Tischlein deck' dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack

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  Tischlein deck' dich, Goldesel und
  Knüppel aus dem Sack
  Gebrüder Grimm

      Vor alten Zeiten war ein Schneider,    zweiten Sohn, der suchte an der Gar-
   der drei Söhne hatte und nur eine         tenhecke einen Platz aus, wo lauter
   einzige Ziege. Aber die Ziege, weil       gute Kräuter standen und die Ziege
   sie alle zusammen mit ihrer Milch er-     fraß sie rein ab. Abends, als er heim
   nährte, musste ihr gutes Futter ha-       wollte, fragte er: »Ziege, bist du
   ben und täglich hinaus auf die Weide      satt?« Die Ziege antwortete:
   geführt werden. Die Söhne taten das          »Ich bin so satt,
   auch nach der Reihe. Einmal brachte          ich mag kein Blatt, mäh! Mäh!«
   sie der älteste auf den Kirchhof, wo         »So komm nach Haus«, sprach der
   die schönsten Kräuter standen, ließ       Junge, zog sie heim und band sie im
   sie da fressen und herumspringen.         Stall fest. »Nun«, sagte der alte
   Abends, als es Zeit war heim zu ge-       Schneider, »hat die Ziege ihr gehöri-
   hen, fragte er: »Ziege, bist du satt?«    ges Futter?« »O«, antwortete der
   Die Ziege antwortete:                     Sohn, »die ist so satt, sie mag kein
      »Ich bin so satt,                      Blatt.« Der Schneider wollte sich da-
      ich mag kein Blatt, mäh! Mäh!«         rauf nicht verlassen, ging hinab in
      »So komm nach Hause«, sprach           den Stall und fragte: »Ziege, bist du
   der Junge, fasste sie am Strickchen,      auch satt?« Die Ziege antwortete:
   führte sie in den Stall und band sie         »Wovon sollt ich satt sein?
   fest. »Nun«, sagte der alte Schneider,       ich sprang nur über Gräbelein,
   »hat die Ziege ihr gehöriges Futter?«        und fand kein einzig Blättelein,
   »O«, antwortete der Sohn, »die ist so        mäh! Mäh!«
   satt, sie mag kein Blatt.« Der Vater         »Der gottlose Bösewicht!«, schrie
   aber wollte sich selber überzeugen,       der Schneider, »so ein frommes Tier
   ging hinab in den Stall, streichelte      hungern zu lassen!«, lief hinauf und
   das liebe Tier und fragte: »Ziege, bist   schlug mit der Elle den Jungen zur
   du auch satt?« Die Ziege antwortete:      Haustür hinaus.
      »Wovon sollt ich satt sein?               Die Reihe kam jetzt an den dritten
      Ich sprang nur über Gräbelein,         Sohn, der wollte seine Sache gut
      und fand kein einzig Blättelein,       machen, suchte Buschwerk mit dem
      mäh! Mäh!«                             schönsten Laube aus und ließ die
      »Was muss ich hören!«, rief der        Ziege daran fressen. Abends, als er
   Schneider, lief hinauf und sprach zu      heim wollte, fragte er: »Ziege, bist du
   dem Jungen: »Ei, du Lügner, sagst,        auch satt?« Die Ziege antwortete:
   die Ziege wäre satt und hast sie hun-        »Ich bin so satt,
   gern lassen?«, und in seinem Zorn            ich mag kein Blatt, mäh! Mäh!«
   nahm er die Elle von der Wand und            »So komm nach Haus«, sagte der
   jagte ihn mit Schlägen hinaus.            Junge, führte sie in den Stall und
      Am anderen Tage war die Reihe am       band sie fest. »Nun«, sagte der alte

                                                                                  1

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   Schneider, »hat die Ziege ihr gehöri-          Als der Schneider das hörte, stutz-
   ges Futter?« »O«, antwortete der            te er und sah wohl, dass er seine drei
   Sohn, »die ist so satt, sie mag kein        Söhne ohne Ursache verstoßen hatte.
   Blatt.« Der Schneider traute nicht,         »Wart«, rief er, »du undankbares Ge-
   ging hinab und fragte: »Ziege, bist du      schöpf, dich fortzujagen ist noch zu
   auch satt?« Das boshafte Tier ant-          wenig, ich will dich zeichnen, dass du
   wortete:                                    dich unter ehrbaren Schneidern nicht
      »Wovon sollt ich satt sein?              mehr darfst sehen lassen.« In einer
      Ich sprang nur über Gräbelein,           Hast sprang er hinauf, holte sein
      und fand kein einzig Blättelein,         Bartmesser, seifte der Ziege den
      mäh! Mäh!«                               Kopf ein und schor sie glatt wie seine
      »O diese Lügenbrut!«, rief der           flache Hand. Und weil die Elle zu eh-
   Schneider, »einer so pflichtvergessen       renvoll gewesen wäre, holte er die
   und gottlos wie der andere! Ihr sollt       Peitsche und versetzte ihr solche Hie-
   mich nicht länger zum Narren ha-            be, dass sie in gewaltigen Sprüngen
   ben!«, und vor Zorn ganz außer sich,        davonlief.
   sprang er hinauf und gerbte dem ar-            Der Schneider, als er so ganz ein-
   men Jungen mit der Elle den Rücken          sam in seinem Hause saß, verfiel in
   so gewaltig, dass er zum Hause hin-         große Traurigkeit und hätte seine
   aussprang.                                  Söhne gern wieder gehabt, aber nie-
      Der alte Schneider war nun mit sei-      mand wusste, wo sie hingeraten wa-
   ner Ziege allein. Am anderen Morgen         ren. Der älteste war zu einem Schrei-
   ging er hinab in den Stall, liebkoste       ner in die Lehre gegangen, da lernte
   die Ziege und sprach: »Komm, mein           er fleißig und unverdrossen, und als
   liebes Tierlein, ich will dich selbst zur   seine Zeit herum war, dass er wan-
   Weide führen.« Er nahm sie am Strick        dern sollte, schenkte ihm der Meister
   und brachte sie zu grünen Hecken            ein Tischchen, das gar kein besonde-
   und unter Schafrippe und was sonst          res Ansehen hatte und von gewöhn-
   die Ziegen gern fressen. »Da kannst         lichem Holz war; aber es hatte eine
   du dich einmal nach Herzenslust sät-        gute Eigenschaft. Wenn man es hin-
   tigen«, sprach er zu ihr und ließ sie       stellte und sprach: »Tischchen, deck
   weiden bis zum Abend. Da fragte er:         dich«, so war das gute Tischchen auf
   »Ziege, bist du satt?« Sie antwortete:      einmal mit einem sauberen Tüchlein
      »Ich bin so satt,                        bedeckt, und da stand ein Teller mit
      ich mag kein Blatt, mäh! Mäh!«           Messer und Gabel daneben und so
      »So komm nach Hause«, sagte der          viele Schüsseln mit Gesottenem und
   Schneider, führte sie in den Stall und      Gebratenem, wie Platz hatten, und
   band sie fest. Als er wegging, kehrte       ein großes Glas mit rotem Wein
   er sich noch einmal um und sagte:           leuchtete, dass einem das Herz lach-
   »Nun bist du doch einmal satt!« Aber        te. Der junge Gesell dachte: »Damit
   die Ziege machte es ihm nicht besser        hast du genug für dein Lebtag«, zog
   und rief:                                   guter Dinge in der Welt umher und
      »Wie sollt ich satt sein?                bekümmerte sich gar nicht darum, ob
      Ich sprang nur über Gräbelein,           ein Wirtshaus gut oder schlecht und
      und fand kein einzig Blättelein,         ob etwas darin zu finden war oder
      mäh! Mäh!«                               nicht. Wenn es ihm nicht gefiel, so

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   kehrte er gar nicht ein, sondern im       späte Nacht, endlich legten sie sich
   Felde, im Wald, auf einer Wiese, wo       schlafen, und der junge Geselle ging
   er Lust hatte, nahm er sein Tischchen     auch zu Bett und stellte sein Wünsch-
   vom Rücken, stellte es vor sich und       tischchen an die Wand. Dem Wirte
   sprach: »Deck dich«, so war alles da,     aber ließen seine Gedanken keine Ru-
   was sein Herz begehrte. Endlich kam       he. Es fiel ihm ein, dass in seiner
   es ihm in den, Sinn, er wollte zu sei-    Rumpelkammer ein altes Tischchen
   nem Vater zurückkehren. Sein Zorn         stände, das genauso aussähe. Das
   würde sich gelegt haben und mit           holte er ganz sachte herbei und ver-
   dem Tischchen deck dich würde er          tauschte es mit dem Wünschtisch-
   ihn gern wieder aufnehmen. Es trug        chen. Am anderen Morgen zahlte der
   sich zu, dass er auf dem Heimwege         Schreiner sein Schlafgeld, packte
   abends in ein Wirtshaus kam, das mit      sein Tischchen auf, dachte gar nicht
   Gästen angefüllt war. Sie hießen ihn      daran, dass er ein falsches hätte und
   willkommen und luden ihn ein, sich        ging seiner Wege. Zu Mittag kam er
   zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu       bei seinem Vater an, der ihn mit gro-
   essen, sonst würde er schwerlich          ßer Freude empfing. »Nun, mein lie-
   noch etwas bekommen. »Nein«, ant-         ber Sohn, was hast du gelernt?«, sag-
   wortete der Schreiner, »die paar Bis-     te er zu ihm. »Vater, ich bin Schrei-
   sen will ich euch nicht vor dem Mun-      ner geworden.« »Ein gutes Hand-
   de nehmen, lieber sollt ihr meine         werk«, erwiderte der Alte, »aber was
   Gäste sein.« Sie lachten und mein-        hast du von deiner Wanderschaft mit-
   ten, er triebe seinen Spaß mit ihnen.     gebracht?« »Vater, das Beste, was
   Er aber stellte sein hölzernes Tisch-     ich mitgebracht habe, ist das Tisch-
   chen mitten in die Stube und sprach:      chen.« Der Schneider betrachtete es
   »Tischchen, deck dich.« Augenblick-       von allen Seiten und sagte: »Daran
   lich war es mit Speisen besetzt, so       hast du kein Meisterstück gemacht,
   gut, wie sie der Wirt nicht hätte her-    das ist ein altes und schlechtes Tisch-
   beischaffen können und wovon der          chen.« »Aber es ist ein Tischchen
   Geruch den Gästen lieblich in die Na-     deck dich«, antwortete der Sohn,
   se stieg. »Zugegriffen, liebe Freun-      »wenn ich es hinstelle und sage ihm,
   de«, sprach der Schreiner, und die        es soll sich decken, so stehen gleich
   Gäste, als sie sahen, wie es gemeint      die schönsten Gerichte darauf und
   war, ließen sie sich nicht zweimal bit-   ein Wein dabei, der das Herz erfreut.
   ten, rückten heran, zogen ihre Mes-       Ladet nur alle Verwandten und Freun-
   ser und griffen tapfer zu. Und was sie    de ein, die sollen sich einmal laben
   am meisten verwunderte, wenn eine         und erquicken, denn das Tischchen
   Schüssel leer geworden war, so stell-     macht sie alle satt.« Als die Gesell-
   te sich gleich von selbst eine volle an   schaft beisammen war, stellte er sein
   ihren Platz. Der Wirt stand in einer      Tischchen mitten in die Stube und
   Ecke und sah dem Dinge zu. Er wuss-       sprach: »Tischchen, deck dich.« Aber
   te gar nicht, was er sagen sollte,        das Tischchen regte sich nicht und
   dachte aber: »Einen solchen Koch          blieb so leer wie ein anderer Tisch,
   könntest du in deiner Wirtschaft wohl     der die Sprache nicht versteht. Da
   brauchen.« Der Schreiner und seine        merkte der arme Geselle, dass ihm
   Gesellschaft waren lustig bis in die      das Tischchen vertauscht worden war

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   und schämte sich, dass er wie ein         binde ihn auch selbst an, denn ich
   Lügner dastand. Die Verwandten aber       muss wissen, wo er steht.« Dem Wirt
   lachten ihn aus und mussten unge-         kam das wunderlich vor und er mein-
   trunken und ungegessen wieder heim        te, einer, der seinen Esel selbst ver-
   wandern. Der Vater holte seine Lap-       sorgen müsste, hätte nicht viel zu
   pen wieder herbei und schneiderte         verzehren. Als aber der Fremde in die
   fort, der Sohn aber ging bei einem        Tasche griff, zwei Goldstücke heraus-
   Meister in die Arbeit.                    holte und sagte, er sollte nur etwas
      Der zweite Sohn war zu einem Mül-      Gutes für ihn einkaufen, so machte er
   ler gekommen und bei ihm in die Leh-      große Augen, lief und suchte das
   re gegangen. Als er seine Jahre her-      Beste, das er auftreiben konnte. Nach
   um hatte, sprach der Meister: »Weil       der Mahlzeit fragte der Gast, was er
   du dich so wohl gehalten hast, schen-     schuldig wäre, der Wirt wollte die
   ke ich dir einen Esel von einer beson-    doppelte Kreide nicht sparen und
   deren Art. Er zieht nicht am Wagen        sagte, er müsste noch ein paar Gold-
   und trägt auch keine Säcke.« »Wozu        stücke zulegen. Der Geselle griff in
   ist er denn nütze?«, fragte der junge     die Tasche, aber sein Gold war eben
   Geselle. »Er speit Gold«, antwortete      zu Ende. »Wartet einen Augenblick,
   der Müller; »wenn du ihn auf ein Tuch     Herr Wirt«, sprach er, »ich will nur
   stellst und sprichst: ›Bricklebrit‹, so   gehen und Gold holen«, nahm aber
   speit das gute Tier Goldstücke aus,       das Tischtuch mit. Der Wirt wusste
   hinten und vorn.« »Das ist eine schö-     nicht, was das heißen sollte, war neu-
   ne Sache«, sprach der Geselle, dank-      gierig, schlich ihm nach, und da der
   te dem Meister und zog in die Welt.       Gast die Stalltür zuriegelte, so guckte
   Wenn er Gold nötig hatte, brauchte        er durch ein Astloch. Der Fremde
   er zu seinem Esel nur »Bricklebrit« zu    breitete unter dem Esel das Tuch aus,
   sagen, so regnete es Goldstücke, und      rief: »Bricklebrit«, und augenblicklich
   er hatte weiter keine Mühe, als sie       fing das Tier an, Gold zu speien von
   von der Erde aufzuheben. Wo er hin-       hinten und vorn, dass es ordentlich
   kam, war ihm das Beste gut genug          auf die Erde herabregnete. »Ei der
   und je teurer je lieber, denn er hatte    Tausend«, sagte der Wirt, »da sind
   immer einen vollen Beutel. Als er sich    die Dukaten bald geprägt; so ein
   eine zeitlang in der Welt umgesehen       Geldbeutel ist nicht übel!« Der Gast
   hatte, dachte er: »Du musst deinen        bezahlte seine Zeche und legte sich
   Vater aufsuchen, wenn du mit dem          schlafen, der Wirt aber schlich in der
   Goldesel kommst, so wird er seinen        Nacht herab in den Stall, führte den
   Zorn vergessen und dich gut aufneh-       Münzmeister weg und band einen an-
   men.« Es trug sich zu, dass er in         deren Esel an seine Stelle. Den fol-
   dasselbe Wirtshaus geriet, in wel-        genden Morgen in der Frühe zog der
   chem seinem Bruder das Tischchen          Geselle mit seinem Esel ab und mein-
   vertauscht war. Er führte seinen Esel     te, er hätte seinen Goldesel. Mittags
   an der Hand und der Wirt wollte ihm       kam er bei seinem Vater an, der sich
   das Tier abnehmen und anbinden,           freute, als er ihn wieder sah und ihn
   der junge Geselle aber sprach: »Gebt      gern aufnahm. »Was ist aus dir ge-
   Euch keine Mühe, meinen Grauschim-        worden, mein Sohn?«, fragte der Al-
   mel führe ich selbst in den Stall und     te. »Ein Müller, lieber Vater«, sagte

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   er. »Was hast du von deiner Wander-      halten hatte, einen Sack und sagte:
   schaft mitgebracht?« »Weiter nichts      »Es liegt ein Knüppel darin.« – »Den
   als einen Esel.« »Esel gibt's hier ge-   Sack kann ich umhängen und er kann
   nug«, sagte der Vater, »da wäre mir      mir gute Dienste leisten, aber was
   doch eine gute Ziege lieber gewe-        soll der Knüppel darin? Der macht ihn
   sen.« »Ja«, antwortete der Sohn,         nur schwer.« »Das will ich dir sagen«,
   »aber es ist kein gemeiner Esel, son-    antwortete der Meister, »hat dir je-
   dern ein Goldesel; wenn ich sage:        mand etwas zuleide getan, so sprich
   ›Bricklebrit‹, so speit Euch das gute    nur: ›Knüppel, aus dem Sack‹, so
   Tier ein ganzes Tuch voll Goldstücke.    springt dir der Knüppel heraus unter
   Lasst nur alle Verwandten herbeiru-      die Leute und tanzt ihnen so lustig
   fen, ich mache sie alle zu reichen       auf dem Rücken herum, dass sie sich
   Leuten.« »Das lass ich mir gefallen«,    acht Tage lang nicht regen und bewe-
   sagte der Schneider, »dann brauch        gen können und eher lässt er nicht
   ich mich mit der Nadel nicht weiter      ab, als bis du sagst: ›Knüppel, in den
   zu quälen«, sprang selbst fort und       Sack‹.« Der Geselle dankte ihm, hing
   rief die Verwandten herbei. Sobald       den Sack um, und wenn ihm jemand
   sie beisammen waren, hieß sie der        zu nahe kam und auf den Leib wollte,
   Müller Platz machen, breitete sein       so sprach er: »Knüppel, aus dem
   Tuch aus und brachte den Esel in die     Sack.« Alsbald sprang der Knüppel
   Stube. »Jetzt gebt acht«, sagte er       heraus und klopfte einem nach dem
   und rief: »Bricklebrit«, aber es waren   anderen den Rock oder Wams gleich
   keine Goldstücke, die herabfielen,       auf dem Rücken aus und wartete
   und es zeigte sich, dass das Tier        nicht erst, bis er ihn ausgezogen hat-
   nichts von der Kunst verstand, denn      te. Das ging so geschwind, dass, ehe
   es bringt nicht jeder Esel so weit. Da   sich's einer versah, die Reihe schon
   machte der arme Müller ein langes        an ihm war. Der junge Drechsler ge-
   Gesicht, sah, dass er betrogen war       langte zur Abendzeit in dem Wirts-
   und bat die Verwandten um Verzei-        haus an, wo seine Brüder waren be-
   hung, die so arm heimgingen wie sie      trogen worden. Er legte seinen Ran-
   gekommen waren. Es blieb nichts          zen vor sich auf den Tisch und fing
   übrig, der Alte musste wieder nach       an zu erzählen, was er alles Merkwür-
   der Nadel greifen und der Junge sich     diges in der Welt gesehen habe. »Ja«,
   bei einem Müller verdingen.              sagte er, »man findet wohl ein Tisch-
      Der dritte Bruder war zu einem        chen deck dich, einen Goldesel und
   Drechsler in die Lehre gegangen, und     dergleichen, lauter gute Dinge, die
   weil es ein kunstreiches Handwerk        ich nicht verachte. Aber das ist alles
   ist, musste er am längsten lernen.       nichts gegen den Schatz, den ich mir
   Seine Brüder aber meldeten ihm in        erworben habe und mit mir da in
   einem Briefe, wie schlimm es ihnen       meinem Sack führe.« Der Wirt spitzte
   ergangen wäre und wie sie der Wirt       die Ohren: »Was in aller Welt mag
   noch am letzten Abend um ihre schö-      das sein?«, dachte er, »der Sack ist
   nen Wünschdinge gebracht hätte. Als      wohl mit lauter Edelsteinen angefüllt;
   der Drechsler nun ausgelernt hatte       den sollte ich billig auch noch haben,
   und wandern sollte, so schenkte ihm      denn aller guten Dinge sind drei.« Als
   sein Meister, weil er sich so wohl ge-   Schlafenszeit war, streckte sich der

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   Gast auf die Bank und legte seinen       kannst du dir von jedem Baume ab-
   Sack als Kopfkissen unter. Der Wirt,     hauen.« »Aber Vater, wenn ich sage:
   als er meinte, der Gast läge in tiefem   ›Knüppel, aus dem Sack‹, so springt
   Schlaf, ging herbei, rückte und zog      der Knüppel heraus und macht mit
   ganz sachte und vorsichtig an dem        dem, der es nicht gut mit mir meint,
   Sack, ob er ihn vielleicht wegziehen     einen schlimmen Tanz und lässt nicht
   und einen anderen unterlegen könn-       eher nach, als bis er auf der Erde
   te. Der Drechsler aber hatte schon       liegt und um gut Wetter bittet. Seht
   lange darauf gewartet. Wie nun der       Ihr, mit diesem Knüppel habe ich das
   Wirt einen herzhaften Ruck tun woll-     Tischchen deck dich und den Gold-
   te, rief er: »Knüppel, aus dem Sack.«    esel wieder herbeigeschafft, die der
   Alsbald fuhr das Knüppelchen heraus,     diebische Wirt meinen Brüdern abge-
   dem Wirt auf den Leib und rieb ihm       nommen hatte. Jetzt lasst sie beide
   die Nähte, dass es eine Art hatte. Der   rufen und ladet alle Verwandten ein,
   Wirt schrie erbärmlich, aber je lauter   ich will sie speisen und tränken und
   er schrie, desto kräftiger schlug der    will ihnen die Taschen noch mit Gold
   Knüppel ihm den Takt dazu auf dem        füllen.« Der alte Schneider wollte sich
   Rücken, bis er endlich erschöpft zur     nicht recht trauen, brachte aber doch
   Erde fiel. Da sprach der Drechsler:      die Verwandten zusammen. Da deck-
   »Wenn du das Tischchen deck dich         te der Drechsler ein Tuch in die Stu-
   und den Goldesel nicht wieder her-       be, führte den Goldesel herein und
   ausgibst, so soll der Tanz von Neuem     sagte zu seinem Bruder: »Nun, lieber
   angehen.« »Ach nein«, rief der Wirt      Bruder, sprich mit ihm.« Der Müller
   ganz kleinlaut, »ich gebe alles gern     sagte: »Bricklebrit«, und augenblick-
   wieder heraus, lasst nur den ver-        lich sprangen die Goldstücke auf das
   wünschten Kobold wieder in den Sack      Tuch herab, als käme ein Platzregen.
   kriechen.« Da sprach der Geselle:        Der Esel hörte nicht eher auf, als bis
   »Ich will Gnade für Recht ergehen        alle soviel hatten, dass sie nicht
   lassen, aber hüte dich vor Schaden!«,    mehr tragen konnten. (Ich sehe dir's
   dann rief er: »Knüppel, in den Sack!«,   an, du wärst auch gern dabei gewe-
   und ließ ihn ruhen.                      sen.) Dann holte der Drechsler das
      Der Drechsler zog am anderen Mor-     Tischchen und sagte: »Lieber Bruder,
   gen mit dem Tischchen deck dich und      nun sprich mit ihm.« Und kaum hatte
   dem Goldesel heim zu seinem Vater.       der Schreiner »Tischchen, deck dich«
   Der Schneider freute sich, als er ihn    gesagt, so war es gedeckt und mit
   wieder sah und fragte auch ihn, was      den schönsten Schüsseln reichlich
   er in der Fremde gelernt hätte. »Lie-    besetzt. Da ward eine Mahlzeit gehal-
   ber Vater«, antwortete er, »ich bin      ten, wie der gute Schneider noch kei-
   ein Drechsler geworden.« »Ein kunst-     ne in seinem Hause erlebt hatte und
   reiches Handwerk«, sagte der Vater,      die ganze Verwandtschaft blieb bei-
   »und was hast du von deiner Wander-      sammen bis in die Nacht und waren
   schaft mitgebracht?« »Ein kostbares      alle lustig und vergnügt. Der Schnei-
   Stück, lieber Vater«, antwortete der     der verschloss Nadel und Zwirn, Elle
   Sohn, »einen Knüppel in dem Sack.«       und Bügeleisen in einen Schrank und
   »Was!«, rief der Vater, »einen Knüp-     lebte mit seinen drei Söhnen in Freu-
   pel! Das ist der Mühe wert! Den          de und Herrlichkeit.

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Märchen

     Wo ist aber die Ziege hingekom-
  men, die schuld war, dass der
  Schneider seine Söhne fortjagte? Das
  will ich dir sagen. Sie schämte sich,
  dass sie einen kahlen Kopf hatte, lief
  in eine Fuchshöhle und verkroch sich
  hinein. Als der Fuchs nach Hause
  kam, funkelten ihm ein paar große
  Augen aus der Dunkelheit entgegen,
  dass er erschrak und wieder zurück-
  lief. Der Bär begegnete ihm, und da
  der Fuchs ganz verstört aussah, so
  sprach er: »Was ist mit dir, Bruder
  Fuchs, was machst du für ein Ge-
  sicht?« »Ach«, antwortete der Rote,
  »ein grimmiges Tier sitzt in meiner
  Höhle und hat mich mit feurigen Au-
  gen angeglotzt.« »Das wollen wir
  bald austreiben«, sprach der Bär,
  ging mit zur Höhle und schaute hin-
  ein. Als er aber die feurigen Augen
  erblickte, bekam er ebenfalls Furcht;
  er wollte mit dem grimmigen Tiere
  nichts zu tun haben und nahm Reiß-
  aus. Die Biene begegnete ihm, und
  da sie merkte, dass es ihm in seiner
  Haut nicht wohl zumute war, sprach
  sie: »Bär, du machst ja ein gewaltig
  verdrießlich Gesicht, wo ist deine Lus-
  tigkeit geblieben?« »Du hast gut re-
  den«, antwortete der Bär, es sitzt ein
  grimmiges Tier mit Glotzaugen in
  dem Hause des Roten und wir können
  es nicht herausjagen.« Die Biene sag-
  te: »Du dauerst mich, Bär, ich bin ein
  armes schwaches Geschöpf, das ihr
  im Wege nicht anguckt, aber ich
  glaube doch, dass ich euch helfen
  kann.« Sie flog in die Fuchshöhle,
  setzte sich der Ziege auf den glatten
  geschorenen Kopf und stach sie so
  gewaltig, dass sie aufsprang, »mäh!
  Mäh!« schrie und wie toll in die Welt
  hineinlief, und niemand weiß auf die-
  se Stunde, wo sie hingelaufen ist.

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