Platons Philosophie? Kritische Anmerkungen zu von Kutscheras neuer Gesamtdarstellung - mentis Verlag
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Platons Philosophie? Kritische Anmerkungen zu von Kutscheras neuer Gesamtdarstellung Friedemann Buddensiek, Universität Würzburg Es ist in jeder Hinsicht bemerkenswert, wenn eine neue umfassende Gesamtdar- stellung zu Platon vorgelegt wird. Seit Gauss und Friedländer hat es im deutsch- sprachigen Bereich, seit Guthrie auch im englischsprachigen Bereich keine ent- sprechend ausführliche Darstellung mehr gegeben. Dem Projekt einer solchen Darstellung stellen sich vorab wichtige Fragen, so etwa: An wen wendet sie sich? Welchen Zweck verfolgt sie? Wie geht sie mit dem Problem um, daß Platon in den Dialogen nie in eigener Person spricht? Wie geht sie mit dem Verhältnis von historischen, philologischen und systematischen Fra- gen um? Wie geht sie mit dem Problem um, daß selbst die gute Forschungsliteratur unüberschaubar ist? Wie schafft sie es, die vielfältigen brauchbaren Interpretati- onsergebnisse nutzbar zu machen, ohne den Blick zu verstellen? Franz von Kutschera konzentriert sich in seiner dreibändigen Gesamtdarstel- lung zu Platons Philosophie auf die systematische Seite des Projekts. Philologische Fragen spielen keine Rolle, historische Fragen so gut wie keine. Vielmehr handelt es sich um eine systematisch orientierte Darstellung, die den Anspruch erhebt, „die großen Linien des platonischen Denkens deutlich werden“ zu lassen (nach Auskunft der Buchrückseite). Von Kutschera geht Platons Werk dialogweise durch, will die Dialoge dabei aber immer in systematischer Verbindung miteinander gesehen wissen (vgl. 1.11). Der Durchgang durch die Dialoge bietet je eine Vorbemerkung zur Dialogsituation, eine Gliederung, ein Referat zum Inhalt sowie, damit verwoben, eine Erörterung ausgewählter Sachfragen, gelegentlich mit Präsentation eigener neuer Ergebnisse (für diese s. den Überblick 1.11). Den Rahmen für die Darstellung der Dialoge bilden zu Beginn ein Kapitel zu Sokrates und den Sophisten und ein Kapitel zu Platon sowie am Ende ein Kapitel zur „Ungeschriebenen Lehre“ und ein systematischer Gesamtüberblick. Einen Anhang bilden das Kapitel zum Großen Hippias und zum Ersten Alkibiades (die von Kutschera zufolge nicht echt sind, „die aber zweifellos echt platonisches Gedankengut enthalten“, 1.12). Die Briefe, von denen die Briefe 3, 4, 6, 7 und 8 „vermutlich echt“ seien (1.39, 47), werden nicht in einem eigenen Kapitel behandelt. 1. Platons Philosophie. – Um die „großen Linien platonischen Denkens deutlich werden“ zu lassen, müssen sich Platons Ansichten ermitteln lassen. Von Kutschera ist sich der Schwierigkeiten bewußt, die sich dieser Aufgabe stellen. Nirgends in den Dialogen spricht Platon in eigener Person, nie läßt sich für eine bestimmte Passage mit Sicherheit sagen, daß der Gesprächsführer (z.B. Sokrates) – oder Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
Platons Philosophie? 215 einer der anderen Gesprächsteilnehmer – Platons Sprachrohr sei oder daß das Gesagte mit Platons Ansichten übereinstimme (s. von Kutschera 1.54 f.). Wie ermittelt von Kutschera also die relevanten Ansichten? Von Kutschera zufolge ist es ein „fundamentales Interpretationsprinzip, einem Autor möglichst richtige und vernünftige Ansichten zu unterstellen“ (1.10). Dazu müsse man „selbst beurteilen können, was bzgl. der anstehenden Fragen vernünftig ist, und das heißt: Man muß sich um die Sache selbst kümmern.“ (1.10). Die „Erkenntnis der Sache“ ist es dann auch zuerst, die uns zu „Platons Ansichten“ führt (1.55). Doch welches ist die Ansicht, die durch Interpretation als möglichst richtig und vernünftig präsentiert werden soll? Wie lassen sich aus Platons Text Thesen und Theoriestücke herausfiltern, für die sich dann nach Maßgabe ihrer Vernünftigkeit die Frage beantworten läßt, ob Platon sie vertreten hat? Diese Fragen zu stellen heißt nicht, einer skeptischen Lesart das Wort zu reden, wonach Platon selbst keine Ansichten gehabt habe oder wonach aus den Dialogen keine Ansichten Platons zu ermitteln seien. Es heißt zunächst nur, daß wir für das Auffinden jener Ansichten ein für den jeweiligen Fall angemessenes Verfahren besitzen müssen. Dieses Verfahren muß zudem die Kriterien für die Beurteilung einschließen, ob eine Aussage, die als Aussage Platons aus dem Text herausgefiltert wurde, z.B. einen bloßen Vorschlag oder eine Behauptung zum Ausdruck bringt. Diese Anfor- derungen sind nicht trivial, und entsprechend umfassend ist die Forschung dazu. (Vgl. als Standardsammlungen u.a. Gill/McCabe, Griswold, Press 1993, 2000. Allgemeiner zum Thema „Platon lesen“ s. etwa Klagge/Smith, Szlezák (dieser wird auch von von Kutschera erwähnt) oder Tigerstedt.) Es wäre – für sich genommen und für das Verständnis des von Kutschera’schen Projekts – hilfreich gewesen, mehr darüber zu erfahren, wie von Kutschera mit den entsprechenden Problemen, die die Grundlage seiner Platon-Darstellung betreffen, umgehen möchte. Er weiß natürlich um solche Probleme (vgl. 1.50–56). Unklar ist nur, wann er sie aus welchen Gründen wie weit berücksichtigt. Von Kutschera meint sicher nicht, daß eine Ansicht schon in einer Frage ste- cke, unabhängig von der Antwort auf diese Frage. Das entspräche jedenfalls nicht den Hinweisen, die sich in den Dialogen im Hinblick auf den Thesensta- tus von Frage bzw. Antwort finden, und führte zudem zu absurden Ergebnissen. (In den Dialogen wird mehrfach darauf hingewiesen, daß sich der Fragesteller – von bestimmten Ausnahmen abgesehen – nicht auf die These, nach der gefragt wird, verpflichtet: Charm. 163e5–7, 165a8–c1, Prot. 330e7–331a1, Tht. 157c4–d3, 161a6–b8, [Ps.]-Platon Alc . 1, 112d10–e8, s. ferner Aristoteles Topik VIII 1.) Vielleicht meint von Kutschera, daß diejenige Frage-Antwort-Passage eine Ansicht Platons enthält, in der die Antwort auf eine These zu einer – nach unserer Auffassung – wahren Aussage führt, oder daß eine Ansicht in einem Monologstück steckt, wenn sich daraus eine – nach unserer Auffassung – wahre These extrahieren läßt (und zwar auch unabhängig von dessen Kontext im Dia- log). Das führte aber nicht sehr weit. Es führte jedenfalls nicht notwendigerweise zu jenem Bereich „interessanter“ Thesen, die den Kernbereich dessen bilden, was traditionellerweise (und meist auch von Kutschera zufolge) als Platons Philosophie anzusehen ist. Denn hier finden sich eine Reihe von zentralen Thesen (über die Tugend als Wissen, die Ideen, die Seele, die Wiedererinnerung, den Gott), deren Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
216 Friedemann Buddensiek Wahrheit keineswegs allseits akzeptiert ist. So ist die Richtigkeit oder Vernünftig- keit der Thesen auch für von Kutschera offenbar weder notwendig noch hin- reichend für die Annahme, es handele sich um Ansichten Platons. Dann aber stellt sich die Frage, aufgrund welcher Kriterien er wahre von falschen Ansich- ten Platons unterscheidet und weshalb er in solchen Fällen nicht platonische von nicht-platonischen Thesen unterscheidet. Welche Text- oder Interpretationskrite- rien erlauben die Unterscheidung zwischen nicht-platonischen und – nach unserer Ansicht – falschen platonischen Thesen? Vielleicht meint von Kutschera auch, daß eine These auch schon dann als vernünftig zu bewerten ist (und das Vernünftigkeitskriterium für Platonizität erfüllt), wenn sie sich gut in einen Kontext von Theoriestücken einfügen läßt, die ihrerseits als Theoriestücke Platons ermittelbar sind: das Prinzip der besten Interpretation würde hier nicht eine Anbindung an – von uns – anerkannte Wahr- heiten verlangen, sondern den bestmöglichen Kontextbezug. Das ist zwar nicht das, was von Kutschera in seinen methodologischen Vorbemerkungen im Sinn zu haben scheint (1.10 f.). In der Praxis der Interpretation sind ihm aber natürlich Fra- gen wie „was könnte Platon zu dieser Annahme veranlaßt haben?“ nicht fremd. Generell wären also nähere Auskünfte zum Verfahren bei der Ermittlung der Ansichten Platons hilfreich gewesen: es geht immer noch um die methodologi- sche Grundlage des gesamten Projekts. Sehen wir uns dazu einige Beispiele aus dem Kernbereich „platonischer Philosophie“ an: 2. Beispiele für die Zuschreibung falscher oder problematischer Thesen. Bei- spiel 1: Politeia V, 476e–480a. – Ein traditionelles Lehrstück, das auch von Kutschera Platon zuschreibt, ist die eindeutige Zuordnung von „Gegenstands- bereichen“ und „Kognitionsarten“ in Politeia V: „Es ist nun ein Grundgedanke Platons, daß verschiedenartigen Gegenstandsbereichen auch verschiedenartige Kognitionsarten entsprechen, und umgekehrt.“ (2.98). Kurz darauf heißt es: „Pla- ton läßt Sokrates die Parallelität von Seins- und Erkenntnismodi ausführlich begründen. Sokrates sagt, Vorstellung und Erkenntnis seien zwei Vermögen (dyna- meis), und Vermögen unterschieden sich nur nach ihrem Bereich – der Art von Gegenständen, auf die sie sich beziehen – und ihrer Leistung (ergon) (477d). Er verkürzt das dann allerdings ohne weiteres zu der Behauptung, verschiedene Vermögen hätten immer verschiedene Bereiche (478a). Da nun Erkenntnis- und Vorstellungsvermögen verschiedenes leisten – das eine liefert eben Wissen, das andere nur Vorstellungen –, also verschieden sind, müssen sich auch verschiedene Bereiche haben. […] Nachdem feststeht, daß der Bereich der Vorstellungen die Welt der empirischen Dinge ist, argumentiert Platon auch so: […]“ (2.99). Allerdings stellt Sokrates dort, wo von Kutschera sagt, er sage, Vorstellung und Erkenntnis seien zwei Vermögen, nur Fragen bzw. zieht Folgerungen aus dem von Glaukon Zugestandenen (so Rep. V, 477b4–10, 477d8–478b2): Glaukon ist es, der sich hier die – nach unserer Auffassung – falsche These zu eigen macht. Dafür, daß weder Sokrates diese These behauptet noch Platon dafür argumentiert, spricht nun etwa die Passage, die diesem Passus vorausgeht: dort wird der Erken- nende (der Wache) vom Meinenden (dem Träumenden) dadurch unterschieden, daß der Erkennende das Schöne selbst für etwas Wirkliches hält und es selbst Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
Platons Philosophie? 217 und das an ihm Teilhabende zu sehen imstande ist, während der Meinende das Teilhabende für das eigentliche Schöne hält (Rep. V, 476c1–d6). Offenbar hat der Erkennende also auf beide Bereiche Zugriff. Wenn andererseits der Meinende sich auf seine Weise auch auf Gegenstände der Erkenntnis bezieht (so angedeutet in Rep. VI, 506d7–e1, 509c3–4; Glaukon hat damit später, entgegen seinen früheren Antworten, ohnehin kein Problem, s. 506c4–5), so wird auch von dieser Seite die angenommene Parallelität in Frage gestellt. (S. dazu u.a. Ebert 1974: 109–130, Fine 1978, 1990.) Anlaß für die „Parallelitäts-Interpretation“ dürften, neben der Passage Rep. 476e–480a, entsprechende Zuordnungen an späterer Stelle (vgl. Rep. VI, 511d6– e5, VII, 533e3–534b2) sowie in anderen Dialogen (vgl. Ti. 27d5–28a4, 29b3–d3, s. von Kutschera 3.45) sein. Doch würde von Kutscheras Interpretationsmaxime dann eben verlangen, daß jene anderen Passagen ihrerseits sorgfältig auf die Pla- tonizität der fraglichen Behauptungen hin geprüft werden. Es bleibt unklar, aus welchem Grund von Kutschera Platon hier die auch s.E. falsche These zuschreibt. Beispiel 2: Wiedererinnerung im Menon. – Eine der Lehren, die von Kutschera Platon im Einklang mit der Tradition zuschreibt (s. 1.229), ist die Lehre von der Wiedererinnerung. Eine der Passagen, die dieser Zuschreibung zugrunde liegen, ist Menon 80d–86e. Dort wird die Konzeption von der Wiedererinnerung von Sokrates eingeführt, und zwar in Replik auf Menons eristische Frage, wie man denn etwas (z.B. was Tugend sei) suchen könne, wenn man das, was man sucht, nicht kenne. Was soll hier nun die Wiedererinnerung? Von Kutschera meint, es sei „sicher nicht diese Paradoxie [nämlich u.a. daß man nicht suchen kann, was man nicht kennt – F.B.], die durch die Wiedererinnerungslehre überwunden werden soll.“ (1.228). Vielmehr geht es s.E. um jenen Punkt in der Erkenntnis abstrakter Objekte, an dem unsere Begründungen an ein Ende kommen und von Tatsa- chen ausgehen müssen, „deren Wahrheit uns ohne Begründung evident ist. […] Die Wiedererinnerungslehre will diese Evidenz mit einer früheren Wahrnehmung erklären.“ (1.229). Von Kutscheras Begründung dafür, daß die Wiedererinnerungslehre „sicher nicht“ die Paradoxie überwinden solle, ist die, daß „schon“ im Euthydemos eine ähnliche Paradoxie auf andere Weise gelöst worden sei, und daß hier im Menon eine einfache Antwort die hätte sein können, daß man zumindest eine, wenn auch nicht die, Antwort auf jene Frage (was Tugend sei) suchen kann, und daß man wisse, daß man eine Antwort hat, „wenn sie mein Problem löst“ (1.228). (Ich übergehe hier die Probleme der relativen Chronologie der Dialoge. Von Kutschera erwähnt sie, s. 1.45–47. Es ist nicht immer klar, wie er gelegentliche Urteile in diesem Punkt begründet.) Anlaß für die Einführung der Wiedererinnerungslehre ist Menons „eristischer logos“, man könne weder suchen, was man weiß, noch was man nicht weiß (Men. 80e1–5, insgesamt 80d–81a). Endpunkt des Abschnitts der Wiedererinnerungs- lehre ist Menons gegenteiliger logos, es mache uns besser, mannhafter und weniger träge, wenn wir suchen, was wir nicht wissen, als wenn wir glauben, man könne nicht finden und müsse nicht suchen, was man nicht wisse (86b7–c3). Zwischen dem Vortrag der Wiedererinnerungslehre (81a10–d5) und der Geometriestunde Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
218 Friedemann Buddensiek (ab 82a8) findet sich unter anderem Sokrates’ Bemerkung, man dürfe Menons eristischem logos nicht folgen, da der träge mache und nur Weichlichen zu hören angenehm sei (81d5–e2). Indem der Vortrag der Wiedererinnerungslehre samt „Demonstration“ auf solche Weise zwischen den eristischen logos und seinen Gegensatz eingebaut ist, liegt der Gedanke, die Lehre (samt „Demonstration“) einerseits und die einander entgegengesetzten Sätze andererseits haben miteinan- der zu tun, doch recht nahe. Von Kutscheras Begründung für die These, es gehe nicht um die eristische Frage, weil diese sich einfach beantworten lasse, sieht von der Dialogsituation ab: nicht nur wir müssen davon überzeugt werden, daß man nach etwas suchen kann, was man nicht weiß, sondern Menon muß davon überzeugt werden. Genauer: damit ihm klar wird, daß er nach etwas, das er nicht kennt, suchen kann, muß ihm klar werden, was es für ihn heißt zu suchen. Der Punkt, der ihm hierfür durch den Verweis auf die Wiedererinnerungslehre und die schrittweise „Demonstration“ in der Geometriestunde u.a. verdeutlicht werden soll, ist der, daß Erkenntnisfort- schritt möglich ist. Dafür wird die Wiedererinnerungslehre bemüht – gewisser- maßen ein Köder für jemanden wie Menon, der sich sonst etwa an Empedokles hält (Men. 76c7–8) –, wenn auch in einem Zusammenhang, der für Menon neu ist (81e3–5). Anhand der Geometriestunde soll ihm nun fernerhin gezeigt wer- den, daß Erkenntnisfortschritt nur bei Einsicht in den eigenen Erkenntnismangel möglich ist, und schließlich soll ihm gezeigt werden, daß diese Einsicht Voraus- setzung für das Bemühen ist (vgl. 82e4–11, 84a3–d2): weil er dies aber nicht versteht, gelingt ihm das Suchen auch weiterhin nicht. (Für diese Deutung s. ins- gesamt etwa Ebert 1974: 83–104 und Ebert 1999; siehe jetzt auch Weiss, v.a. 63–76.) Es besteht hingegen kein Grund für die Annahme, daß Sokrates seinerseits (und mit ihm Platon) glaubte, daß der Erkenntnisgewinn der Geometriestunde auf Wiedererinnerung beruhe. Zum ersten distanziert sich Sokrates am Ende des Abschnitts von „den anderen“ Annahmen (Men. 86b6–7) und meint damit zumindest die Wiedererinnerung, sofern sie sich auf eine Präexistenz bezieht. Zum zweiten wird Sokrates (und mit ihm Platon) klar sein, daß das Verfahren in der Geometriestunde aus informativen Fragen besteht (was Menon offenbar nicht bemerkt, s. 82e4–7, 84c1–d2, 85b8–d5) und an entscheidenden Stellen auf Versuch und Irrtum des Jungen und dem Irrtumsaufweis durch Sokrates beruht. Zum dritten würden wir, falls wir wie Menon befragt würden, ob wir im Fall des Jungen das Fortschreiten im Wiedererinnern bemerkten (84a3–4), vermutlich mit nein antworten: was wir beobachten können, ist Erkenntnisfortschritt – Wie- dererinnerung würden wir in diesem Fall nicht beobachten. Wiedererinnerung würden wir nur dann beobachten oder unterstellen können, wenn wir das für sie typische Merkmal beobachten oder unterstellen könnten: daß der Junge nämlich zu verstehen gibt, daß er das Erkannte schon einmal gewußt, aber eben vergessen hatte. Dafür gibt es kein Anzeichen. Zum vierten bliebe ganz unklar, wie eine Wie- dererinnerungslehre für Platon das leisten können sollte, was sie von Kutschera zufolge leisten soll, nämlich das Problem zu lösen, „wie eine Erkenntnis einer objektiven Welt abstrakter Objekte möglich ist“ (1.230): offenbar ist das Problem nicht von solcher Art, daß es durch eine Verschiebung der Erkenntnis in einen Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
Platons Philosophie? 219 präexistenten Zustand gelöst werden könnte. Zum fünften ist nicht klar, weshalb sich Sokrates (und mit ihm Platon) gerade in einem solchen problematischen Fall berechtigt oder veranlaßt sehen sollte, doktrinär aufzutreten. Angesichts des Interpretationsgrundsatzes der Vernünftigkeits- bzw. Richtigkeitsunterstellung (s. 1.10) bleibt abermals unklar, weshalb von Kutschera nicht verschiedene andere Möglichkeiten auslotet, bevor er Platon diese problematische Theorie zuschreibt. Beispiel 3: Phaidon. – Von Kutschera würde nun für die Annahme, die Wieder- erinnerung sei platonisches Theoriestück, mit der Tradition wohl auf den Phaidon (und den Phaidros) verweisen. Zum Phaidon – neben Symposion, Staat und Phai- dros eines der „großartigsten Zeugnisse[ ] platonischer Philosophie“ (2.7) – meint er jedenfalls, daß Platon hier versuche, „die pythagoreische Lehre von der See- lenwanderung […] neu zu begründen.“ (2.8). Im Phaidon werde „der nachhaltige Eindruck, den manche von ihnen [sc. von den pythagoreischen und den durch sie vermittelten orphischen Lehren – F.B.] auf Platon gemacht haben [deutlich – F.B.]. Er hat sich das pythagoreische Verständnis von Philosophie zu eigen gemacht, nach dem sie nicht nur Wissenschaft ist, sondern eine Lebensform mit durchaus religiösen Zügen.“ (2.9). „Platon hat ferner den pythagoreischen Leib- Seele-Dualismus mit seiner Leibfeindlichkeit übernommen […] und die orphisch- pythagoreische Vorstellung einer Seelenwanderung“ (2.9 f.). Platon ist „der erste, der ihn [den Glauben an Unsterblichkeit und Seelenwanderung – F.B.] rational zu begründen versucht“ (2.15). Was den Phaidon betrifft, so würde man aber doch zumindest angesichts des Umstands irritiert sein, daß keines der Argumente des Phaidon für die Unsterb- lichkeit trägt. (Dazu, neben Ebert 1994, jetzt auch Ebert 2004.) Von Kutschera sieht hier den Fehler auf Platons Seite, wenn er etwa zum Kreislauf-Argument – einem besonders schwachen Argument – meint, daß „Platon […] sich offenbar nicht darüber klar [war], daß dieses Argument voraussetzt, was zu zeigen war“ (2.17). Das Verwandtschaftsargument wiederum – ebenfalls nicht stärker – habe Platon „nicht als wirklich überzeugend angesehen“ (2.21). Solche Schwächen leg- ten es nun aber doch sehr nahe zu überlegen, ob Platon hier wirklich in eigener Person spricht. Weshalb sollte man das gerade hier annehmen? Weil das Thema so wichtig ist? Da würde man eher erwarten, daß Platon sich besondere Mühe gegeben hätte, wenn es um seine eigenen Argumente und Ansichten gegangen wäre. Auch hier wäre es jedenfalls wieder nötig, zwischen Autor, Fragesteller und Antwortendem zu unterscheiden. Gemäß von Kutscheras Interpretations- grundsatz sollten die entsprechenden Schwierigkeiten nicht Anlaß zur Fehlerun- terstellung sein, sondern zur genauen Auslotung möglicher Interpretationsalter- nativen. 3. Das Absprechen richtiger Ansichten. – Ein schwieriger Punkt in der Ermitt- lung der Ansichten Platons zeigt sich insbesondere dort, wo Platon Ansichten abgesprochen werden, die wir – nach von Kutschera – als Erkenntnisse anse- hen würden: welche Erkenntnisse hatte Platon nicht? Angenommen, sorgfältige Interpretation des Texts führte uns zu Ansichten Platons, und angenommen, es ließe sich zeigen, daß bestimmte dieser Ansichten falsch sind: in diesem Fall ließe sich darauf schließen, daß Platon bestimmte richtige Ansichten nicht gehabt Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
220 Friedemann Buddensiek hat. Was ist aber mit dem Fall, in dem sich das Vorliegen einer Ansicht (etwa einer Ansicht, die für Platon relevant gewesen wäre) nicht aus dem Text ermitteln läßt? Als Beispiel lassen sich hier von Kutscheras Bemerkungen zum Relationsbegriff im Charmides anführen. Von Kutschera zufolge wird im Charmides die Relation als „fundamentale logische Kategorie […] zum erstenmal eingeführt“ (1.169). Von Kutschera lobt Platon dafür, den Begriff der Relation „so allgemein zu fassen, daß er Relationen verschiedenster Art umfaßt“ und spricht in diesem Zusammen- hang von einer „Pionierleistung“ Platons (1.180). Allerdings kämen „auch dem geneigten Interpreten manchmal Zweifel […], wie genau Platon das Konzept der Relation erfaßt hat.“ (ebd.) Die sachliche Grundlage für diesen Zweifel ist die, daß Platon „nicht sauber zwischen der Relation und den mit ihr gebildeten relativen Eigenschaften, und gelegentlich nicht einmal zwischen der Relation der Identität und der Eigenschaft der Selbstidentität“ unterscheidet (ebd.). In Platons Schwie- rigkeiten mit dem Relationsbegriff soll sich „das Grundproblem der platonischen Logik“ zeigen, wonach Platon „keine logischen Kategorien in unserem Sinn“ kenne und zwischen Objekten und Attributen, innerhalb der Attribute zwischen Eigenschaften und Beziehungen oder auch innerhalb der Eigenschaften nicht zwi- schen Eigenschaften verschiedener Stufe unterscheide (1.181). Vielleicht ist das so. Doch mit Hilfe welchen Verfahrens kommt von Kutschera – angesichts der Dialogsituation in Charm. 168a–b (mit Kontext) – dazu, Platon diese Ansichten oder relevante Ansichten zu diesem Bereich abzusprechen? Mit Sicherheit läßt sich an der gegenwärtigen Stelle nur ablesen, welche Ansichten über Relationen die Dialogfigur Kritias hat. Was von Kutschera über das Nicht- Vorliegen bestimmter Ansichten auf seiten Platons sagt, läuft angesichts jenes Umstands ins Leere. (Von Kutschera erörtert die Frage des Absprechens oder Zuschreibens von Ansichten im ganzen wenig; so auch nicht, wenn er etwa im Fall des Sophistes meint, es gebe „kein Indiz dafür, daß Platon nicht hinter den Ansichten des Eleaten steht“ (3.7). Dafür, daß es auch im Fall des Sophistes etwas mit der Dialogform auf sich hat, argumentiert etwa Frede. Kritisch zur Identifizierung der Ansichten Platons mit denen des Fremden aus Elea s. jetzt etwa Gonzalez, mit Verweisen auf weitere entsprechende Literatur in 161 Anm. 1.) Von Kutschera meint zum Charmides: „Eine Selbstbezüglichkeit gibt es bei anderen Relationen [als der Relation des Wissens des Wissens – F.B.] nicht, meint Sokrates“ (1.181). Wo meint er das? Wo „verschweigt [er], daß es auch viele reflexive Relationen gibt wie etwa die Identität“? (1.182). Weshalb meint von Kut- schera, daß „Sokrates keine unproblematischen Selbstbezüglichkeiten entdeckt hat“ (1.182)? Und was würde er zu den Einstellungen zweiter Stufe sagen, die in Charm. 167e1–168a5 von Sokrates ins Gespräch eingebracht werden und von Kritias ohne Not abgelehnt werden? Es ist die Vermischung der Dialogebenen (Autor, Fragesteller, Antwortender), die die Grundlage der Interpretation von Kutscheras unsicher werden läßt. Und dies ist ein genereller Punkt: Es stellt sich zu oft der Eindruck ein, daß die einzelnen Passagen nicht auf ihre Funktion im Dialogkontext hin geprüft werden; daß relativ schnell feststeht, welches die Ansichten sind, die Sokrates (oder: Platon) hat, und daß es – im Sinne eines jumping to conclusions – eher darum geht, wie es Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
Platons Philosophie? 221 um die systematische Angemessenheit jener Ansichten steht, als darum, welche Ansichten es sind; und daß es schließlich bestimmte systematische Fragen gibt, die von Kutschera interessieren, zu denen dann Platon in Beziehung gesetzt werden soll. 4. Thesenauswahl. – Jener letzte Punkt führt zu einem weiteren Problem, nämlich der „Beschreibungsrelevanz“. Damit meine ich die Frage, welchen Stellenwert welche Thesen eines „Systems“ (das heißt hier: eines sich entwickelnden Netzes von Überzeugungen) in der Beschreibung oder Gesamtdarstellung dieses Systems erhalten. Was gilt als wichtig bzw. beschreibungswürdig? Beispiel 1: Parmenides. – Zu seinen „neuen Ergebnissen“ gehört nach von Kut- scheras Einschätzung zuerst die „grundlegende Einsicht[ ]“, „daß sich Platon im zweiten Teil des Parmenides auf eine Logik in mereologischer Gestalt bezieht, die außerordentlich leistungsfähig ist“ (1.11). Genauerhin ist – von Kutschera zufolge – „ein zentrales Thema des Parmenides die Verbindung der Ideen“ (2.186), und als „Grundlage für die Diskussion von Ideenverbindung“ verwendet Platon „im Parmenides eine Logik der Begriffsverhältnisse in Gestalt einer Mereologie“ (2.187). Von Kutschera hat diese Mereologie bereits in seinem Parmenides-Buch detail- liert ausgearbeitet, aus dem er Abschnitte übernimmt (worauf er hinweist). Die Erörterung der Mereologie (2.186–201) im Parmenides-Abschnitt der Gesamt- darstellung kann allenfalls einen ersten Eindruck davon vermitteln, worum es von Kutschera geht: für eine Einschätzung des Werts des hier zusammengefaßten neuen Ergebnisses und der Leistungsfähigkeit der Mereologie sind die Ausführun- gen notgedrungen zu knapp. (In der Knappheit wird man etwa die mereologischen Thesen mit den knappen Texthinweisen kaum in erhellende Verbindung bringen. Man vergleiche etwa die angenommene Verbindung von P3: „Ist S P, aber nicht mit P identisch, so hat S mindestens einen echten Teil “ (2.189) mit der ‚klarsten For- mulierung‘ von P3 im Dialog: „Wenn aber dem Einen noch etwas zukäme außer dem Eines-Sein, so käme ihm zu, mehr zu sein als eines, dies aber ist unmöglich“, Parm. 140a1–3.) So besteht ein irritierender Grundgedanke der mereologischen Interpretation darin, daß der Beschreibung der Ideen-Verhältnisse eine extensionale Mereolo- gie zugrunde liegen soll (2.188, 192), die ihrerseits ein „logische[s] Verständnis der Rede von ‚Teilen‘“ (2.190), nicht (wie im ersten Teil des Parmenides) ein räumliches Verständnis voraussetzt. Irritierend ist dieser Gedanke deshalb, weil – wie von Kutschera selbst sieht – auf dieser Grundlage Ideen identisch sind, wenn sie dieselbe Extension haben – was Platon nicht (jedenfalls nicht für alle Ideen) akzeptiert haben würde (s. 2.196). Für eine Einschätzung der Mereolo- gie-Annahme wären Ausführungen zu den Konsequenzen dieser Identität für die mereologische Interpretation hilfreich. Das aber kann im Rahmen einer Gesamt- darstellung nicht geleistet werden, und so sind die Ausführung einerseits zu knapp, andererseits – weil in ihnen nicht wirklich etwas klar wird – zu ausführlich (dies auch angesichts des Umstands, daß – von Kutschera zufolge – die Mereologie Mittel , nicht selbst auch Gegenstand der Erörterungen des Parmenides ist). Es fragt sich, an welchen Leser von Kutschera hier denkt. Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
222 Friedemann Buddensiek Anstelle der halb ausgeführten mereologischen Überlegungen wäre es für den Benutzer einer Gesamtdarstellung noch hilfreicher gewesen, mehr zu einigen – von von Kutschera nur sehr knapp angedeuteten (2.162) – Ansichten zur Haupt- schwierigkeit des Dialogs zu erfahren, nämlich dazu, wie sich der zweite Teil zum ersten Teil des Dialogs verhält. (Damit hinge eine weitergehende Erörterung zum Thema des zweiten Teils zusammen. Von Kutschera hätte z.B. auf das wichtige Buch von McCabe verweisen können, wonach es im zweiten Teil nicht um Ideen, sondern um Individuen geht. Davon abgesehen hätte von Kutschera auch auf Kritik am Parmenides-Buch eingehen können, vgl. etwa Graeser oder Perger/ Hoffmann.) Beispiel 2: Charmides. – Auch der Charmides-Abschnitt läßt sich zur Proble- matik der Thesen-Auswahl wieder heranziehen. Dieser Abschnitt wird mit der Bemerkung eingeleitet: „Thema des Charmides ist die Frage: ‚Was ist Besonnen- heit (sôphrosynê)?‘ Für uns liegt das Interesse des Dialogs heute jedoch weniger in dem, was Platon zu dieser Tugend zu sagen hat, als in der Konzeption philo- sophischen Wissens, die dort diskutiert wird […]“ (1.169). Nun, allerdings sollte bei einer Darstellung des Charmides innerhalb einer Darstellung der Philosophie Platons gerade die Frage interessieren, was sôphrosynê ist – und in Verbindung damit die Frage, in welchem Verhältnis zu jener Frage die diskutierten Definitio- nen stehen. Wenn uns die Frage, was sôphrosynê ist, nicht interessiert: weshalb lesen wir dann den Dialog? Es geht bei dieser Frage nicht um ein Detail zum Charmides-Kapitel. Es geht viel grundsätzlicher um das Interesse, das der Darstellung der Philosophie Platons zugrunde liegt. Man hielte es doch sonst für unangemessen, einen Text zu erörtern, dies aber mit der Einschränkung zu tun, daß das Interesse nicht so sehr der Hauptfrage des Textes gelte. Jedenfalls hielte man dies dann für unangemessen, wenn es sich um einen von mehreren Texten handelt, die die Grundlage für eine Darstellung der Philosophie (z.B. Platons) bilden. Man könnte es gerade als Aufgabe einer Gesamtdarstellung ansehen, das Fremde solcher Fragen (wenn es denn fremd ist) dem Leser näherzubringen und es lebendig zu machen. Dies führt wieder zu einem weiteren Punkt. 5. Geschichte, Aktualität, Wahrheit, Interesse. – Die Lebendigkeit antiker Phi- losophie, und wohl das Interesse an ihr, beruht von Kutschera zufolge auf der Aktualität ihrer Probleme und der aktuellen Bedenkenswürdigkeit ihrer Ant- worten (1.10). Sie muß sich dafür der Wahrheitsfrage stellen und sich mit sys- tematisch ausgerichteten Gedanken, Begriffsbildungen, Unterscheidungen kon- frontieren lassen (1.10). Die Wahrheitsfrage dient ferner als Kriterium für die Präferierbarkeit einer bestimmten Interpretation gegenüber einer anderen (1.10). Sie spielt somit eine zweifache Rolle: als Relevanz- und als Interpretationskrite- rium. Es geht von Kutschera nicht um eine philosophiehistorische Betrachtung (wie er sie auffaßt) und nicht darum, „wer wann was meinte“: „Diese Art von Betrachtung kann […] nur Nekrophile ansprechen“ (1.10). Von Kutschera zufolge müßte eine Beschäftigung mit nicht-aktuellen Problemen oder mit Theoriestücken, für die sich plausiblerweise kein Wahrheitsanspruch mehr erheben läßt, also obsolet sein. Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
Platons Philosophie? 223 Das würde in jedem Fall dann auch für entsprechende Theoriestücke Platons gelten. Gleicht unser Zugriff auf philosophische Texte (d.h. nicht nur antike Texte) also einem Sieben nach relevanten Wahrheiten – Wahrheiten, die wir ohnehin schon besitzen oder die wir jedenfalls durch systematisches Nachdenken erwer- ben könnten (leichter jedenfalls als durch die Lektüre platonischer Dialoge)? Das wäre in entscheidender Hinsicht nicht viel interessanter als der Zugriff jener Phi- losophiehistoriker, welche von Kutschera tadelt. Während jene – von Kutschera zufolge – fragen: wer hat wann was gesagt?, fragt von Kutschera: wer hat wann womit recht? Diese zweite Frage ist dann jedenfalls nicht interessanter als die erste, wenn wir sie unter der zweiten von zwei Bedingungen stellen: man kann die Frage stellen, wenn man selbst die Antwort auf eine bestimmte systematische Frage noch nicht kennt oder wenn man sie schon kennt. Von Kutschera vermittelt in seiner Darstellung stets den Eindruck, es greife – jedenfalls für ihn – die zweite Bedingung. Weshalb aber beschäftigt er sich dann mit Platon? Diese Bemerkungen sollen nicht den Interpretationsgrundsatz der Richtigkeits- oder Vernünftigkeitsunterstellung oder die Interpretationsvoraussetzung der eige- nen Theoriebildung in Frage stellen. Sie sollen nur verdeutlichen, daß der Grund- satz bzw. die Voraussetzung nur eben noch nicht ganz das erfassen, was die Beschäftigung mit Philosophiegeschichte zu einer in sich fruchtbaren macht – jedenfalls erfassen sie dies dann nicht, wenn sie zusätzlich unter dem Aktua- litäts- oder Lebendigkeitsvorbehalt stehen: dieser Vorbehalt stünde – zumindest in einem engen Verständnis – dem Ausloten „merkwürdiger“ Fragen, Thesen oder Theoriestücke entgegen, wenn diese für uns nicht mehr aktuell sind, und er stünde damit auch dem Öffnen von Perspektiven auf „fremde“ Welten im Weg. Von Kutscheras eigenes Prozedere ist hier häufig offener, als es seine methodo- logischen Vorbemerkungen erwarten lassen würden. Doch zeigt sich eben eine gewisse Uneinheitlichkeit (zwischen „Zensieren“ und Ausloten auch obsoleter Theoriebereiche), die ihren Grund vielleicht auch darin hat, daß die Absicht hin- ter dem Gesamtprojekt – der Verdeutlichung der „großen Linien platonischen Denkens“ – nicht ganz klar ist. 6. Verhältnis zur Forschung. – Der Nutzen der Darstellung hätte sich stei- gern lassen, wäre von Kutschera in der Zurkenntnisnahme und Diskussion von Sekundärliteratur nicht ganz so sparsam gewesen. Zuviel Literaturdiskussion wird den Blick auf das Wesentliche zwar leicht verstellen. Daß von Kutschera aber etwa im Fall des Theätet (wie auch insgesamt) z.B. Burnyeats Arbeiten gar nicht berücksichtigt, verwundert doch. Mit Bezug auf diese Arbeiten hätte sich für den ersten Hauptteil des Dialogs etwa vorführen lassen, daß das Verhältnis der These, Wissen sei Wahrnehmung, der Relativitätsthese und der Fluß-These auf verschie- dene Weise aufgefaßt werden kann (für von Kutscheras knappe Bemerkungen dazu s. 2.210). Daß Sokrates in Tht. 201d–206b Ideen, nicht Propositionen als Wissensgegenstand im Blick habe (s. 2.228), ist sicher nicht unumstritten (s. jetzt etwa Chappell, 205–211). Und die Ansicht, daß das „Neue, was Platon dem kritischen Leser im Theätet zum Wissensbegriff vermitteln wollte“, darin liege, „daß Logos in der Deutung (1) [nämlich „als Begründung oder Erklärung des Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
224 Friedemann Buddensiek Zusammengesetzten durch seine Teile“, s. 2.227 – F.B.] nicht im engen Sinn einer Definition zu verstehen ist, sondern im weiteren Sinn der Analyse eines Attributs durch Angabe seiner Beziehungen zu anderen Attributen“ (2.231), hätte einen Hinweis auf Fine’s „interrelation model of knowledge“ (Fine 1979 [2003] : 242) auch unabhängig von der Akzeptanz dieses Modells nahegelegt. Zum Problem der Einheit der Tugenden im Protagoras hätte ein Blick z.B. auf Cooper gelohnt. Zu den früheren Platon-Dialogen wären ferner für jenen Leser, den von Kutschera vielleicht im Blick haben sollte, Hinweise etwa auf Irwin oder auf Wolf nützlich gewesen. Und da es insgesamt um die Wahrheit der Ansichten geht, wäre etwa die Berücksichtigung von Szaifs Untersuchung zu Platons Wahrheitsbegriff möglich gewesen. Hinweise bzw. Erörterungen solcher Art – und ich beschränke mich hier auf wenige Beispiele aus der Standardliteratur – hätten, in geeigneter Ausführung, den Nutzen der Darstellung insofern steigern können, als sie dem Leser die Möglich- keit gegeben hätten, unter Zuhilfenahme der Darstellung Interpretationsoptionen zu prüfen. Platz dafür hätte sich z.B. durch die Straffung mancher Passagen gewinnen lassen, in denen Dialogpartien nacherzählt werden – für solche Inhalts- angaben kann man immer noch auf Guthrie zurückgreifen. 7. Adressaten. – Es ist nicht ganz klar, an wen sich die Darstellung wendet. Von Kutschera erhofft sich vom Leser, „daß er mit Platons Dialogen bereits bekannt ist und sie ihn so faszinieren, daß er bereit ist, auch lange Wege zu ihrem Verständnis zu gehen“, er „sollte bereit sein, die Texte genau und immer wieder neu zu lesen“. „Er sollte das, was ich zu den einzelnen Dialogen sage, am Text kritisch überprüfen, sich um die jeweiligen philosophischen Sachfragen bemühen und, wenn er mit ihnen nicht vertraut ist, meinen Hinweisen auf einschlägige Literatur nachgehen.“ (1.12). Welcher Leser könnte damit gemeint sein? Platonforscher werden der Darstel- lung vielleicht nicht sehr viel Aufmerksamkeit schenken, weil sich die Darstellung selbst kaum in Beziehung zur Forschung setzt und auch nicht sehr viel Neues oder Überraschendes bringt. Und wo es neues gibt, dort fällt die Darstellung notgedrungen zu knapp aus (s. den Parmenides-Abschnitt) oder zusätzlich – und selbsterklärtermaßen (s. 3.159, 171) – recht hypothetisch (s. die These, Thema der ungeschriebenen Prinzipienlehre sei „eine logische Definition von Zahlen“, 1.11). Vielleicht sind Studierende eine Zielgruppe, wenn sie die Darstellung unter dem Vorbehalt lesen, daß die Ebenen der Dialoge für die Ermittlung von Platons Ansichten noch weiter zu differenzieren sind, und wenn sie wissen, daß es von Kutschera nicht um die Präsentation der wichtigsten Forschungsmeinungen geht. (Griechische Ausdrücke sind nicht transkribiert, meist aber übersetzt. In einigen wenigen Abschnitten, z.B. zum Charmides, dessen Abschnitt auf eine frühere Veröffentlichung zurückgeht (s. von Kutschera 2000), hätte noch konsequenter übersetzt werden können.) 8. Fazit. – Das Fazit fällt recht ambivalent aus. Ein Verdienst, dessen Erwähnung in den bisherigen Ausführungen zu kurz gekommen ist, besteht sicher darin, daß von Kutschera uns immer wieder daran erinnert, daß unsere eigene Theoriebil- dung und systematische Rechenschaftsgabe eine wesentliche Voraussetzung für Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
Platons Philosophie? 225 die Lektüre und das Verständnis philosophischer Texte ist. Andererseits aber soll- ten wir uns dadurch den Blick auf das, was unserer Theoriebildung vielleicht aus historischen Gründen systematisch nicht mehr erreichbar ist, nicht verstellen, wenn wir uns für Platon interessieren. Es ist gut, mit von Kutscheras Platons Phi- losophie eine neue systematisch orientierte Gesamtdarstellung zur Hand zu haben. Es ist aber nicht die große Platon-Darstellung für die kommende Zeit. æ æ æ Anmerkung: Mein Dank gilt Jens Kulenkampff und dem Erlanger Mittwoch- Kolloquium für die Diskussion einer früheren Version dieser Besprechung. Literatur Burnyeat, Myles: The Theaetetus of Plato, Indianapolis, Cambridge: Hackett 1990. Chappell, Timothy: Reading Plato’s Theaetetus, Indianapolis, Cambridge: Hackett 2005; zuerst Sankt Augustin: Academia Verlag 2004. Cooper, John M.: „The Unity of Virtue“, in: Ders.: Reason and Emotion. Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory, Princeton: Princeton University Press 1999. 76– 117. Ebert, Theodor: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum ‚Char- mides‘, ‚Menon‘ und ‚Staat‘ , Berlin, New York: de Gruyter 1974. Ebert, Theodor: Sokrates als Pythagoreer und die Anamnesis in Platons Phaidon, Abh. Mainz, Geistes- u. sozialwiss. Kl. 1994/13. Ebert, Theodor: „Der fragende Sokrates. Überlegungen zur Interpretation platonischer Dia- loge am Beispiel des Menon“, in: U. Meixner/A. Newen (Hg.): Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 2: Antike Philosophie. Mit einem Schwerpunkt zum Meisterargument, Paderborn: Mentis 1999. 67–85. Ebert, Theodor: Platon Phaidon. Übersetzung und Kommentar , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. Fine, Gail: „Knowledge and Belief in Republic V“ [1978], in: Dies. (2003) 66–84. Fine, Gail: „Knowledge and Logos in the Theaetetus“ [1979], in: Dies. (2003) 225–251. Fine, Gail: „Knowledge and Belief in Republic V–VII“ [1990], in: Dies. (2003) 85–116. Fine, Gail: Plato on Knowledge and Forms. Selected Essays, Oxford: Clarendon Press 2003. Frede, Michael: „The Literary Form of the Sophist“, in: Gill/McCabe (1996) 135–151. Friedländer, Paul: Platon, 3 Bde. 3. Aufl., Berlin, New York: de Gruyter 1964–1975. Gauss, Hermann: Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platos in 3 Teilen und 1 Registerband , Bern: Herbert Lang 1952–1967. Gill, Christopher/McCabe, Mary Margeret (Hg.): Form and Argument in Late Plato, Oxford: Clarendon Press 1996; Pb.-Nachdruck 2000. Gonzalez, Francisco J.: „The Eleatic Stranger – His Master’s Voice?“, in: Press (2000) 161–181. Graeser, Andreas: „Platons ‚Parmenides‘ in neuem Licht“, Göttingische Gelehrte Anzeigen 249 (1997) 12–29. Griswold, Jr., Charles L. (Hg.): Platonic Writings/Platonic Readings, New York, London: Routledge 1988; Neuauflage University Park: Pennsylvania State University Press 2001. Guthrie, W.K.C.: A History of Greek Philosophy, 6 Bde., Cambridge u.a.: Cambridge Uni- versity Press 1962–1981. Irwin, Terence: Plato’s Ethics, New York, Oxford: Oxford University Press 1995. Heruntergeladen von Brill.com04/08/2020 11:13:04PM via free access
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