Höhepunkt der griechischen Philosophie - Sokrates, Platon und Aristoteles

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Höhepunkt der griechischen Philosophie –
Sokrates, Platon und Aristoteles
Im Folgenden wollen wir die drei bekanntesten Philosophen der griechischen Antike,
der so genannten klassischen griechischen Philosophie, behandeln. Für die Entwick-
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lung der Philosophie haben Sokrates, Platon und Aristoteles eine große Bedeutung .
So setzt Aristoteles Maßstäbe, die für die heutige Philosophie noch wichtig sind. Uns
interessiert hier jedoch mehr die naturwissenschaftliche Bedeutung dieser drei Philo-
sophen. Wesentliche Fortschritte in der Naturwissenschaft sind von Sokrates und
Platon nicht erreicht worden. Aristoteles dagegen brachte die Naturwissenschaften,
besonders die Physik und Astronomie, eher in Misskredit. Nach der Zeit des Aristote-
les folgt die ›Philosophie des Hellenismus‹ etwa ab 300 bis 30 v. u. Ztr. Im Mittelpunkt
stehen hier die großen Philosophieschulen der Platonischen Akademie, der Peripatos
Aristoteles’, der Garten Epikurs und die Stoa des Zenon von Kition, außerdem einige
kleinere Philosophieschulen, wie die der Kyniker des Diogenes von Sinope u. a. Sie
bestimmen im Wesentlichen die philosophische Struktur der antiken Geisteswelt und
die großen Schulen wurden zu eigentlichen Hochschulen. Die letzte Periode der grie-
chischen Philosophie ist ›die Philosophie der römischen Kaiserzeit‹ bis zum Jahre 529.
Kaiser Justinian I. (482–565) verbot, dass weiterhin in Athen philosophiert werde, und
schloss die Platonische Akademie. Dieser Gewaltakt dokumentiert jedoch bereits be-
stehende Verhältnisse. Es handelt sich dabei um eine nicht mehr schöpferische Perio-
de, sie lebte nur vom Ausklang dessen, was einmal war. Außerdem brach nach Justin-
ian die Slavenflut über Griechenland herein, die eine primitive Kultur mitbrachte.

Sokrates
Sokrates, gelernter Steinmetz, Vater von drei Söhnen, war ein griechischer Ethiker. Er
lebte 469–399 v. u. Ztr. in Athen. Seine Ehefrau Xanthippe, die für ihr angeblich zänki-
sches und besitzergreifendes Wesen in der Geschichte berühmt wurde, heiratete er
erst mit 50 Jahren. Er interessierte sich in der Jugend für naturphilosophische Fragen,
später beschäftigte er sich jedoch allein mit ethischen Erkenntnisproblemen, z. B. mit
den moralischen Begriffen.
   „Er habe aber erkannt, daß die Naturphilosophie für uns nichts tauge und habe sich
   der Sittenlehre zugewandt“.
schreibt Diogenes Laertius. Sokrates wurde in Athen angeklagt, die Jugend zu verder-
ben, weil er gottlos sei und versuche, neue religiöse Bräuche und neue göttliche We-
sen in den Staat einzuführen, d. h., dass Sokrates ein Revolutionär auf ethisch-
religiösem Gebiet war. Auf der Agora traf er sich mit den Leuten und diskutierte mit
der These ›ich weiß, dass ich nichts weiß‹. Ein wohlhabender Athener Bürger, Anytos,
veranlasste den jungen tragischen Dichter Meletos, gegen Sokrates die Anklage auf
den Tod zu erheben. Vor Gericht traten Anytos und der Staatsmann Lykon eifrig für
die Klage ein. Sokrates hätte durch Eingehen auf die Vorurteile des Gerichts leicht
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eine Freisprechung oder zumindest eine Verurteilung mit geringer Strafe erreichen
können. Aber er hat durch seine Verteidigungsrede bewusst das Todesurteil unver-
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meidbar gemacht. Sokrates wurde zum Tode durch den Giftbecher verurteilt .
Wie in diesem Beispiel erkennbar, findet man in allen zivilisierten Gesellschaften eine
Spaltung in eine gebildete Elite und eine ungebildete Mehrheit. Dieser gelang es, die
Herrschenden unter Druck zu setzen. Sokrates’ Philosophie gipfelt in der Erkenntnis,
wie gesagt wurde:
   Der Mensch sei durch eigenes Urteil befähigt, das Gute und das Schlechte zu er-
   kennen. Der Geist des Menschen sei das Maß aller Dinge. Das Sittengesetz ist ein
   unbedingtes und gebieterisches. Ohne Hoffnung auf Lohn muß man Gutes tun,
   nur weil es das Gute ist.
Hegel merkt an:
   „Sokrates ist als moralischer Lehrer berühmt; vielmehr aber ist er der Erfinder der Moral.“
Walter Rüegg, Professor an der Universität Frankfurt/M., schreibt 1964:
   „Leben und Tod des Sokrates haben für die abendländische Philosophie dieselbe
   Bedeutung einer Zeitwende erhalten wie Geburt und Kreuzigung Christi für unsere
   Geschichte.“
Sokrates spricht von einem höchsten Wesen, welches Herr über Menschen und Dinge
ist. Für ihn ist entscheidend die Klarheit der Vernunft. Die Frage von der Erkenntnis
der Außenwelt, also die naturwissenschaftliche Frage, interessierte ihn nicht sonder-
lich. Er meint, er könne es sich nicht leisten, sich für die Natur und die Naturwissen-
schaft zu interessieren, weil solche Erkenntnisse nie etwas zur Beantwortung der
Frage beitragen können: Was soll ich tun? Aristoteles schreibt:
   „Sokrates beschäftigte das Tun und Lassen der Menschen, niemals ging es ihm um die
   Natur im Ganzen. In allen ethischen Fragen aber suchte er nach dem Allgemeinen …“
Sokrates erscheint in seiner Philosophie als der Begründer der teleologischen Denk-
weise. Alles in der Natur strebt einem bestimmten Ziel zu. Platon hat diese Auffas-
sung übernommen. Für Aristoteles war diese Denkweise bestimmend für seine ge-
samte Philosophie und Naturphilosophie! Sokrates selbst hat keine Schriften hinter-
lassen (so wie Buddha, Christus und Konfuzius). Auf die Frage, warum er keine Bücher
verfasse, meint er nach einer Anekdote (die Pergamentherstellung erfolgte erst 180
v. u. Ztr.) arabischer Sammlungen:
   „Ich übertrage nicht die Wissenschaft von lebendigen Menschenherzen auf die
   Häute toter Schafe (Pergament; Verf.).“
Sokrates sagt:
   „Ein Leser muß von außerordentlicher Einfalt sein, um zu glauben, daß das ge-
   schriebene Wort noch etwas anderes kann, als einen an das zu erinnern, was man
   schon weiß.“
Sokrates                                                                         287

Bücher waren für Sokrates Gedächtnisstützen und Wissensspeicher, auf die der Wis-
senschaftler verzichten sollte. Seine philosophischen Auffassungen kennen wir durch
seinen bedeutendsten Schüler, Platon. Wobei es natürlich schwer ist, Sokratisches und
Platonisches voneinander zu trennen. Von dem griechischen General, Geschichts-
schreiber (Militärgeschichte, Biographien und Militärwissenschaft), Antiquar und
Sokratesschüler Xenophon (etwa 430–354 v. u. Ztr.) existieren Erinnerungen an Sokra-
tes. Platon und Xenophon zeichnen ganz verschiedene Bilder. Dieser konzentrierte sich
mehr auf praktische Einsichten und Ratschläge und jener auf theoretische Interessen
Sokrates’. Von Sokrates soll auch das Wort stammen:
   „Wir leben nicht, um zu essen, sondern wir essen, um zu leben.“
Sokrates hat die Astronomie nur als Magd der Feldmessung und Zeitrechnung gelten
lassen. Er hielt Untersuchungen über den Lauf der Planeten, über ihre Umlaufzeiten,
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über ihre Abstände von der Erde für unmoralisch, ja subversiv .

Platon
Platon lebte 427–347 v. u. Ztr. und hieß ursprünglich gar nicht Platon, sondern A-
ristokles (auch Name seines Großvaters). Er wurde aber ziemlich früh schon Platon
genannt, weil platos breit heißt und somit seine stattliche Erscheinung wiedergab. Er
entstammt landbesitzenden aristokratischen Familien und war verwandt mit dem
athenischen Gesetzgeber Solon, dieser war sein Großvater mütterlicherseits. Diogenes
Laertius berichtet von der Athener Legende, dass Platon ein Sohn des Gottes Apollon
sei. Bis zu Platons Geburt soll sein Vater sich des ehelichen Verkehrs mit der Gattin
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Periktione enthalten haben (eine Art jungfräulicher Geburt) . Er hat die beste Bildung
genossen, die Athen ihm geben konnte. Neben seiner geistigen Bildung hat er sich
auch körperlich ertüchtigt. Man weiß von einem Sieg bei den Isthmischen Spielen als
Ringkämpfer. Gedichte und Tragödien soll er in seiner Jugend geschrieben haben, bis
er seinem zukünftigen Lehrer Sokrates begegnete, der ihn zur Philosophie führte.
Sokrates setzt er mit seinem Werk ein bleibendes Denkmal.
Platon war der Gründer der Akademie (vermutlich 385 v. u. Ztr.), die er nordwestlich
vor der Stadt Athen, im ehemals Heiligen Bezirk Hekademeiain an den Ufern des
Kephisos, in dem das Grabmal des attischen Lokalheros Akademos stand, aufbaute.
Diese Philosophenschule entstand in dem Musenhain, in dem der Gott Apollon und
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die Musen verehrt wurden. Daher stammt der Name Akademía (Akademie) . Diese
Akademie enthielt auch gleichzeitig ein Gymnasion, d. h. Räume für sportliche Betä-
tigung. Ihre Organisation erhielt die Schule nach dem Beispiel der Pythagoreischen
Schulen, mit denen Platon während seiner Reisen in Kontakt gekommen war. Platon
entwickelte die zum Teil schon vorhandenen Schulen zu seiner eigenen philosophi-
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schen Schule und gewissermaßen Privatuniversität . Diese stellt die Vorgängerin der
europäischen Universitäten dar. Sie war jedoch nicht die erste Universität der Welt.
Schon die Sumerer besaßen im Jahr 2000 v. u. Ztr. Universitäten als weltliche Institu-
te, wie Helmut Uhlig schreibt. Diese vertraten ein ähnliches Lehr- und Forschungs-
programm wie das moderner Hochschulen. Im Lehrprogramm standen Architektur,
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Botanik, Geografie, Mathematik, Mineralogie, Schriftgelehrsamkeit und Zoologie. Es
gab bereits Studienrichtungen für Lehrer, Wissenschaftler oder für leitende Berufe in
Diplomatie, Heer, Hofhaltung, Kunst, Literatur, Politik, Tempelverwaltung, Theologie
und Wirtschaft. Platon betrieb mit einer ausgesuchten Anzahl von Schülern Wissens-
vermittlung und die Ausbildung fähiger und kluger Menschen im Sinne der Verbin-
dung von Forschung und Lehre. Platon fordert die Herrschaft der Gelehrsamkeit, die
Sophokratie, wie Popper es nannte. Die Vorstellung Platons, den Elitephilosophen
auszubilden, hat wenig Beifall gefunden. Auch seine Nachfolger konnten sich mit
seinem Konzept, die Herrschaft der Philosophen anzustreben, nicht anfreunden.
Besonders Popper kritisierte, dass Platons praktische Philosophie in ihren Grundzügen
totalitär sei und jedem Machtmissbrauch unter dem Vorwand des angeblich besseren
Wissens Tür und Tor öffne. Zu Platons Mitarbeitern (Schülern) gehörten der Astro-
nom Herakleides Pontikus, der Mathematiker Philipp von Opus und der Botaniker Di-
okles von Magnesia (erwähnt im Testament Aristoteles’?). Auch gehörten zwei Frauen
zur Akademie. Sie wurden jedoch gezwungen, Männerkleidung zu tragen. Die
Grundlagen des Lehrplans entsprachen den herkömmlichen Fachgebieten der Pytha-
goreischen Schulen, wie Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Musik. Die Studien-
dauer, also die Beschäftigung mit all diesen Disziplinen, umfasste zehn Jahre. Die
Lenkung des Gedankens der Menschen weg vom vergänglichen Wechsel der Erfah-
rungswelt zu dem hinter ihr liegenden Unveränderlichen, also vom Werdenden zum
Seienden, war das Ziel alles Lehrens, denn Platon sagte immer wieder, wie wenig die
Erfahrung die Quelle des Wissens sei. Von Platons Schriften – 42 Dialoge, 13 Briefe
und einige Definitionen – ist alles erhalten geblieben. Die Beurteilung seiner Werke
aus sprachlicher und stilistischer Sicht und unter Berücksichtigung ihres Umfangs hat
ihm den Ruf des größten Schriftstellers aller Zeiten eingebracht.
Ein Schüler Platons, so vermutet die Platonforschung, sicher aber Schüler des Isokrates,
war Theodektes von Phaselis (Lykien; ca. 377–336 v. u. Ztr.). In Verbindung mit Aristo-
teles hat er ein Lehrbuch der Rhetorik verfasst und wird heute als der Vater der so
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genannten Mnemotechnik bezeichnet. Andere sprechen diesen Titel dem berühm-
ten lyrischen Dichter Simones von Keos (556–468 v. u. Ztr.) zu. Er soll als Erster das
Prinzip des Ortes entwickelt haben. Man versteht darunter ein System der Gedächt-
nisausbildung. Bei diesem werden Dinge, an die wir uns erinnern müssen, mit be-
stimmten Orten verknüpft, etwa den Möbelstücken eines Raumes oder den Stühlen
um einen Tisch. Dadurch können wir sie uns leichter merken. Sind diese Dinge die
Stichworte einer Rede, so durchwandern wir in der Vorstellung diesen Ort, an dem
die Daten gespeichert wurden. Es beruht also auf einer fest im Gedächtnis einzuprä-
genden Reihe zahlreicher Örter, in welchen die Phantasiebilder der jeweils wechseln-
den Merkgegenstände von Fall zu Fall einzutragen sind und dann wieder gelöscht
werden können. Es geht aber auch in Reimform: 30 Tage hat September, April, Juni
und November; ebenfalls die Merkregel unserer neun Planeten (Anmerkung 261).
Von den Griechen sind viele Regeln entwickelt worden, um die Verlässlichkeit der
Verortungsmethode zu steigern. (siehe die Dissertation von H. Blum: Die antike
Mnemotechnik, Tübingen 1964)
Platon                                                                              289

Platons politische Leidenschaft war, die Welt zu verändern. Zu diesem Zweck unter-
nahm er drei Reisen nach Sizilien, die mit unterschiedlichen Gefahren – so war er
kurzzeitig auch Sklave – bis zur Lebensgefahr verbunden waren. Während dieser Zeit
leitete der berühmte Mathematiker Eudoxos von Knidos, ein weitgereister Schüler und
Mitarbeiter Platons, die Akademie. Nach diesen vergeblichen Bemühungen widmete
er sich nur noch seiner philosophischen Schule in Athen und den schriftstellerischen
Arbeiten. Über seinen Tod in Athen gibt es zwei Versionen: Er starb beim fröhlichen
Hochzeitsmahl oder schreibend an seinem Schreibtisch sitzend. Diese beiden Versio-
nen sind symbolisch für Platons Leben: Eros und Logos. Dem Nachfolger Platons,
Speusippos (Die Gesetze der Mathematik sind gleichzeitig diejenigen des Seins!), folg-
te Xenokrates von Kalchedon (ca. 396–314 v. u. Ztr.) als Leiter der Akademie. Dieser
fühlte sich verpflichtet, mit großer Konzentration und unermütlicher Arbeitskraft die
Hinterlassenschaft Platons zu wahren, zu pflegen und dunkle Zusammenhänge zu
interpretieren. Er wurde zum Begründer des eigentlichen Platonismus und damit zum
Wegbereiter des späteren, von Plotin (205–270) gegründeten Mittel- und Neuplatonis-
mus.
Dieser war nicht nur eine Philosophie, sondern stark theosophisch geprägt, gewis-
sermaßen eine Religion der Gebildeten. In ihr waren die antiken philosophischen
Systeme und religiöse und mystische Strömungen, griechische und orientalische,
vereint: Platonismus, Aristotelismus und orientalische Mystik. Verschiedene Formen
des Aberglaubens, wie Dämonenglaube und Zauberpraktiken, wurden gewisserma-
ßen philosophisch aufgefangen. Festzustellen ist der Einfluss der Pythagoreischen
Schule, der so genannten Orphischen Lehren (siehe Anmerkung 96) und der chaldäi-
schen Orakel. Der Neuplatonismus lehrte eine Trennung von Geist und Materie und
reichte von Plotin über Porphyrios, Iamblichos (3. bis 4. Jahrhundert) bis zu Proklos und
Damaskios (geb. um 458). Die Bedeutung Plotins besteht darin, dass er ein umfassen-
des philosophisches System entwickelt hat, in dem Gott, Kosmos, Mensch und
wahrnehmbare Welt in hierarchischer Stufung jeweils ihren Platz haben. Diese Vor-
stellungen Plotins kombinierte Augustinus mit dem christlichen Schöpfungsgedanken:
Es gibt höhere und niedere, wertvolle und weniger wertvolle Seinsstufen. Die oberste
Stufe bildet der Geist. Deshalb überragt der Mensch die gesamte geschaffene Natur.
Nachdem Plotin zum Christentum übergetreten ist, war sein Schüler und bedeutends-
ter Gelehrter der frühchristlichen Zeit, Origines (185–253/4), einer der Ersten, der der
neuen Religion des Christentums den Status einer regelrechten Philosophie verlieh.
In der Zeit des 1. Jahrhunderts vor bis zum 1. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung
entstand eine Sammlung theologisch-philosophischer Erbauungsschriften, das ›Cor-
pus Hermeticum‹, bezogen auf den ägyptischen König und Gottes Hermes Trisme-
gistos (griechisch der dreimal Größte; siehe Anmerkung 159). Es will ägyptische
Weisheit verkünden, behandelt aber nur sehr oberflächlich ägyptische Religion und
Zauberpraktiken, berücksichtigt aber orientalische Astrologie. Die Themen sind: Gott,
Kosmos, Mensch; ihr Wesen, ihre Kräfte, ihre gegenseitigen Beziehungen. Der
Schwerpunkt liegt auf Theologie, Kosmologie und Anthropologie. War Schöpfer der
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Alchemie und der Magie. Man nannte sie daher auch ›Hermetische Künste‹ oder
›Hermetische Wissenschaften‹. Das Lexikon der alten Welt schreibt:
   „Das Corpus Hermeticum ist abgesunkene, zerfaserte philosophische Literatur,
   ›Proletarierplatonismus‹. Grundlage ist ein aus den Dialogen Timaios, Phaidon u. a.
   entwickelter weltflüchtiger Platonismus, in den sich ziemlich viel Aristoteles und spä-
   ter Stoa mischt … ist zweifellos den geistigen Bedürfnissen der Halbgebildeten des
   1.–3. Jh.s n. Chr. entgegengekommen, hat auch vom 15. Jh. an in … Zirkeln immer
   wieder Beachtung gefunden.“
Die Platonische Akademie bestand bis zu ihrer Schließung 529 durch Kaiser Justinian I.
fast tausend Jahre, er fühlte sich durch das Überleben der klassischen Tradition in
seiner christlichen Auffassung verletzt. Er schloss nicht nur die Platonische Akademie
zu Athen, sondern beschlagnahmte auch ihr Vermögen. Damaskios war der letzte
Leiter. Er hatte sich besonders mit den Vorstellungen von der Entstehung und Ab-
stammung der Götter, der Theogonie, bei den Orphikern (siehe Anmerkung 96) be-
schäftigt. Die Akademie war die letzte Hochburg der alten Platonischen Tradition,
wenn auch ihre Bedeutung als Schule und Universität durch den Neuplatonischen
Mystizismus beträchtlich verblasst war. Damaskios war es, der dem Christentum zu
seiner Dogmatik verholfen hat und somit Platonisches Denken zur Grundlage des
geistigen Lebens in Europa machte.
Platon gilt als der Begründer der metaphysischen Theorie der Formen oder Ideen,
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kurz Ideenlehre genannt. Sie kann als die neue Religion Platons bezeichnet werden.
In seinem Dialog ›Parmenides‹ widerlegt er die Einwände der Eleaten gegen die I-
deenlehre. Karl Popper schreibt:
   „Den Vater oder das Original nennt Platon die ›Form‹, das ›Modell‹ oder die ›Idee‹
   dieses Dinges. Wir müssen hervorheben, daß die Form oder die Idee trotz ihres
   Namens keine ›Idee in unserem Geiste‹ ist; sie ist kein Vorstellungsbild, kein
   Traum, sondern ein wirkliches Ding. Sie ist sogar in höherem Grade wirklich als alle
   die gewöhnlichen und veränderlichen Dinge, die trotz ihrer scheinbaren Festigkeit
   zum Verfall verurteilt sind; denn die Form oder die Idee ist vollkommen und verfällt
   nicht. … Die Platonische Idee ist das Original und der Ursprung des Dinges; sie ist
   das Verständige am Ding, der Vernunftsgrund seines Daseins, das feste unterstüt-
   zende Prinzip, kraft dessen es existiert. Sie ist die dem Ding innewohnende und es
   zum Guten bestimmende Kraft, sein Ideal, seine Vollendung.“
Nach dieser Lehre wird die Erscheinungswelt, also die Erfahrungswelt oder Sinnen-
welt, überragt von einer übersinnlichen Welt der Ideen. Diese Ideen bedeuten die
allein wirklichen, vollkommenen, ewigen und unveränderlichen Urbilder der Dinge.
Der Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Augsburg,
Klaus Mainzer, erläutert 1996:
   „So wie die Säule eines griechischen Tempels nur ein unvollkommenes Abbild der
   geometrischen Idealform eines Zylinders ist, so kann ein gerechter Politiker oder
   tapferer Soldat nur ein unvollkommenes Abbild der Idee der Gerechtigkeit oder
   Tapferkeit sein.“
Platon                                                                                  291

Die höchste Idee, die Idee des Guten setzt Platon Gott gleich. Er fasste ihn auch als
Weltbaumeister auf, der durch Maß und Zahl aus dem Chaos den Kosmos formt.
Unter den Wissenschaftlern ist umstritten, ob die Ideenlehre mehr von Sokrates oder
von Platon stammt. Bertrand Russel schreibt:
   „Daß sie (die Ideenlehre) nicht Platons eigene Ansicht, auf jeden Fall nicht in seiner
   späteren, reiferen Zeit war, dafür bürgt die Tatsache, daß die Ideenlehre in den spä-
   teren Dialogen zuerst abgelehnt wurde und später endgültig verschwindet.“
Platons Lehre wurde entscheidend beeinflusst von den Pythagoreern. So stammt das
den Dialogen des ›Timaios‹ (nach dem sonst unbekannten Pythagoreer Timaios von
Lokri) zugrundeliegende Weltbild in allen wesentlichen Punkten von den Pythago-
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reern. Ihre aprioristische Einstellung wurde ganz offenbar von Platon und der athe-
nischen Akademie übernommen. Auch den Leitgedanken der Ideenlehre hat Platon
von den späten Pythagoreern aufgegriffen. Die Pythagoreer stellten fest, dass man ein
gleichseitiges Dreieck nicht äußerst genau zeichnen kann. Geometrisch-
mathematische Beweise könne man daher an ihm nicht absolut genau durchführen.
Ein solches genaues Dreieck kann man sich nur vorstellen. Jede ausgeführte Zeich-
nung kann daher nur ein mehr oder weniger getreues Abbild des geistigen Vorbilds,
also der Idee, sein.
Die Ideenlehre wiederholt die Struktur des traditionellen griechischen Götterbegriffs,
wie Nikolaus Himmelmann es 1996 ausdrückt. Sie hat eine religiöse Wurzel. Die
Selbstdarstellung der Götter und die sich ewig selbst gleich bleibenden Ideen Platons
sind in beiden Fällen wirkende Urbilder.
Die Akademie in Athen gehörte jedoch nicht formal der Pythagoreischen Schule an.
Im Gegenteil, sie war ängstlich bemüht, ihre Abhängigkeit zu verschleiern, um ihre
eigene Originalität besser herauszustellen. Die Akademie setzte sich ebenfalls mit der
Pythagoreischen Zahlenlehre auseinander. Sie revidierte die Zahlenfolge, indem sie als
Beginn der Zahlenreihe die Null statt der Einheit anerkannte. Die mathematischen
Formen bestimmten nicht nur die Problemstellung der Philosophie Platons, sondern
auch seine Denkmethode. Dies ist vergleichbar mit Menschen, die sich lebenslang
mit den Naturwissenschaften beschäftigen. Die Naturwissenschaften beeinflussen
nicht nur die von ihnen entwickelten Modelle zu naturwissenschaftlichen Problemen,
sondern auch ihre gesamte Denkweise.
Ein gutes Beispiel dafür ist Platons Werk ›Staat‹. Es hat die politische Erziehung durch
Mathematik zum Inhalt. Platons ›Staat‹ ist sicher die am sorgfältigsten ausgearbeitete
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Monographie, die je über die Gerechtigkeit geschrieben wurde . In diesem Werk
entwickelt Platon eine Theorie der Gesellschaft. Die praktische Umgestaltung seiner
sozialpolitischen Ideale erfolgte im umfangreichsten und spätesten Werk Platons,
›Gesetze‹. Sie könnten im realen griechischen Leben verwirklicht werden. Nach die-
sen Gesetzen wären allerdings freies Denken, Kritik politischer Institutionen, die
Mitteilung neuer Ideen an die junge Generation, Versuche, neue religiöse Praktiken
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oder sogar neue Glaubensansichten ein todeswürdiges Verbrechen .
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Platons Grundgedanke seiner Ideenlehre war, dass die Dinge, die wir wahrnehmen,
nur unvollkommene Abbilder der Ideen sind. Diese existieren in einer übersinnlichen
Welt und sind dem menschlichen Denken nur annähernd zugänglich. Wegen dieses
philosophischen Ansatzes lehnte Platon mechanische Entdeckungen und Anwendung
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der Mathematik auf Physik und Technik ab. Sie trüben die Ideenschau. Er verlangte,
dass geometrische Beweise, nach alter Vorschrift, nur mit Hilfe von Lineal und Zirkel
ausgeführt werden sollten. Diese Methode musste auf die elementare und ebenfalls
fortgeschrittene Geometrie soweit wie möglich angewandt werden. Natürlich wusste
auch Platon, dass sich bestimmte Konstruktionen durch Verwendung komplizierterer
Geräte vereinfachen ließen. Er kannte sogar Konstruktionen, die sich nur mit Hilfe
dieser Geräte durchführen ließen und nicht mit Zirkel und Lineal. Aber Platon meinte,
je einfacher die für Konstruktionen benutzten Geräte seien und je weniger man von
ihnen verwendete, umso stärker sei die Annäherung an das Ideal. Diese Lineal-und-
Zirkel-Vorschrift und Platons große Bedeutung für das kommende abendländische
Mittelalter hat den Fortschritt der Mathematik sicher erheblich abgebremst. Aus Sicht
der Mathematik ist Platon heute ohne Wohlwollen zu betrachten. Der große englische
Logiker des 19. Jahrhunderts, Professor in Cambridge und London, Augustus de Mor-
gan, (1806–1871) macht eine sarkastische Bemerkung über die Worte, die über dem
Tor der Akademie Platons gestanden haben soll: ›Lasst niemand eintreten, der nicht
der Geometrie kundig ist.‹ Morgan meint,
   „daß dieses Wort genauso wenig bedeutet, daß man drinnen (in der Akademie) et-
   was von Geometrie verstände, wie ‚die Warnung, die Brotpakete nicht zu vergessen
   … ein gutes Abendessen bedeutet’.“
Die Platonische Schule war für die Naturwissenschaft ein ausgesprochenes Unglück.
So schreibt John D. Barrow:
   „Sie – die Platon’sche Schule – bewirkte eine vollständige Trennung von Theorie
   und Beobachtung. Kein Handwerker konnte je ein neues Gerät erfinden, weil er
   warten mußte, bis die Götter die vollkommene Idee geschaffen hatten, auf der es
   beruhen würde. Erfindern wurde in der Vergangenheit gesagt, sie hätten nur die
   Vorlagen der Götter kopiert. Neue Erfindungen mußten auf eine Art göttlicher Ini-
   tiative warten, als ob die Götter Ideen freigeben mußten, bevor Menschen sie haben
   durften. Der Gedanke, daß sich Naturphilosophie unter dem Gesichtspunkt mate-
   riellen Vorteils oder zur Ersparnis der Arbeit betreiben ließe und nicht nur Teil der
   reinen Suche nach der letzten Wahrheit sei, wäre für die Schule Platons unannehm-
   bar gewesen. Nicht nur war ihm aufgrund der vorherrschenden Vorurteile gegen
   die manuelle Arbeit auch die Idee der Technik und des Experiments verhaßt, son-
   dern es wurde jetzt behauptet, es gebe keine direkten Hinweise darauf, daß sich die
   Struktur und das Wirken der Natur in der sinnlichen Wahrnehmung finden ließen.“
Platons Ideenlehre lässt Beobachtungen der Natur nicht zu und erst recht nicht das
Experiment, weil, wie man glaubt, die Natur nur wirklich erfasst werden kann, wenn
man sie in ihrem ursprünglichen, eigenen Verhalten belasse. Weil das Experiment
unter künstlichen Umständen erfolgt, sei es wider die Natur. Platons Ideen beschrän-
Platon                                                                                293

ken sich nicht darauf, nur die Beobachtung der Natur nicht besonders zu betonen. Sie
lehnen sie eindeutig ab, weil
   „sie ein irreführender und vollkommener Führer zu jener wahren Natur der Dinge
   sei, die sich nur durch reines Nachdenken finden läßt“.
Platon hat immer wieder gesagt, wie wenig die Erfahrung eine Quelle des Wissens sei.
Ein weiterer Gesichtspunkt spielt bei Platon und auch bei Aristoteles eine wichtige
Rolle, wenn Platon im ›Timaios‹ feststellt:
   „Etwas durch Experiment ausprobieren heißt, den Unterschied zwischen Mensch
   und Gott verkennen; denn nur der Gott hat die zulängliche Einsicht, der Mensch
   kann nichts vollbringen.“
Platon akzeptierte Technik nur, sofern es sich um ›technische Spielerei‹ oder um An-
wendung in Handwerk und Medizin handelt. Komplizierte mechanische Erfindungen
dienten häufig kultischen Zwecken oder als Spielerei der Unterhaltung der Reichen
und Mächtigen. Zu nennen wären da Weihwasserautomaten im Tempel, sich selbst-
entzündende Altarfeuer durch geschicktes Ausnutzen mechanischer, hydraulischer
und pneumatischer Prinzipien, sich selbsttätig öffnende Tempeltüren und Automa-
tentheater. Die Technik in der griechischen Antike existierte niemals losgelöst von
den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Sie war immer integriert in die grie-
chische Gesellschaft. In Anlehnung an den Begriff ›Philosophie‹ (Liebe zum Wissen)
prägte Platon den Begriff ›Philotechnie‹ (Liebe zur Technik). Den Begriff ›Technik‹ in
deutscher Wortform gibt es erst seit 1822. Die Berücksichtigung von Erfahrungstatsa-
chen und die Analyse künstlich erzeugter Bewegungsvorgänge lag der antiken Natur-
philosophie fern. Man beschränkte sich auf statische Vorgänge wie Gleichgewicht,
hydrostatischer Auftrieb und Hebelwirkung. Die experimentelle Methode wurde wohl
auch deshalb nicht entwickelt, weil es noch keine ernstzunehmende Technologie gab,
die notwendig für experimentelle Forschung gewesen wäre. Diese hatte sich jedoch
noch nicht entwickelt, weil es dazu keine Notwendigkeit gab. Die menschliche Ar-
beitskraft war billig und es gab viele Sklaven. Die erzwungene körperliche Arbeit, um
die biologischen Bedürfnisse des Menschen zu stillen, galt als minderwertig. Sie wur-
                                                                                    299
de deshalb den Sklaven und sozial niedrigstehenden, ungebildeten Handwerkern
überlassen. Herodot (siehe Anmerkung 216) behauptet, dass die Griechen ihre ableh-
nende Haltung dem Handwerk gegenüber von den Barbaren übernommen haben:
   „Ich sehe, daß auch bei den Thrakern, den Skythen, den Persern, den Lydern und
   fast allen anderen Barbaren die Handwerker und ihre Abkömmlinge in geringerer
   Achtung stehen als die übrigen Bürger. Wer von körperlicher Arbeit befreit ist, gilt
   für edler, namentlich, wer sich der Kriegskunst widmet. Das haben sämtliche Hel-
   lenenstämme übernommen, am meisten die Lakedaimonier. Am wenigsten verach-
   tet sind die Handwerke in Korinth.“
Jakob Burckhardt (siehe Anmerkung 94) gibt Gründe für die Verachtung der körperli-
chen Arbeit an:
• Die Arbeit um Geld,
294                                                 Erste Anfänge der Naturwissenschaften

• die sitzende, am Schatten geschehende, den Leib verunedelnde Arbeit ist übel
  angesehen.
  Die erste ist illiberal und die zweite banausisch.
Aristoteles meinte, dass alle Handwerke banausisch sind, weil sie den Körper in
schlechte Verfassung bringen. Nur dem Zeichnen räumte er einen würdigen Platz
neben sprachlicher und musischer Erziehung ein. Zeichnen benötige man zur Kon-
trolle der Leistungen der Handwerker. Die Handwerker und Kleinhändler sind in der
von Aristoteles skizzierten idealen Polis ausgeschlossen, obwohl diese ohne ihre Tä-
tigkeit nicht existieren konnte. Aber auch Archimedes schämte sich, nach Plutarch
Bücher über den Bau von Maschinen zu schreiben. Als Gegenbewegung gegen diese
geringe Achtung in der griechischen Gesellschaft überzeichneten die Handwerker in
ihrer Selbstdarstellung drastisch und bekannten sich nicht zu ihrem Status. In den
Jahrhunderten vor Platon hatte der Handwerker in der Athener Gesellschaft nach
Plutarch ein höheres Ansehen und Ehre (durch Solon, siehe Anmerkungen 161 und
162) als zur Zeit Platons und später. Dies könnte der Grund dafür sein, dass trotz ho-
her intellektueller Leistungen keine größeren Versuche zur Technisierung, zur Ent-
wicklung einer Technologie, unternommen wurden. Um 100 v. u. Ztr. gelang es He-
                    300
ron von Alexandria durch geschicktes Ausnutzen mechanischer, hydraulischer und
pneumatischer Prinzipe überraschende Effekte zu erzielen. So z. B. ein sich selbst
entzündendes Altarfeuer u. a. Aber es spielte sich alles noch im Rahmen des Probie-
rens ab. Es ging dabei nicht um die Ergründung irgendwelcher Naturgesetze, sondern
allein um den gewünschten Effekt. Griechische Kenntnisse der Maschinenkunde
erläutert der römische Festungsbaumeister im 1. Jahrhundert v. u. Ztr., Polio Marcus
Vitruvius, in seinem mehrbändigen Werk ›De architectura‹. Rainer Sennewald schreibt
in ›Geschichte der Technikwissenschaften‹, herausgegeben von Gisela Buchheim und
Rolf Sonnemann:
   „Da die Gelehrten im allgemeinen die Handarbeit verachteten, kam es nur zufällig
   und vereinzelt zu einer Verknüpfung von empirischen und theoretischen Kenntnis-
   sen. Die Hauptfunktion des theoretischen Wissens bestand zunächst darin, dem auf
   Götterglauben basierenden Weltbild ein naturphilosophisches entgegenzusetzen,
   das in der Naturbeobachtung seine Quelle hat. Diese Funktion war nur durch
   ganzheitliche Betrachtungen und Beschreibung allgemeiner Zusammenhänge der
   Natur zu erfüllen. Die technischen Detailkenntnisse erwiesen sich als ungeeignet,
   und der niedrige Entwicklungsstand der Produktivkräfte förderte die Verknüpfung
   nicht. Auch wenn das theoretische Weltbild in der griechischen Antike noch mit
   mystischen Vorstellungen durchwirkt war, führte die geistige Auseinandersetzung
   mit der Natur zu beachtlichen Abstraktionen.“
In der griechischen Gesellschaft existierten zwei verschiedene soziale Welten neben-
einander: Die Welt der reichen Oberschicht, die Handarbeit verachtete, und die der
Handwerker, die stolz auf ihre Fähigkeiten, ihren Fleiß und ihren bescheidenen
Wohlstand waren.
Platon                                                                                  295

Erst das beginnende Christentum setzte der antiken Soziallehre eine neue Arbeits-
ethik entgegen und gab der Handarbeit eine positive Orientierung. So waren z. B. die
Apostel keine freischaffenden Intellektuellen, sondern Handwerker.
Später betätigte sich der enzyklopädische Schriftsteller und Erzbischof von Sevilla,
Isidor von Sevilla (560/70–636), als Mittler zwischen griechischer Antike und Mittelal-
ter. Nach seiner Meinung beruht die ›mechanica‹ sowohl auf Erfahrung als auch auf
Lehre. Sie sei handwerkliches und rationales Prinzip zur Fabrikation von Sachen. Seit
dieser Zeit sprach man von: Mechanik ist Fabrikation.
Es dauerte jedoch bis zum 14. Jahrhundert, dass aus der Probierkunst der Antike eine
Experimentierkunst wurde. Es enstanden die ›nova scientia‹, die neue Wissenschaft,
ein Buchtitel von dem italienischen Mathematiker Niccolò Tartaglia (um 1500–1557),
und 1563 die ›Accademia del Disegno‹ in Florenz, gegründet, das angewandte Wissen
zu pflegen. Erst der Göttinger Professor Johann Beckmann (1739–1811) erhob die
Technologie unter dem Namen ›Handwerkswissenschaften‹ zum Universitätsfach.
Die Höherbewertung der theoretischen Erkenntnis und die Geringschätzung der
praktisch-technischen Tätigkeit hat sich teilweise bis in unsere Zeit erhalten. Bei-
spielsweise hat der theoretische Physiker in der heutigen Gesellschaft ein größeres
Ansehen als der Experimentalphysiker. Unter Geisteswissenschaftlern gibt es ein altes
Vorurteil gegen die ›ungebildeten Techniker und Ingenieure‹. Dieses Vorurteil wird
heute noch auf die gesamte Naturwissenschaft bezogen. Danach sind diese techno-
kratisch auf das Machbare bezogen, ohne nach dem menschlichen Sinn des techni-
schen Fortschritts zu fragen. Ihnen fehlt nach dem Vorurteil der Geisteswissenschaft
das tiefere Problembewusstsein, das sich aus dem Bezug auf die Humanität als ent-
scheidendes Maß menschlicher Bildung ergibt. Es ist teilweise noch heute nur ein
Kavaliersdelikt, wenn man sich als naturwissenschaftlich-technischer Ignorant zeigt.
Es ist in den Medien keine Schande, z. B. den Unterschied zwischen einer elektri-
schen Spannung und dem elektrischen Strom nicht zu wissen, jedoch gilt es als Bil-
dungslücke, wenn man z. B. den Unterschied zwischen den Baustilen der Romanik
und des Barocks nicht kennt.
In der heutigen naturwissenschaftlichen Forschung liefern Beobachtung und Experi-
ment empirische Daten der Natur, die dann in einer Theorie verarbeitet werden. Man
versteht darunter die zusammenfassende Darstellung eines Systems des Wissens über
Erkenntnisgegenstände (z. B. physikalische Messungen). John L. Casti gibt für die
logische Struktur der Wissenschaft folgende Sequenz an:
   „Beobachtungen/Tatsachen → Hypothese → Experiment → Gesetze → Theorie“.
Andererseits ist eine scharfe Abgrenzung zwischen Beobachter und Experiment heute
unhaltbar. Die Frage an die Natur, die wir durch ein Experiment stellen, liefert eine
Anwort. Diese ist aber nicht die Antwort der Natur selbst, sondern die Antwort der
Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist. Der dänische Atomphysiker
Niels Bohr drückt es so aus:
   „… daß wir im Schauspiel des Lebens gleichzeitig Zuschauer und Mitspielende sind.“
296                                                 Erste Anfänge der Naturwissenschaften

Nach heutiger Auffassung lassen sich nach dem Professor für experimentelle Physik
an der Gesamthochschule Essen Dietrich von der Linde die Entstehung und Entwick-
lung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als ein zyklischer Prozess charakterisieren,
der vier wichtige Elemente enthält:
• Das Element der Erfahrung: Durch Beobachtung und Messung wird Erfahrungs-
   material gesammelt. Die sinnliche Wahrnehmung wird durch Instrumente und
   Apparate erweitert und ganz wesentlich verfeinert. Quantitative Beobachtungen,
   d. h. Messungen, sind die Voraussetzung für die Anwendung der Mathematik.
• Das Element der Induktion: Durch Zusammenfassen und Ordnen des empirischen
   Materials werden allgemeine Gesetzmäßigkeiten herausgefiltert und in mathema-
   tischer Form formuliert.
• Das Element der Deduktion: Aus der mathematischen Theorie folgen Aussagen,
   die wiederum experimentell geprüft werden können.
• Das Element der Extrapolation: Die Gesetze, die einen Erfahrungsbereich A be-
   schreiben, werden auf andere Bereiche B, C usw. angewendet.
Theorie heißt eigentlich ›Schau‹, und ›Theoria‹ nannte man die Zuschauerdelegation
einer Stadt zu den heiligen Spielen in Olympia.
Die Werke Platons haben nicht zufälligerweise die Form von Gesprächen, wie man sie
im Leben vorfindet. Das Gespräch zeigt die innere Bewegung des Denkens und das
Entstehen eines neuen Gedankens und seine Darstellung.
Unter den bedeutenden Schriften Platons interessiert uns hier nur sein Spätwerk ›Ti-
maios‹, die Schrift über die Gesetze der Naturwissenschaft. Ins Lateinische wurde der
Anfang von Cicero (siehe Anmerkung 364) übersetzt. Einen Kommentar fertigte ein
Haupt der Platonischen Akademie, Proklos (411–485; er schrieb das so genannte Ma-
thematikerverzeichnis), an. Eine kommentierte Teilübersetzung stammt von dem
christlichen Neuplatoniker Chalkidios (4./5. Jahrhundert). In diesem Spätwerk legte
Platon seine Kosmologie dar. Es war nicht als wissenschaftliche Studie gedacht, son-
dern vielmehr als eine naturphilosophische Vision des beinahe siebzigjährigen Platon.
Dazu hat er alle Erkenntnisse der Vorsokratiker verarbeitet. Andererseits fallen dem
Naturwissenschaftler mehr die Fülle an sorgfältigen Beobachtungen von Naturvor-
gängen als die Reflexionen darüber auf. Platon hat sich auch hier in allen Hauptsa-
chen den kosmozentrischen Konsequenzen der Pythagoreer angeschlossen, denn er
war eigentlich kein Astronom, sondern Philosoph und Dichter. Daher heißt diese
Schrift, in der er sein geozentrisches System entwickelt hat, ›Timaios‹, nach einem
sonst unbekanntem Pythagoreischen Philosophen – Timaios von Lokri. Wolfram Win-
nenburg schreibt:
   „Während man die Pythagoreische Kosmologie als ›arithmetische‹ Naturanschauung
   bezeichnen kann, wird das von Platon angeregte Weltmodell stark von einer geo-
   metrischen Theorie geprägt. Man kam zu der Ansicht, daß die Zahlen wohl doch zu
   allgemein oder zu abstrakt seien, um die universelle Grundlage aller Dinge zu bil-
   den, daß man aber vielleicht auf dem Wege über geometrische Figuren und Mo-
   dellbilder eher Einsichten in den Kosmos gewinnen könnte.“
Platon                                                                               297

Die Grundlage für Platons Harmonie des Makrokosmos und Mikrokosmos war die
Pythagoreische Zahlenspekulation. Aufgrund eines schon erwähnten Skandals hat
Platon drei Manuskriptrollen von einem Pythagoreer (vermutlich Philolaos) aufgekauft
und sie als seine eigenen ausgegeben. Man muss davon ausgehen, dass er diese in
seiner Schrift Timaios verarbeitet hat. Die Überlieferung schreibt Platon den Plan zu,
Demokrits Schriften zu verbrennen (offensichtlich um ihre Verbreitung zu verhindern).
Das gesamte literarische Werk Platons hat man als einen einzigen großen Dialog mit
Demokrit bezeichnet. Auch hat Platon Thesen der Vorsokratiker benutzt, ohne ihren
Namen zu nennen, so dass beim Leser der Eindruck entsteht, diese seien von ihm. Er
pflegte auf naturphilosophische Schriften anderer Autoren nur verschleiert anzuspie-
len. So verschmähte er es nicht, Teile der Demokritischen Philosophie aufzugreifen,
falls sie sich seiner idealistischen Gesamtkonzeption anpassen ließen. Keinesfalls als
Zufall kann gelten, dass Platon, als er sich über den Aufbau der materiellen Welt äu-
ßert, die Welt nach Demokritischer Manier aus Ur-Partikeln zusammengesetzt sein
lässt. Platon hat Demokrit namentlich nie genannt,
   „wohl weniger aus Feindschaft und Neid als aus Verlegenheit vor diesem großen
   Könner, der eine ihm völlig entgegengesetzte Welt- und Lebensanschauung ver-
   trat“,
wie Sandvoss schreibt.
In seinem Werk ›Timaios‹ hat Platon eine Darstellung vom Ursprung der Arten, eine
Art Schöpfungstheorie im Gegensatz zu den aus heutiger Sicht sinnvolleren evolutio-
nären Entwicklungsperioden Anaximanders (siehe Anaximander) gegeben: Der
Mensch, das höchste unter den Lebewesen, ist von den Göttern geschaffen worden;
die übrigen Arten entstehen aus ihm durch einen Prozess des Verfalls und der Dege-
neration. Zunächst entarten gewisse Männer, die Feiglinge und Bösewichte; aus ih-
nen werden die Weiber. Jene, denen es an Weisheit mangelt, entarten gleichfalls und
verwandeln sich Schritt für Schritt in niedere Tiere. Vögel entstehen durch die Trans-
formation von harmlosen, aber allzu leichtlebigen Menschen, von Menschen, die auf
ihre Sinne zu großes Gewicht legen;
   „das Geschlecht der Landtiere entsteht aus jenen, die an der Philosophie kein Inte-
   resse hatten“;
und Fische, Schellfisch eingeschlossen,
   „entstehen aus allerunverständigsten und dümmsten“,
aus Menschen
   „der äußersten Unwissenheit“.
Diese Schöpfungstheorie hatte den größten negativen Einfluss auf das evolutionäre
Denken von der Antike bis in die heutige Zeit (siehe Anmerkung 44). Eine evolutio-
näre Theorie geht immer vom Wandel aus. Der pythagoreische Platon jedoch trat für
eine aus der Mathematik abgeleitete unveränderliche universelle Realität ein. Seine
298                                                Erste Anfänge der Naturwissenschaften

biologischen Vorstellungen folgten einer theoretischen Metaphysik und weniger einer
empirischen Naturwissenschaft.
                                                                   301
Folgende metaphysische Vorstellungen waren nach Robert J. Berry für die Entwick-
lung einer Biologie nach Platon besonders folgenschwer:
• Die Welt, in der wir leben, besteht aus einer begrenzten Zahl von festen und un-
                                                         302
   veränderlichen Formen, den so genannten Essenzen . Eine Veränderung kann
   nur das Ergebnis unvollkommener Essenzen sein.
• Der Kosmos besteht aus einem harmonischen Ganzen. Eine Änderung würde die
   Harmonie stören.
• Die oberste Idee ist die einer schöpferischen Kraft, sie wird als Demiurg be-
                                                                              303

   zeichnet. Er bildet zuerst nach den Gesetzen der Harmonie die Weltseele. Das
   Christentum übernahm die Vorstellung des Demiurgen (von den Hebräern im
   Alten Testament; Verf.) und machte ihn zu ihrem Schöpfergott. Diese Vorstellung
   führte in der christlichen Tradition zu der Annahme, dass es die Hauptaufgabe der
   Philosophie sei, den Plan des Schöpfers zu erkennen.
• Als nichtmaterielle Größe wurde die Seele eingeführt. Dies hat dazu geführt, dass
   die Menschen und ihre Seele nicht durch den Prozess einer Evolution entstanden
   sein können.
Der Philosoph Werner Jaeger schreibt 1953:
   „Der orphische Seelenglaube (siehe Anmerkung 96; Verf.) ist die geschichtliche
   Vorstufe der Platonischen Lehre von der Seele und hat dem Philosophen nicht ohne
   Grund als Quelle des symbolischen und mythischen Elements in der sinnlich-
   poetischen Darstellung seiner Seelenmetaphysik gedient.“
Die wesentlichen Merkmale des Platonischen Weltbildes sind nach van der Waerden
(siehe Anmerkung 306) folgende:
• Der Kosmos ist ein lebendes, beseeltes Wesen.
• Der Kosmos ist ein geordnetes Ganzes, in dem jeder Teil seine Aufgabe zu erfül-
    len hat.
• Dieses Ganze wird von mathematischen Gesetzen beherrscht.
• Die Erde ist kugelförmig.
• Sie schwebt frei in der Mitte.
• Der ganze Himmel dreht sich nach rechts um eine Achse, die durch die Erde hin-
    durchgeht.
• Die Sonne, der Mond und die Planeten drehen sich außerdem nach links in Krei-
    sen, die zum Kreis der ersten, allen gemeinsamen Bewegung schief liegen, aber
    von dieser Bewegung mitgenommen werden.
• Sie haben verschiedene Entfernungen von der Erde.
• Ihre Reihenfolge ist von der Erde aus: Mond, Sonne, Venus, Merkur, Mars, Jupiter
    und Saturn; dann kommen die Fixsterne.
• Ihre Umlaufzeiten verhalten sich wie ganze Zahlen.
• Es gibt ein gemeinsames Vielfaches aller Umlaufzeiten, das ›große Jahr‹, nach
    dessen Ablauf alle Planeten wieder genau an derselben Stelle stehen.
Platon                                                                                299

• Jeder von ihnen erzeugt bei der Bewegung ein Ton, und diese Töne bilden eine
  Harmonie (d. h. eine wohlgeordnete Tonleiter).
Die Kugelförmigkeit der Erde war für Platon eher ein philosophisches als ein natur-
wissenschaftliches Problem. Die Kugel war für ihn der vollkommenste geometrische
Körper.
Diese Platonische Kosmologie besagt, dass nach bestimmten Gesetzen sich auf acht
         304
Sphären , d.h. unsichtbaren Hohlkugeln, die Himmelskörper um die kugelförmige
Erde drehen. Diese Sphären haben gewisse Dicken oder Breiten, so dass man davon
ausgehen kann, dass innerhalb dieser Breiten die Gestirne eine Epizykelbewegung
durchlaufen, denn Platon kannte die primitive Epizykelhypothese (siehe Pythagoreer).
Die erste Sphäre ist die der Fixsterne, dann folgen die von Saturn, Jupiter, Mars, Mer-
kur, Venus, Sonne und Mond. Sie bewegen sich auf Kreisen mit gleichförmiger Win-
kelgeschwindigkeit (Platonisches Axiom) nach rechts. Die Planetenbewegungen erhal-
ten nach Platon ihre Bahn und ihre Umlaufszeiten einem göttlichen Plan entspre-
chend zugewiesen. Platon heftete die Gestirne an feste Träger, was einen Rückschritt
gegenüber den Pythagoreern darstellt, weil diese sich die Sterne frei im Raum schwe-
bend dachten. Man kann wohl davon ausgehen, dass das religiöse Vorurteil für dieses
Modell vorherrschend war. Diese Denkrichtung Platons führt somit zum ›ehernen
Himmel‹ Homers zurück, also zu einer stofflich gedachten Himmelskugel, an welcher
die Fixsterne befestigt sind. Plutarch (siehe Anmerkung 115) erwähnt in seiner Schrift
›Leben Numa’s‹, dass Platon im Alter sich die Erde nicht mehr im Mittelpunkt der
Welt vorgestellt haben soll, denn der mittelste und einflussreichste Platz gehörte ei-
nem größerem Weltkörper! Sollte Plutarch Recht haben, dann wäre dieser Sinnes-
wandel auf den Einfluss der jüngeren Pythagoreer zurückzuführen. Im Kosmos sieht
Platon einen lebenden, vernunftbegabten, beseelten Organismus. Ein zentraler Begriff
ist bei ihm die Ordnung der Himmelserscheinungen. Er wandte sich entschieden
gegen die materielle Beschaffenheit der Sterne. Die Himmelskörper sind Götter mit
eigener Seele (Platon-Aristotelische Astraltheologie, Anmerkung 211).
Platon schreibt:
   „… daß sich die Gestirne, wenn sie unbeseelt wären, niemals nach diesen in ihrer
   Genauigkeit so bewundernswerten Berechnungen bewegen können, weil sie ja kei-
   ne Einsicht besäßen.“
Hier wird von Platon ein Zusammenhang zwischen Astronomie und Sternreligion
hergestellt. Der Physiker und Philosoph Kurt Hübner (geb. 1921) meint dazu:
   „Wo immer (die Ordnung der Himmelserscheinungen nach dem Platonischen Axi-
   om) nicht voll gelang, lag in den angenommenen Prämissen bereits die Erklärung
   bereit: Denn wer konnte wagen, der Wahrnehmung blindes Vertrauen zu schen-
   ken? Erst recht dort, wo sie sich auf so entfernte, so erhabene Objekte wie diejeni-
   gen des Himmels bezog? Sie mochte für den sublunaren Bereich mehr oder weni-
   ger Geltung besitzen; für die Bewegungen der Gestirne hatten sie keine endgültige
   Kompetenz.“
300                                                 Erste Anfänge der Naturwissenschaften

Die äußerste Sphäre der Platonischen Kosmologie wird durch ein Verlangen nach
Vollkommenheit, also durch die Liebe, in Bewegung gesetzt. Für Platon ist dieses
Liebesverlangen von Gott als erstem Beweger (Demiurg) eingegeben. Dieser Demi-
urg hat in Platons Vorstellungen über die Schöpfung der Welt alles, was in der Realität
existiert, in seinem Denken vorweggenommen. Der Platonische Demiurg kommt der
christlichen Schöpfungsvorstellung am nächsten. Für die Platonische Schule waren die
Begriffe von Realität und Idee genau umgekehrt zum heutigen Sprachgebrauch. Für
die Platoniker war die göttliche Idee, die den materiellen Erscheinungen zugrunde
liegen sollte, real. Die Materie konnte mehr oder weniger nur die Realität abbilden.
Für Platon war die materielle Welt nur ein unvollkommenes Abbild der ›himmlischen‹
Realität. Es scheint, dass kein Grieche vor Platon den Gedanken eines Schöpfers der
Welt als einen monotheistischen Gottesbegriff ausgesprochen hat. Die Griechen
glaubten bisher nicht an einen Weltschöpfer. Für sie galt: Welt war immer und wird
immer sein. Platons Schüler haben seine Lehre als neue religiöse Offenbarung ver-
standen. Aratos von Soloi (ca. 310–245 v. u. Ztr.) hat in einem astronomischen Lehr-
gedicht (Phainomena) die religiös gedeutete Platonische Astronomie dichterisch dar-
gestellt. Lateinische Übersetzungen bestimmten weitgehend die astronomischen
Kenntnisse des Mittelalters.
In Platons Alterswerk ›Die Gesetze‹ gibt es nach van der Waerden (siehe Anmerkung
306) folgende Stelle:
   „Die Lehre über den Mond und die Sonne und die übrigen Gestirne, … ist nicht
   richtig, sondern es verhält sich damit gerade umgekehrt: jedes dieser Gestirne be-
   schreibt immer denselben Weg, nicht viele, sondern immer einen im Kreis, es
   scheint aber so, als beschriebe es viele.“
Hiermit widerspricht er im Alter allen Vorstellungen, die er bisher im ›Timaios‹ und
im ›Staat‹ entwickelt hatte. Ein astronomisches System, welches dem Platonischen
Text entspricht, wäre dann Folgendes: Die Sonne bewegt sich auf einem inneren
Kreis. Anschließend folgen nach außen auf Kreisbahnen Merkur, Venus, Erde, Mars,
Jupiter und Saturn. Der Mond umläuft die Erde auf einer Kreisbahn. Die Sonne steht
immer der Erde gegenüber und erscheint dann von dieser aus gesehen im Mittel-
punkt der Erdbahn zu stehen. Das Interessante ist, dass man in diesem System, wel-
ches wohl von dem Astronomen Herakleides Pontikus stammt, den Radius der inners-
ten Bahn, also der Sonnenbahn, ohne weiteres gleich null setzen kann. Man erhält
auf diese Weise das heliozentrische System des Aristarch von Samos. Man könnte
damit sagen, dass Platon im Alter ein heliozentrisches System vertreten hat?
Platon hat ebenfalls eine Theorie der Materie entworfen. Seine Konstruktion der Ma-
terie wird geleitet von dem Gesichtspunkt der Schönheit und Ordnung, von dem der
Gleichheit. Für diese Konstruktion benutzte er den Nachweis des Mathematikers
Theaitetos (415/413–369 v. u. Ztr.), dass es fünf regelmäßige Polyeder gibt. Nach Eu-
klid versteht man darunter eine Figur,
   „die von untereinander gleichen, gleichseitigen und gleichwinkligen Flächen um-
   faßt wird.“
Platon                                                                            301

Platon setzte nun der Atomlehre Demokrits eine eigene (in Anlehnung an die Pythago-
reer), aus diesen mathematischen Elementen aufgebaute Atomlehre entgegen. Er geht
von zwei rechtwinkligen Grunddreiecken aus, die gelegentlich als Elemente bezeich-
net werden. Es sind das rechtwinklig gleichschenklige und das halbierte gleichseitige
                                                            305
Dreieck. Er bezeichnet sie als die schönsten aller Dreiecke . Aus dem gleichseitigen
Dreieck bildet er aus je vier Flächen das Tetraeder, aus je acht das Oktaeder und aus
je 20 das Ikosaeder. Aus dem rechtwinklig gleichschenkligen Dreieck macht er, zu
einem Quadrat verdoppelt, den Kubus und einen fünften regelmäßigen Körper, das
Dodekaeder. Seine fünfeckigen Flächen ließen sich jedoch nicht auf rechtwinklige
Dreiecke zurückführen.
Die gewagte Spekulation, deren Fragwürdigkeit Platon selbst erkennt, besteht nun
darin, dass er diese vier mathematischen Körper den vier Empedokleischen Elementen
– Feuer, Luft, Erde und Wasser – (die Platon durch Vermittlung des Empedoklesschü-
lers, des Arztes Philistion von Syrakus, von den Pythagoreern übernommen hat) auf-
grund recht äußerlicher Anzeichen zuordnet. Er macht sie zu den Grundbausteinen
der Materie: Das Tetraeder (Vierflächner) dem Feuer, das Oktaeder (Achtflächner) der
Luft, das Ikosaeder (Zwanzigflächner) dem Wasser und der Kubus (Sechsflächner) der
Erde. Platon unterscheidet die vier Elemente, indem er ihnen drei Eigenschaften zu-
schreibt: dem Feuer Schärfe, Dünnheit und Bewegung, der Erde Dunkelheit, Dicht-
heit und Ruhe. Entsprechend dieser Eigenschaften sind die Elemente einander entge-
gengesetzt. Die beiden übrigen Elemente haben die Eigenschaften in einer Misch-
form: Die Luft hat vom Feuer die Dünnheit und die Bewegung und von der Erde die
Dunkelheit. Das Wasser hat zwei Eigenschaften von der Erde, die Dunkelheit und
Dichtheit, und die Bewegung vom Feuer. Das Feuer ist um das Doppelte dünner, um
das Dreifache beweglicher und um das Vierfache schärfer als die Luft. Die Luft ist um
das Doppelte schärfer, um das Dreifache dünner und um das Vierfache beweglicher
als das Wasser. Das Wasser ist um das Doppelte schärfer, um das Dreifache dünner
und um das Vierfache beweglicher als die Erde. Nach Platon und später auch Aristote-
les ist der Äther, also das fünfte Element (Dodekaeder), der Bereich des Göttlichen
(siehe Platon-Aristotelische Astraltheologie). Das Dodekaeder habe
   „Gott für das All verwendet, um es mit Figuren auszustatten“.

Es sind dies die so genannten Platonischen Körper (siehe grafische Darstellung von
links: Feuer, Erde, Luft, Äther und Wasser nach Kepler). Eine Leere gibt es in der Pla-
tonischen Atomwelt nicht. Ebenfalls hat Platon die Geometrie der Kugel benutzt, um
eine magische Erklärung vom Ursprung des Menschen zu entwickeln:
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