Markieren - Einfangen - Schätzen: Wie viele wilde Tiere?

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Markieren - Einfangen - Schätzen: Wie viele wilde Tiere?
JOACHIM ENGEL, LUDWIGSBURG

Zusammenfassung: Die Modellierung eines                    kurzen Überblick stellen wir in Abschnitt 2 eine
ökologischen Problems - die Bestimmung der An-             Methode vor, die auf dem Einfangen vorher mar-
zahl in Wildnis lebender Tiere - bietet Gelegenheit        kierter Lebewesen beruht (englisch: Capture-
zur Einführung in statistisches Denken. Dazu wird          Recapture). Dazu schlagen wir eine handlungsori-
eine handlungsorientierte Übung vorgestellt, die           entierte Übung vor, gefolgt von einer Computer-
auf dem (Wieder-) Einfangen vorher markierter              simulation (Abschnitt 3) und einer mathemati-
Tiere beruht. Die Qualität der Methode kann per            schen Analyse (Abschnitt 4). Abschnitt 5 schließt
Computersimulation oder durch mathematische                sich mit kritischen Überlegungen über praktische
Analyse bewertet werden. Der konkrete Problem-             Grenzen dieser Methode an.
kontext eignet sich als motivierende Einführung             1. Flächenstichproben mit Luftaufnahmen:
oder als zusammenfassende Gesamtschau ver-                     Manche Tiere lassen sich in ihrer natürlichen
schiedener wichtiger Konzepte der Stochastik:                  Lebensumwelt aus der Entfernung erkennen,
Modellierungsprozess, Simulation, hypergeome-                  z.B. erscheinen Pinguine in der Antarktis vom
trische      Verteilung,     Maximum-Likelihood-               Flugzeug aus als schwarze Punkte auf hellem
Schätzer, negative Binomialverteilung, Konfidenz-              Eis. Will man den Tierbestand feststellen, so
intervalle, Testen von Hypothesen und Ver-                     kann man dann eine Zufallsstichprobe von
suchsaujbau. Eine abschließende Modellkritik                   Gebietsstücken auswählen. Anschließend
zeigt praktische Grenzen der Methode auf                       werden diese Gebiete von der Luft aus als
                                                               Flächenaufnahme fotografiert und ausgezählt.
                                                               Eine konkrete Übung für Schüler zu dieser
1. Wie lässt sich die Größe des Tierbe-                        Methode wird von Perry und Kader (1998)
standes bestimmen?                                             vorgeschlagen.
Naturschützer weisen beharrlich darauf hin, dass            2. Tägliche oder jährliche Fangzahlen:
viele Tierarten vom Aussterben bedroht sind. Die               Tägliche Fangquoten bei Fischen hängen di-
Artenschutzkonvention war ein wichtiges Resultat               rekt von der Bevölkerungsdichte der Tiere ab.
der UN-Umweltkonferenz (UNCED) von 1992 in                     Wenn alle anderen Faktoren (z.B. keine ver-
Rio. Viele Faktoren wie Umweltverschmutzung,                   besserten Fangtechniken oder intelligente Tie-
Vordringen der menschlichen Zivilisation und                   re, die lernen, den Fangnetzen aus dem Weg
kommerzielle Interessen (z.B. Überfischung der                 zu gehen) annähernd konstant bleiben, so er-
Meere, Jagd nach Elfenbein, Pelzen und Kroko-                  scheint eine proportionale Beziehung zwi-
dilleder) tragen zu dieser Entwicklung bei. Um die             schen Fangzahlen und Gesamtzahl der Fische
Wale vor dem Aussterben zu bewahren, wurde                     plausibel. Somit lassen sich relative Änderun-
1946 von der UNO die internationale Walfang-                   gen in der Zahl der Tiere konstatieren (siehe
kommission eingerichtet, die den Fang bestimmter               etwa Tanur et al. 1989). Sieht man von der
Wale (Blau- und Pottwale) verbietet und für ande-              natürlichen Änderungsrate (Sterberate minus
re Wale (Grönlandwale) enge Fangquoten fest-                   Geburtenrate) der Tiere ab, so lässt sich über
schreibt.                                                      Veränderungen in den Fangzahlen auch die
                                                               Gesamtzahl schätzen: Wenn nach einem Fang
Grundlage aller Diskussionen ist die Feststellung
                                                               von z.B. 2500 Fischen in einem See in einem
eines Schwundes der Anzahl spezieller Tierarten.
                                                               Jahr im Folgejahr nur 2000 Fische gefangen
Wie aber lässt sich die Anzahl wild lebender Tiere
                                                               werden (20 % weniger), dann lässt sich der
feststellen? Da es in den Ozeanen und der Wildnis
                                                               Bevölkerungsbestand       zu     Beginn    auf
keine "Einwohnermeldeämter" für Tiere gibt, ist
                                                               2500 / 20% = 12 500 Fische schätzen.
man auf Schätzungen angewiesen. Damit ist die
Statistik gefragt, zuverlässige Verfahren bereit zu         3. Altersanalyse:
stellen, mit denen sich Populationsgrößen schät-               Ähnlich wie Bäume jedes Jahr einen Ring um
zen lassen. Einige dieser Methoden lassen sich                 ihren Stamm legen, so lässt sich auch das Al-
auch zur Schätzung von menschlichen Populatio-                 ter von bestimmten Tieren an biologischen
nen (z. B. Teilnehmer an Massenveranstaltungen                 Merkmalen ermitteln, bei Walen sind es z.B.
wie Volksfesten, Demonstrationen, oder der Zahl                Ringe am Ohr. Damit kann man jährliche Pro-
obdachloser Menschen) einsetzen. Nach einem                    zentsätze für gefangene Altersgruppen be-

SiS 20(2000) Heft 2                     J. Engel: Markieren - Einfangen - Schätzen: Wie viele wilde Tiere?   17
rechnen. Die Gesamtzahl der Tiere lässt sich         war die Anzahl der amtlich gemeldeten Geburten
   dann schätzen, indem z. B. Fangquoten der            dieser Gemeinden.
   heute fünfjährigen Tiere mit den Quoten der
                                                        Zur lllustration dieser Methode schlagen wir ein
   vierjährigen Tiere vom letzten Jahr mit Me-
                                                        Experiment vor, das am besten in Gruppen von 3
   thoden wie unter 2.) verglichen werden.
                                                        bis 4 Schülerinnen und Schülern durchgeführt
4. Wiedereinfangen markierter Tiere (Capture-           wird. Wir brauchen dazu pro Gruppe eine Tüte
   Recapture-Methode ):                                 fischförrnigen Knabbergebäcks, z.B. "gold
   Bei dieser Methode werden zunächst einige            fischli", Lebensmittel-Farbe (als Ersatz geht auch
   Tiere eingefangen, mit einer Markierung ver-         ein Filzstift) sowie eine Schüssel, die als Teich
   sehen und wieder freigelassen (Capture).             dient. Die Schüssel sollte groß genug sein, damit
   Nach einiger Zeit (bis die Tiere sich durch-         sich die Fische beim Schütteln auch gut durchmi-
   mischt haben) wird eine zweite Stichprobe            schen. Die folgende Vierfelder-Tafel stellt eine
   von derselben Tierpopulation eingefangen.            Gruppierung der Fische dar, je nach dem ob sie im
   Dann zählt man die Anzahl der markierten             ersten oder zweiten Fang gefangen wurden oder
   Lebewesen in der zweiten (Recapture-) Stich-         nicht.
   probe. Mit Hilfe dieser Zahl wird eine Schät-
   zung für die Gesamtzahl der Tiere errechnet.                              Im ersten Fang
   Werden zunächst M Tiere markiert und dann                              Ja           Nein
   n Tiere eingefangen, unter denen man X Tiere                          (Markiert)   (Nicht     Gesamt
   mit Markierung findet, so führt eine einfache                                       markiert)
   Proportionalitätsüberlegung zu X / n =M / N.         Im      Ja         X    n-X              n
   Daher ist eine natürliche Schätzgröße für die        zweiten
   Gesamtzahl der Tiere gegeben durch                   Fang    Nein M-X N-M-n+X                     N-n
                  AM·n                                  Gesamt       M   N-M                         N
                  N=--                     (1).
                    X
Man beachte hierbei, dass bei dieser Vorgehens-         Zweck der Übung ist es, in statistische Modelle
weise der Umfang der beiden Stichproben Mund            einzuführen und auch zu lernen, wie verschiedene
n vom Experiment vorgegeben sind, während die           Annahmen die statistische Analyse beeinflussen.
Zahl X von markierten Tieren der zweiten Stich-         Abbildung 1 (Siehe folgende Seite!) zeigt Ar-
probe von Zufallseinflüssen abhängt.                    beitsanweisungen für diese Aktivität.

Eine Variante dieser Methode sieht vor, den Um-
fang der zweiten Stichprobe so groß zu wählen,          3. Wiederholung            durch       Computer-
dass sie eine fest vorgegebene Zahl X = k von           Simulation
markierten Tieren umfasst. Das zweite Einfangen
wird jetzt also so lange fortgeführt, bis k markierte   Die vorangegangene Übung lässt sich beliebig oft
Tiere gefangen sind. Die Berechnungsformel              wiederholen. Die resultierenden Schätzwerte für
bleibt genau dieselbe, nur ist jetzt X = k fest vor-    die Gesamtpopulation können dann in einem
gegeben und der Umfang n der zweiten Stichpro-          Boxplot oder Stamm-und-Blatt-Diagramm darge-
be hängt vom Zufall ab.                                 stellt werden. Besonders interessant sind wieder-
                                                        holte Versuchsreihen für unterschiedliche Werte
                                                        der beiden Stichprobenumfänge Mund n. Wel-
2. Übung          zum     Capture-Recapture-            chen Einfluss hat es, wenn mehr Fische markiert
Verfahren                                               werden? Welche Auswirkungen hat eine vergrö-
                                                        ßerte Stichprobe beim zweiten Einfangen? In der
Die Capture-Recapture-Methode wurde schon               Praxis ist jedes Markieren bzw. Wiedereinfangen
von P. S. Laplace 1783 zur Schätzung der Bevöl-         von Tieren mit Arbeit und Kosten verbunden.
kerung Frankreichs angewandt (Seber 1973). Ein          Sollte man eher die Zahl der Markierungen oder
Melderegister aller Neugeborenen Frankreichs            den Umfang des zweiten Fangs erhöhen? Sollten
stellte die M markierten Individuen dar. Die            beide Stichproben ungefahr gleich groß sein?
zweite Stichprobe vom Umfang n bestand aus
den Mitgliedern einiger Kirchengemeinden, und X

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Markieren - Wiedereinfangen - Schätzen: Wie viele wilde Tiere?

 Wie lässt sich die Anzahl von in der Wildnis lebenden Tieren schätzen? Die folgende Übung
 demonstriert eine Methode, die auf dem Wiedereinfangen markierter Tiere basiert. Wir gehen
 von einem See aus, dessen Fischbestand zu schätzen ist. Dazu hast Du eine Tüte mit Goldfisch-
 Knabbergebäck und eine Schüssel, die den See darstellt.

  1. Öffne die Tüte mit Goldfisch-Knabbergebäck und schütte sie in die Schüssel (den "See").
  2. Jetzt nimm eine Stichprobe vom Umfang M::::: 15 - 20 von Fischen aus dem See heraus und
     markiere sie, indem Du mit Lebensmittelfarbe einen kleinen, aber gut sichtbaren Punkt auf
     jeden der eingefangenen Fische machst. Lege dann die markierten Fische zurück in den See
     (Markieren).
  3. Schüttele die Schüssel, damit sich die Fische im See gut durchrnischen. Nimm dann eine
     zweite Stichprobe (Wiedereinjangen) vom Umfang n ::::: 15 - 20 von Tieren aus dem See.
     Zähle die Anzahl der markierten Fische des zweiten Fangs. Wir bezeichnen diese Anzahl
     mit X, d.h. bei dieser Stichprobe hast Du X markierte und n - X nicht markierte Stichprobe
     eingefangen.
  4. Jetzt betrachte den Anteil der markierten Fische innerhalb der zweiten Stichprobe. Wenn
     der See gut gemischt wurde, ist die Annahme plausibel, dass der Anteil der markierten Fi-
     sche in der Stichprobe ungefähr so groß ist wie der Anteil der markierten Fische im ge-
     samten See, d.h. X / n ::::: M / N. Daher lässt sich die Anzahl der Fische im See schätzen
     mittels

                                              N=M.n.
                                                     X
  5. Wiederhole dieses Experiment (Schritte 2 bis 4) mehrere Male (z.B. zehn Mal) und stell die
     erhaltenen Schätzwerte für N in einem Boxplot dar.

  Zusatz:
  6. Welchen Einfluss haben die beiden Stichprobenumfänge Mund n auf die Qualität des
     Schätzers von N? Erstelle einen Versuchsplan für eine Experimentenreihe. Wie sollen dabei
     Mund n variieren?
  7. Eine Variante der Schätzmethode besteht darin, im zweiten Durchgang so lange zu fischen,
     bis eine vorgegebene Anzahl markierter Fische (z.B. X =6) erreicht wurde. Was sind mög-
     liche Vorteile dieser Vorgehensweise? Was ihre Nachteile?

Abbildung 1: Arbeitsblatt zum Capture-Recapture-Verfahren

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Da ein häufiges Durchspielen des Experiments in          Dazu haben wir ein Makro in der statistischen
Abschnitt 2 sehr zeitaufwendig ist, bietet sich hier     Programmierumgebung Lisp-Stat geschrieben
eine Computersimulation an. Dabei lassen sich            (siehe unten). Per Simulation haben wir das fol-
Fragen der Versuchsplanung und experimentellen           gende Experiment durchgeführt: N = 500 Fische
Designs diskutieren. Zu vorgegebenem Wert N              befinden sich im Teich, M Fische werden einge-
(Gesamtzahl der Fische im See) werden dann am            fangen und markiert (Capture). Danach werden n
Computer Experimente durchgeführt mit unter-             Fische im zweiten Fang gefangen (Recapture).
schiedlichen Werten für die Anzahl der Markie-           Eine einfache Realisierung der Simulation ergibt
rungen (erster Fang) M und den Stichprobenum-            sich, wenn zunächst die Fische durch 500 Nullen
fang n des zweiten Fangs.                                repräsentiert werden. Markieren eines Fischs be-
                                                         deutet das Ersetzen der Null durch eine Eins.

                                       Capture-Recapture mit N=500

                                                                                      o
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        0-
        CD

        o
        0-
        v

                           M=160,n=40                  M=n=100                  M=40,n=160

Abbildung 2: Vergleichende Boxplots von Schätzungen nach der Capture-Recapture-Methode.

Dann wird eine Zufallsstichprobe vom Umfang n            Es ist offensichtlich, dass die Schätzungen besser
gezogen und die Anzahl der Einsen gezählt.               werden, je mehr Tiere markiert (M groß) und je
                                                         mehr Tiere im zweiten Fang eingefangen werden.
Dieses Experiment wurde für MI = 160, nl = 40,
                                                         Die erhaltenen Boxplots lassen vermuten, dass die
M 2 = n2 = 100 und M 3 =40, n3 = 160 jeweils
100 mal wiederholt. Aus der jeweiligen Anzahl            Verteilung von N nicht symmetrisch um den wah-
der markierten Tiere im zweiten Fang sind 100            ren Wert N liegt. Es ist zu beachten, dass gerade
Schätzungen für N gemäß (1) errechnet worden,            bei einer niedrigen Zahl M markierter Tiere auf-
die mit dem wahren Wert N = 500 verglichen               grund zufälliger Variation die Anzahl markierter
werden können. Abbildung 2 zeigt vergleichende           Tiere X im zweiten Fang sehr klein werden kann
Boxplots dieser Schätzungen.                             (im Extremfall auch 0). Dies führt dann wegen der

20 SiS 20(2000)                                               J. Engel: Markieren - Einfangen - Schätzen
Zufalls variable X im Nenner von (1) zu sehr ho-                      Damit ergibt sich, Vertauschbarkeit der Näherung
                             A

hen Schätzwerten für N .                                              mit dem Erwartungswert vorausgesetzt,

Ähnliches gilt bei einem niedrigen Wert für den                       E(N)==M nE(        ~)
Stichprobenumfang n wieder eingefangener Tiere.
                                                                            2
                                                                      =N - N (E(X)- M n)+~     Var                    (X)
                                                                           Mn        N  M 2n 2
4.  Mathematisches                       zur   Capture-
                                                                      =N+N(N-M).N-n
Recapture-Methode
                                                                                 Mn       N-l
4.1. X ist hypergeometrisch verteilt:                                 In ähnlicher Weise lässt sich für die Varianz her-
                                                                      leiten
Durch die Markierung ist die Gesamtzahl der Tie-
re in zwei Teilgruppen zerteilt: M Tiere haben ei-
ne Markierung erhalten, N - M sind unmarkiert.
                                                                       Var(N) == M n
                                                                                     2    2
                                                                                              va{ ~ )
Die Anzahl X markierter Tiere in der zweiten                                                    4
                                                                                          N - 4 Var (X)
                                                                               =M 2 n 2 - 4
Stichprobe vom Umfang n ist eine Zufallsgröße,
                                                                                        Mn
die einer hypergeometrischen Verteilung folgt:
                                                                                N 2(N -M)(N -n)

        P(X ~kJ:}[:--kMJ                                                       =         nM(N -1)

                                                                      Allerdings gelten diese Approximationen kaum
                  (:]                                                 bei kleinen Werten von Mund n. Ist nämlich M +
                                                                      n < N, so nimmt die Zufalls variable X den Wert
                                                                      o mit }'~sitiver WahrscheinlichkeitA an, d.h. dann
                                 A
                                                                      ist E~N ) = 00 gilt. Der Schätzer N ist in keinem
4.2. Verteilung von N:
                                                                      Fall (also auch falls M + n > N) unverzerrt. Die
Mit Formel (1) ergibt sich für die Verteilung der
                                                                      Populations größe wird im Mittel überschätzt. In
Zufallsgröße   N                                                      der Literatur (Seber 1973) wird daher auch fol-

P(N~z) ~ ~Mxn~zJ~p(x~MznJ
                                                                      gende Modifikation vorgeschlagen, die eine ge-
                                                                      ringere Verzerrung hat:
                             \ /N-M
                                                                               N = (M + 1) . (n + 1) -1.
                M
                                                                                              X +1
                 Mn               Mn
                                 n---                                 In der Literatur (Scheaffer et al. 1986; Seber
                         Z               z                            1973) wird auch bei kleineren Werten von Mund

                             (:]                                      n auf obige Approximationen für den Erwar-
                                                                                                             A

                                                                      tungswert und die Varianz von N Bezug ge-
                                                                      nommen, z. B. um einen gewünschten
vorausgesetzt z teilt M. Man beachte, dass die                        Stichprobenumfang für Mund n zu errechnen.
                     A

Verteilung von N nicht hypergeometrisch ist.
Die Berechnung von Erwartungswert und Varianz
                 A
                                                                      4.3. N ist Maximum-Likelihood-
des Schätzers N ist recht kompliziert, weil der                       Schätzer für N:
vom Zufall abhängige Ausdruck X in Formel (1)
im Nenner erscheint. Mittels einer Taylorent-                         Es bezeichne hk(N)=h(k,M,n,N) die Wahr-
                  Mn                                                  scheinlichkeitsfunktion der hypergeometrischen
wicklung um X o = - - lässt sich folgende Ap-                         Verteilung als Funktion von N (bei gegebenem X
                   N
proximation begründen:                                                = k, Mund n)

~==~_~(x_Mn)
      2 2
X    Mn        M n                   N

                 +~(x_Mn)2
                   3 3
                                               .
                         M n             N

SiS 20(2000) Heft 2                                J. Engel: Markieren· Einfangen· Schätzen: Wie viele wilde Tiere?         21
Abbildung 3 zeigt eine typische Verteilung der              hk (z) + hk+1 (z) + ... + hn (z) > a 12.
Wahrscheinlichkeiten hk(N) in Abhängigkeit von
                                                            Dann ist [Nu, ~ ] ein Konfidenzintervall zum
N (hier für k = 1 , M = 3, n =4).
                                                            Niveau a für N.
                                                            Beispiel: Es seien M = 90 Fische markiert wor-
   0
   LO                                                       den. Beim Wiedereinfangen befanden sich unter
   ci
                                                            n =80 Tieren 12 Fische mit Markierung. Es ist
                                                                      A

   0                                                        dann N = 90. 80/12 = 600 die geschätzte Zahl
   '
sich nach derselben Formel                                                     kN
     M.n
                                                                     E(n)=-,
 A

N=--.                                                                         M+l
  k                                                                  Var(n)   = k(N +1)(N -M)(M +1-k)
Die mathematische Analyse ist jetzt um vieles                                           (M +lf(M +2)
einfacher, da mit n der zufällige Term im Zähler
                                                                    Hieraus ergeben sich
steht. Damit vermeidet man zufallsbedingte Aus-
reißer aufgrund eines sehr kleinen Nenners k. Wir
unterscheiden zwei Ziehungsmodi:
                                                                     E(fv)=~'N
                                                                              M +1        '
                                                                                    2
Werden die Tiere nicht gefangen, sondern nur be-                     Var(fv) = M (N +1)(N -M)(M +1-k),
obachtet, so lässt sich die Zufallsvariable n mittels                                    k(M + 1)2 (M + 2)
der negativen Binomialverteilung (Warten auf k-
ten Erfolg) modellieren (siehe Z.B. Henze 1997).                    d. h. dieser Schätzer ist leicht verzerrt, weshalb in
Das Experiment entspricht dann im Urnenmodell                       der Praxis (Seber 1973) dem modifizierten Schät-
dem Warten auf die k-te rote Kugel beim Ziehen                      zer
mit Zurücklegen aus einer Urne mit M roten und
N - M schwarzen Kugeln. Falls M und das zufäl-                       N=    (M +1)n
lige n klein sind, dann spielt es für die mathemati-                           k
sche Analyse keine große Rolle, nach welchem                        der Vorzug gegeben wird.
Ziehungsmodus (ob mit oder ohne Zurücklegen)
die Tiere eingefangen bzw. beobachtet werden.
Daher beziehen sich Scheaffer, Mendenhall und                       5. Modellkritik: Was taugt die Methode
Ott (1986) auch beim Einfangen ohne Zurückle-                       für die Praxis?
gen auf eine negative Binomialverteilung, die zu
folgenden Ausdrücken für den Erwartungswert                         Die Logik hinter der Capture-Recapture-Methode
und die Varianz führen:                                             ist sehr plausibel. Der praktische Nutzen basiert
                                                                    aber auf einer Fülle von Annahmen, die in der
     M
     A     M k                                                      Praxis nicht immer erfüllt sind. Die Markierung
E(N)=T·E(n)=T·p=N,                                                  könnte z.B. herunterfallen, neue Tiere werden ge-
                                                                    boren, alte (markierte oder nicht-markierte) Tiere
      M2 A        M2    1- p                                        sterben, die Tiere durchmischen sich nicht wirk-
Var(N)=-· Var(n) = -·k .--
      k 2
                         p2          e                              lich, einige Tiere sind leichter einzufangen (und
                                                                    somit sowohl leichter zu markieren als auch wie-
                      2
              M           N-M        N2    N·(N-M)                  dereinzufangen) als andere. Jedes dieser Ereignis-
                      2               2
                  k        N     M              k
                                                                    Was schief laufen Einfluss auf f.r
Hält man am Ziehungsmodus ohne Zurücklegen                          kann
fest, vielleicht weil Mund k nicht klein gegenüber                  Tieren verlieren Mar-         A

N sind, so folgt die Verteilung der Zufallsgröße n                  kierung                  N zu hoch
einer negativen hypergeometrischen Verteilung
                                                                    Einige Tiere leichter zu
mit Wahrscheinlichkeitsfunktion
                                                                    fangen als andere        f.r zu niedrig

              _ k-l
                      (M Y-M)  r-k         M-k+l
                                                                                                  A

                                                                                                 N zu niedrig oder zu
                                                                     Tiere "durchmischen" hoch (hängt ab vom Ort
f N.M.k (r)   -           (N)             . N_r + 1 '                sich schlecht            oder der Methode des
                                                                                              Einfangens)
                           r-l                                                                Kein Einfluss, falls
r =k, k + 1, ... , k + N - M.                                                                 markierte und nicht-
                                                                                              markierte Tiere glei-
Diese Formel gründet im Urnenmodell auf der                          Tiere sterben (verlassen chermaßen     betroffen
Überlegung, dass unter den ersten r - 1 Ziehungen                    Revier)                                  A

                                                                                              sind und N den ur-
k - 1 Erfolge (z.B. rote Kugeln) eintreten bevor
                                                                                              sprünglichen     Tierbe-
dann bei der r-ten Ziehung unter den verbleiben-
                                                                                              stand bezeichnet.
den N - r + 1 Kugeln eine der M - k + 1 roten
Kugeln gezogen wird. Erwartungswert und Vari-                        Neue Tiere         kommen Kein Einfluss, falls f.r
anz dieser weniger bekannten Verteilung errech-                      hinzu                     den neuen Tierbestand
nen sich als (J ohnson und Kotz 1970)                                                          bezeichnet

SiS 20(2000) Heft 2                              J. Engel: Markieren· Einfangen - Schätzen: Wie viele wilde Tiere?   23
se beeinflusst die Schätzung N der Gesamtzahl          caprecap. lsp. Der Aufruf
der Tiere. Man sollte hier ausführlich diskutieren,    (caprecap       m n r)
in welche Richtung diese verschiedenen Verlet-
zungen der Modellannahmen wirken.                      zusammen mit weiteren Lisp-Stat-Befehlen lässt
                                                       auch vergleichende Boxplots wie in Abbildung 2
                                                       erzeugen. Zu allererst muss die Anzahl der Tiere
6. Zusammenfassung                                     im Teich mittels einer Liste mit Nullen angegeben
                                                       werden, z.B. durch
Die Behandlung des Themas bietet fast alles, was       (def teich (repeat 0 500»
an wichtigem statistischem Denken in Einfüh-
rungskursen behandelt werden kann: Modellbil-          Im Programm caprecap werden zunächst m Nullen
dung, Intuition, Experimente und Versuchsaufbau,       auf Eins gesetzt ("markiert"), bevor die zweite
Computereinsatz, mathematische Analyse von             Stichprobe vom Umfang n gezogen wird, deren
Verteilungen, Konfidenzintervalle, Hypothesente-       Anzahl Einsen gerade der Zahl markierte Tiere
sten und Modellkritik. Außerdem bietet es einen        beim Recapture entspricht. Die Liste von ge-
reizvollen Kontext, der leicht zu begreifen und        schätzten Populations größen kann dann in einer
von ökologisch-politischer Relevanz ist. Teile des     Liste x abgespeichert werden, etwa in der Form
hier Vorgeschlagenen können schon als Kurs-            (def xl (caprecap            ml nl r»
einführung eingesetzt werden oder als Anwen-
dungsbeispiel einzelner statistischer Konzepte.        (def x2 (caprecap            m2 n2 r»
Die Übung mitsamt mathematischer Analyse bie-          und im vergleichenden Boxplot dargestellt wer-
tet sich auch als zusammenfassender oder wieder-       den:
holender Abschluss an.                                  (boxplot (list xl x2 ... ».

7. Zur Software                                        Literatur
Lisp-Stat für Windows wurde von Luke Tierney           Henze, N. (1997): Stochastik für Einsteiger.
(University of Minnesota) Ende der 80-er Jahre         Wiesbaden: Vieweg.
als ein Dialekt der Programmiersprache LISP            Johnson, N.L.; Kotz, S. (1970): Distributions in
entwickelt. Wegen der eingebauten Graphikfähig-        Statistics. Discrete Distributions. Houghton Mifflin:
keit und spezieller Makro-Befehle ist es besonders     Boston.
für Anwendungen in der Wahrscheinlichkeitstheo-        Perry, M.; Kader, G. (1998): Counting penguins.
rie und Statistik geeignet. Lisp-Stat ist kostenlos    The Mathematics Teacher, 91 (2), S. 110 - 116.
im WWW verfügbar, z.B. unter                           Scheaffer, R.; Mendenhall, W.; Ott, L. (1986):
www.statlab.uni-heidelberg.de                          Elementary        Survey       Sampling.    Boston:
                                                       Wadsworth.
Zahlreiche weitere Makros sind auf vielen Stati-       Scheaffer, R.; Gnanadesikan; M., Watkins, A.;
stik-Servern bereitgestellt, z.B. in der internatio-   Witmer, J. (1998): Activity-based        Statistics.
nalen Bibliothek Statlib der Camegie-Mellon            Instructor Resources. New York: Springer.
Universität in Pittsburgh                              Seber, G. A. (1973): The Estimation of Animal
lib.stat.cmu.edu                                       Abundance and related parameters.           London:
                                                       Griffin.
Eine Version für Windows sowie Makros zum              Tanur, J. et al. (1989): Statistics. A Guide to the
Capture-Recapture Problem sind verfügbar unter         Unknown. Belmont, CA: Duxbury Press.
www.ph-ludwigsburg.de/
mathematik/personal/engel/.
Laden des Makros recapt.lsp erzeugt einen Box-         Anschrift des Verfassers:
plot von Schätzungen der Gesamtzahl der Tiere          Dr. Joachim Engel
basierend auf 100 Wiederholungen, wobei die Ge-        Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
samtzahl auf N = 400 gesetzt ist. Die Werte für M      Institut für Mathematik und Informatik
und n können dabei über einen Schieberegler ge-
                                                       Postfach 220
wählt werden.                                          71602 Ludwigsburg
Etwas mehr Flexibilität erlaubt das Makro              engeljoachim@ph-Iudwigsburg.de

24 SiS 20(2000)                                             J. Engel: Markieren - Einfangen - Schätzen
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