Die Reform der "Psychopathie": forensisch-psychiatrische Begutachtung im geteilten Berlin, 1960-19801 - Gesnerus 2020 ...

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Gesnerus 77/2 (2020) 244–278, DOI: 10.24894/Gesn-de.2020.77011

Die Reform der «Psychopathie»: forensisch-
psychiatrische Begutachtung im geteilten Berlin,
1960–19801

Alexa Geisthövel

Die Reform der «Psychopathie»: forensisch-psychiatrische Begutachtung
im geteilten Berlin, 1960–1980

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das noch überwiegend kri-
minalbiologisch bestimmte Konzept «Psychopathie» durch die Begrifflich-
keit der «Persönlichkeitsstörung» abgelöst. Anhand eines Beispiels aus der
psychiatrischen Praxis argumentiert der Beitrag, dass dieser Prozess nicht als
Erfolgsgeschichte einer humaneren, wissenschaftlich überzeugenderen Psy-
chologie verstanden werden sollte, die dem gesellschaftlichen Aufbruch um
1970 zuzuschreiben ist. Er untersucht die Verwendung des Begriffsfeldes
«Psychopathie» in zwei Einrichtungen forensisch-psychiatrischer Begutach-
tung in Ost- und West-Berlin zwischen 1960 und 1980. In diesem Zeitraum
erweiterten in beiden deutschen Staaten Strafrechtsreformen die Kriterien
verminderter strafrechtlicher Verantwortlichkeit um «schwerwiegende» psy-
chische Beeinträchtigungen ohne – nach damaliger Lesart – Krankheitscha-
rakter. Die Reform der «Psychopathie» wird in einem Spannungsfeld aus
psy-wissenschaftlicher Fachdebatte, Gesetzgebung und Rechtsprechung so-
wie psychiatrischer Expertise für Gerichte verortet.
   Psychopathie, Persönlichkeitsstörung, Gerichtspsychiatrie, Strafrechts-
reform, strafrechtliche Verantwortlichkeit, Deutschland 1960–1980

1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geför-
  derten Projekts «Zweierlei Maß? Forensische Psychiatrie und Strafrechtsreform in Berlin,
  1960–1980». Für Überarbeitungshinweise geht mein Dank an die Beiträgerinnen dieses Hef-
  tes und die anonymen Gutachter*innen.

Dr. Alexa Geisthövel, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité
Universitätsmedizin Berlin, Thielallee 71, D-14195 Berlin, alexandra.geisthoevel@charite.de.

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Reforming «Psychopathie»: psychiatric assessment in court, Berlin
1960–1980

After 1945 the German psychiatric terminology of «Psychopathie», which
had a broader meaning than «psychopathy», gave way to the «personality dis-
order», following an international development. The article argues that this
shift should not be misunderstood as a success story, which was about replac-
ing the old stigmatizing concept of somatic psychiatry with a more humane,
scientifically convincing psychological approach. It examines how the seman-
tics of «Psychopathie» were used in two institutions in East- and West-Ber-
lin, both of which were dedicated to psychiatric assessment in criminal trials.
Between 1960 and 1980, both German nation states introduced new penal
codes that expanded the criteria for reduced criminal liability by including
«severe» mental impairments that were not considered «organic». The psy-
chiatric discourse, legislation and jurisdiction as well as the practice of exam-
ining and presenting the «personalities» of offenders in courts contributed to
the dismantling and transformation of «Psychopathie».
   psychopathy, personality disorder, forensic psychiatry, criminal law reform,
criminal accountability, Germany 1960–1980

Zu den Reformanstrengungen, die um 1970 der Bundesrepublik Deutsch-
land zu einer liberaleren Strafkultur verhelfen sollten, gehörte die «Dekons-
truktion des Psychopathen», den Psychiatrie, Jugendfürsorge und Krimino-
logie um 1900 «erfunden» hatten (vgl. die Einleitung zu diesem Themenheft).2
Aus Sicht seiner zeitgenössischen Kritikerinnen stand das Konzept der «Psy-
chopathie» für ein kriminalbiologisches Ressentiment, das vor allem unan-
gepassten Menschen von niedrigem sozialen Status eine angeborene, dest-
ruktive Abnormität unterstellte. Für die «Dekonstruktion des Psychopa-
then» gab es auch pragmatische Gründe – so ließen sich Verkehrsdelikte, die
mit der rasanten Zunahme der Automobilität zu einem Massenphänomen
wurden, nicht über angeborene Charakterdefekte erklären.3 Als ursächlich
gilt in der Literatur jedoch in erster Linie eine veränderte Haltung zu Devi-
anz, in der Gesellschaft wie in den Psy-Disziplinen. Reformorientierte Ak-
teure, die psychodynamische Ansätze vertraten, therapiefreudig waren und
sich sozialwissenschaftlichen Einflüssen öffneten, lösten demnach die «Psy-
chopathie» durch das Konzept der «Persönlichkeitsstörung» ab,4 das die in-

2 Baumann 2006, 273, 360–361.
3 Baumann 2010, 337–338.
4 Menne 2017, 177–180.

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ternationalen psychiatrischen Klassifikationssysteme seit den 1980er Jahren
prägt.
   Bei näherem Hinsehen erscheint die Überwindung der «Psychopathie» im
Gefolge einer verstehenden und heilenden, zugleich herrschaftskritischen
Wissenschaft von der Psyche aber vielschichtiger. Dies verdeutlicht eine Epi-
sode um den Fall des jugendlichen Serienmörders Jürgen Bartsch (1946–
1976), der als Zäsur in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte gilt.5 1971 ver-
öffentlichte Tilmann Moser (*1938), Psychoanalytiker und Prozessbeobachter
des ersten Verfahrens gegen Bartsch, die viel zitierte Streitschrift Repressive
Kriminalpsychiatrie. Darin attackierte er die Allianz von Gerichtspsychiat-
rie und Strafjustiz, die über den Zurechnungsfähigkeits-Paragraphen 51 des
Strafgesetzbuchs den «Psychopathen» zum exemplarischen Objekt gesell-
schaftlicher Strafbedürfnisse gemacht habe.6 Als Opfer dieser Allianz galt
auch Bartsch, den Psychiater 1967 aufgrund seiner «abartigen», aber kontrol-
lierbaren «Triebentfaltung» zunächst für voll schuldfähig erklärt hatten,
während der Revisionsprozess erstmals seine Kindheit ausleuchtete und der
Angeklagte nun aufgrund psychologischer und sexualwissenschaftlicher
Erkenntnisse als vermindert schuldfähig beurteilt wurde. Als er wenige
Jahre später im Zuge der selbst beantragten Kastration starb, schrieb der Ge-
richtsreporter Gerhard Mauz (1925–2003) im Spiegel, die Gesellschaft habe
ihm eine psychoanalytische Behandlung vorenthalten, die ihn hätte heilen
können.7
   Für grob überzeichnet hielt solche Anklagen dagegen der forensische Psy-
chiater Wilfried Rasch (1925–2000), der mit Moser und Mauz grundsätzlich
sympathisierte, an Polemik gegen Kollegen selbst nicht sparte und sich im
zweiten Prozess gegen Jürgen Bartsch für eine angemessene Begutachtung
eingesetzt hatte. Rasch wandte ein, bei Erscheinen von Mosers Buch sei die
Reform des Zurechnungsfähigkeitsparagraphen längst parlamentarisch be-
schlossen gewesen. Auch in der Rechtsprechung habe sich eine offenere Hal-
tung bereits Gehör verschafft, indem der Bundesgerichtshof mehrere Urteile
kassierte, die psychische Abnormität in einen «primitiven, sogenannten me-
dizinischen Krankheitsbegriff» fassten, zuletzt im Fall Bartsch. Dagegen
wollten Psychoanalytiker seiner Erfahrung nach mit besonders behandlungs-
bedürftigen Straftätern möglichst wenig zu tun haben.8
   Nicht nur ein solcher Einwurf aus der strafrechtlich-psychiatrischen Praxis
lässt die gelungene Überwindung reaktionärer Psychiatrie aus dem Geist psy-

5   Brückweh 2006.
6   Moser 1971, 181.
7   Mauz 1976, 72.
8   Rasch 1971a, 102, 97–98; Rasch 1971b, 285–286.

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chodynamischer Demokratie in einem etwas anderen Licht erscheinen. Eine
nochmals andere Perspektivierung ergibt im Vergleich mit der DDR. Hier
konnten analytische Ansätze über lange Jahre nur verdeckt oder einge-
schränkt praktiziert werden, die Bekämpfung so genannter «Asozialität» bil-
dete ein wichtiges kriminalpolitisches Anliegen und es existierte keine ver-
gleichbare Öffentlichkeit. Stimmen wie die von Moser und Mauz waren
undenkbar, und dennoch verlor die «Psychopathie» auch hier massiv an Plau-
sibilität. Weiterhin ist festzuhalten, dass sich im Zuge der «Dekonstruktion
des Psychopathen» in der deutschen Fachsprache der Anglizismus psychopath
etablierte und bis heute zum Vokabular forensischer Wissenschaften gehört.
   Diese Befunde bilden den Ausgangspunkt für eine Spurensuche, die «Psy-
chopathie» in der psychiatrischen Begutachtungspraxis verfolgt, hier am lo-
kalen Beispiel einer politisch-gesellschaftlich geteilten Stadt in den 1960er
und 1970er Jahren. Im Folgenden gehe ich davon aus, dass Begriff und Kon-
zept der «Psychopathie» zwar dekonstruiert wurden, aber nicht verschwan-
den, sondern sich in engem Zusammenhang mit Strafrechtsreformen in bei-
den deutschen Staaten transformierten. Als Brücke zwischen der alten
«Psychopathie» und der gegenwärtigen Nomenklatur der «Persönlichkeits-
störungen» erscheint im historischen Rückblick dabei die Sammelformel
«abnorme Persönlichkeit».
   Der Beitrag beginnt mit einer bislang wenig beachteten Grundsatzdebatte
über das – international so wahrgenommene – «deutsche» Psychopathie-
Konzept in der deutschsprachigen Fachöffentlichkeit. Er verfolgt dann den
Bedeutungsverlust und -wandel der «Psychopathie» in der forensisch-psych-
iatrischen Begutachtungspraxis in Ost- und West-Berlin. Um 1970 wurden in
beiden deutschen Staaten jeweils neue Strafgesetzbücher diskutiert, verab-
schiedet und in Kraft gesetzt, um das aus den 1870er Jahren stammende
Strafrecht umfassend zu reformieren. Bei allen Unterschieden der Gesell-
schaftssysteme stärkten beide Reformen den therapeutischen Auftrag und
erweiterten die Kriterien verminderter oder aufgehobener «Schuld-» bzw.
«Zurechnungsfähigkeit», wie sie § 51 StGB formuliert hatte.9 Auf beiden Sei-
ten der Mauer gerieten damit neben den als «organisch» gedeuteten Zustän-
den «Bewußtseinsstörung», «krankhafte Störung der Geistestätigkeit» und
«Geistesschwäche» solche «abnormen» Zustände in den Blick, die als psy-
chisch (verursacht) galten, namentlich Neurosen, Psychopathien und sexuelle
Triebabweichungen. Wie bezeichneten und schilderten die Gutachterinnen
in Ost und West extreme Verhaltensauffälligkeiten? In welcher Bedeutung

9 In der DDR hieß die Verantwortungsreife von Jugendlichen «Schuldfähigkeit» und die Ver-
  antwortungsfähigkeit von Erwachsenen «Zurechnungsfähigkeit», während in der BRD «Zu-
  rechnungsfähigkeit» mit der Strafrechtsreform durch «Schuldfähigkeit» ersetzt wurde.

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kam «Psychopathie» weiterhin vor, welche Alternativen wurden eingeführt?
Und wie verhandelten Psychiater in der Begutachtung von Gesetzesbrechern
das Verhältnis von «Krankheit» und «Abnormität»?

1. Krise der «Psychopathie»: Kritik und die Suche nach Alternativen

Es spricht vieles dafür, dass nach 1945 ein diagnostisches Konzept, das «Psy-
chopathie» als angeborenen, kaum beeinflussbaren Charakterdefekt auf-
fasste, zunächst relativ ungebrochen in Gebrauch blieb.10 In manchen Berei-
chen wurde mit diesem Label sogar häufiger gearbeitet als zuvor, um mit den
Kriegsfolgen umzugehen, beispielsweise einer großen Zahl auf sich gestell-
ter, verstörter Kinder und Jugendlicher.11 Kontinuität zeigt sich auch darin,
dass Kurt Schneiders (1887–1967) Typenreihe psychopathischer Persönlich-
keiten und seine korrespondieren Auffassungen zur strafrechtlichen Begut-
achtung weiterhin großen Einfluss hatten und aus Sicht von Kritikern wie
Tilmann Moser die Gerichtspsychiatrie geradezu monopolisierten.12 Schnei-
ders Text Die psychopathischen Persönlichkeiten war erstmals 1923 erschie-
nen, 1946 und 1950 kamen die 8. und die 9. Auflage heraus. Mit diesen Pub-
likationen blieb auch seine klassische Definition in Umlauf: «Psychopathi-
sche Persönlichkeiten sind solche abnormen Persönlichkeiten, die an ihrer
Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet.»13
   Mindestens ebenso bedeutsam für die forensische Praxis war die kleine
Schrift Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit, die Schneider 1948 veröf-
fentlichte und die bis 1961 drei weitere Auflagen durchlief. Hier kleidete er
die Arbeit der Psychiater in die Metapher zweier Stockwerke: Im oberen
wohnten die klinisch beschreibbaren psychopathologischen Zustände «Be-
wußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit und Geistes-
schwäche», die der Psychiater nachzuweisen oder auszuschließen hatte, im
unteren die Frage des § 51 an den Sachverständigen, ob ein Proband zum Tat-
zeitpunkt Einsicht in die Unerlaubtheit seines Tuns besessen habe und die
Fähigkeit, gemäß dieser Einsicht zu handeln.14 Da die zweite Frage im
Grunde nicht beantwortbar sei, gelte die Regel, dass nur nachgewiesene bzw.
«postulierte» organische Krankheiten oder Defekte (bei einem Großteil der
Psychosen war keine organische Ursache bekannt) zur Annahme von ver-

10   Baumann 2006, 202–221, 360; Eghigian 2015a, 300–302.
11   Sparing/Fehlemann 2019.
12   Moser 1971, 68; Wulff 1972, 64. Vgl. Baumann 2006, 61–62.
13   Schneider 1928, 3.
14   Schneider 1948, 13.

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minderter oder aufgehobener Zurechnungsfähigkeit berechtigten: «Wir ant-
worten daher nur ungefähr, summarisch, grob klinisch, wir halten uns an die
drei psychopathologischen Tatbestände, an das ‘obere Stockwerk’, und
schließen aus ihrem Bestehen stillschweigend auf die Unfähigkeit zur Ein-
sicht oder die Unfähigkeit, ihr entsprechend zu handeln.»15 Bei Psychopa-
thien, die nicht zu den «organischen» Krankheitsbildern zählten, könne
Schneider zufolge nur ausnahmsweise verminderte Zurechnungsfähigkeit
nach § 51,2 StGB zugebilligt werden.16
   Deutliche Spuren hinterließ Schneiders Typologie in den internationalen
Klassifikationssystemen. In der International Classification of Diseases (ICD 8)
wurde die abnorme Persönlichkeit definiert als:
   «Personen mit tief eingewurzeltem Fehlverhalten, das im allgemeinen zur Zeit der Adoles-
   zenz oder früher erkennbar wird und während des ganzen Lebens weiter besteht. Die Per-
   sönlichkeit ist abnorm, entweder hinsichtlich der Ausgeglichenheit ihrer Komponenten,
   deren Qualität und Ausdrucksform oder hinsichtlich ihres Gesamtbildes. Unter dieser
   Abnormität leider der Patient, oder andere haben darunter zu leiden. Hierzu gehören auch
   sogenannte Psychopathien.»17

Ob Schneiders Prämissen die Begutachtungspraxis tatsächlich dominierten
oder ob sich daneben andere Auffassungen behaupteten, müsste in einer seri-
ellen Untersuchung noch geklärt werden. Der westdeutsche Bundesgerichtshof
jedenfalls unterlief bereits in den 1950er Jahren die heuristische Trennung zwi-
schen körperlicher Krankheit und psychischer Abnormität.18 Zudem führte die
deutschsprachige Fachgemeinschaft eine breitere Debatte, denn nicht nur
Schneider selbst zählte den «Psychopathen» zu den «angekränkelten» Begrif-
fen der Psychiatrie, dessen Beschreibungspotenz und praktische Brauchbarkeit
nicht mehr evident erschienen.19 Hieran beteiligten sich Vertreter der Lehr-
stuhlpsychiatrie und Ärzte, die nationalsozialistischen Medizinverbrechen zu-
gearbeitet hatten, ebenso wie Remigranten, aufstrebende Sozialpsychiater und
Anhängerinnen analytischer Verfahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet
die «Psychopathie» so in die Dynamik eines zweiseitigen «Abbröckelungspro-
zesses»: Der «Abbau des Psychopathiebegriffs [erfolgt] durch eine immer stren-
gere Herausarbeitung der organisch bedingten psychischen Anomalien […] und
der auf Erlebnis- und Milieuwirkung zurückzuführenden Neurosen.»20

15 Schneider 1948, 20–21, 7–8, 10.
16 Schneider 1948, 22.
17 Degkwitz 1971, 43 (Nr. 301 Persönlichkeitsstörungen). Zum Diagnostic and Statistical Ma-
   nual of Mental Disorders (DSM-III 1980) vgl. Saß 1987, 21.
18 Rasch 1965, 272; Rasch 1971a, 102.
19 Schneider 1959, 36. Knapp dazu Boetsch 2008, 26–28; Baumann 2010, 337–339; Coché 2017,
   270–272; Sparing/Fehlemann 2019, 114–115, 132; ein Überblick der Diskussion bei Kranz
   1959; Petrilowitsch/Baer 1967.
20 Villinger 1952, 208, 204; vgl. auch Stutte/Leuner 1961, 107.

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Auf der einen Seite wurden nun – zuerst vor allem in Österreich und der
Schweiz21 – viele Verhaltensweisen, die bis dato als Ausdruck einer abwegigen
Charakteranlage galten, zur Reaktion auf einzelne oder wiederholte Erleb-
nisse, kurz zur Neurose, umgedeutet: «Man könnte auch sagen, das Neuroti-
sche in dem Psychopathen wird stärker gesehen.»22 Zugleich wurde die grund-
sätzliche Unterscheidung von therapierbaren Neurosen und nicht
therapierbaren Psychopathien in Frage gestellt.23 Auf der anderen Seite hat-
ten technisch verfeinerte Untersuchungsmethoden der Hirnstrukturen und
-funktionen erbracht, «daß ein vermutlich gar nicht geringer Teil der bisher
als Psychopathie bzw. psychogene Reaktionen aufgefaßten Anomalien nicht
anderes darstellen als Folgezustände nach organischen Hirnschädigungen».24
Neben psychodynamischen Einwänden ist der Bedeutungsverlust der «Psy-
chopathien» also auch auf eine Differentialdiagnostik zurückzuführen, die
vermeintlich «psychopathische» Verhaltensauffälligkeiten als Folgen von
Schädigungen des Zentralnervensystems, von Stoffwechselstörungen oder al-
tersbedingter Abbauprozesse auswies. Solche Zustände wurden nun auch als
«Pseudopsychopathie» bezeichnet.25 Diese Entwicklung war eng mit der Eta-
blierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in beiden Teilen Deutschlands
verknüpft, vor allem der neuropsychiatrischen Beschreibung der «frühkindli-
chen Hirnschädigung», so dass bis Anfang der 1970er Jahre in Bezug auf Kin-
der und Jugendliche nicht mehr von «Psychopathie» gesprochen wurde.26
   Im Hinblick auf die sozial- und strafrechtlichen Aufgaben der Psychiatrie
galt als wesentliches Manko, dass medizinische Laien und selbst Hausärzte
«Psychopathie» einseitig abwertend auffassten (während im Gespräch unter
Fachärztinnen «haltloser asozialer Psychopath» offenbar als sachliche Be-
schreibung durchging). Daraus folgte die Empfehlung, in Arztbriefen, vor
Gericht und in der Kommunikation mit Sozialverwaltungen unverfängliche
Begriffe zu verwenden.27 Da «Psychopathie» eine Etikettierung und keine
medizinische Diagnose sei, verlange ihre Verwendung vor Gericht nach ei-
ner weiteren, auf den konkreten Fall bezogenen Qualifizierung, was Gutach-
ter aber sehr häufig versäumten.28 Forensisch unbrauchbar seien Typenreihen
psychopathischer Persönlichkeiten schließlich auch deshalb, «weil der Rich-

21 Schneider 1958, 2; Überblick bei Binder 1960.
22 Hallermann 1961, 592.
23 Schneider 1958, 4; Kranz 1959, 283; Müller-Hegemann 1966, 637–640; Meyer 1972, 344–
   345.
24 Villinger 1952, 205.
25 Bräutigam 1968, 151–154.
26 Göllnitz 1954; Lempp 1964, 106; Meyer 1972, 345.
27 Schneider 1959, 36–37; Lemke/Rennert 1970, 325, bei insgesamt stark abwertender Darstel-
   lung von «Psychopathen», 324–332.
28 Schneider 1958, 6; De Boor 1959, 54; Kranz 1959, 285–286; Rasch 1965, 272.

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ter hiermit nicht entscheiden kann, ob die Tat eine Folge freier Willensent-
scheidung oder einer Blockierung willensmäßiger Regulationsmechanismen
ist und weil sich auf eine solche Phänomenologie keinerlei Erziehungs- oder
therapeutische Versuche stützen können.»29
    Insgesamt scheint weitgehend Einigkeit bestanden zu haben, dass «Psy-
chopathie» als abwertende Verlegenheitsdiagnose ausgedient habe. Umstrit-
ten war jedoch, ob sie in einer präzisierten Verwendung weiterhin brauchbar
sei und praktisch gebraucht werde, möglicherweise unter anderem Namen.
Einzelne Stimmen forderten, die «Psychopathie» ganz zugunsten der «Neu-
rose» aufzugeben.30 «‘Der Psychopath’ ist tot, aber – es lebt der Psychopath»,
meinte dagegen Kurt Schneider, denn wie er an anderer Stelle betonte, habe
«nur der Name, nicht der Tatbestand» ausgedient.31
    In dieser Situation wurden zwei gegensätzliche Strategien vorgeschlagen,
die sich im frühen 20. Jahrhundert mit den Namen Kraepelin und Schneider
verbunden hatten: Emil Kraepelins (1856–1926) Psychopathentypen hatten
den negativen Pol des Verhaltenskontinuums fokussiert und waren auf die
Erfordernisse des Strafrechts und anderer sanktionierender Instanzen zuge-
schnitten. Der Schneidersche Ansatz stand dagegen für eine – nach eigenem
Anspruch – «wertfreie» deskriptive Palette von Persönlichkeitstypen, die
nicht notwendig störend oder kriminell zu sein brauchten.32 Die Nachfahren
des Modells Kraepelin erwarteten, dass die Entrümpelung der «Psychopa-
thie» einen weiterhin brauchbaren «Kern» freilegen werde, eine Diagnose für
«einen ganz engen Kreis von Extremfällen», denn es gebe nun einmal stö-
rende Menschen mit gehäuften Anpassungsschwierigkeiten, die einer The-
rapie nicht zugänglich seien.33 Bemerkenswerten Auftrieb erhielt diese Per-
spektive aus der Rezeption der angelsächsischen Debatte, die «dys-, a-,
antisoziale Erscheinungen im Zwischenmenschlichen» betonte. 34 So be-
schrieb der Remigrant Hans Hoff (1897–1969) in Wien ein
     «Individuum ohne hemmende Angst, asozial, mit mächtigen Aggressionen und ungehemm-
     ten, unkoordinierten Triebregungen, ohne Tendenz zur höheren Entwicklung und ohne
     Streben nach sozialer Einordnung […]. Vor allen Dingen aber ist der Psychopath ein Indi-
     viduum, das Liebe nicht kennt und das innere Spannungen nicht ertragen kann.»35

29 Szewczyk 1966, 45.
30 Schultz-Hencke 1949/50, 148, 155; Stumpfl 1959, 4–5.
31 Schneider 1958, 6; Schneider 1959, 36. Ähnlich Kranz 1959, 286–287; Petrilowitsch 1960, 1.
32 Schwarz 1951; Keyserlingk 1951, 211; Hallermann 1961, 589.
33 Villinger 1952, 208, 204; Dänzer-Vanotti 1962, 1415; Stutte/Leuner 1961, 106; Rauch 1962,
   309; vgl. auch Müller-Hegemann 1966, 622; Binder 1967, 457–458.
34 Meyer 1972, 344. Vgl. etwa Kallwass 1969; Rauchfleisch 1981.
35 Hoff 1956, 691–692; vgl. auch Becker 1959.

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Akademische Vertreterinnen psycho- und daseinsanalytischer Ansätze kriti-
sierten, der aus den USA entlehnte «psychopath» werde einseitig mit Krimina-
lität, Gewissen- und Gefühllosigkeit identifiziert, während das Leidenspoten-
zial ausgeklammert bleibe. Nötig sei daher eine «intensive Weiterbearbeitung
der Psychopathieprobleme», die Lebensgeschichten und Entwicklungsverläufe
in den Blick nehmen müsse.36 Sie wie auch jene Kritiker des kriminalpsychiat-
rischen Establishments, die eine breitere Öffentlichkeit adressierten, formten
das psychiatrische Stigma «Psychopathie» in eine Pathologie des Über-Ich um,
die nun vermehrt unter dem Begriff «Dissozialität» verhandelt wurde.37
    Versuche, die vorhandenen «Psychopathie»-Typologien zeitgemäß zu über-
arbeiten, wurden nun ganz oder teilweise unter dem Namen «abnorme Per-
sönlichkeiten» geführt.38 Eine Vorlage bot Schneiders Aussage, dass «ein wis-
senschaftlicher Psychopathenbegriff» auch «nichtasoziale, ja hoch- und
höchstwertige abnorme Persönlichkeiten meint».39 Diese Lösung wählte der
Mainzer Psychiater Nikolaus Petrilowitsch (1924–1970), der unter dem Titel
Abnorme Persönlichkeiten ein abgewandeltes Schema in Anlehnung an
Schneider vorstellte, dabei jedoch Umwelteinflüsse, aus Konflikten resultie-
rende reaktive Prozesse und Entwicklungsverläufe betonte.40 Im Vergleich zu
früheren Lesarten ergaben sich so tatsächlich einige Neubewertungen, etwa
dass bei einer schon im Kindes- und Jugendalter in Erscheinung tretenden
Psychopathie «das Abnorme als eine dynamisierende Leistungsquelle erfah-
ren» werden könne. Insgesamt müsse die Frage mehr Gewicht erhalten, «was
ein Psychopath aus seiner Psychopathie macht».41
    Ähnliches lässt sich bei Karl Leonhard (1904–1988) sehen, 1957 bis 1969
Direktor der Ost-Berliner Charité-Nervenklink: In seiner Persönlichkeits-
lehre gingen unauffällige Persönlichkeitszüge in eine akzentuierte Ausprä-
gung über, die noch im Bereich des Normalen lag, woran sich die «psychopa-
thischen» bzw. «abnormen» Steigerungsformen anschlossen, die eine
erhebliche Abweichung von einem gedachten «Durchschnitt» ausdrückten.
Für die akzentuierten Ausprägungen wählte Leonhard weniger belastete
Adjektive als für die abnormen bzw. psychopathischen Steigerungsformen,
zum Beispiel «übernachhaltig» statt «paranoid» oder «demonstrativ» statt
«hysterisch». Er betonte, dass Persönlichkeitszüge zwar «angelegt» seien, sich

36 Häfner 1961, 11–12; Bräutigam 1968, 131, 133–136, 140–150; ähnliche bei Kranz 1959; Pet-
   rilowitsch 1960, 47.
37 Bräutigam 1968, 132–133; Kallwass 1969, 47; Moser 1970, 204–214; Wulff 1972, 71–72, 76.
   Vgl. auch Millon/Simonsen/Birket-Smith 2003, 16–19; Saß 1987, 32–33.
38 Ein frühes Beispiel ist Kolle 1955, 68–82.
39 Schneider 1958, 5–6.
40 Petrilowitsch 1960, 3, 39, 143–171; vgl. auch Binder 1967, 466–472.
41 Petrilowitsch 1969, 24–25.

252     Gesnerus 77 (2020)

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jedoch unter verschiedenen Ereignissen und Lebensbedingungen unter-
schiedlich entfalteten oder verkümmerten.42 Auch könne jeder ausgeprägte
Wesenszug sowohl in eine gesellschaftlich erwünschte wie in eine uner-
wünschte Richtung ausschlagen:
   «eine übernachhaltige Persönlichkeit kann unter ungünstigen Umständen zu einem asozi-
   alen Rechthaber werden, unter günstigen dagegen eine erfreuliche Strebsamkeit zeigen;
   eine übergenaue Persönlichkeit kann unter ungünstigen Umständen eine Zwangsneurose
   bekommen, unter günstigen dagegen durch ihr großes Pfl ichtbewußtsein beispielhaft sein;
   eine demonstrative Persönlichkeit kann uns eine Rentenneurose vorführen, unter anderen
   Umständen aber künstlerische Leistungen zeigen.» 43

Zeitversetzt, so fasste 1969 eine westdeutsche Publikation die Lage zusam-
men, befinde sich die «Psychopathie» in einer «Phase der Unbestimmtheit,
der theoretischen Verwerfung und praktischen Weiterverwendung»,44 wäh-
rend die englischsprachige Psychiatrie bereits zu einer konzeptionell konzi-
sen und praktikablen Neufassung in Form der «psychopathy» gefunden habe.
Die folgenden Abschnitte werden erörtern, wie sich die «praktische Weiter-
verwendung» in dieser offenen, dynamischen Situation im lokalen professio-
nellen Kontext gestaltete.

2. Professionelle Akteure und Aufgaben

Das Material dieser Erörterung bilden Fallakten aus zwei einschlägigen Ber-
liner Institutionen, der Abteilung für gerichtliche Psychiatrie und Psycholo-
gie an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Ost-Berlin und
dem Institut für forensische Psychiatrie (bis 1971 Abteilung für forensische
Psychiatrie am Institut für gerichtliche und soziale Medizin) an der Freien
Universität in West-Berlin. Beide Einrichtungen waren seit den späten
1940er Jahren hauptamtlich mit der ambulanten Begutachtung in Gerichts-
sachen beschäftigt, überwiegend wurden Straftäter und Zeuginnen in Straf-
prozessen untersucht und beurteilt. Überliefert sind in den Personendossiers,
wenn auch nicht gleichmäßig für beide Seiten und den gesamten Zeitraum
von 1960 bis 1980, die Eingangsjournale, Kopien der vom Gericht zugesand-
ten «Akten», die Dokumentation der eigenen Untersuchungen in Befundpro-
tokollen, handschriftlichen Notizen und kurzen Zusammenfassungen oder
Auswertungen eines jeden Falls sowie schriftliche Gutachten(entwürfe). Von
den jeweils rund 5.000 Aufträgen, die beide Einrichtungen in diesem Zeit-

42 Leonhard 1964, 10.
43 Leonhard 1964, 12.
44 Kallwass 1969, 46.

                                                               Gesnerus 77 (2020)           253

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raum erhielten, wurden für jede Seite anteilig für jeden Jahrgang rund 600
ausgewählt, und zwar gezielt im Hinblick auf den Wandel von Persönlich-
keitskonzepten, sei es anhand von Diagnosen, weil ein Fall als «typisch» für
die neuen Kriterien verminderter Verantwortlichkeit markiert war oder die
«Persönlichkeit» im Gutachten ausführlich thematisiert wurde.
   Von 1961 bis 1988 leitete der Psychiater und Psychologe Hans Szewczyk
(1923–1994) die gerichtspsychiatrische Abteilung der Charité. Im Verlauf der
Strafrechtsreform wurde er zu einer Schlüsselfigur der forensischen Psychia-
trie in der DDR, da er zunächst 1963/64 als sachverständiges Mitglied der zu-
ständigen Staatsratskommission unmittelbar am Gesetzestext mitarbeitete.
Weiterhin war er Mitglied der Konsiliarräte des 3. und des 5. Strafsenats des
Obersten Gerichts der DDR, die für Sexual- bzw. für Tötungsdelikte zustän-
dig waren.45 Das Oberste Gericht hatte eine ausgeprägte Leitungsfunktion für
die untergeordneten Gerichtsebenen, die die Eigenständigkeit der Richter
einschränkte, um die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und politische
Konformität zu gewährleisten.46 Mit den leitenden Richterinnen und Staats-
anwälten der DDR diskutierte Szewczyk «im kleineren Kreise» strittige
Punkte und erarbeitete Standards der Begutachtung.47 Darüber hinaus beauf-
tragten Strafsenate des Obersten Gerichts Szewczyk als Gutachter, da es – an-
ders als der westdeutsche BGH – nicht nur Rechtsmittel-, sondern auch Tat-
sacheninstanz war, also selbst Beweise erheben und Hauptverhandlungen
durchführen konnte.
   Ähnlich eng verzahnt wie an der Charité waren Strafrechtsreform und Be-
gutachtungspraxis auf der West-Berliner Seite nicht. Die Kinder- und Ju-
gendpsychiaterin Elisabeth Nau (1900–1975),48 Leiterin der psychiatrischen
Abteilung des Instituts für Gerichtsmedizin bis 1971, wurde von den Re-
formgremien zwar als Sachverständige gehört, jedoch nicht in grundsätzli-
chen Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, sondern zu sexuellem
Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung. Hierin sowie in der Jugend-
delinquenz und der Glaubwürdigkeit von kindlichen Zeugen lag unter ihrer
Leitung der Schwerpunkt der Abteilung. Nach ihrer Emeritierung wurde der
eingangs erwähnte Wilfried Rasch Direktor des nun verselbständigten Ins-
tituts. Er hatte sich mit einer Studie zur Tötung des Intimpartners einen Na-
men gemacht, zudem als Gutachter im Strafverfahren gegen Jürgen Bartsch.
Sein wissenschaftliches Interesse galt seit Ende der 1960er Jahre überwie-

45   Jähnig/Littmann 1985, 13.
46   Rottleuthner 1994, 18, 28–29, 32. Vgl. auch Markovits 2020.
47   Szewczyk 1978, 159.
48   Brinkschulte 1995.

254       Gesnerus 77 (2020)

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gend dem Strafvollzug, darunter auch der Haft- und Verhandlungsfähigkeit
von Linktsterroristinnen.49
   Auch wenn sie in unterschiedlichem Maße am legislativen Reformakt
beteiligt waren, hatten sich die Teams beider Einrichtungen in ihrer All-
tagspraxis mit den gesetzlichen Neuerungen im Gebiet der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen, die nun «abnorme» Persönlichkeits-
strukturen einbezogen. «Schwerwiegend abnorme Entwicklung der Persön-
lichkeit von Krankheitswert» (§ 16) lautete der entsprechende Passus im Straf-
gesetzbuch der DDR, das am 1. Juli 1968 in Kraft trat, «schwere andere
seelische Abartigkeit» (§§ 20, 21) das bundesrepublikanische Pendant, das
1969 verabschiedet wurde, jedoch erst ab 1. Januar 1975 geltendes Recht war.
   Persönlichkeitsabnormitäten gelangten in beiden deutschen Staaten über
Kompromissformeln ins Gesetz, die Vertreter aus unterschiedlichen Diszip-
linen und Handlungsfeldern langwierig diskutiert hatten. Schon die unter-
schiedlichen Formulierungen zeigen an, dass es für das Problem psychisch
bedingter Verantwortlichkeitsminderung keinen Fachbegriff gab, der einfach
in den Gesetzestext hätte eingebaut werden können – weder einen medizi-
nisch-psychologischen noch einen juristischen. Und typischerweise war der
Wortlaut der jeweiligen Paragraphen relativ unbestimmt, daher musste er
von Fall zu Fall, mit Grundsatzurteilen und Leitlinien ausgelegt werden. Psy-
chiatrischen Sachverständigen stellte sich daher die Aufgabe, «die von der
Rechtsprechung entwickelten Begriffe aus [ihrer] Sicht anzureichern und zu
präzisieren.»50
   Wie ost- und westdeutsche Psychiater fast gleichlautend formulierten, kam
es dabei «weniger auf die Diagnose als auf die tatbezogene Intensität der Ab-
weichung der Persönlichkeitsstruktur von der Norm an.»51 Eine medizinisch-
psychologisch-psychopathologische Diagnose war nicht das Ergebnis der Be-
gutachtung, sondern ein Zwischenschritt. Ausgehend von diesem war zu
diskutieren, ob und wie die fragliche psychische Störung im konkreten Tat-
hergang zum Tragen gekommen war, in welchem Ausmaß sie es der beschul-
digten Person unmöglich gemacht hatte, sich normgerecht zu verhalten. Die
gutachterliche Beurteilung hatte die Art und das Zustandekommen der Stö-
rung, ihre Beziehung zur Tat und dann vor allem ihre Erheblichkeit zu be-
nennen, die unter anderem mit dem Hilfskonstrukt des «Krankheitswertes»
ausgedrückt wurde.

49 Sigusch 2009; Brückweh 2000, 147–160, 208–219; Bergstermann 2016, 135–139. Zum Straf-
   vollzug vgl. den Beitrag von Marcel Streng in diesem Themenheft.
50 Rasch 1967, 57.
51 Szewczyk 1979, 234; Meyer 1976, 46.

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3. «Psychopathie» in Klammern: Semantik im Übergang

1986 veröffentlichte der westdeutsche Psychiater Rainer Tölle (1932–2013) die
Ergebnisse einer Umfrage bei gut 200 Kolleginnen in verschiedenen Versor-
gungsstrukturen, welche Persönlichkeits-Terminologie bei ihnen gebräuchlich
sei. Mit 80 Prozent aller Antworten lag demnach die «Persönlichkeitsstörung»
vorn, gefolgt von «abnormer Persönlichkeit» (70 Prozent), «Charakterneu-
rose» (63), «dissozialer Persönlichkeit/Soziopath» (51) und «psychopathischer
Persönlichkeit/Psychopath» (41,5), wobei berichtet wurde, dass zumeist meh-
rere oder sogar alle Begriffe nebeneinander Gebrauch fanden, am häufigsten
aber die Kombination von «abnormer Persönlichkeit» und «Psychopathie».52
Für die DDR liegt leider keine vergleichbare Erhebung vor, aber es ist anzu-
nehmen, dass eine solche ein ähnliches begriffliches Nebeneinander ergeben
hätte. Vor diesem Hintergrund soll nun im folgenden Abschnitt dargestellt
werden, wie die oben angesprochene «praktische Weiterverwendung» der
«Psychopathie» in ihrer «Phase der Unbestimmtheit» in den beiden Berliner
forensisch-psychiatrischen Einrichtungen aussah.
   In der gerichtspsychiatrischen Abteilung der Charité waren in den 1950er
Jahren «Schwachsinn»/«Debilität» und «Psychopathie» die häufigsten Diag-
nosen. In den ersten Jahren unter Hans Szweczyks Leitung wurden diese zu-
sehends von «abnormen Persönlichkeiten» und «Fehlentwicklungen» abge-
löst.53 Deutlich ging die Verwendung von «Psychopath» und «Psychopathie»
noch einmal nach 1963 zurück, zeitgleich mit Szewczyks Beteiligung an der
Strafrechtsreform. In dieser Zeit problematisierten Gutachten der Charité
den Begriff «Psychopathie», um die Justiz mit dem neuen Stand der Fachde-
batte vertraut zu machen:
   «Es handelt sich bei R[…] um eine stark von der Norm abweichende Persönlichkeit, die man
   in der forensischen Sprache als Psychopathie bezeichnet (nach der heutigen wissenschaftli-
   chen Anschauung handelt es sich hierbei weniger um angeborene Persönlichkeitsanomalie,
   sondern weitgehend um Entwicklungszustände auf dem Boden einer besonderen erblichen
   Disposition).»54

Für die forensische Psychiatrie an der Freien Universität ergab eine Stich-
probe, dass 1950 noch die «Psychopathie» dominierte, während seit Mitte der

52 Tölle 1986.
53 Eghigian 2015a, 301; Krainz 1969, 93–95.
54 Historisches Psychiatriearchiv der Charité (HPAC), Gerichtspsychiatrische Abteilung der
   Nervenklinik (GPA), 15/63, Gutachten Szewczyk, 1.3.1963, 18. Ähnliche Beispiele in den
   Akten 27/62; 96/62; 191/63, 178/65 sowie im Archiv der Humboldt-Universität, Nervenkli-
   nik – nach 1945 –, Gerichtspsychiatrische Gutachten Nr. 126/69, 201/69. Zur Erörterung von
   Begriffen in Gutachten vgl. auch Wulf 2020, 68–71.

256     Gesnerus 77 (2020)

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1950er Jahre wahlweise von «abnormer Persönlichkeit», «Persönlichkeitsstö-
rung» oder «Psychopathie» gesprochen wurde.55
   Ab Mitte der 1960er Jahre findet sich das Begriffsfeld «Psychopathie» in
beiden Abteilungen häufig nur noch als Zitat aus früheren Begutachtungen
und Beurteilungen. An der Freien Universität, wie in vielen westdeutschen
Lehrbüchern dieser Zeit, erscheint es auch eingeklammert hinter den nun
bevorzugten Sprachregelungen: «hochgradig abnorme Persönlichkeit (Psy-
chopathie)» oder «abnorme (psychopathische) Persönlichkeit».56 Eine distan-
zierende Beibehaltung des Begriffs ist in West wie Ost, allerdings nur in der
internen Dokumentation, in Form von Anführungszeichen zu beobachten:
«Gemütskalter, geltungsstrebiger ‘Psychopath’» oder «‘psychopathische’ Per-
sönlichkeit mit demonstr[ativ]-geltungssüchtigen Zügen».57 Dies folgte an-
scheinend der Empfehlung, das griffige Kürzel «Psychopathie» für den
«Hausgebrauch» zu reservieren.58
   Jedoch scheint sich der Gebrauch von «Psychopathie» nicht nur an einer
strategischen Unterscheidung zwischen interner und nach außen gerichteter
Kommunikation orientiert zu haben, denn auch die beteiligten Berufsgrup-
pen handhabten ihn offenbar verschieden. Dies zeigt ein Blick in die West-
Berliner Fallakten, in denen, anders als in den Unterlagen der Charité, die
eigenen Untersuchungen relativ umfassend aufgezeichnet sind. Psychologen
verwendeten zur Darstellung ihrer Testbefunde häufig stärkere bzw. aus heu-
tiger Sicht belastetere Begriffe als die Psychiaterinnen, was unter anderem
darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sie ihre Formulierungen eng an die
Diktion der Test-Manuale anlehnten. So heißt es in einer Akte im psycholo-
gischen Untersuchungsbefund «antisoziale Persönlichkeit», während die psy-
chiatrische Beurteilung «emotionale Verkümmerung» und «schwere neuro-
tische Störungen» lautete.59
   Dass psychologische Hinweise auf «Psychopathisches» keine diagnosti-
sche Hypothese bildeten, die durch verschiedene Befunde erhärtet und dann
dem Gericht bekannt gegeben wurde, illustriert folgender Fall von 1965, in

55 Die Stichprobe von je 100 Akten aus den Jahren 1950, 1955, 1958/59, 1965 und 1970 führte
   Anna Richert 2017 durch.
56 HPAC, Institut für Forensische Psychiatrie (IFP), 128 Str 65, Zusammenfassung und psy-
   chischer Befund, 25.4.1963; 129 S 79, Gutachten vom 27.8.1979, Bl. 82; 227 Str 73, Kurzgut-
   achten vom 17.1.1974; 35 Str 70, Gutachten vom 2.11.1971, 11.
57 HPAC, GPA, Gutachtensammlung (GS) Eckhard Littmann, Ordner E/F, Gutachten
   269a/71, 28.1.1972, angeheftete Fallzusammenfassung; IFP, 107 Str 66, Psychischer Befund,
   21.10.1966, Bl. 12.
58 Schneider 1959, 36.
59 HPAC, IFP, 27 Str 68, Psychologische Untersuchung, 12.2.1968, Bl. 20, und Notiz des Psy-
   chiaters zur Hauptverhandlung im Akteninnendeckel. Eine ähnliche Diskrepanz etwa in
   IFP, 75 Str 72, Psychischer Befund, 9.5.1972, Bl. 58, Erfassungsbogen, Pos. 23, 25.2.

                                                                 Gesnerus 77 (2020)           257

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dem es um den Widerruf der Bewährung eines wegen schweren Diebstahls
verurteilten jungen Mannes ging. Laut psychiatrischer Anamnese und Ex-
ploration handelte «es sich bei dem Pat[ienten] um eine hyperthyme Persön-
lichkeit mit dysphorisch-depressiver Reaktionsbereitschaft bei erheblicher
Stimmungslabilität im Zeichen erregbar-explosiver Persönlichkeitskonfigu-
ration.» Der Psychiater sprach weiter unter anderem von «Haltschwäche» so-
wie «Kritikschwäche und Ich-Haftigkeit».60 «Psychopathie» hatte sich in den
vom Psychologen durchgeführten Intelligenz- und Persönlichkeitstests be-
merkbar gemacht, die der Psychiater zusammenfasste: Im Hamburg-Wechsler-
Intelligenztest lasse der «Unterschied zwischen Verbal- und Handlungsteil
[…] wenn auch nicht gesichert, eine Psychopathie vermuten.» Der projektive
Rorschach-Test schien dagegen eindeutig ausgefallen zu sein: «Bei dem P[ro]
b[anden] handelt es sich um einen antisozialen Psychopathen vom aktiv-trot-
zigen Typ.»61 Wie sich beide Testbefunde zueinander und zu den Befunden
der Exploration verhielten, wurde nicht diskutiert, und vor Gericht war weder
von Antisozialität noch von Psychopathie, sondern von einer «hochabnorme[n]
Persönlichkeit» in Anlehnung an das obige Psychogramm die Rede.62 Für den
federführenden Psychiater vermochte, zumindest in diesem Fall, die «Psycho-
pathie» die Vieldeutigkeit der Befunde offenbar nicht zu ordnen.
   Ohne distanzierende Signale drückte «Psychopathie» in Ost und West auch
weiterhin eine hohe Intensität im Spektrum der Abnormität aus: «charakter-
lich: hypomanisch-hysterisch im Grad einer starken Psychopathie», «stark
impulsive[r] Charakter (quantitative Normabweichung = Psychopathie)».63
Eine «Gemeingefährlichkeit», die Maßnahmen jenseits der Gefängnisstrafe
erforderten, war daran jedoch nicht gekoppelt. An der Charité blieben in die-
sem Sinne bis in die 1970er Jahre Verweise auf den «früheren Psychopathie-
begriff» aktuell, auch in neuen Kombinationen wie «psychopathische Ent-
wicklung» oder «psychopathische (Charakter)Tendenzen».64 Gleichzeitig
changierte der Gebrauch zwischen Quantum und Qualität. Entfaltet zu ei-
nem forensisch verwertbaren Bild stellten sich die in der internen Dokumen-

60 IFP, 190 Str 65, Psychischer Befund, 27.11.1965, Bl. 31.
61 IFP, 190 Str 65, Psychischer Befund, 27.11.1965, Bl. 33.
62 IFP, 190 Str 65, Notat im Akteninnendeckel sowie Beschluß in der Strafsache gegen K[…]
   P[…], 21.12.1965, 4 (Paraphrase des mündlichen Gutachtens).
63 HPAC, GPA, 15/63, Gutachten Szewczyk, 1.3.1963, 16; IFP, 57 Str 65, Eindruck vom Pati-
   enten, 30.4.1965, Bl. 14.
64 HPAC, GPA, GS Szewczyk, Gutachten 107/73, 20.8.1973, 19–20; vgl. ebd., Gutachten
   119/76, 14.7.1976, 40; Journal 1971–1978, Einträge zu Nr. 105/72; 56/73; 118/74; 65/75; 207/78;
   Journal 1979–1988, Einträge zu Nr. 67/79; 95/79; GS Littmann, Ordner MI, Gutachten
   174/75, 22.10.1975, angeheftete Fallzusammenfassung.

258     Gesnerus 77 (2020)

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tation vermerkten «psychopathischen Strukturmerkmale» im Gutachten
etwa so dar:
   «Zusammenfassend handelt es sich um einen durchschnittlich intelligenten, jedoch leis-
   tungsaversiv eingestellten, d.h. wenig leistungsmotivierten Jugendlichen mit ausgeprägt
   egozentrischer Grundstruktur und hieraus resultierender Neigung zu paranoischer Recht-
   haberei, Besserwisserei und Starrsinn sowie egozentrischen Eigendurchsetzungsbestrebun-
   gen, welche teilweise als Kompensation innerer Verhaltensunsicherheit, emotionaler Ge-
   spanntheit, Unruhe und Umtriebigkeit anzusehen sind. […] Der ebenso geltungsbetonte
   wie stark kritik- und eigenempfi ndsame Jugendliche reagiert namentlich auf Bedürfnisver-
   sagungen überschießend aggressiv, jähzornig und herausfordernd, kann nicht nachgeben,
   ist stets auf die Durchsetzung seiner eigenen Interessen bedacht und von daher auch sozial
   wenig unterordnungs- und einordnungsbereit. Es handelt sich hierbei diagnostisch aber um
   sozial-charakterliche Auffälligkeiten, d.h. um Extremvarianten normaler menschlicher Ei-
   genschaften mit psychopathischer Valenz, wie der Jugendliche darüber hinaus eine Reihe
   schon verfestigter dissozialer Anschauungen und Verhaltensgewohnheiten zeigt.»65

Wenig überraschend werfen solche Fundstellen eher Fragen auf als dass sie
eindeutige Antworten liefern: Fügte das Etikett «psychopathisch» nur eine
zusätzliche – verstärkende oder negative – Tönung hinzu oder verbanden sich
damit Vorstellungen spezifischer Verhaltensweisen? Wie verhält sich der
Sprachgebrauch der Charité-Abteilung zu der allgemeinen Beobachtung, in
der DDR habe sich der Bedeutungsgehalt des «Psychopathen» in Richtung
Jugenddelinquenz, «Schmarotzer» und Rückfalltäter entwickelt?66 Deutet
sich hier gar eine verengt-präzisierte Bedeutung im Sinne der «psychopathy»
bzw. einer sozial gestörten Persönlichkeit an?
   In den Gutachten der Charité wurde das Begriffsfeld «Psychopathie» wäh-
rend der 1970er Jahre auch, aber nicht schwerpunktmäßig für jugendliche
Täter verwendet. Zwar ergab die in der Abteilung betriebene faktorenanaly-
tische Forschung zu verschiedenen Straftätertypen um 1980 eine besondere
Gruppe jugendlicher Straftäter «mit sogenanntem ‘psychopathischen Syn-
drom’, deren Lebensführung und Persönlichkeit durch auffallende Unfähig-
keit zu dauerhaften emotional-sozialen Bindungen, durch Infantilität, man-
gelnde Zukunftsplanung, verminderte Realitätskontrolle und geringe
Frustrationstoleranz geprägt waren». Dieses Profil weise Entsprechungen
«zur klinischen Diagnose einer ‘asozialen Psychopathie’» auf. Damit war je-
doch vermutlich keine diagnostische Kategorie der eigenen Klinik angespro-
chen, sondern die gleichnamige Skala in der deutschsprachigen Version des
Minnesota Multiphasic Personality Inventory, eines auch in der DDR ver-
breiteten US-amerikanischen Persönlichkeitstests, der auf klinischen Diag-

65 HPAC, GPA, GS Littmann, Ordner A, Gutachten 108/77, 27.6.1977, 21–22 und angeheftete
   Fallzusammenfassung.
66 Eghigian 2015a, 303.

                                                                 Gesnerus 77 (2020)          259

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nosen beruhte.67 Zudem bildeten die «Rückfalltäter» ausdrücklich eine an-
dere Gruppe.
   In den Gutachten, die jugendlichen Personen «psychopathische» Eigen-
schaften zuschrieben, betonte der gutachtende Psychologe stets die Wechsel-
wirkung zwischen der Persönlichkeitsstruktur und äußeren Einflüssen, etwa
groben Erziehungsfehlern wie Verwöhnung, Lieblosigkeit und fehlender
«Nestwärme», «Pendeln» zwischen Nachgiebigkeit und Härte oder Wechsel
der Bezugspersonen.68 Andererseits benutzte er Vokabeln vom Beginn des 20.
Jahrhunderts wie «Gemütskälte» und «Geltungsstrebigkeit», «Bindungs-»
und «Haltlosigkeit» und «Willensschwäche», um anzuzeigen, dass jemand un-
fähig sei, mit anderen Menschen «echte» Beziehungen einzugehen oder dau-
erhaft aus eigener Anstrengung Ziele zu verfolgen, dass es sich kurz um einen
«ausgesprochenen Ichmenschen» handele.69 Ein weiteres Element ist die ober-
flächlich-kalkulierte soziale Anpassungsfähigkeit, das Talent, erwünschte
Verhaltensweisen zu antizipieren.70 Schließlich bescheinigte er häufig eine
verfestigte «dissoziale» bzw. «asoziale» Entwicklung.71
   Unter den gut 300 ausgewählten Charité-Akten der 1970er Jahren fällt das
Stichwort «Psychopathie» in etwa acht Prozent der Fälle, während der Anteil
im Gesamtbestand der Akten, in dem auch die «organischen» psychischen
Krankheiten, Intelligenzminderungen, Altersabbauprozesse usw. vertreten
sind, noch einmal weitaus geringer sein dürfte. «Psychopathie» kam nun
deutlich seltener vor als in den 1960er Jahren, scheint aber noch eine mehr
oder weniger präzise Aussagekraft besessen zu haben, die durch einen gewis-
sen Seltenheitswert womöglich sogar gesteigert war. Am Institut für forensi-
sche Psychiatrie der Freien Universität ist eine solche Verwendung nach dem
Leitungswechsel 1971 dagegen nicht auszumachen. Wilfried Rasch distan-
zierte sich in seinen Veröffentlichungen ausdrücklich vom überkommenen
Vokabular der Kriminalpsychiatrie, sei es die «seelische Abartigkeit» der
§§ 20,21, Schneiders Konzept zurechnungsfähiger «psychopathischer Persön-

67 Littmann/Ott 1982, 174, 175; vgl. Hathaway/McKinley/Spreen 1977, 30–31.
68 HPAC, GPA, GS Littmann, Ordner W1, Gutachten 75/72, 9.5.1972, 4, 10, 11, 19, 31; Ordner
   D, Gutachten 68a/74, 29.4.1974, 8, 21; Ordner N/O, Gutachten 14/75, 5.2.1975, 17–18; Ord-
   ner K2, Gutachten 262/77, 27.1.1978, 22.
69 HPAC, GPA, GS Littmann, Ordner D, Gutachten 68a/74 vom 29.4.1974, 8 und 19–20, 23;
   vgl. auch Ordner E/F, Gutachten 269a/71, 28.1.1972, 4 und angeheftete Fallzusammenfas-
   sung; Ordner W1, Gutachten 75/72, 9.5.1972, 24–25; Ordner K2, Gutachten 262/77,
   27.1.1978, 15–16, 20.
70 HPAC, GPA, GS Littmann, Ordner E/F, Gutachten 269a/71, 28.1.1972, 4–5; Ordner W1,
   Gutachten 75/72, 9.5.1972, 23–24; Ordner D, Gutachten 68a/74, 29.4.1974, 10, 17, 20, 21;
   Ordner N/O, Gutachten 14/75, 5.2.1975, 15–16.
71 HPAC, GPA, GS Littmann, Ordner W1, Gutachten 75/72, 9.5.1972, 31, 34; Ordner D, Gut-
   achten 68a/74, 29.4.1974, 20, 23; Ordner N/O, Gutachten 14/75, 5.2.1975, angeheftete Fall-
   zusammenfassung; Ordner K2, Gutachten 262/77, 27.1.1978, 16, 18, 20.

260     Gesnerus 77 (2020)

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lichkeiten» und den «Psychopathen» als stigmatisierende Fremdbezeichnung
für die vermeintlich Unverbesserlichen.72 In den bisher eingesehene Gutach-
ten Raschs und denen der Psychiaterinnen, die er ab 1971 einstellte, ist das
Begriffsfeld «Psychopathie» nicht anzutreffen.
   Aus der psychoanalytischen Tradition standen als Äquivalente oder Al-
ternativen «Charakterneurose», «Charakteropathie» oder «neurotische Cha-
rakterfehlentwicklung» zur Verfügung und waren der erwähnten Erhebung
von Tölle zufolge in den 1980er Jahren in klinischen Kontexten stark verbrei-
tet.73 Es ist nicht überraschend, dass diese Termini in der Charité-Abteilung
zwar bekannt waren, aber nicht benutzt wurden.74 Doch auch im West-Ber-
liner Institut fand die Sprache der Charakterpathologie nur selten, unsyste-
matisch und nicht als erkennbarer Ersatz für «Psychopathie» Verwendung,
obwohl sich eine der dort beschäftigten Psychiaterinnen zur Analytikerin
ausbilden ließ75 und andere Kollegen zumindest eklektisch auf psychoanaly-
tisches Wissen zurückgriffen. Häufiger sind Wendungen wie «charakterliche
Abweichung»/«Abnormität» oder «charakterliche Insuffizienz» anzutreffen,
die «Psychopathie» ebenfalls vermieden, sich aber nicht zu einem bestimm-
ten tiefenpsychologischen Programm bekannten.76
   Nur in minimalen Spuren ist am Institut für forensische Psychiatrie die in-
ternationale Neuausrichtung der «Psychopathie» auf Persönlichkeitsstörungen
mit genereller sozialer Unverträglichkeit zu entdecken, und zwar bei jenen bei-
den Psychiatern, die schon unter Elisabeth Nau langjährig am Institut tätig ge-
wesen waren. Einer von ihnen setzte einen Mann, der Doktortitel einer ame-
rikanischen «Sekte» verkauft hatte, in einer Aktennotiz als «Psychopath» in
Anführungsstriche und bescheinigte ihm im Gutachten «eine von der Norm
abweichende Persönlichkeitsstruktur mit ‘anethopathischen’ Zügen», womög-
lich in Anlehnung an den «anethopath» aus dem Wortschatz der US-Psychia-
trie.77 Sein Kollege benutzte in einer Handvoll von Fällen «Psychopathie» und
«psychopathische Persönlichkeit» im Sinne eines extremen Außenseitertums
und eines Verhaltens, das er auch als «dissozial» und «verwahrlost» beschrieb.
Hier deutete sich die begriffliche Verbindung von «Dissozialität», dem nach
außen sichtbaren störenden Verhalten, und der «Persönlichkeitsabnormität»
an, wie sie auch die sozialen Persönlichkeitsstörungen in den internationalen
Klassifikationen charakterisiert. In dem von Wilfried Rasch eingeführten Er-

72 Rasch 1971a, 102; Rasch 1982, 178, 180–181; Rasch 1986, 35, 46, 86, 114, 231.
73 Dührssen 1949, 397; Görres 1958; Häfner 1961, 10; Hoffmann 1979, 25–29.
74 Szewczyk 1966, 45.
75 Gespräch mit Gertrud Hardtmann, 16. Oktober 2018.
76 HPAC, IFP, 155 S 72, Gutachten Rasch, 27.7.1972, 23; 127 Str 72, Gutachten Rasch,
   10.8.1972, Bl. 95.
77 HPAC, IFP, 94 S 74, Gutachten vom 14.1.1975, 4–5.

                                                          Gesnerus 77 (2020)           261

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