstler geworden (ich kann euch nicht verraten, wer von ihnen aus unserem Clan ist,
aber ihr werdet das schon selbst merken, wenn ihr einfach auf die Frisuren achtet, da alle
aus dem Clan komische Frisuren tragen).!
!     Da uns lernen so gut gefällt, suchen wir uns nur die beste Schulen aus. Und
außerdem, wenn wir schon das Haus verlassen, dann wollen wir diese Zeit auch wirklich
nutzen, weil wir nämlich eigentlich am liebsten zu Hause sind.!
!     Meine Geschwister und ich besuchen eine Schule, auf die jeder stolz sein kann. Die
Lehrer nehmen sich viel Zeit für die Schüler, die Aufgaben und den Unterricht; die Kinder
interessieren sich für die Themen und lesen freiwillig noch viele andere Bücher, als nur
die, die der Lehrer ihnen vorschlägt. Das Gebäude ist groß und gemütlich. Weiter hinten
ist ein Garten mit Bäumen, Holzbänken und Eichhörnchen. Es gibt überall große, helle,
gut gelüftete Säle, wo es herrlich nach Tannenholz riecht. !
!     Also eigentlich haben wir überhaupt kein Problem. Es gibt aber Kinder, die sagen,
dass wir verrückt sind und sie lästern über uns und unsere komischen Frisuren. Sie
scheinen nicht zu merken, dass sie noch komischer sind, weil sie alle immer die gleichen
Frisuren sich aussuchen. Die Jungs tragen kurze Haare und die Mädchen immer
Pferdeschwanz und Pony. Kein Wunder, dass wir so auffallen; da es die meisten zu stören
scheint. Aber dank dieser Kinder habe ich Zak kennengelernt. !
!     In der Schule sind wir es gewohnt, gehänselt oder gezankt zu werden; sobald wir
eine laute Gruppe von Kindern sehen, gehen wir sofort dahin, um herauszufinden,
welches von unseren Geschwistern unsere Hilfe braucht. !
!     An jenem Nachmittag in der großen Pause, als ich zu einer dieser lauten
Ansammlungen gerannt war, sah ich, dass ein neues Kind geärgert wurde. Dieses Kind
stand in der Mitte eines Kreises aus Kindern und wirkte verdutzt.!
!     „Warum trägst du die Haare so? Bist du etwa verkleidet?“, sagte eines.!
!     „Karneval fängt morgen an, nicht heute!“, sagte ein anderes. !
!     „Bist du etwa ein Mädchen … mit so langen Haaren?“!
!     „Was bedeutet der Spruch auf deinem T-Shirt?“, sagte ein anderes und las die rote
Schrift auf dem schwarzen T-Shirt laut vor: “Rolling Stones“ … "Was ist das?“!

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!     Ich weiß nicht, ob euch so etwas jemals passiert ist, aber ich wusste, noch bevor
ich seine Stimme gehört hatte, dass sich mein Leben in diesem Moment für immer
verändert hatte. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich in diesem Augenblick, anstatt da zu
bleiben, sehr weit weg geflogen – ich konnte aber nicht und blieb bewegungslos, den
neuen Schüler betrachtend. Als die anderen bemerkt hatten, dass ich da war, fingen sie
an, auch mich zu belästigen.!
!     „Guck mal, die Hexe ist da. Bald werden sie mehr sein, als wir“, sagte einer.!
!     „Man sieht, dass die Verrückten zusammenhalten“, sagte ein anderer.!
!     Aber während sie solche Sprüche von sich ließen, lösten sie langsam ihren Kreis
auf. Wir wussten längst Bescheid wie wir mit solche Attacken umzugehen hatten. Obwohl
wir nicht vermeiden konnten, dass sie uns belästigen, hatten wir sie schon ein paar Mal so
erschrocken, dass ihnen inzwischen klar ist, sie dürfen nicht zu weit gehen. !
!     Die Kinder verschwanden und ich blieb schweigend und unbeweglich vor dem
Jungen stehen, der immer noch an der gleichen Stelle stand und kein Wort sprach. !
Wie eine Szene aus einem Film, die stillstand, sahen wir aus; als wäre die Zeit plötzlich
stehengeblieben; als ob es keine Zeit gäbe oder die Zeit Kaugummi wäre, der sich
ausdehnte und immer weiter um uns herum ausdehnte.!
!     Am Ende sagte der Neue: „Hallo“ und beobachtete mich aufmerksam. „Ist alles in
Ordnung mit dir?“!
!     Ich konnte nicht antworten. Ich hatte nur meinen Kopf von oben nach unten bewegt,
damit er wusste, dass es mir gut ging.!
!     Dann sagte er: „Danke, dass du mich von diesen Kindern befreit hast.“ Er sah zu
den Kindern, die ein Stück weiter spielten „Können wir uns da irgendwo hinsetzen?“!
!     Wir saßen völlig allein auf einer Bank, die in einer Ecke stand, wo niemand war. Wir
schwiegen und sahen uns ab und zu an. In manchen Momenten schien mir, dass er das
Gleiche fühlte wie ich. In anderen Momenten vermutete ich das Gegenteil. In manchen
Augenblicken fühlte ich mich sehr wohl. In anderen wollte ich am liebsten fliehen.!
!     Als es zur nächsten Unterrichtsstunde klingelte, mussten wir gehen, obwohl wir
noch kein Wort miteinander gesprochen hatten. Ich zu meiner Klasse und er zu seiner – er
war zwei Jahre älter als ich und ging in eine andere Klasse.!
!     Im Unterricht musste ich ständig an ihn denken. Er hatte wild gelockte dunkle
Haare, so chaotisch, als wären sie noch nie gekämmt worden und so durcheinander, dass
man nicht erkennen konnte, ob sie sehr lang oder doch vielleicht sehr kurz waren. Seine
Haut war matt und ein bisschen dunkel. Seine grüne Augen leuchteten deutlich hervor. Er
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trug weite, schwarze Kleidung, ein T-Shirt mit dem Namen einer Rockband und schwarze
Turnschuhe.!
!      Nach der Schule näherte er sich mir und sprach mich an. Ich hatte meine
Schwester Mell gebeten, schon mal nach Hause zu gehen, damit ich den Heimweg mit
ihm allein gehen konnte.!
!      Er erzählte mir, dass er gerade in die Stadt gezogen war, dass er in einem Haus am
Rande der Stadt wohnte, genau am Ende der Promenade, ganz in der Nähe der
Universität. Er erzählte mir, dass er Musiker ist und dass er in einer Rockband spielen
möchte. !
!      Als ich ihm erzählte, dass ich auch ein bisschen Musik mache, schlug er mir direkt
vor, wir sollten zusammen spielen.!
!      Er fragte mich, welche Musik ich mag und schnell stellten wir fest, dass wir die
gleiche Musik mögen. Vor allem Rockmusik, aber auch Klassik und Pop. Alle Musiker, die
er nannte, mochte ich und er mochte alle, die ich nannte. Als ich ihn nach seinem
Lieblingslied fragte, pfiff er etwas aus einer Suite von Bach, die wir zu Hause immer
spielen.!
!      Schließlich kamen wir meinem Zuhause immer näher und ich bat ihn, uns auf der
anderen Seite der Promenade zu verabschieden. Als ich dann die Straße überquerte blieb
er noch eine Weile auf der Promenade stehen, schaute auf das Meer, die Möwen, die
Flugzeuge, die zu dieser Zeit zum Flughafen kamen, und beobachtete die Wolken. !
!      Ich hatte mir eigentlich gewünscht, dass er mit mir zu uns kommt, aber ich war
unsicher. Ich habe noch nie jemanden zu uns eingeladen und ich konnte mir nicht
vorstellen, wie man in meiner Familie mit Besuch umgehen würde. Ich wollte zuerst mit
meinen Eltern sprechen. !
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!      Meine Eltern: Mama trägt die Haare sehr lang; auf der einen Seite grün, auf der
anderen blau; der Pony ist ein bisschen rot. Sie ist sehr verliebt in meinen Vater, was jeder
sofort merkt, sobald sie ihn anschaut. Ihre Gabe ist es, Gegenstände nur mit den
Gedanken zu bewegen, ohne sie anzufassen, egal wie schwer sie sind. Sie kann, zum
Beispiel, das Geschirr spülen, ohne sich von ihrem Lieblingssofa zu bewegen.!

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!      Es ist wunderschön zu sehen, wie die Teller allein in die Küchenspüle gleiten und
wie der Schwamm sie nacheinander in der Luft mit dem Schaum bedeckt, wie die Teller
zurück in die Spüle fliegen, um sich mit Wasser umzuspülen. !
!      Gleichzeitig tanzt der Besen über den Boden und ein Hammer verlässt die sich
gerade öffnende Schublade, um einen Nagel in die Wand zu hauen, kurz bevor meine
Schwester daran in ihrem Lieblingskleid vorbeigeht. !
!      Mamas Gabe ist sehr praktisch, wenn wir nachts nach einem Glas Wasser fragen
oder wenn wir Koffer packen: Während wir uns über die Reise unterhalten, füllt sie die
Koffer mit Kleidern, die wie Geister durch die Luft fliegen. Wenn wir schon entschieden
haben, wohin wir reisen, sind alle Koffer fertig und wir warten ordentlich an der Tür in einer
Reihe wie aus einer Klasse von lauter Musterschülern. !
!      Papa hat die Haare kurz und trägt einen langen Zopf an der linken Seite über dem
Ohr. Er ist sehr verliebt in Mama und küsst sie immer, wenn er an ihr vorbeiläuft. Seine
Gabe ist es, dass Dinge, sobald er an sie denkt, plötzlich existieren. So wie jeder den
Mund öffnet und „Hallo“ sagt oder seine Hand ausstreckt und nach einem Glas greift,
schafft es Papa, dass ein Objekt, das vorher nicht existiert, genau da, wo er will entsteht.
Es ist nicht so, dass er (wie meine Mutter) Objekte bewegt. Es ist auch nicht so, dass er
einen Gegenstand heranbringt, der vorher woanders war: er erschafft Sachen aus dem
Nichts. !
!      Papas Gabe löst manchmal viele Probleme wie zum Beispiel Einkaufen – etwas,
das niemand von uns gerne macht, weil wir uns in einem Supermarkt sehr unwohl fühlen.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie spannend es ist, am Tisch zu sitzen, wenn er uns fragt,
worauf wir Hunger haben und dann unser Lieblingsgericht auf dem Tisch ganz plötzlich
auftaucht. Wir essen fast immer Empanadas, diese Teigtaschen sind unser
Lieblingsessen. Manchmal bittet uns Papa die Augen zu schließen und erschafft dann ein
Überraschungsgericht, das wir uns nicht vorstellen können und uns dann total gefällt.
Immer wenn wir zum Essen gerufen werden, rennen wir an den Tisch als wäre
Weihnachten und freuen uns aufgeregt auf die Bescherung, von der wir noch nichts
wissen, außer, dass es uns auf jeden Fall gefallen wird.!
!      Dank Papa könnten wir viele Tricks machen. Wir könnten bei ihm zum Beispiel die
Hausaufgaben bestellen. Aber unsere Gaben benutzen wir niemals, um uns gegenüber
anderen einen Vorteil zu verschaffen. Die einzige Ausnahme ist, wenn wir uns vor den
anderen verstecken. Aber das machen wir nur, um kein Risiko einzugehen.

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                                             3!
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!     Ich hatte mich von dem Neuen verabschiedet ohne seinen Namen zu kennen und
die Straße vor meinem Haus überquert. Aber als ich zu Hause ankam beachtete mich
niemand, denn dort ging es zu wie auf einer Party. !
!     Alle waren im Salon mit den Vorbereitungen für Karneval beschäftigt.!
!     Wie ihr euch vorstellen könnt, gibt es nur ein paar Tagen im Jahr, an denen wir uns
so anziehen können wie wir möchten und unsere komischen neuen Frisuren tragen
können, ohne dass sich jemand über sie wundert, uns deshalb belästigt oder sich über
uns lustig macht. Und das sind die Karnevalstage. !
!     Das sind die Tage, die wir am meisten genießen. Wir gehen in unserer echten
Kleidung auf die Straße, wir besuchen die Partys und wir wandern durch die Stadt.!
!     Einmal im Jahr können wir genau so sein wie wir sind. Wir trinken Granatapfelsirup
aus langen Gläsern, ohne dass wir gefragt werden, was für ein komisches Zeug das ist.
Ihr habt das bestimmt noch nicht bewusst bemerkt, aber in jeder Stadt der Welt gibt es
einen Imbiss oder ein kleines Lokal, vielleicht nur ein Stand auf der Straße, wo man
Empanadas essen kann. Manchmal steht darauf noch nicht einmal ein Schild, aber wenn
ihr in den Karnevalsnächten Leute mit komischen Frisuren und sehr eleganten alten
Kostümen vor so einem Imbiss halbmondförmige Teigtaschen essen seht, dann habt ihr
Mitglieder des Clans entdeckt.!
!     Ja und deswegen waren alle zu Hause so glücklich, weil sie die Nächte für die
Karnevalszeit durchsprachen.!
!     Alle saßen auf dem Boden wie Indianer, die ein Ritual zelebrieren; sie waren vorn
übergebeugt und studierten eine Ansammlung von Prospekten mit ganz vielen Terminen
und Veranstaltungshinweisen. Von der Tür aus sah ich wie sich ihre Haare wild
durcheinander bewegten – die hochgekämmten, die roten und grünen, die Ponys und
langen Zöpfe wirbelten vor meinen Augen hin und her. Beobachten zu dürfen, dass sie
soviel Spaß hatten, hatte mich tief berührt. Und für einen Augenblick hatte ich total
vergessen, dass sich mein Leben, seitdem ich dem neuen Jungen in der Schule begegnet
war, total anders anfühlte. Aber in diesem Moment war ich wieder die gleiche, die ich
immer war. Es fühlte sich wunderbar an, zu Hause zu sein, von Menschen umgeben, die
so waren wie ich und total anders als der Rest. Von Menschen, die mich lieben, die meine

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Gefühle und Ansichten teilen, die mich immer verstehen können. Es fühlte sich so
wunderbar an, dass ich vor Freude weinen wollte. !
!     Auch unser Haus ist etwas ganz Besonderes. Es ist sehr groß, weil wir so viele sind
und weil wir Verwandte auf der ganzen Welt haben, die ab und zu einige Zeit bei uns
wohnen. Und auch wir verbringen ab und zu Zeit in anderen Ländern. !
!     Da wir schon so viele sind und oft jemand bei uns zu Gast ist, haben wir ein
riesengroßes Haus, das unserer Familie seit mehreren Generationen gehört. Und da wir
immer vermeiden müssen, dass die Leute uns enttarnen, wohnen wir am Rande der Stadt. !
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!     Unser Haus liegt ganz allein direkt an der Promenade gegenüber des Meeres. Das
nächste Haus steht am Ende der Promenade in der Nähe der Universität. Aber das ist ein
gutes Stück entfernt. Unser Gebäude war ganz früher ein Hotel. Aber nach der Eröffnung
wurde ein Flughafen gebaut und es wurde verboten, weitere Häuser dorthin zu bauen.
Ohne Bars und Restaurants in der Nähe und so weit entfernt von der Stadt musste das
Hotel geschlossen werden. Einer aus unserer Familie hat es vor vielen vielen Jahren
gekauft, weil er sofort erkannt hatte, dass hier der perfekte Ort ist, um von den anderen
Leuten abgeschirmt leben zu können. !
!     Das Haus hat viele Zimmer, Geheimgänge, Türme, Dachgiebel und Dachböden. Es
gibt einen großen Garten, der bis an die Grenze des Flughafens reicht. Es gibt
Dachböden, die wir nie betreten haben und Kellerräume in denen man komische
Getränke, Ritterrüstungen, vergilbte Papiere sowie alte und nutzlose Möbel findet. Überall
gibt es Innenhöfe, Flure und Schornsteine von denen niemand weiß, wo sie hinführen.
Vorratskammern gibt es und Gänge und viele Spiegel. Es ist so groß, dass wir uns
manchmal selbst verlaufen. Man könnte fast meinen, dass es eine Burg ist, aber es ist nur
unser Haus. Wir fühlen uns darin sehr wohl und wir mögen es sehr, im Salon zu sitzen,
Musik zu machen oder (wie jetzt) Karneval vorzubereiten. !
!     Alle waren so glücklich bei den Vorbereitungen, dass niemand bemerkt hatte, dass
ich reingekommen war. Auf dem Teppich lagen viele Karnevals-Prospekte und Broschüren
über die angesagtesten Bälle und Straßenpartys der Stadt. Im Kreis sitzend stritten sie
darüber, auf welche Party sie die meiste Lust hatten und zu welcher sie zuerst gehen
wollten. Als ich näher kam, machten sie mir Platz im Kreis und kurz darauf merkte ich,
dass ich, genau wie die anderen, laut mitstritt, zu welchem Ball ich gehen wollte und ob wir
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dorthin alle in unserem alten Clan-Kostüm in der gleichen Farbe gehen sollten oder ob wir
vielleicht besser das schwarze Lieblingskleid unserer Mutter nachmachen sollten.

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                                              4!
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!     Ihr habt bestimmt schon bemerkt, wie glücklich wir sind. Vielleicht, weil wir uns so
gut verstehen und wir so viel Zeit miteinander verbringen. Für uns ist das ganz einfach,
weil meine Eltern ja nicht arbeiten müssen. Immer gibt es jemanden, der das Geld
verdienen kann, ohne dafür den ganzen Tag von zu Hause weg zu sein. Und obwohl wir
ein großes Vermögen anhäufen könnten, machen wir das nicht. Wir kaufen weder Autos
noch Luxushäuser und wir haben noch nicht einmal einen Fernseher.!
!     Einerseits genießen wir es, Zeit zu haben und uns mit schönen Dingen zu umgeben
wie Lampen, Gemälde, Blumen mit exotischen Düften und bunten Blüten, Füller, deren
Feder glänzende Gravuren haben, Fotos und Enzyklopädien. Andererseits geben wir auch
nicht viel Geld aus. Uns gefällt es zu reisen und ich brauche dazu noch nicht einmal ein
Flugzeug. Auf der ganzen Welt haben wir ja auch Familienmitglieder in deren Häuser wir
immer willkommen sind.!
!     Wir haben ganz feste Vorlieben: uns reizen nur pure Geschmacksrichtungen,
deswegen benutzen wir keine Gewürze oder Parfüm, einfach nichts, das Sachen
verfremdet; wir mögen Eiscreme und Granatapfelsirup, Empanadas und frittiertes
Hähnchen.!
!     Da wir keinen Reichtum zeigen, geben wir weder Geld für moderne Geräte noch für
modische Kleidung aus. Wir versuchen auch, dass unser Haus nicht wie eine Burg
aussieht – obwohl es eine ist. Meine Mutter putzt mit ihrer Gabe das ganze Haus ohne
Hilfe und mein Vater braucht nicht einkaufen zu gehen, damit der Kühlschrank gefüllt ist.
Er öffnet einfach die Tür, stellt sich die Sachen, die fehlen vor – und plötzlich erscheinen
sie vor seinen Augen. So einfach füllt er immer den Kühlschrank auf. !
!     Am meisten mögen wir es in unserem Haus zu bleiben. Wir erfinden Spiele, lernen
spannende Sachen und machen Musik. Ich spiele ziemlich gut Trompete und ein bisschen
Gitarre. Mell ist sehr geschickt mit dem Piano, das sie in ihrem Zimmer hat. Mein Vater
spielt Geige und meine Mutter Kontrabass. Ahl ist sehr begabt mit seiner Flöte und Max
ein Virtuose der Klarinette. Wir lernen zeichnen und malen. Wir üben tanzen und lesen
Geschichten. Wir spielen miteinander und unterhalten uns. !
!     Um ein bisschen Geld, das wir manchmal brauchen, für die wenigen Ausgaben, die
wir haben, kümmert sich immer der, der gerade die Gabe hat, die nötig ist. Mein Vater,

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zum Beispiel, erschafft einen Brillanten, um ihn zu verkaufen oder er erdenkt sich einfach
ein paar Geldscheine – aber nie zuviel: er will nicht das Risiko eingehen ein Vermögen zu
besitzen, weil Vermögen auch Probleme bringt. Er schafft nur das Nötigste, damit wir für
eine Weile leben können. !
!     Andere Male diktiert uns Max, der absolut alles weiß, chemische Formeln, die
meine Mutter einem Forschungszentrum zu einem ganz kleinen Preis verkauft, damit die
Forscher bessere Heilmitteln erfinden können. !
!     Es könnte auch passieren, dass ich zu einer Insel mitten im Pazifik fliege und mit
einer riesigen Perle zurückkomme, die man dort einfach irgendwo findet, besonders wenn
Mell, die das Wetter ändern kann, mir während der Reise mit einem hellblauen Himmel
hilft und Max mir sagt, wo genau ich suchen soll. !
!     Aber was wir im Clan auch sehr lieben ist reisen. Neue Städte kennenlernen,
seltsame Monumente und alte Dächer schauen; andere Sprachen hören; die Düfte von
unbekannten Pflanzen in Gärten von Häusern riechen, die genau wie unseres
funktionieren, wo unsere Cousinen mit anderen neuen komischen Frisuren wohnen, wo
alle unsere Verwandten uns mit der gleichen Fröhlichkeit, Anerkennung und Liebe
empfangen wie wir sie, wenn sie zu uns kommen.

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!
                                              5!
                                               !
!     Am nächsten Tag, nach unzähligen Vorbereitungen, gingen wir raus, um die
Karnevalspartys zu besuchen. Es war Donnerstag und die ganze Stadt strahlte in bunten
Farben. Alle Straßen waren überfüllt von fröhlichen Leuten, die in allen möglichen
Kostümen tanzten und feierten.!
!     Wir hatten beschlossen, dass wir schwarze Kleidung anziehen, passend zu dem
Lieblingskleid unserer Mutter und wir sahen genauso aus, wie wir wirklich sind. Wir waren
sehr glücklich, dass wir diese Kleidung anziehen konnten, die wir das ganze Jahr
verstecken müssen; diese, die meine Familie über Generationen trägt. !
!     Wir hatten einen Plan aufgestellt, wie wir am leichtesten alle Partys besuchen
konnten. Auf manchen Partys blieben wir nur kurz, weil sie uns enttäuschten. Wir
entschieden dann immer gemeinsam zu gehen – wir waren uns immer schnell einig, ohne
uns groß untereinander abstimmen zu müssen. Wir versteckten uns dann in einer Ecke,
hielten uns hintereinander in einer langen Schlange an der Hand und ich flog mit allen im
Schlepptau los. Wir sahen wie ein Drachen aus oder wie bunte Luftballons oder wie
Werbung für eine Karnevalsparty. Es könnte wie alles aussehen, wir waren im Karneval
und niemandem kam es suspekt vor. !
!     Die Nacht war mild und es gab keinen Wind, weil Mell ihn stoppte, um uns die
Reise bequemer zu machen. Mell hatte auch die Wolken vertrieben und wir flogen
zwischen den Lichtern der Sterne, die uns wie einen Mantel umgaben.!
!     „Es ist wie ein Traum“, sagte Ahl.!
!     „Es ist wie um die Sterne zu fliegen“, sagte Mell, die so romantisch ist. Ihre Frisur
schien nicht asymmetrisch, sondern wie eine normale Frisur, die der Wind durcheinander
gewirbelt hatte. Ihre Haare schienen auf der rechten Seite zu liegen, aber in Wirklichkeit
war es so, dass sie an ihrer linken Seite fast keine Haare hatte. !
!
!
!
!     Von den vielen Partys bevorzugen wir immer die, die auf der Straße spontan
improvisiert werden. Die Nachbarn tanzen zusammen auf dem Bürgersteig, von einem
Balkon kommt Musik, Lichterketten hängen quer über die Straße und die Menschen

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sprechen laut und trinken bunte Getränke, die unter den farbigen Lichtern futuristisch
aussehen.!
!     Von den geplanten Partys bevorzugen wir immer die kleinen Clubs im Viertel, wo
die Leute sich kennen, die Musik lustig klingt und man in den Innenhöfen im Freien tanzt.
Relativ nah an unserem Zuhause befindet sich so ein „Klein-Viertel-Club“ namens
Vorwärts. Dorthin kamen wir, nachdem wir ein paar andere Partys besucht hatten. Auf
Partys tanzen wir am Anfang immer zusammen, dann mischen wir uns unter die Leute und
treffen nach einiger Zeit an der Bar wieder alle zusammen, wo wir diesmal
Granatapfelsirup in langen Gläsern tranken, während wir uns über die Masken und
Kostüme der anderen Gäste unterhielten. Vielleicht haben wir auf solchen Karnevals-
Partys eigentlich immer die geheime, unausgesprochene Hoffnung, dass andere
Mitglieder des Clans, Cousinen oder unbekannte Onkel von uns plötzlich und unerwartet
in der Menge erscheinen würden. !
!     Der Club, in dem sich die Party abspielte, besteht aus einem kleinen alten
Häuschen am Rande eines eingezäumten Fußballplatzes. Große Puppen und
Lichterketten hingen am Zaun entlang und eine Live-Band spielte alte Tanzlieder. !
Ich fühlte mich glücklich. Als ich an den Neuen in der Schule dachte, fühlte ich mich noch
glücklicher und freute mich, dass ich ihn am Montag wiedersehen würde. An ihn zu
denken war wie ein warmes und vertrautes Gefühl, genau wie der Wind, den Mell über
den Fußballplatz des Clubs Vorwärts wehen ließ. !
!     Dann passierte etwas Merkwürdiges. Genau als ich dachte, wie schön es ist,
jemanden zu vermissen, war mir, als würde ich ihn zwischen den Leuten entdecken und
es kam mir so vor, als hätte er mich angeschaut. Aber es war sicherlich nur Einbildung,
weil ich so intensiv an ihn gedacht hatte. Aber für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass
er da gewesen sein könnte, wäre es absolut unmöglich, dass er mich zwischen diesen
vielen Menschen und dem bunten Licht unter meinem Kostüm überhaupt erkennt hätte.
Aber trotzdem – mir schien es, als wäre er da und würde ein merkwürdiges schwarzes
Kostüm mit langen Fransen tragen, die im Wind wehten. Weil er mir aber erzählt hatte,
dass er immer schwarze T-Shirts mit Aufschriften von Rockbands trägt, beruhigte ich mich
und war mir sicher, dass meine Vorstellungskraft sich ein Scherz mit mir erlaubt hatte. !
!     Und fast im gleichen Moment, als ich dachte, er war da, schien die Einbildung sofort
zu verschwinden, so schnell wie alle Möbel eines Zimmers verschwinden, wenn wir das
Licht ausmachen; schnell wie die Charakteren eines Traums ins Nichts rutschen, wenn der
Träumer aufwacht. Bestimmt glaubte ich, ihn gesehen zu haben, weil ich ihn so gerne
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sehen wollte. Ich schaute mich noch einmal um und tanzte dann weiter. Ich hatte richtig
viel Spaß, bis wir entschieden, eine andere Party zu besuchen.

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                                             6!
                                              !
!     Als wir spät nach Hause kamen, waren wir alle sehr müde. Wir ließen uns im Salon
auf den Sofas und den Teppichen fallen, um ein bisschen runter zu kommen.!
!     „Was hatten wir für einen Spaß“, sagte mein Vater.!
!     „Ich wünsche mir, es könnte das ganze Jahr so sein“, sagte ich, nachdem ich einen
großen Schluck von meinem gerade erschaffenen Granatapfelsirup getrunken hatte.
„Übrigens“, fragte Ahl „welche Partys kommen nach dieser, Max?“.!
!     Max ist mein 10 Jahre alter kleiner Bruder. Er ist mit der Fähigkeit geboren, alles zu
wissen, was man wissen kann. Er kennt den Inhalt aller Bücher, die jemals auf der Welt
geschrieben wurden, ohne sie je geöffnet zu haben. Er trägt die Haare so kurz wie ich,
aber er lässt sich einen langen Pony wachsen, der im Wind sein ganzes Gesicht bedeckt,
wenn Mell nicht da ist, um das zu vermeiden. !
!     Uns gefällt es, abends bei ihm zu bleiben, um die Geschichten zu hören, die er
auswendig kennt. Wir lieben es, wenn er uns „Der kleine Prinz“, „Alice im Wunderland“
oder „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ erzählt. Er ist sehr geschickt mit den
Händen und er mag es mit den unterschiedlichsten Materialien Dinge zu bauen. Er kann,
zum Beispiel, gleichzeitig einen Flughafen mit Lego im Salon aufbauen und uns bei den
Hausaufgaben helfen.!
!      „Max!“, rufen wir vom Kuchentisch, wo wir immer unsere Hausaufgaben machen.
“Wie berechnet man die Fläche eines Dreiecks?“!
!     „Länge mal Höhe geteilt durch zwei“, antwortet er uns. !
!     Oder: “Welcher Fluss fließt um Bern?“.!
!      „Die Aare“, antwortet Max ohne jeden Zweifel, „er ist 280 Kilometer lang und ist der
größte Nebenfluss des Rheins.“!
!     Er weiß einfach alles; nun er ist viel zu jung, um verliebt zu sein. Ich bin gespannt,
wenn er sich verliebt, dann in jemand, der alles weiß.!
!     Und genau deswegen, weil er alles weiß, hatte Ahl ihn gefragt, welche Partys nach
dem heutigen Tag kommen. !
!     Max antwortete ganz nebenbei: „Morgen ist wieder Karneval und schon bald gibt es
einen Feiertag, aber in diesem Jahr haben wir noch eine Party vor uns. Eine Party, die alle

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19 Jahre stattfindet. Das ist genau in 12 Tagen: die Zusammenkunft, das Treffen der
Clans.“ !
!      „Das Treffen der Clans!“, rief meine Mutter. „Die Zusammenkunft!! Oh nein!!
Diesmal hätten wir das organisieren müssen“.!
!      „Entschuldigung“, unterbrach Mell, „aber ich weiß nicht worüber ihr redet“.!
!      „Die Zusammenkunft“, erklärte Max mit seiner typischen Ruhe, mit der er alles
erklärt, „ist ein Treffen von allen Mitgliedern des Clans aus der ganzen Welt. Es wird alle
19 Jahre abgehalten, damit wir uns treffen. Die Kinder, die in diesen Jahren geboren
wurden, werden einander vorgestellt und sie können sich verlieben. Die Familien wechseln
sich bei der Organisation ab …“ !
!      „12 Tage ist viel zu wenig Zeit“, unterbrach mein Vater.!
!      Die nächste Party wird in zwölf Tagen stattfinden und die Reaktion meiner Eltern
war verständlich, da wir sie dieses Mal organisieren mussten.!
!      „Wir können nicht einmal allen rechtzeitig Bescheid sagen“, erwiderte meine Mutter. !
!      „Aber an welchem Tag genau ist die Party?“, fragte Ahl, der Organisator unserer
Familie. So wie er sich bemüht, seine hochgekämmten Haare in Ordnung zu halten,
versucht er die Familie zu organisieren.!
!      „Der Zusammenkunft findet alle 19 Jahre statt, wenn der Mond einen
Ausrichtungszyklus mit den Planeten vollendet. Das wird genau in 12 Tagen passieren.“!
!      „Bist du sicher?“, fragte ich, aber niemand achtete auf meine Frage, da alle wissen,
dass Max sich nicht irren kann. !
!      „Ich will ein Eis Papa“, sagte Max. Mein Vater war mit seinen Gedanken völlig
woanders und hörte ihn nicht. Max wiederholte seine Bitte: „Papa, ich will ein Eis“.!
!      „Ja, ja“, sagte mein Vater „Wer will sonst noch ein Eis?“ !
!      Er materialisierte sofort die Bestellungen. Meine Mutter musste die Eiswaffeln
tauschen, weil mein Vater die Sorten verwechselt hatte; sie war so unkonzentriert, dass
alle nochmals die falsche Sorten bekommen hatten – ich musste Zitroneneis essen, aber
in dieser angespannten Stimmung wollte sich niemand beschweren.!
!      Wir blieben still im Salon auf den Sofas und Teppichen. Plötzlich waren wir alle so
ernst und voller Sorgen, während wir schweigsam die verkehrten Eissorten aßen. Wir
waren nicht mehr die Gleichen, die kurz zuvor gekommen waren, so glücklich und so
müde von so vielen Tänzen.!
!
                                                                                                                 !
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                                              7!
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!      In unserer Familie sorgt man sich nicht lange. Immer hat irgendjemand von uns die
Gabe, die wir brauchen, um eine Lösung zu finden. Diesmal war es Max, aber die Idee
kam von Mama. Wir aßen immer noch an unserem Eis, ohne ein Wort zu sprechen, als sie
darauf kam.!
!      „Es ist nicht so schwierig, wie es scheint“, sagte Ahl. „Es sind nur zwei Aufgaben:
die Zusammenkunft organisieren und allen Bescheid sagen, wo sie stattfindet. Mit der
Organisation können wir sofort anfangen. Wenn Val den passenden Ort findet, können
Mama und Papa den Platz einrichten und schmücken. Und wenn wir alle helfen, wird alles
ganz schnell fertig sein“, erklärte er uns mit einem Lächeln. !
!      „Ja“, sagte Papa, „aber es gibt ein Problem. In 12 Tagen werden wir bestimmt nicht
alle erreichen. Wir wissen noch nicht einmal, wo sie alle wohnen“.!
!      Mama dachte nach und kam schnell auf eine Idee: „Wir müssen nur jemanden
finden, der diese Gabe hat“.!
!      „Welche Gabe?“, fragten wir.!
!      „Jemand im Clan muss diese Gabe haben“.!
!      „Aber welche Gabe?“, fragten wir alle noch mal.!
!      „Ich weiß es nicht. Etwas… Die perfekte Kommunikation… Eine Art
Kommunikationsgabe… Multikontakt, ich weiß es nicht, wie man so etwas nennt. Wenn
wir diesen Jemand finden, können wir ihn fragen, ob er die Einladung übermittelt.“!
!      „Aber wer kann so etwas?“, fragte Mell. Wir alle guckten sie erstaunt an. Sie
verstand sofort unsere Verwunderung. „Entschuldigung“, sagte sie und schaute zu Max.!
!      Max aß gedankenverloren sein Eis; als er bemerkte, dass wir ihn alle anschauten,
lächelte er.!
!      „Was ist?“, fragte er überrascht und wir mussten feststellen, dass er unser
Gespräch gar nicht mitverfolgt hatte, so dass wir wieder von ganz vorne anfangen
mussten.!
!      „Ist einfach“, sagte er dann. „Vor kurzem ist eine Familie in die Stadt gezogen. Der
Vater kann mit allen Clan-Mitgliedern kommunizieren. Er benutzt dazu die Kraft der
Gedanken. Er kann mit mehreren gleichzeitig kommunizieren, sogar mit allen auf einmal.“!

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!     „Super, das löst unser Problem. Kennst du die Adresse?“, fragte Papa und als Max
ihn mit einem amüsierten Lächeln anschaute fügte er hinzu: Ich gehe ihn morgen
besuchen. Will jemand noch ein Eis? Diesmal verspreche ich, mich nicht zu irren.“ !
!     Am darauffolgenden Samstag begannen wir die Zusammenkunft zu planen. Wegen
der Karnevalspartys hatten wir nicht so viel Zeit, wie wir wollten, aber keine Aufgabe, leicht
oder schwer, könnte uns von unseren geliebten Karnevalspartys jemals abhalten.
Natürlich auch nicht die Organisation der Zusammenkunft in Rekord-Zeit. !
!     Am Sonntag schlief ich unruhig. Für uns ist es extrem außergewöhnlich schlecht zu
schlafen, weil wir im Clan alle immer tief schlafen (auch nur wenige Stunden – aber mehr
brauchen wir nicht). Als ich am Montag in die Schule kam, war ich überrascht, dass ich
Zak gar nicht begegnen wollte. Ihr müsst mich verstehen: natürlich wollte ich ihn
wiedersehen, aber gleichzeitig wollte ich nicht. Ich hätte sogar die Schule geschwänzt, um
ihm aus dem Weg zu gehen. Aber andererseits wollte ich unbedingt zu ihm hingehen.
Bestimmt wisst ihr, was ich meine. !
!     Als ich an diesem Tag das Haus verlassen hatte, merkte ich sofort wie schlimm es
für mich war, schlecht geschlafen zu haben. Schon an der Haustür glaubte ich, Zak vor
meinem Haus auf der Promenade sitzen gesehen zu haben. Aber als ich dann genauer
hingesehen hatte, verstand ich, dass ich es mir aus lauter Müdigkeit in meiner Phantasie
nur eingebildet hatte, denn Zak war verschwunden. Er hätte außerdem niemals dort sein
konnten, da er bereits an der Tür stand, als ich zur Schule kam. Diesmal trug er ein T-Shirt
mit einem Kindergesicht drauf und der weißen Aufschrift „U2“.

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                                                                   Komische Frisuren Rodrigues Gesualdi   21
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                                             8!
                                              !
!      „Hallo“, begrüßte er mich mit einem Kuss auf die Wange. „Ich dachte, du kommst
nicht mehr; es gongt jetzt.“!
!      „Nein...es ist nur…“!
!      Zak vervollständigte meinen Satz: „Ich bin auch nach den Karnevalstagen sehr
müde. Nach so einem Wochenende müsste noch ein Wochenende kommen, um sich
davon zu erholen.“!
!      „Ja…“, war alles, was ich sagen konnte. Er dachte bestimmt, ich bin dumm, aber
mir war nichts anderes eingefallen, was ich hätte sagen können, zumindest nichts, was ich
in Worte hätte fassen können. !
!      „Bist du tanzen gegangen?“, fragte er interessiert…„Hast du Spaß gehabt?“!
!      „Ja“, antwortete ich, während ich dachte, er würde jetzt endgültig glauben, dass ich
dumm bin. !
!      Als wir den Flur zu meinem Klassenzimmer erreichten, erklang der Gong. „Ist alles
in Ordnung bei dir?“, fragte er. Ich nickte. „Wir sehen uns später“, verabschiedete er sich
ohne weiter nachzufragen und ging weg.!
!      Wie er vorausgesehen hatte, haben wir uns später gesehen. !
!      Genau in der nächsten Pause.!
!      In unserer Schule trinken wir in der ersten Pause eine Tasse Tee. Um Unfälle mit
dem Tee zu vermeiden, darf man nicht damit herumrennen. Alle Kinder sitzen in dieser
Zeit zusammen und unterhalten sich. Zak saß im Pausenhof neben mir. Er lächelte mich
an „Warum gucken mich alle so seltsam an?“, fragte er mich.!
!      „Mach dir keine Sorgen“, antwortete ich. Nur weil ich Tee trank und mich bereits
überwunden hatte, ihm nicht aus dem Weg zu gehen und hier wiederzusehen, war ich
überhaupt in der Lage, wieder mit ihm vollständige Sätze zu sprechen. „Mit der Zeit wirst
du dich daran gewöhnen.“!
!      „Ich bin nicht sicher, dass ich mich daran gewöhnen möchte“, murmelte er, und
fragte direkt danach: „Gibt es hier an der Schule keinen Platz, an dem man Ruhe hat?“ !
!      Ich zeigte ihm schließlich meinen Zufluchtsort, den ich immer aufsuche, wenn ich
allein sein will: den Musikraum. !

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!      Die Musiklehrerin erlaubt mir immer in den Pausen hinzugehen, weil wir uns sehr
gut verstehen. Vielleicht, weil ich (und meine Geschwister) fast die einzigen in der Schule
sind, die Musik machen und den Unterricht genießen oder weil sie weiß, dass ich es ab
und zu brauche, allein zu sein, Gitarre zu spielen und mich abzugrenzen.!
!      Es ist ein gemütlicher Raum im obersten Stockwerk, der eine Holzdecke mit großen
Fenstern hat, aus denen die strahlende Sonne hineinschien. Das Schloss des Pianos war
seit langer Zeit kaputt und der Schrank hatte keinen Schlüssel, so dass ich frei
entscheiden konnte, welches Instrument ich spielen wollte. !
!      Zak mochte den Klang des Pianos; er setzte sich sofort dorthin und fing an zu
singen. !
!      Später hatte ich eine alte Mandoline ausgesucht, die sehr gut klang. Ich hatte ihn
darauf begleitet während er einen Song von Charly Garcia sang. !
!
              Wenn du Liebeslieder magst…,!
!
sang Zak, während er die Melodie mit umfassende Akkorden aus vielen Noten begleitete.
„Magst du Liebeslieder?“, fragte er mich.!
!
              Und du diese neuen komischen Frisuren magst…,!
!
„...wie deine, Val“, zeigte er lächelnd mit dem Finger auf meine Haare. !
!
              Wenn du für eine bessere Welt gekämpft hast...!
              und du diese neuen komischen Frisuren magst…!
!
!      Das Licht im Musikraum war gedämpft und ich fühlte mich dort absolut wohl.!
!
              Gib mir ein bisschen Liebe…,!
!
sang er und ich errötete.!
!      „Hast du den Gong nicht gehört?“, fragte ich ein bisschen verlegen. !
!      „Nein“, lächelte er mich an, ohne die komplizierte Akkordfolge zu unterbrechen,
„aber wir können runtergehen, wenn du willst“. !
!
                                                                                                              !
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!     Er endete das Lied mit drei sukzessive Akkorden und erklärte: „Ich mag dieses Lied
total. Möchtest du wirklich schon runter gehen?“ !
!     Was für eine Frage, dachte ich. Wir gingen die Treppe zusammen herunter.!
!     Ich fühlte mich immer noch sehr wohl aber als wir die anderen Kinder, die über die
Flure rannten sahen, war ich wieder total verlegen. Dann ging nochmals der Gong und wir
beeilten uns rechtzeitig zu unseren Klassenräumen zu kommen.

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                                                9!
!
!      Direkt als ich zu Hause ankam, traf ich Ahl auf der Treppe. Er fragte mich sofort,
was mit mir los sei. !
!      Ahl ist mein großer Bruder. Er ist 15, trägt lange Haare, die in steifen Strähnen nach
oben stehen und er kann Gedanken lesen – sogar die unseren. Er ist der einzige, der
seine Gabe auch an normalen Menschen einsetzt, einfach, weil er er nicht verhindern
kann. Er weiß, wann ein Lehrer einen unangekündigten Test schreiben lässt, wann ein
Mädchen, das er mag, eine Einladung ins Kino annehmen will oder ob es ihm sagen wird,
dass es einen anderen mag.!
!      Aber das bedeutet nicht, dass er trickst. So wie ich nicht vermeiden kann, etwas zu
hören, das in meiner Nähe erklingt oder etwas anzufassen, das ich in der Hand halte, so
kann er nicht vermeiden, die Gedanken um sich herum zu lesen. Vielleicht hat er sich
noch nie verliebt, weil er immer weiß, was die anderen denken. !
!      Ein Bruder wie Ahl zu haben bedeutet eine riesige Hilfe. Da er die Gedanken lesen
kann, wusste er sofort, als wir uns an der Treppe trafen, dass ich mir Sorgen machte; und
er fragte mich sofort, was mit mir los war. !
!      „Ich weiß nicht“, sagte ich. Er sah mir in die Augen (er las ausführlich meine
Gedanken) und umarmte mich.!
!      Er verzog das Gesicht und sagte „Du bist in Zak verliebt. Mach dir keine Sorgen.
Und vergesse nicht: das, was du wirklich willst ist auch das, was du machen sollst.“!
!      Ich erkannte in mir ein unangenehmes Gefühl: ich hatte Angst . Vielleicht ist euch
das auch schon passiert. Für mich war es definitiv schwer, weil wir uns im Clan nicht wie
jeder andere verlieben; es ist nicht so, dass wir, wenn uns jemand gefällt einfach ins Kino
gehen, in der Dunkelheit Händchen halten und seinen Namen auf beschlagene
Fensterscheiben schreiben. Wenn einer von uns sich verliebt, dann ändert sich alles im
Leben. Alles was man macht, auch das Dümmste oder Gewöhnlichste, wird plötzlich viel
wichtiger, wird anders, wird etwas Besonderes. So wie in Filmen, in denen ein
Außerirdischer auf die Erde kommt oder eine Zeitreisende in unserer Zeit landet und alles
mit verwunderten Augen sieht, so sieht plötzlich die Welt für uns aus – wenn wir uns
verlieben. Jede Ecke wird zu einem magischen Ort, wo sich pausenlos Wunder auf
turbulente Weise zu ereignen scheinen, und zwar wie Autos in der Rushhour oder
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Insekten an einer Lampe in einer lauen Sommernacht. Wenn einer von uns sich verliebt,
braucht er gar nichts, um glücklich zu werden – schon die Luft um uns herum reicht, , um
das wahre Glück tief in uns selbst unwidersprechlich zu spüren.!
!     Mama und Papa sind ein Beweis dafür. Sie sind absolut glücklich, zweifellos. Es
vergeht nie viel Zeit, ohne dass sie sich berühren und sich küssen. Sie sind immer gut
gelaunt, sie wollen jederzeit mit uns oder miteinander spielen, Spaß haben, Witze
erzählen oder einfach Geschichten des Clans austauschen. . !
!     Es ist nicht so, dass sie nie streiten. Wenn sie einen ausfechten ist es schrecklich,
weil es dann ein echter, ehrlicher Konflikt ist. Aber wenn sie das machen, gehen sie an
einen anderen Ort, an dem sie allein sind und wo niemand das Geschrei hört. Wenn sie
zurückkommen sind sie versöhnt und verstehen sich wieder gut. !
!     Ich spürte nicht nur Angst, sondern auch Bewunderung, als Ahl mir auf den Kopf
zusagte, dass ich verliebt bin. Mir war das eigentlich nicht bewusst aufgefallen. Auch wenn
ich längst bemerkt hatte, dass sich mein Leben komplett verändert hat, bin ich nicht auf
die Idee gekommen, dass ich mich verliebt haben könnte. !
!     „Warum sollte ich mir Sorgen machen?“, fragte ich. !
!     „Weißt du das nicht? Haben dir Mama und Papa nichts erzählt?“!
!     „Was haben mir nicht erzählt?“ !
!     „Besser fragst du sie selbst, ja?“, sagte Ahl und stieg weiter die Treppe hinab. !
!     Ich hätte ihn in diesem Moment fragen müssen, aber ich traute mich nicht. !
!     Vielleicht brauchte ich noch Zeit oder wollte nur allein sein, um zu genießen, dass
ich verliebt war. Es war für mich überhaupt nicht der passende Moment zu erfahren, wovor
ich mir Sorgen machen müsste.!
!     Zum Glück reden wir zu Hause über alles und ich vertraute darauf, dass mir eh alle
helfen würden – und ich mich keine allzu großen Sorgen machen müsste . Aber ich war
trotzdem verwirrt. Ich wusste nicht, ob ich Ahl bestellen sollte, um für mich die Gedanken
von Zak zu lesen, oder ob ich lieber Max fragen sollte, was Liebe bedeutet oder ob ich
Mell bitte, mir einen Schneesturm zu erschaffen, damit Zak und ich im Musikraum bleiben
müssten. !
!     Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich wollte nur zurück in die Schule gehen
und Zak einfach wiedersehen.

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                                            10!
!
!     Am Dienstag besuchte Papa das Haus dieser Familie des Clans, die vor kurzem in
unsere Stadt gezogen war. Der Vater der Familie hatte die Haare violett mit einer Locke
über der Stirn. Seine Gabe war es, mit allen Mitgliedern des Clans im gleichen Augenblick
kommunizieren zu können; und zwar so, dass er mit allen gleichzeitig in Verbindung treten
konnte. Mit ihm war es natürlich sehr einfach, unser Problem zu lösen, weil er in einem
einzigen Augenblick das Datum und die Uhrzeit der Zusammenkunft sofort mitteilen
konnte und alle diesen Termin rechtzeitig einplanen.!
!     Die Zusammenkunft war so wichtig, dass wir erleichtert waren, dass dieser Mann
allen Bescheid geben würde. Um das zu feiern gingen wir alle zum Essen an den Strand .!
!     Es gibt in der Nähe unseres Hauses einen sehr breiten Strand. Wir müssen nur die
Straße überqueren und ein kleines Stück laufen. Tagsüber fischen dort Menschen, aber in
der Nacht, wenn niemand da ist, picknicken wir oft im Mondlicht. Teller und Besteck bringt
Mama auf dem Luftweg an den Strand. Die Empanadas, die frittierten Hühnchen und das
Eis erschafft Papa. Wir brauchen selbst ganz wenig Dinge mitzubringen. Mell fragte uns
natürlich noch, welches Wetter wir am liebsten haben würden und so haben wir immer
eine schöne Zeit. !
!     Mell ist meine große Schwester. Sie ist 13 Jahre alt, trägt die Haare auf einer Seite
sehr kurz und auf der anderen lang. Wenn man sie von hinten sieht, kann man eine ganz
klare diagonale Linie sehen, die über dem linken Ohr beginnt und bis zur rechten Schulter
verläuft. Ihre Gabe ist es, das Wetter zu beherrschen: den Himmel, die Wolken, die
Sterne, die Gezeiten des Meeres und den Schnee, sie kann alles ändern, einrichten,
modifizieren. Manchmal überqueren wir die Promenade, an der wir wohnen, setzen uns
ans Meer und betrachten mehrmals hintereinander Sonnenuntergänge, genau wie es der
„Kleine Prinz“ auf seinem Planeten macht; machmal verlängert sie sogar die Nacht,
bereitet Sternschnuppen vor oder eine Erfrischungs-Schauer.!
!     Mell ist sehr nett und hilft uns, wenn wir uns anderes Wetter wünschen. Vor allem
mir hilft sie, da wir zu Hause diejenigen sind, die am meisten Zeit miteinander verbringen.
Wir genießen es einfach, zusammen zu sein, sprechen über alles, und lachen viel. !
!     Für sie ist es sehr einfach, Beachtung zu finden. Sie muss nur einen Sonnenstrahl
durch die Wolken zu sich führen. Sie könnte auch einen romantischen Sonnenuntergang

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genau dann erschaffen, wenn der Junge kommt, den sie erwartet. Trotz allem ist sie nie
verliebt gewesen; vielleicht weil sie noch nicht jemand so Besonderes kennengelernt hat,
der sich auf ihren Sonnenuntergang so freut wie ich es tue. Da sie das Wetter beliebig
wechseln kann und da sie sehr zuvorkommend ist, hatte uns Mell, als wir den Strand zum
Mitternacht-Picknick erreichten, gefragt, welches Wetter wir uns wünschen. Wir hatten
Sehnsucht nach einer warmen Nacht voller Sternschnuppen, damit wir uns ganz viel
wünschen konnten.!
!     „Voller Sternschnuppen?“, lachte Mell, „ist das euer Ernst?“!
!     In diesem Moment schien der Himmel taghell, so viele Sternschnuppen schickte sie
uns. „Ich höre eure Wünsche meine Damen und Herren“, verkündete Mell und rannte in
Richtung Küste. !
!     Wir schrieen vor Aufregung und gingen zur Küste, wo wir ganz still blieben, um die
Sternschnuppen zu beobachten. Als das Sternschuppen-Spektakel lange Zeit später ein
Ende gefunden hatte, hatten wir bereits mehrere Male hintereinander die gleichen
Wünsche den Himmel gerichtet – wie Kinder, die endlich eine Art „Freifahrtschein“ zum
„Wünsche-Verschicken“ bekommen haben. !
!     „Jetzt müssen wir uns aber auf unsere Arbeit konzentrieren“, sagte mein Bruder Ahl.
Er brachte hinter seinem rechten Ohr eine Strähne hervor, die auf seiner Wange gelandet
war und forderte uns fragend auf : „Wo fangen wir an?“!
!      Wir sahen die Flugzeuge, die dicht über der Erde flogen, weil ja die Landebahn des
Flugplatzes hinter unserem Haus anfängt. Die Möwen, die sich durch das Licht von Mells
Himmelsspektakel erschrocken hatten, kamen zurück zum Strand, immer noch
orientierungslos, sie konnten einfach nicht verstehen, warum wieder Nacht geworden war,
obwohl es kurz zuvor wie Tag schien. Wir merkten langsam, dass wir hungrig waren, aber
bevor wir die Empanadas und die frittierten Hühnchen essen, die mein Vater auf einer
Decke erschaffen würde, saßen wir noch auf Holzstämmen und wollten zumindest ein
bisschen mit der Organisation anfangen.!
!     „Vielleicht sollte Max uns allen erklären, worum es in der Zusammenkunft eigentlich
geht“, schlug mein Vater vor.!
!     Als er zu sprechen anfing erinnerte ich mich, dass ich ihn noch fragen wollte, von
welchen Sorgen Ahl sprach, die ich mir über mein Verliebtsein nicht machen sollte. Aber
ich war immer noch unentschlossen, ihn, Mama oder Papa zu fragen.!
!     „Einmal alle 19 Jahre“, erklärte Max „richtet sich der Vollmond in eine Reihe mit den
Planeten. Am Anfang eines solchen Tages trifft sich der Clan immer zur Zusammenkunft. !
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!     „Jede Familie stellt ihre Kinder vor. Diejenigen, die nach der letzten Zusammenkunft
geboren wurden (wie wir alle in unsere Familie) lernen die anderen Kinder sowie alle
Mitglieder des Clans kennen. Erst nach einem symbolischen Tanz, gehören die Kinder und
Jugendlichen offiziell zum Clan; erst ab diesem Moment werden wir wirklich Teil des
Clans.“!
!     Max sah uns alle in die Augen, um sich zu vergewissern, dass wir alles verstanden
hatten. Wir nickten aufgeregt, ungeduldig weil wir noch mehr wissen wollten, wie diese
Plastikdackel, die manche Opas im Auto haben und deren Köpfe mit jeder Bewegung des
Autos mitgehen.!
!     „Außerdem müssen sich die Kandidaten beweisen …“, setzte Max fort, „…weil nicht
nur wir, sondern jeder mit einer eigenen Gabe geboren wird. Nur, dass die normalen Leute
nicht wissen, welche Gabe sie haben. Diejenigen, die sie entdecken, werden von dem
Clan eingeladen, um die Gabe, die sie bei sich entdeckt haben zu präsentieren. Wenn es
sich um eine tatsächliche Gabe handelt, und nicht um einen Trick, ist der Kandidat
angenommen und sein Name wird offiziell eingetragen, damit er eine neue Familie
aufbauen kann. Wir, die von Clan-Mitgliedern geboren wurden, sind nicht gezwungen
unsere Gabe zu zeigen, weil wir sie immer finden. Nicht, weil wir anders sind, sondern weil
unsere Eltern sich von unserer Geburt an bemühen, diese zu finden. Andere Eltern, die
nicht daran glauben, das so etwas möglich ist, suchen natürlich erst gar nicht danach.“!
!     „Ja“, unterbrach Ahl. „Es ist wie bei einem Wissenschaftler, der nie eine Impfung
finden wird für eine Krankheit, von der er gar nicht weiß, dass sie existiert.“ Niemand von
uns fand den Vergleich treffend; wir guckten weiter zu Max – in diesem Moment war für
uns nur interessant, was er sonst noch zu sagen hatte.!
!
!     Danach erzählte er das Schlimmste: das, was ich am liebsten nicht gehört hätte –
genau das, wonach Ahl mich gefragt hatte, ob ich es wusste und was ich gar nicht erklärt
haben wollte – Jetzt weiß ich warum. !
!     „Es gibt noch einen Anlass für die Zusammenkunft: Die Teilnehmerinnen des Clans
suchen einen Freund und die Teilnehmer eine Freundin. Für alle wird dann ein Tanz
getanzt – ja, der Burée, den ihr so gut kennt. Der Burée ist der Tanz bei dem wir uns im
Clan kennenlernen.“!       „Nein“, dachte ich, und begann zu ahnen, warum Ahl
angedeutet hatte, dass ich mir Sorgen machen müsste. Ich wollte auf gar keinen Fall zu
der Zusammenkunft gehen. Um mich zu verlieben, musste ich niemanden treffen, weil ich
schon verliebt war, in einen Musiker, der nicht zum Clan gehörte. !
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