Von der Last ein Opfer zu sein - oder: Von der Unmöglichkeit zu vergeben

 
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Thema Sexualisierte Gewalt
                                Von der Last ein Opfer zu sein

            Von der Last ein Opfer zu sein
            oder: Von der Unmöglichkeit zu vergeben

            Das schrittweise Offenbarwerden unzähliger Missbrauchs- und Vertuschungsfälle in den vergange-
            nen Jahrzehnten, mit immer neuen Fakten, Zahlen, Geschichten und Dimensionen hat die katholi-
            sche Kirche in eine historische Krise geführt, aus der sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch kein
            Ausweg abzeichnet. Doris Reisinger

            W         enn man sich mit den Augen eines an-
                      deren sieht und dabei so gesehen wird,
            wie man nicht gerne gesehen werden möchte,
                                                                               was ihnen angetan wurde, und die beschlos-
                                                                               sen haben, sich nicht mehr zu schämen, son-
                                                                               dern zu reden. Wie gesagt, Scham heißt: Sich
            dann nennt man das Scham. Scham ist das                            mit den Augen anderer so sehen, wie man
            Gefühl der Stunde, denn die Kirche steht so                        nicht gesehen werden möchte. Niemand
            ganz anders da, als sie gerne wollte. Bischöfe                     möchte dabei gesehen werden, wie er/sie miss-
            beteuern, dass sie sich schämen. Priester schä-                    braucht wird. Deshalb schämen sich Opfer von
            men sich, Katholiken und Katholikinnen schä-                       Gewalt, obwohl sie für diese Gewalt keine
            men sich für ihre Kirche. Alle scheinen sich in                    Verantwortung haben. Erst wenn sie über die
            Äußerungen darüber zu überbieten, wie erschüt-                     erlittene Gewalt offen sprechen und erleben,
            tert sie sind, dass sie das alles gar nicht fassen                 dass sie in den Augen der anderen durch diese
            können und nicht verstehen, wie das überhaupt                      Gewalt nicht an Wert verloren haben – mit an-
            möglich war und sich unendlich schämen.                            deren Worten: erst dann, wenn Opfer
                                                                               Unterstützung finden –, wird die Scham gewis-
                                                                               sermaßen dahin transferiert, wo sie hingehört:
            SCHAM – DAS GEFÜHL DER STUNDE                                      zu den Tätern, Täterinnen und Wegguckern.
                                                                               Was sich bei Tätern dann einstellt, ist nämlich
            Das Leiden an dieser Scham ist real und es                         tatsächlich Scham über ihr eigenes Fehl­
            wird insbesondere von Klerikern intensiv                           verhalten. Deshalb muss mit dieser Scham
            empfunden. Ein Freund erzählte mir neulich,                        auch anders umgegangen werden: Ein Täter
            wie ein befreundeter Priester, mit dem er über                     wird die Scham nicht los, indem er öffentlich
            die Missbrauchskrise sprechen wollte, ihm                          über den von ihm begangenen Missbrauch
            ernsthaft den Vorwurf machte: „Du hast mich                        spricht oder darüber, wie er unter dem
            noch gar nicht gefragt, wie schwer das für
            mich jetzt ist.“                                                                                   Doris Reisinger
            Manche sind da schon einen Schritt weiter. Sie                       geb. 1983, Theologin und Philosophin; ehemaliges
            haben die Scham (wenn auch nicht den Schmerz)                        Mitglied der Geistlichen Familie „Das Werk“; Ver-
            hinter sich gelassen. Es sind Betroffene, Men­                       fasserin der Autobiographie „Nicht mehr ich – die
            schen, die sich lange geschämt haben für das,                        wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“ (2014).

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Öffentlichwerden seiner Taten leidet. Ein          grundlegenden Ebene tatsächlich verstanden ha-
         Bischof wird die Scham nicht dadurch los,          ben, was Missbrauch ist, und die deshalb meinen,
         dass er darüber spricht, was ihm „angetan“         auch die Täter seien Opfer des Systems Kirche ge-
         wird, wenn er für seinen Umgang mit Miss­          worden und müssten Ver­gebung erfahren. In die-
         brauchsfällen befragt und kritisiert wird. Wer     se Richtung gehen unter anderem Äußerungen
         sich für das eigene Fehlverhalten schämt, wird     Eugen Drewermanns, die er zuletzt in einem
         diese Scham erst wieder los, wenn er/sie dieses    Interview mit Christiane Florin gemacht hat:
         Fehlverhalten – oder das eines Vorgängers –        Drewermann: Ich kenne keinen Priester und ich
         zugibt und korrigiert.                             behaupte, es gibt auch keinen, der sich weihen
         Trotz aller Beteuerungen und aller schon ge-       lässt in der Absicht, später solche Handlungen
         gangenen anerkennenswerten kleinen Schritte        zu begehen. Das passiert. Das ist eine Tragödie,
         lässt diese Einsicht und Korrektur nach wie vor    die sich lange vorbereitet. [...] Da ist etwas lan-
         auf sich warten. Stattdessen werden ständig        ge unterdrückt worden. Das wurde mit heiligen
         weitere Details bekannt, neue Dimensionen des      Vokabeln, mit Askese, mit allen möglichen
         Missbrauchs deutlich, folgen weitere Entschul­     Transforma­tions­prozessen die Sublimation aus
         di­gungen und Beteuerungen. Das hat auch zur       dem Triebbereich ins Geistige verlagert. Das
         Folge, dass die Scham unerträglich wird.           wurde rationalisiert. Man war auf der Flucht
                                                            vor sich selber und konnte nicht wissen, dass
                                                            all das, hinterherlaufend wie ein Schatten, ir-
         AUSWEG VERGEBUNG?                                  gendwann den Flüchtling einholen würde. Es
                                                            wartet förmlich auf eine Gelegenheit, jeman-
         In dieser Situation erhofft sich mancher einen     dem zu begegnen, der genauso hilflos ist, wie
         Ausweg durch Vergebung. Bisweilen wird das         der Betreffende, der dann handelt [...].
         offen ausgesprochen, immerfort klingt es an,       Florin: Aber, wenn Sie sagen, Tragödie, Leiden,
         wenn kirchliche Verantwortungsträger um            damit machen Sie auch die Täter zu Opfern.
         Verständnis werben: Es wäre eine andere Zeit       Drewermann: Absolut. Und das meine ich jetzt
         gewesen damals. Man hätte solche Taten nie-        in vollem Ernst. [...] Wir unterstellen prakti-
         mals für möglich gehalten und folglich allzu       scherweise auch, dass die Menschen frei sind.
         lange übersehen, man hätte auch noch nicht         Und, wenn sie wissen, was Gut und Böse ist und
         gewusst, welch tragischen Folgen diese Taten       tun trotzdem das Böse, in Freiheit, wie wir an-
         haben, man wäre an Geheimhaltungspflichten         nehmen, sind sie zu bestrafen. Und je schlim-
         gebunden gewesen etc. etc. Subtext: Bitte klagt    mer das Vergehen, desto strenger. Das ganze
         uns nicht an, habt Verständnis, seht es uns        bürgerliche Be­wusstsein ist darauf aufgebaut.
         nach. Mit anderen Worten: Vergebt uns. Und         Das Christen­ tum denkt vollkommen anders.
         darin die Hoffnung: Dann wird alles wieder gut     Auch die Botschaft Jesu ist eine völlig andere.
         und wir alle haben endlich wieder Frieden.         Die Menschen, die Böses tun, sind nicht böse.
         Dieser Druck kommt zuweilen auch von wohl-         Sie wollen das nicht. Sie sind im Grunde wie
         meinenden Gläubigen oder sogar von Seel­           Verlorene, Verlaufene, Verzweifelte. Und wie
         sorgenden und Angehörigen. Er kommt auf sub-       geht man sie jetzt suchen, um sie zurückzuho-
         tile Weise auch von Menschen, die auf einer sehr   len? Das wäre die Aufgabe, aber nicht den Stab

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Thema Sexualisierte Gewalt
                                    Von der Last ein Opfer zu sein

            über sie zu brechen oder auf sie draufzuhauen.                        statt vergeben. Mit anderen Worten: Sich von
            (Deutschlandfunk).                                                    Tätern und ihren Unterstützern abgrenzen,
            Diese Worte Drewermanns machen deutlich,                              statt sich von ihnen Regeln diktieren zu lassen
            dass hinter dem mehr oder weniger subtil geäu-                        oder um ihren Seelenfrieden besorgt zu sein.
            ßerten Wunsch, den Tätern und der Institution                         Weil sich uns katholisch geprägten Menschen
            solle vergeben werden, noch viel mehr steckt                          dieses Narrativ gleichsam eingefleischt hat,
            als die unreflektierte Sehnsucht nach Entlas­                         sind wir, wenn es um die Frage nach der
            tung und Frieden. Dahinter steckt ein, wenn                           Möglichkeit oder Notwendigkeit der Verge­
            nicht gar das Grundmotiv des Christentums:                            bung von Kindesmissbrauch geht, hin und her-
            Erlösung durch Vergebung. Das macht es für                            gerissen: Als empathisch Empfindende wollen
            die Opfer umso schwerer, denn die Verant­                             wir einerseits Opfern Wut auf ihre Täter und
            wortung, die ihnen aufgebürdet wird, wenn                             auf die Täterorganisation Kirche zugestehen.
            man sich wünscht, dass sie vergeben sollen, ist                       Als Katholiken wollen wir aber andererseits an
            damit nicht nur im Bereich der zwischen-                              das Vergebungs-Erlösungsnarrativ glauben.
            menschlichen Streitbeilegung angesiedelt, son-                        Natürlich – würden wir sagen –, Betroffene sind
            dern im Bereich der übernatürlichen Erlösung.                         völlig zu Recht wütend! Aber – würden wir
                                                                                  ebenso, zögerlich vortastend, versuchen –, wird
                                                                                  der Circulus vitiosus des Bösen nicht eben gera-
            ERLÖSUNG DURCH VERGEBUNG?                                             de durch großherziges Vergeben durchbrochen?
                                                                                  Solange Menschen, denen Böses angetan wur-
            Wer sich in der katholischen Kirche als Opfer                         de, es ihren Täter heimzahlen wollen, solange
            outet, hat es schwer. Denn dafür, was Opfersein                       sie übersehen, dass diejenigen, die ihnen Böses
            bedeutet und wie Opfer sich zu verhalten ha-                          angetan haben, selbst blind und stumpf gewor-
            ben, gibt es im Katholizismus ein unerreichba-                        den sind vom Schmerz ihrer eigenen Wunden,
            res Vorbild: Jesus, das vollkommene Opfer, das                        sodass sie diesen Schmerz wiederum anderen
            Opfer schlechthin. Die neutestamentlichen                             zufügen, solange das immer so weiter geht, blei-
            Berichte über sein Leiden und Sterben haben                           ben wir da nicht alle im Hass gefangen? Ist das
            das Opfernarrativ, das in westlichen Kultur­                          nicht das Tragische – und wo Vergebung ge-
            kreisen gepflegt wird, maßgeblich geprägt.                            lingt, gerade das Wunderbare –, dass es deswe-
            Dieses Narrativ verlangt, dass Opfer immer un-                        gen eben gerade die Opfer sind, von denen die
            schuldig sind, dass sie schweigen, sich nicht                         Erlösung kommt, kommen muss? Die Opfer, die
            beklagen, das ihnen angetane Unrecht verge-                           die Kraft zur Vergebung aufbringen?
            ben, es dadurch sühnen und somit das Heil in                          Natürlich, höre ich schon den ein oder anderen
            der Gemeinschaft wiederherstellen. Opfer, die                         eifrig hinzufügen, das kann man von nieman-
            sich anders verhalten, stoßen entsprechend auf                        dem verlangen. Die Vergebung solcher Ver­
            Unverständnis. Dabei wäre ein ganz anderes                            brechen ist fraglos eine supererogatorische Tat,
            Verhalten so viel nachvollziehbarer und ver-                          etwas, das von niemandem gefordert werden
            ständlicher – und vermutlich auch aus psycho-                         kann, gerade wenn es um sexuellen Kindes­
            logischer Sicht gesünder: Anklagen. Laut wer-                         missbrauch geht – aber diese Vergebung ist
            den. Keine Ruhe geben. Forderungen stellen                            doch auch etwas, was manche bewunderns-

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werte Menschen fertigbringen, oder? Kann            druck bringt, bohrt in eben jener Wunde, die er
         man also sagen: „Wo das Böse eingedämmt             heilen zu wollen vorgibt.
         werden muss, muss einer über Gebühr lieben,         Wer Vergebung für einen Ausweg hält, übersieht
         andernfalls droht die Rache die Welt zu über-       aber auch etwas Anderes: Diese Verge­bung ist
         schwemmen und zu ersticken“ (Papst                  schlicht und einfach logisch betrachtet gar nicht
         Franziskus). – Was dann, wenn es um Miss­           möglich. Denn Vergebung setzt Anerkennung
         brauch geht, in den Ohren der Betroffenen als       persönlicher Schuld voraus. Solange es aber an
         absurder Fehlschluss heißen würde: „Ihr müsst       dieser Anerkennung mangelt, können Opfer gar
         vergeben, sonst hört das Böse nie auf“?             nicht vergeben, selbst wenn sie wollten, denn:
                                                             Wem soll denn da was vergeben werden?
                                                             Natürlich, wir haben das Wort „Schuld“ im
         DIE UNMÖGLICHE VERGEBUNG                            Munde von Bischöfen oft gehört. Nur fehlte bis-
                                                             lang immer das Subjekt, das „ich“ zu diesem
         Wer so denkt, übersieht mindestens zweierlei:       Wort. So bleibt zwar die Schuld, aber es gibt kei-
         Erstens übersieht er, dass eben dieses Leidens-     ne Anerkennung persönlicher Schuld und somit
         Vergebungs-Erlösungs-Narrativ nicht selten          auch keine Person, der vergeben werden könnte.
         Bestandteil katholisch schmeckender Täter-          Mehr noch: Diese Anerkennung wird nach wie
         und Vertuschungsstrategien ist. Täter manipu-       vor von vielen Tätern und Vertuschern vehe-
         lieren ihre Opfer, indem sie sie glauben machen,    ment zurückgewiesen.
         das Leid, das sie ihnen zufügen, wäre notwen-       Solange Täter ihre Opfer verklagen, weil sie
         dig zur Sühne einer von ihnen begangenen            ihre Taten öffentlich gemacht haben, solange
         Sünde. Sie manipulieren ihre Opfer, indem sie       Vertuscher Schweigegelder bezahlen, solange
         sich als Stellvertreter des Erlösers präsentieren   unabhängige Aufklärer kontrolliert und er-
         und vermeintliche Gnaden austeilen oder ver-        presst werden (vgl. Christian Pfeiffer), solange
         meintliche Sünden vergeben. Ver­tuscher mani-       überführte Täter ihre Unschuld beteuern oder
         pulieren Opfer, indem sie sie glauben machen,       sich als ungerechterweise Verfolgte inszenie-
         eine moralische Pflicht zum Schweigen zu ha-        ren, kann niemandem von ihnen vergeben
         ben, durch das die Kirche geschützt werde.          werden. Selbst wenn ihre Opfer das tun woll-
         Beispielsweise habe der Bischof Henri Bricard       ten. So kommen wir zu obigem Satz zurück:
         zu der Betroffenen Marie-Laure Janssens ge-         Wer sich für das eigene Fehlverhalten schämt,
         sagt: „Das Schweigen der Kirche ist ein Akt der     wird diese Scham erst wieder los, wenn er/sie
         Barmherzigkeit gegenüber Menschen. Schweigen        dieses Fehlverhalten zugibt und korrigiert.
         ist keine Furcht vor der Wahrheit, wenn dieses      Und frühestens dann ist Vergebung, rein lo-
         Schweigen das Zeichen von Selbsthingabe ist,        gisch betrachtet, überhaupt denkbar. Das heißt,
         die Sprache des Dienens, wie die Jungfrau           der nächste Schritt in der Krise muss tat­
         Maria sie uns gelehrt hat“ (Global Sisters          sächlich von der Seite der Täter und Vertuscher
         Report, Übers. DR). Das heißt, wer tatsächlich      kommen. Und er heißt: Aner­kennung persönli-
         glaubt, Vergebung wäre ein wünschenswerter          cher Schuld und Korrektur des persönlichen
         Ausweg aus der Krise, wer das gar gegenüber         Fehlverhaltens. Ohne diesen Schritt gibt es kei-
         Betroffenen in irgendeiner Weise zum Aus­           nen echten Ausweg aus der Krise.

                                                             Lebendige Seelsorge 3/2019   Von der Last ein Opfer zu sein   165

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Thema Sexualisierte Gewalt
                                    Von der Last ein Opfer zu sein

            DIE ERLÖSUNG                                                          jemandem – kann vielleicht doch gelingen, was
                                                                                  Menschen nicht möglich ist: Die verhärteten
            Aber gibt es ohne diesen Schritt auch keine                           Herzen der Täter zu berühren.
            Erlösung? Hören wir Jesus nicht am Kreuz sa-                          Unter allen biblischen Bildern liebe ich eines am
            gen: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht,                      meisten: Es ist das vom jüngsten Gericht. Wenn
            was sie tun?“ Ist Jesus nicht genau der, der die                      alle Menschen, die jemals auf dieser Welt gelebt
            Verlorenen, Verlaufenen und Verzwei­      felten                      haben, vor Gott treten. Wenn die, die nur Elend
            sucht und zurückholt, wie Drewermann das                              und Not gekannt haben, die in den Hungers­
            formuliert, anstatt den Stab über sie zu bre-                         nöten, Seuchen und Kriegen der Geschichte
            chen? Oder umgekehrt: Kann es Menschen ge-                            elende und grausame Tode gestorben sind, ihr
            ben, denen wir keine Erlösung wünschen dür-                           Leben zurückbekommen – und was für ein
            fen, nur weil sie uneinsichtig, verstockt und                         Leben! Und wenn die größten Übeltäter und
            selbstgenügsam sind? Sind sie nicht gerade die                        Verbrecher der Menschheits­      geschichte vor
            erbärmlichsten Menschen, die man sich denken                          Gottes Angesicht treten müssen, die, die für diese
            kann? – Und damit eben auch die, die der                              ungerechten und grausamen Tode Verant­
            Erlösung am meisten bedürfen?                                         wortung tragen, und wenn kein Geld sie mehr
            Mir scheint folgende Differenzierung an dieser                        freikauft und keine Intrige sie mehr dem Blick
            Stelle von fundamentaler Bedeutung: Erstens:                          ihres Richters entziehen kann und sie sich selbst
            Missbrauchsbetroffene sind nicht Jesus. Sie                           nicht mehr belügen können. Wenn sie begreifen
            können und müssen niemanden erlösen –                                 müssen, was sie getan haben – und was Gott
            schon gar nicht, indem sie über erlittenes                            wiedergutgemacht hat, sodass auch ihnen end-
            Unrecht schweigen oder uneinsichtigen Tätern                          lich vergeben werden kann. Als Letztes, am
            „vergeben“. Und zweitens: Menschen, die sich                          Ende der Weltgeschichte. Ich wünsche, dass das
            strafrechtlicher, kirchenrechtlicher und ethi-                        mehr ist als ein Bild. Ich jedenfalls möchte mei-
            scher Verfehlungen schuldig gemacht haben,                            ne Täter zwar auf Erden nicht mehr wiederse-
            können nicht mit Verweis auf ihre Erlösungs­                          hen. Aber ich hoffe, ihnen jenseits der
            bedürftigkeit für sich in Anspruch nehmen, vor                        Geschichte als erlösten Menschen wieder zu be-
            den Konsequenzen ihrer Taten bewahrt zu wer-                          gegnen. Ich wünsche ihnen den Himmel.
            den. Die juristische Strafbewehrt­   heit einer
            Handlung, ihre sozialen Implikationen und ihre
            soteriologische Dimension müssen unterschie-                          LITERATUR
            den werden, solange wir uns als Menschen                              Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/drewermann-
            noch unter den Umständen unserer irdischen                            ueber-die-katholische-kirche-mir-tun-die.886.de.html?dram:article_
            Existenz wiederfinden – und eben: noch im                             id=446500.
                                                                                  Christian Pfeiffer im Interview mit GLAUBEN & ZWEIFELN, in: DIE
            Zustand der Erlösungsbedürftigkeit.
                                                                                  ZEIT Nr. 17 vom 17. April 2019.
            Diese Differenzierung vorausgesetzt bleibt die                        Global Sisters Report: https://www.globalsistersreport.org/news/
            zutiefst christliche Hoffnung, dass es auch für                       trends/french-catholics-raise-voices-demand-measures-prevent-
                                                                                  further-clergy-sex-abuse-56083.
            die größten Übeltäter Erlösung geben kann.
                                                                                  Papst Franziskus in der Mittwochaudienz vom 24. April 2019:
            Aber diese Erlösung kann alleine von Gott                             https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/papst-nicht-
            kommen. Denn ihm – wenn überhaupt irgend-                             alles-lasst-sich-mit-gerechtigkeit-losen.

            166       Lebendige Seelsorge 3/2019 Von der Last ein Opfer zu sein

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