LE FOND DE L'AIR EST ROUGE (1977) - DAS BILD ZWISCHEN SINNLICHKEIT UND SINN - Brill

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5. LE FOND DE L’AIR EST ROUGE (1977) –
       DAS BILD ZWISCHEN SINNLICHKEIT UND SINN

           5.1 Szenen aus dem Dritten Weltkrieg, 1967-19771
In Le Fond de l’air est rouge thematisiert Chris Marker erneut einen Dritten Welt-
krieg, der jedoch keine dystopische Zukunftsvision wie noch in La Jetée (1962) ist,
sondern bereits Geschichte: die politischen Unruhen, die sich in der vorangegange-
nen Dekade in den verschiedensten Teilen der Welt ereignet haben. Dieses Thema
entwickelt der Film anhand von Archivmaterial in der Fassung von 1977 über eine
Dauer von vier Stunden, in zwei Sektionen von je zwei Stunden unterteilt,2 die
„Les mains fragiles“3 und „Les mains coupées“ überschrieben sind. Letztere Formu-

  1 So lautet der Untertitel des im Verlag von François Maspero publizierten Buchs zum Film:
    Le Fond de l’air est rouge. Scènes de la troisième guerre mondiale, 1967-1977. Textes et descripti-
    on d’un film de Chris. Marker, 1978. Der Titel ist eine Umformulierung der französischen
    Redewendung „le fond de l’air est frais“, die ausdrückt, dass an vermeintlich warmen
    Frühsommertagen die Luft immer noch kühl ist. Siehe dazu Ursula Langmann, „Das ge-
    träumte Geschichtsbuch“, in: CICIM, Nr. 8: Sonderheft „Chris. Marker“ (Juli 1984),
    S. 4-68, hier: S. 11 f. Im Deutschen wird er als Rot ist die blaue Luft, Der Rücken des Himmels
    ist rot oder Rot liegt in der Luft wiedergegeben, während der englische Titel A Grin Without a
    Cat lautet, Lewis Carrolls Alice im Wunderland entlehnt.
  2 Von Le Fond de l’air est rouge existieren mehrere spätere, auf drei Stunden verkürzte Fassun-
    gen. Eine erste wurde 1988 für das englische Fernsehen erstellt, als „internationale Version“,
    der 1993 ein abschließender Kommentar hinzugefügt wurde, laut Vincent Bonin, „Les ar-
    chives de Chris Marker, les archives des autres“, in: André Habib; Viva Paci (Hg.), Chris
    Marker et l’imprimerie du regard, Paris 2008, S. 179-196, hier: S. 187, Fußn. 24, für den
    Vertrieb in den USA. Diese Daten nennt auch ein französischsprachiger Prolog, der einer
    1996 ausgestrahlten deutschen TV-Fassung vorangestellt ist. Eine weitere Überarbeitung
    wurde 1997 vorgenommen, nach Catherine Lupton, Chris Marker. Memories of the Future,
    London 2005, S. 227, Endn. 1 (zu S. 109), für eine Retrospektive in der Cinémathèque
    Française im Februar 1998. Auf dieser Version basiert vermutlich die DVD-Edition Chris
    Marker: Le Fond de l’air est rouge, ARTE/ISKRA/Ina 2008: Zwar wird im Abspann das Jahr
    2008 angeführt, doch verweisen zwei Fußnoten im Begleitheft lediglich auf eine Kürzung
    1998. Grundlage der folgenden Ausführungen ist der vierstündige Film von 1977. Ein Ver-
    gleich der verschiedenen Fassungen kann hier nicht vorgenommen werden, signifikante Än-
    derungen in den im Text behandelten Stellen in der internationalen Fassung von 1993 (in
    der deutschsprachigen Version) und derjenigen auf der DVD von 2008 werden jedoch je-
    weils vermerkt.
  3 Es handelt sich um ein Zitat aus einem Slogan, der in der Mitte der ersten Hälfte des Films
    auf einem Banner in den Aufnahmen eines Demonstrationszugs im Mai 1968 zu lesen ist:
    „LES OUVRIERS – PRENDRONT – DES MAINS FRAGILES – DES ÉTUDIANTS –

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lierung verbindet Guy Hennebelle in seiner Rezension des Films mit dem Schicksal
des chilenischen Musikers Victor Jara, der nach dem Sturz der Regierung Salvador
Allendes durch die Militärjunta hingerichtet wurde:

  Oui, bien fragiles étaient les mains des révolutionnaires qui rêvaient de changer le
  monde dans les années 60. Quand on ne les leur a pas tranchées à coups de machettes
  comme celles de Victor Jara […] sur le stade de Santiago, on les leur a coupées à coups
  de faucilles, ou écrasées à coups de marteaux, plus marxistes-léninistes les uns que les
  autres, comme de bien entendu.4

Die beiden Titel markieren den Aufstieg und Fall der revolutionären Bewegungen
der 1960er und 1970er Jahre: Als Zitat aus einem Spruch, in dem sich der Wunsch
nach einer Solidarisierung zwischen Studenten und Arbeitern kondensiert, signali-
siert der erste die Hoffnungen auf eine mögliche Veränderung der gesellschaftli-
chen Verhältnisse, die damals vielerorts die Menschen zu Protestaktionen zusam-
mengeführt haben. Der zweite hingegen bringt die Ernüchterung der folgenden
Jahre zum Ausdruck, das Scheitern revolutionärer Bestrebungen und das Versan-
den der Protestbewegungen angesichts mangelnder Unterstützung oder des Wider-
stands etablierter politischer Kräfte.
   Im gleichnamigen Buch zum Film sind die beiden Hälften nochmals in einzelne
Stunden unterteilt.5 Deren Überschriften benennen thematische Schwerpunkte,

    LE DRAPEAU – DE LA LUTTE …“ Le Fond de l’air est rouge (Buch), S. 60 (Schreibweise
    des Orig.): „Aus den zerbrechlichen Händen der Studenten werden die Arbeiter die Fahne
    des Kampfes übernehmen.“ Diese und folgende Übersetzungen von Zitaten aus dem Film
    sind, soweit nicht anders vermerkt, dem Kommentar der deutschsprachigen TV-Fassung
    von 1996 entnommen; alle weiteren Übersetzungen aus dem Französischen stammen von
    der Verfasserin.
  4 Guy Hennebelle, „Le Fond de l’air est rouge“, in: Écran, Nr. 64 (15. Dezember 1977), S. 43-
    45, hier: S. 44 (Herv. im Orig.): „Tatsächlich waren sie recht zerbrechlich, die Hände der
    Revolutionäre, die in den 1960er Jahren davon träumten, die Welt zu verändern. Wenn
    man sie ihnen nicht mit Machetenhieben abgeschlagen hat, wie diejenigen von Victor Jara
    […] im Stadion von Santiago de Chile, hat man sie ihnen mit Sicheln abgetrennt oder mit
    Hammerschlägen zertrümmert, die einen marxistisch-leninistischer als die anderen, wie
    selbstverständlich.“ Dem virtuosen Gitarristen Jara wurden vor seiner öffentlichen Hinrich-
    tung die Hände gebrochen oder, einer gängigeren Geschichte zufolge, abgeschlagen.
  5 Im Buch finden sich sämtliche im Film getätigte Äußerungen transkribiert, wobei die fran-
    zösisch untertitelten fremdsprachigen Interviews in Übersetzung wiedergegeben werden.
    Die Publikation enthält keinerlei Bilder; das visuelle Material des Films ist in kurzen Be-
    schreibungen zusammengefasst. Auch Unter- und Zwischentitel sowie die musikalische Ge-
    staltung sind notiert. Darüber hinaus enthält der Band zusätzliche Stellungnahmen, die ihn
    zu einer Art kommentierter Ausgabe des Films machen: In einem Vorwort erläutert Marker
    thematische Ausrichtung, Aufbau und Machart. Dem folgen Zitate und Bemerkungen, die
    Themen und Motive von Le Fond de l’air est rouge aufgreifen (u. a. „Treppe von Odessa“,
    „Macht“, „Frauen“ und „Guerilla“). Damit fügen sich zusätzliche Informationen und Kom-
    mentare zu dem Material, das Le Fond de l’air est rouge versammelt. Dieselben Funktionen
    erfüllen Fußnoten zu den Interviews und Kommentaren wie auch die Bildbeschreibungen.

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SZENEN AUS DEM DRITTEN WELTKRIEG, 1967-1977                                 217

die ein chronologisches Gerüst aufspannen: „Du Viêt-nam à la mort du Che“ (der
Vietnamkrieg als Katalysator für eine Protestbewegung, die 1967 an den amerika-
nischen Universitäten ihren Ausgang nahm, und der Tod Che Guevaras in den
Händen des bolivianischen Militärs im selben Jahr); „Mai 68 et tout ça“ (die Stu-
dentenunruhen und Streiks 1968 in Frankreich); „Du printemps de Prague au Pro-
gramme Commun“ (die Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einzug
sowjetischer Panzer in der tschechoslowakischen Hauptstadt am 21. August 1968
und die Bemühungen der zersplitterten französischen Linken um ein gemeinsames
Programm); „Du Chili à – quoi, au fait?“ (der Sturz der Regierung der Vereinigten
Linken in Chile durch einen Militärputsch im September 1973 und das ungewisse
Erbe jener turbulenten Jahre).6
   Um die angeführten Ereignisse gruppieren sich zahlreiche weitere, etwa Zusam-
menstöße zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften in Irland und Japan
oder der Kampf der Guerilla in Venezuela. Im Hin und Her zwischen verschiede-
nen Orten und Zeiten lässt der Film immer wieder die Uneinigkeit innerhalb der
Linken hervortreten, die Differenzen zwischen der Guerilla und den kommunisti-
schen Parteien (KPs) Lateinamerikas etwa, besonders aber die Auseinandersetzun-
gen zwischen Anhängern verschiedener Gruppierungen in Frankreich. Wiederkeh-
rende Themen, Ereignisse und Figuren verklammern die beiden Hälften und die
einzelnen Stunden und unterwandern so den chronologischen Verlauf, den die Ka-
pitelüberschriften skizzieren, und jene Gegenüberstellung von positiver und nega-
tiver Entwicklung, welche die Sektionstitel suggerieren.

    Oft werden die knappen Notationen zum Ort für weitere Kommentare, die expliziter Stel-
    lung beziehen, als es in den Aussagen im Film geschieht, und damit auch den stummen
    Diskurs der Montage zur Sprache bringen: Der Subtext, der sich aus der Auswahl der Bilder
    und Töne und ihrer Montage ergibt, wird schriftlich artikuliert und damit auf deren kom-
    mentierende Funktion hingedeutet.
  6 Die dreistündigen Versionen behalten diesen thematischen Aufbau bei und auch die Unter-
    teilung in zwei Hälften, die dann jeweils eineinhalb Stunden lang sind. Die verschiedenen
    Fassungen weisen teils übereinstimmende, teils abweichende Kürzungen auf. Dabei wurden
    einzelne Einstellungen oder längere Sequenzen herausgeschnitten und nur an vereinzelten
    Stellen geringfügige Umstellungen in der Montage vorgenommen. In der deutschsprachi-
    gen Fassung von 1996 finden sich mehrere hinzugefügte Off-Kommentare, die weggefallene
    Passagen mit wenigen Worten zusammenfassen oder den Film um nach 1977 eingetretene
    Entwicklungen erweitern. Letzteres übernehmen in der DVD-Fassung vereinzelt Zwischen-
    titel. Dort wurden auch an wenigen Stellen Aufnahmen neu hinzugefügt oder bearbeitet.
    Außerdem erscheinen die Kapitelüberschriften als Zwischentitel im Film. Die Änderungen
    tragen dem vergrößerten zeitlichen Abstand zu den Ereignissen Rechnung, den der 1993
    addierte und später gekürzte Schlusskommentar direkt anspricht, bewirken aber v. a. eine
    Straffung verschiedener thematischer Abschnitte. Lediglich die Kürzung des langen Films
    und nicht etwa eine Modifikation des Inhalts, so hat Marker betont, sei das Anliegen hinter
    den Umarbeitungen gewesen. Siehe dazu Chris Marker, „Sixties“ (Mai 2008), in: Chris
    Marker: Le Fond de l’air est rouge, ARTE/ISKRA/Ina 2008, Begleitheft DVD: S. 2-8, hier:
    S. 8.

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   Le Fond de l’air est rouge wurde von der zeitgenössischen Kritik höchst unter-
schiedlich aufgenommen, wobei vor allem seine politische Aussage kontrovers aus-
gelegt wurde. In dem von den Cahiers du cinéma organisierten und publizierten
„table ronde“ beispielsweise gerät in der Diskussion der diskursiven Gestaltung des
Films immer wieder der politische Standpunkt seines Machers ins Visier: Serge Le
Péron etwa empfindet die Attitüde Markers gegenüber der 68er-Generation als pa-
ternalistisch und beklagt das Verharren der älteren Linken auf einem „post-stalinis-
tischen Masochismus“.7 Für Jean Narboni kondensiert sich die intensive Auseinan-
dersetzung mit den KPs verschiedener Länder zu folgender Botschaft: „Impossible
de penser ou de pratiquer une politique qui ne passe pas par le P.C. (français ou
autre).“8 Jedoch tritt in dem wiederholt thematisierten Umgang der KPs und ihnen
nahestehender Verbände mit den linken Bewegungen, die sich außerhalb oder am
Rande etablierter Organisationen entwickelten, vor allem ihre mangelnde Bereit-
schaft hervor, sich mit diesen zu solidarisieren. Diesen Vorwurf betrachtet Jean-
Paul Török in seiner Rezension für die Filmzeitschrift Positif als eine der Thesen,
die Le Fond de l’air est rouge formuliert: „Symétrique de celle de J.F. Revel pour qui
le communisme est le principal obstacle au socialisme, elle revient à dire qu’il est

  7 „Table ronde sur Le Fond de l’air est rouge de Chris Marker“ (Serge Daney, Jean-Paul Fargier,
    Thérèse Giraud, Jean Narboni, Serge Le Péron), in: Cahiers du cinéma, Nr. 284 (Januar
    1978), S. 46-51, hier: S. 48. „En fin de compte, j’ai envie de dire que ce film, c’est un film
    très ‚Editions Maspero‘ …“, resümiert Jean Narboni die Diskussionsrunde (S. 51) [„Letzten
    Endes möchte ich sagen, dass dieser Film einer ist, der sehr ‚Editions Maspero‘ ist …“]. Mit
    dem Zitat dieses nicht unbedingt als Kompliment artikulierten Fazits in Le Fond de l’air est
    rouge (Buch), S. 9, findet sich ein Indiz dafür, dass Marker mit der Publikation und den Er-
    läuterungen des Vorworts auch auf die negative Kritik am Film reagierte.
  8 „Table ronde sur Le Fond de l’air est rouge de Chris Marker“, S. 47: „Unmöglich eine Politik
    zu denken oder zu praktizieren, die nicht über die KP (die französische oder andere) führt.“
    Die nahezu einstimmig negative Beurteilung des Films seitens der Beteiligten – mit Ausnah-
    me Jean-Paul Fargiers – ist nicht überraschend, gehört Marker doch zu den Filmemachern,
    denen die Cahiers du cinéma besonders in den späten 1960ern und den 1970ern eher ableh-
    nend gegenüberstanden, ästhetisch wie politisch, wie ein Autor derselben Zeitschrift später
    resümiert: Stéphane Bouquet, „Chris Marker, dans le regard du chat“, in: Cahiers du cinéma,
    Nr. 522 (März 1998), S. 58-61, hier: S. 58. Bouquet verweist auch auf die in den Cahiers du
    cinéma gängige Gegenüberstellung von Jean-Luc Godard und Chris Marker, bei dem Erste-
    rer die favorisierte Position einnahm. Jean Narboni bringt diese auch in die hier zitierte
    Diskussion ein (S. 51). Hennebelle, „Le Fond de l’air est rouge“, S. 44, konstruiert ebenfalls
    eine solche Rivalität, jedoch mit vertauschten Vorzeichen, wenn er über gewisse Kritiker des
    Films schreibt: „Je m’en étonne car certains de ces mêmes censeurs délirent au contraire face
    aux élucubrations d’un Godard, pourtant infiniment plus brumeuses“ [„Es erstaunt mich,
    wenn gewisse dieser Zensoren dagegen angesichts der Hirngespinste eines Godard ins
    Schwärmen geraten, die doch unendlich viel nebulöser sind“]. Arnaud Lambert, Also Known
    as Chris Marker, Paris 2008, S. 199-204, fasst die negativen Reaktionen der zeitgenössischen
    Kritik zusammen, wobei er als wesentliche Punkte die Konzentration einerseits auf formale
    (manipulative Montage und Kommentar) und andererseits auf inhaltliche Aspekte
    (v. a. Auslassungen wie die Palästina-Frage oder die Frauenbewegung) anführt.

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également un sérieux obstacle à la Révolution.“9 Marker selbst hat jüngst die
grundlegende Thematik des Films wie folgt formuliert: „[C]e qui advient lorsqu’un
parti, le PC, et une grande puissance, l’URSS, cessent d’incarner l’espoir révolu-
tionnaire, ce qui naît à leur place, et comment se joue l’affrontement.“10 In dem
kritischen Blick, der in Le Fond de l’air est rouge auf den Parteikommunismus ver-
schiedenster Ausprägung fällt, scheint vor allem die Problematik der Macht als ei-
ner Versuchung auf, der die etablierten Organisationen der Linken nicht widerste-
hen können und, so ein Verdacht, der den Film durchzieht, auch die Neue Linke
zu erliegen droht.11
   Direkt adressiert das Thema der Macht ein Kommentar, der die Aufnahmen der
1974 zum Trauergottesdienst für Georges Pompidou geladenen politischen Promi-
nenz begleitet. „C’est pas sain, le pouvoir …“, heißt es zum Anblick Richard Ni-
xons und anderer anwesender Staatsoberhäupter: „Il suffit de les regarder pour sa-
voir. Ou de comparer avec l’œil d’un chat. Car voilà l’épreuve de vérité, le critère
absolu: jamais un chat n’est du côté du pouvoir.“12 Als Beleg wird der jährliche
Umzug im belgischen Ypern angeführt, der daran erinnert, dass dort im Mittelalter
ein christlicher König gegen eine Gruppe flämischer Katzenanbeter siegreich ins
Feld gezogen war.13 Die Katzenmasken und großen Katzenfiguren des Zugs wer-
den von echten Katzen abgelöst, die von krankhaften Zuckungen geplagt werden.
Die Aufnahmen der leidenden Kreaturen begleiten den Bericht einer Japanerin
über die Symptome einer unheilbaren Krankheit, die von den mit Quecksilber ver-
seuchten Abwässern eines Großkonzerns in der Region um das Fischerdorf Mina-
mata verursacht worden ist. Durch die motivische Brücke über Markers Lieblings-
tier, die Katze, wird deutlich, dass seine Sympathien nicht einer bestimmten Partei
innerhalb des politischen Establishments gelten. Sie gelten vielmehr denjenigen,
die sich jenseits von politischer und auch ökonomischer Macht befinden, sich aber
dennoch gegen die Mächtigen zur Wehr setzen, wie die Fischer von Minamata: Sie

  9 Jean-Paul Török, „Une phrase qui n’a pas de sens (Le Fond de l’air est rouge)“, in: Positif,
    Nr. 204 (März 1978), S. 2-6, hier: S. 4: „Symmetrisch zu der [These; B. F.] J.F. Revels, für
    den der Kommunismus das hauptsächliche Hindernis für den Sozialismus darstellt, sagt sie
    mit anderen Worten, dass er ebenso ein ernstes Hindernis für die Revolution darstellt.“
 10 Marker, „Sixties“, S. 8: „[D]as, was geschieht, wenn eine Partei, die KP, und eine Groß-
    macht, die UdSSR, nicht länger die revolutionäre Hoffnung verkörpern, das, was an deren
    Stelle entsteht, und wie die Konfrontation verläuft.“
 11 Vgl. Török, „Une phrase qui n’a pas de sens“, S. 6. Für Langmann, „Das geträumte Ge-
    schichtsbuch“, S. 21, ist das Problem der Unvereinbarkeit von Macht und Revolution das
    zentrale Thema des Films.
 12 Le Fond de l’air est rouge (Buch), S. 173: „Macht ist nicht gesund … Man braucht sie nur
    alle ansehen, um das zu merken. Oder einfach die Augen einer Katze daneben halten. Denn
    das ist der Beweis, das absolute Kriterium: Eine Katze steht nie auf der Seite der Macht.“
    Jean-Paul Fargier verweist mehrmals auf die Bedeutung des Katzenthemas innerhalb des
    Films. „Table ronde sur Le Fond de l’air est rouge de Chris Marker“, S. 48 u. S. 49.
 13 Zu dem Umzug in Ypern, über den es im Film nur heißt, dass die Stadt im Mittelalter von
    der Kirche angeklagt wurde, Katzen zu verehren, siehe Lupton, Chris Marker. Memories of
    the Future, S. 146.

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verschafften sich durch den kollektiven Erwerb von Wertpapieren Zugang zur Ak-
tionärsversammlung des verantwortlichen Unternehmens, um den Umweltskandal
publik zu machen und die Firmenchefs öffentlich ihres Vergehens anzuklagen.
    Die selbst organisierte Intervention der japanischen Fischer setzt der pessimisti-
schen Bilanz über die Errungenschaften jener bewegten Jahre hoffnungsvollere Tö-
ne entgegen, die sich in den letzten Minuten des Films mehren, mit den Aufmär-
schen zum 1. Mai 1977 in Erwartung eines sicher geglaubten Wahlsieges einer ver-
einten Linken etwa oder dem Jubel in Portugal nach dem Sturz des faschistischen
Regimes 1974.14 Jedoch schließt der Film mit Aufnahmen einer Leistungsschau
der französischen Rüstungsindustrie und des Abschusses mehrerer Wölfe von ei-
nem Helikopter aus. Der 1993 hinzugefügte Kommentar führt im Rückblick auf
das Ende der Filmfassung von 1977 zunächst eine Reihe von Schlagwörtern an, die
damals keinerlei Bedeutung hatten, zwischenzeitlich aber auf die politische Agenda
gerückt waren: „boat-people, AIDS, Thatcherismus, Ayatollah, besetzte Gebiete,
Perestroika, Kohabitation oder dieses Sigel, das heute UdSSR ersetzt und das sich
übrigens niemand merken kann: GUS.“15 Die Neue Linke indes, der im Film so
viel Aufmerksamkeit zuteil wird, so urteilt der Kommentar, ist zusammen mit der
kommunistischen Utopie untergegangen: „Rache der Stalinisten. Ihre linke Oppo-
sition ist mit ihnen gestorben. Sie waren dialektisch verbunden, so wie der Skorpi-
on mit der Schildkröte. Erinnern Sie sich an Orson Welles, das war ihr Charakter.“16
Doch schließt der Kommentar mit einer versöhnlicheren Note: Zu dem Nebenein-
ander von Waffenhandel und dem Abschuss der Wölfe, das den Film beschließt,
heißt es zunächst: „Raten Sie mal, wen sie heute bewaffnen?“ Nach einer kurzen
Sprechpause wird allerdings hinzugefügt: „Dennoch ein tröstlicher Gedanke: fünf-
zehn Jahre später gab es immer noch Wölfe.“
    Le Fond de l’air est rouge liefert keine Chronik der für die Linke bedeutsamen
politischen Ereignisse von 1967 bis 1977, auch wenn die Kapitelüberschriften eine
solche suggerieren. Auch zeichnet er weder ein Gesamtpanorama der internationa-
len noch eines der französischen Linken dieser Dekade, wenngleich Letzterer mit
ihren Grabenkämpfen unter den einzelnen Fraktionen viel Aufmerksamkeit zuteil
wird. Vielmehr springt der Film von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit, greift einmal
angerissene Themen später wieder auf und führt diese weiter aus oder lässt bereits
behandelte Ereignisse an anderer Stelle nochmals aufblitzen, weshalb die Anlage
des Films verschiedentlich mit der eines Musikstücks verglichen worden ist.17

 14 Der erhoffte Wahlerfolg trat nicht ein und statt dem Ende der 5. Republik sah das Jahr 1977
    das Ende der vereinten Linken, wie ein in der deutschen Fassung hinzugefügter Kommentar
    ausführt. Der Regierungssturz in Portugal 1974 wurde vielfach als Signal für einen neuen
    Aufbruch erachtet, der bald auch das restliche Europa erfassen sollte.
 15 Dieses und die folgenden Zitate sind Transkriptionen der deutschsprachigen Fassung. Sie
    sind ebenfalls im gekürzten französischen Schlusskommentar der DVD-Version enthalten.
 16 Anspielung auf Confidential Report bzw. Mr. Arkadin (1954/55).
 17 Siehe z. B. Langmann, „Das geträumte Geschichtsbuch“, S. 20, und Török, „Une phrase
    qui n’a pas de sens“, S. 3. Auch die Konstruktion des Rückblicks auf die vergangene Dekade
    und der textuelle Standpunkt seines Autors wurden von der Kritik divergierend ausgelegt.

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CHRIS MARKER, FILM UND POLITIK ZWISCHEN 1967 UND 1977                               221

Manchmal werden Entwicklungen dokumentiert, punktuell oder etwas ausführli-
cher, über den gesamten Film verteilt oder in relativ geschlossenen Sequenzen. Pas-
sagen, die sich eingehender mit einem Thema beschäftigen, werden immer wieder
von kaleidoskopartigen Montagen abgelöst, die Bilder aus unterschiedlichen Teilen
der Welt zusammenbringen. Manche Ereignisse werden nur schlaglichtartig einge-
bracht, ohne dass man Näheres dazu erfährt. Einem Geschehen werden diverse
Reaktionen, direkte oder retrospektive, gegenübergestellt. Bewertungen durch öf-
fentliche Persönlichkeiten, Politiker, prominente Involvierte der Bewegungen oder
Experten, werden mit denen des „Mannes von der Straße“ konfrontiert. Rede und
Gegenrede sowie divergierende Interpretationen treffen aufeinander, in den aufge-
zeichneten Stellungnahmen, zwischen die sich immer wieder auch Kommentare
aus dem Off mischen.

    5.2 Chris Marker, Film und Politik zwischen 1967 und 1977
     5.2.1 Le Fond de l’air est rouge als Resultat der militanten Periode

Chris Marker hat seine Geschichte der roten Dekade in mehrjähriger Arbeit aus
zeitgenössischen Dokumenten zusammengestellt, Filmmaterial und Tonaufnah-
men aus den Archiven diverser Organisationen, Ausschnitte aus anderen Filmen,
Material von Fernseh- und Radioanstalten sowie von Gruppierungen, die sich der
Gegeninformation verschrieben haben. Eine der wichtigsten Quellen für den Kom-
pilationsfilm war die von Marker mitbegründete Produktionsgesellschaft ISKRA.
In deren Räumen fand die Cutterin Valérie Mayoux, die an Le Fond de l’air est rouge
mitgearbeitet hat, 1973 jede Menge belichteter Filmrollen aus den vergangenen
Jahren mit Aufnahmen von unterschiedlichen Urhebern, die nie verwendet worden
waren:

    So werten die Diskutanten der Cahiers du cinéma mehrheitlich die Geschichte im Film als
    linear und teleologisch dargestellt, aus einer autoritären, monologistischen Position: „Table
    ronde sur Le Fond de l’air est rouge de Chris Marker“, u. a. S. 47 u. S. 49. Régis Debray, „Le
    Fond de l’air est rouge, l’apprentissage de notre génération“, in: Rouge, Nr. 535 (28. Dezem-
    ber 1977), wieder abgedruckt in: Images Documentaires, Nr. 15: Sonderheft „Chris Marker“
    (4. Trimester 1993), S. 39-40, hingegen betont dass die Betrachtung der vergangenen Deka-
    de subjektiv genug sei, um nicht didaktisch zu sein, und objektiv genug, um nicht der Belie-
    bigkeit anheim zu fallen (S. 39). Ein weiterer zeitgenössischer Kritiker, Roger Dosse, beklagt
    die Fragmentierung und Kollision der Informationen, die fehlende Analyse der Ereignisse
    und die distanzierte Neutralität des Filmemachers: Filmrezension, Politique Hebdo, Nr. 291
    (28. November 1977), zitiert in Langmann, „Das geträumte Geschichtsbuch“, S. 17. Lang-
    mann wiederum weist besonders den Vorwurf der distanzierten Beobachtung zurück, in-
    dem sie am Beispiel von Markers gewandeltem Verhältnis zu Kuba eine persönliche Betrof-
    fenheit hervorhebt, die in Le Fond de l’air est rouge immer wieder spürbar wird (S. 17-20).

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222                          LE FOND DE L’AIR EST ROUGE (1977)

   Des chutes de toutes sortes s’étaient amassées là, pleine d’étiquettes – étiquettes par-
   fois paranoïaques, clandestines, déguisant le contenu de la boîte. J’ai donc commencé
   à ouvrir ces boîtes un peu rouillées […], à remettre un peu d’ordre dans tout ça … et
   à découvrir des tas de choses formidables. Je racontais ça à Chris., et je lui disais: „Il y
   a un film à faire, un film-collage qui raconterait une histoire à partir de tous ces
   morceaux.“18

Die ISKRA (Image Son Kinetoscope Réalisation Audiovisuelle) ging 1974 aus der
SLON (Société de Lancement des Œuvres Nouvelles) hervor.19 Letztere wiederum hat-
te ihren Ursprung in einem Ende 1966 begonnenen Filmprojekt zum Vietnam-
krieg, an dem 150 Filmschaffende beteiligt waren. Es fand seinen Abschluss 1967 in
dem Kollektivfilm Loin du Viêt-nam, der sich aus mehreren Episoden zusammen-
setzt, für die Alain Resnais, Joris Ivens, Jean-Luc Godard, Agnès Varda, William
Klein und Claude Lelouche als Regisseure verantwortlich zeichneten.20 Chris Mar-
ker war Initiator und Koordinator des Projekts und wird von Valérie Mayoux als
Monteur des Films ausgewiesen.21 Auch der rahmende Kommentar zu Beginn und
am Ende des Films trägt deutlich die Handschrift Markers.22
   Danach produzierte die SLON À bientôt, j’espère (1968), eine Zusammenarbeit
von Chris Marker und Mario Marret über den Streik in der Kunstfaserfabrik Rho-
diacèta in Besançon im Frühjahr 1967. Als der fertiggestellte Film im April 1968
den Arbeitern in Besançon vorgeführt wurde, zeigten sich diese mit der Repräsen-
tation ihrer Ziele unzufrieden.23 Die Idee für eine Filmkollektive entstand, die den
Arbeitern die Möglichkeit bieten sollte, ihre Belange selbst in filmischer Form zu
vertreten. Als Namenspatron dieser Gruppe fungierte Alexander Medwedkin, der

 18 Valérie Mayoux zitiert nach Olivier Kohn; Hubert Niogret, „Témoignages (Pierre Lhomme,
    Antoine Bonfanti, Valérie Mayoux)“ (Dossier Chris. Marker), in: Positif, Nr. 433 (März
    1997), S. 90-95, hier: S. 94: „Filmabfälle aller Art hatten sich dort angesammelt, voller Auf-
    kleber – mitunter paranoide, geheime Etiketten, die den Inhalt der Filmdosen verschleier-
    ten. Ich habe also damit begonnen, die etwas angerosteten Dosen zu öffnen […], um etwas
    Ordnung zu schaffen … um einen Haufen ungeheurer Dinge zu entdecken. Ich habe Chris.
    davon erzählt und ihm gesagt: ‚Man muss einen Film daraus machen, einen Collage-Film,
    der von allen diesen Stücken ausgehend eine Geschichte erzählt.‘“
 19 Laut Bamchade Pourvali, Chris Marker, Paris 2003, S. 42, bedeutet ISKRA im Russischen
    „Funke“ und war der Titel einer von Lenin herausgegebenen Zeitschrift, während das Akro-
    nym SLON das russische Wort für „Elefant“ bildet (S. 39). Verschiedene Autoren nennen
    1974 als Gründungsjahr der ISKRA, u. a. Jean-Pierre Jeancolas, „La centrale Marker. 1967-
    1976“ (Dossier Chris. Marker), in: Positif, Nr. 433 (März 1997), S. 86-89, hier: S. 88.
 20 Siehe dazu den entsprechenden Eintrag von Thomas Tode in der kommentierten Filmogra-
    fie in: Birgit Kämper; Thomas Tode (Hg.), Chris Marker. Filmessayist, München 1997,
    S. 251-255.
 21 Kohn; Niogret, „Témoignages“, S. 93.
 22 Jeancolas, „La centrale Marker. 1967-1976“, S. 87.
 23 Ein Zusammenschnitt der in den Archiven der ISKRA aufbewahrten Tonbandaufzeichnung
    der Diskussion, die im Anschluss an die Vorführung in Besançon stattfand, findet sich unter
    dem Titel „La Charnière“ auf der DVD-Edition Les Groupes Medvedkine. Le film est une ar-
    me, ISKRA/Éditions Montparnasse 2006.

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CHRIS MARKER, FILM UND POLITIK ZWISCHEN 1967 UND 1977                              223

1932 einen Film-Zug ins Leben gerufen hatte, der durch die Sowjetunion fuhr, um
wirtschaftliche Missstände zu dokumentieren und anhand der in den komplett
ausgerüsteten Wagons sofort fertiggestellten Filme mit den Betroffenen über Lö-
sungen zu diskutieren. Medwedkin stand Pate für die Idee einer kollektiven Filmar-
beit, deren Ziel darin lag, das Bewusstsein für die vorhandenen Probleme zu we-
cken und notwendige Veränderungen in die Wege zu leiten. Doch anders als bei
der zu Agitprop-Zwecken umherziehenden mobilen Filmwerkstatt ihres Namens-
gebers – der Marker 1971 mit Le Train en marche einen kurzen Film widmete24 –
bestand die Arbeit der an der Groupe Medvedkine beteiligten professionellen Film-
schaffenden nicht darin, Filme für die Arbeiter zu erstellen und sie mit ihnen zu
diskutieren. Vielmehr hatten sie die Aufgabe, die Laien im Handwerk des Filme-
machens zu unterweisen und ihnen beratend zur Seite zu stehen.25
   Neben der Arbeit im Rahmen der Medwedkin-Gruppe war Marker in der De-
kade, mit der sich Le Fond de l’air est rouge befasst, an weiteren kollektiven Filmak-
tivitäten beteiligt, darunter die ciné-tracts, anonym veröffentlichte Agitprop-Filme
von der Länge einer Filmrolle. Unter den unkreditierten Autoren dieser Flugblätter
in Filmform, die im Mai und Juni 1968 aus Fotografien und Texttafeln am Trick-

 24 Siehe dazu „Le Train en marche“ (Kommentartext u. Bildbeschreibungen), in: L’Avant-Scène
    cinéma, Nr. 120 (Dezember 1971), S. 11-14. Der Film entstand während eines Besuchs
    Medwedkins in Paris anlässlich der französischen Uraufführung seines Films Das Glück
    (1934), dessen Verleih die SLON organisierte.
 25 Siehe dazu René Vautier, „Le groupe ‚Medvedkine‘. Extraits d’un entretien avec Pol Cèbe,
    Animateur du groupe“, in: Cinéma 70, Nr. 151 (Dezember 1970), S. 92-95. Zur selben Zeit
    entstanden in Frankreich weitere solcher Filmgruppen, die trotz programmatischer und
    ideologischer Unterschiede das gemeinsame Ziel teilten, den Film als Mittel im politischen
    Kampf einzusetzen. Dabei genügte es nicht, lediglich die entsprechenden Inhalte zu bear-
    beiten, sondern es galt auch, die sozioökonomischen Strukturen des Filmemachens zu ver-
    ändern, so etwa den Produktionsprozess neu zu organisieren von der herkömmlichen Ar-
    beitsteilung hin zum auch inhaltlich kollektiven Produkt. Zu diesen Filmgruppen – wie der
    von Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin initiierten Dziga-Vertov-Gruppe, der KPF-
    nahen Dynadia, angestoßen von Mario Marret, und den maoistisch orientierten Cinéastes
    révolutionnaires prolétariens – siehe Sylvia Harvey, May ‘68 and Film Culture, London 1978,
    S. 28-33. William F. van Wert, „Chris Marker: The SLON Films“, in: Film Quarterly,
    Nr. 32 (Frühjahr 1979), S. 38-46, hier: S. 38, sieht in Marker den heimlichen Vater der
    wichtigsten politischen Filmgruppen in Frankreich. Lupton, Chris Marker. Memories of the
    Future, S. 111 u. S. 228, Endn. 6 (zu S. 111), weist jedoch darauf hin, dass der Einfluss
    Markers auf diverse Projekte dieser Jahre von manchen Autoren überbewertet wird: Marker
    sei zwar ein wichtiger Impulsgeber für die Groupe Medvedkine gewesen, aber kein Mitglied.
    Siehe zu den Filmkollektiven in Besançon und Sochaux und der Rolle Markers auch: Les
    Groupes Medvedkine. Le film est une arme, ISKRA/Éditions Montparnasse 2006, Begleitbuch
    DVD, u. Marion Froger, „Le geste du lien: la médiation markerienne et les groupes Medved-
    kine“, in: André Habib; Viva Paci (Hg.), Chris Marker et l’imprimerie du regard, Paris 2008,
    S. 149-165.

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224                          LE FOND DE L’AIR EST ROUGE (1977)

tisch erstellt wurden, befanden sich unter anderem auch Jean-Luc Godard und
Alain Resnais.26
   Die zunächst als kurzfristige Initiative begonnene Produktionsgesellschaft SLON
bekam mit den Ereignissen des Mai 68 neuen Impetus und existierte als lockeres
Kollektiv fort.27 Neben der Produktion einzelner Filme widmete sich dieses der
Herstellung von kurzen Filmen zu aktuellen internationalen Themen. Das filmi-
sche Magazin On vous parle de … verstand sich als Gegeninformation, die den In-
formationslücken der als bourgeois diskreditierten Massenmedien entgegenwirken
sollte.28 Chris Marker arbeitete bei einigen dieser Produktionen als Koautor, Regis-
seur, Kameramann, Sprecher oder Verantwortlicher für den Schnitt mit. Darunter
befinden sich beispielsweise On vous parle de Brésil: Tortures (1969), in dem politi-
sche Häftlinge über ihre Folterung in brasilianischen Gefängnissen berichten, On
vous parle de Prague: Le Deuxième procès d’Artur London (1969) über die Dreharbei-
ten zu Constantin Costa-Gavras L’Aveu (1970), der die Geschichte des Prozesses
um Rudolf Slansky in der ČSSR im Jahr 1952 auf der Basis der Aufzeichnungen
des mitangeklagten Artur London erzählt, oder On vous parle de Paris: Les Mots ont
un sens (1970), ein Porträt des linken Verlegers und Buchhändlers François Mas-
pero.29

 26 Zu den ciné-tracts, von denen sich heute nur mehr wenige im Umlauf befinden, siehe den
    Eintrag von Thomas Tode in der kommentierten Filmografie in: Kämper; Tode (Hg.), Chris
    Marker. Filmessayist, S. 259 ff. Dort wird die Anzahl der während der beiden Monate produ-
    zierten zwei- bis dreiminütigen Filme mit ungefähr zweihundert angegeben. Zu einer Liste
    einiger Titel siehe Nicole Brenez; Christian Lebrat (Hg.), Jeune, dure et pure! Une histoire du
    cinéma d’avant-garde et expérimental en France, Paris u. Mailand 2001, S. 333. Ausführlicher
    widmet sich den ciné-tracts Viva Paci, „On vous parle de … ciné-tracts“, in: André Habib;
    dies. (Hg.), Chris Marker et l’imprimerie du regard, Paris 2008, S. 167-177 (besonders die
    Beschreibung: S. 174 f.).
 27 Zur Arbeitsweise der Kooperative siehe die Interviews von Guy Hennebelle mit anonymen
    Mitgliedern: „Le groupe S.L.O.N.“, in: Cinéma 70, Nr. 151 (Dezember 1970), S. 88-92;
    „Brève rencontre … avec le groupe ‚SLON‘“, in: Écran, Nr. 13 (März 1973), S. 36-38.
 28 Ein weiteres von der SLON produziertes Magazinformat ist die Serie Nouvelle Société.
 29 Zu Markers Aktivitäten bei SLON siehe ausführlicher Min Lee, „Red Skies. Joining Forces
    with the militant collective SLON“, in: Film Comment, Bd. 39, Nr. 4: „Around the World
    with Chris Marker – Part II: Time Regained“ (Juli/August 2003), S. 38-41. Zu den Filmen
    der On vous parle de …-Reihe mit Beteiligung Markers siehe die Einträge von Birgit Kämper
    in der kommentierten Filmografie in Kämper; Tode (Hg.), Chris Marker. Filmessayist,
    S. 261-268, u. Jeancolas, „La centrale Marker. 1967-1976“, S. 89, der deren Grad an „mar-
    keritude“ analysiert. Nicht zuletzt wegen der politisch brisanten Themen des Filmmagazins
    wurde die SLON unter belgischem Recht als Gesellschaft eingetragen, da sie somit die fran-
    zösische Zensur umgehen konnte und außerdem keiner anfänglichen Kapitaleinlage bedurf-
    te. Allerdings war sie dadurch, wie Antoine Bonfanti, Mitglied der SLON, anmerkt, von der
    Möglichkeit finanzieller Unterstützung seitens französischer Institutionen abgeschnitten:
    Kohn; Niogret, „Témoignages“, S. 92 f. Auch deshalb wurde nach der Lockerung der Zen-
    sur die ISKRA unter französischem Recht ins Leben gerufen bzw. die SLON zu der neuen
    Gesellschaft mit französischem Gerichtsstand umgewandelt (Jeancolas, „La centrale Mar-
    ker. 1967-1976“, S. 88).

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                                                                  Downloaded from Brill.com09/21/2020 05:35:45AM
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CHRIS MARKER, FILM UND POLITIK ZWISCHEN 1967 UND 1977                            225

    Le Fond de l’air est rouge speist sich erkennbar aus dem Materialfundus des
SLON-Filmmagazins: So veröffentlichte die SLON 1973 nach dem Militärputsch
in Chile On vous parle du Chili: Ce que disait Allende, aus dem Material für einen
1971 erschienenen Film des chilenischen Filmemachers Miguel Littin erstellt. Ein
Ausschnitt der darin enthaltenen Gespräche zwischen Régis Debray und dem chi-
lenischen Präsidenten ist in Le Fond de l’air est rouge zu sehen. Die Auszüge aus den
Interviews mit Artur London und Jorge Semprun in Le Fond de l’air est rouge wur-
den während der Dreharbeiten zu L’Aveu aufgenommen, zu dem Semprun das
Drehbuch verfasst hatte. Auch François Maspero begegnet man in Markers Film
kurz wieder, genauso wie einer jungen Brasilianerin, die über die Folter an politi-
schen Gefangenen spricht.30 Aus anderen SLON-Produktionen findet sich eben-
falls Material im Film wieder, so von dem Protestzug der Streikenden durch Besan-
çon, der in À bientôt, j’espère zu sehen ist, oder einige Aufnahmen, die bereits in
Loin du Vîet-nam verwendet wurden, darunter die Demonstrationen gegen den
Vietnamkrieg anlässlich des Besuchs des amerikanischen Vizepräsidenten Hubert
Humphrey in Paris und die Kriegsbefürworter in den USA, die ihre Einberufungs-
bescheide hochhalten und „Bomb Hanoi“ skandieren. Aus La Sixième face du Pen-
tagone (1968), einem Film über den Marsch amerikanischer Vietnamkriegsgegner
auf das Verteidigungsministerium in Washington im Oktober 1967, den Chris
Marker zusammen mit François Reichenbach für eine andere Produktionsgesell-
schaft realisiert hat, wurde sogar eine mehrminütige Sequenz übernommen. Zu-
dem ist auch Material aus früheren Filmen Markers in Le Fond de l’air est rouge
eingegangen, beispielsweise Ausschnitte eines Interviews mit Fidel Castro aus Cuba
si! (1961) und Aufnahmen einer Demonstration gegen den Algerienkrieg im Feb-
ruar 1962 und der anschließenden Trauerfeier für die Opfer des gewaltsamen Ein-
schreitens der Polizei an der Pariser Metrostation Charonne, die bereits in Le Joli
mai (1962) zu sehen gewesen sind.
    Die Tätigkeiten, die Marker, einsetzend mit der Arbeit an Loin du Viêt-nam,
während der Zeit von 1967 bis 1976 in diversen Projekten verübte, reichten vom
technischen Berater, etwa bei der Medwedkin-Gruppe, bis zur Projektkoordinati-
on, wie er sie bei La Spirale (1975) übernommen hatte, einem Film über Chile, für
den unter anderen Armand Mattelart verantwortlich zeichnete. Zwar trat Marker
hin und wieder auch als Autor oder Koautor einzelner Filme auf – La Sixième face
du Pentagone, Le Train en marche oder dem zusammen mit Valérie Mayoux reali-
sierten La Bataille de dix millions (1970) über das Scheitern des angestrebten Plan-
solls bei der Zuckerrohrernte in Kuba –, doch stand das politisch engagierte Filme-
machen im Kollektiv während der späten 1960er bis über die Mitte der 1970er
Jahre hinaus im Vordergrund.

 30 Die Aufnahme der Brasilianerin stammt laut Lupton, Chris Marker. Memories of the Future,
    S. 121, aus dem kubanischen Material, das für On vous parle de Brésil: Tortures verwendet
    wurde, den Berichten der Häftlinge, die gegen den im September 1969 entführten amerika-
    nischen Botschafter ausgetauscht wurden. Sie ist in diesem Magazinbeitrag jedoch selbst
    nicht zu sehen und erscheint auch in der DVD-Fassung des Films nicht mehr.

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226                           LE FOND DE L’AIR EST ROUGE (1977)

    „[T]he Chris Marker we had known died, he insisted, in 1967“, berichtet Ri-
chard Roud, der ihn jedoch 1977 mit Le Fond de l’air est rouge als distinkt erkenn-
baren Autor wiederauferstehen sieht.31 Dennoch speist sich Le Fond de l’air est
rouge deutlich aus der Arbeit der Dekade, auf die er zurückblickt, aus dem ange-
sammelten Material dieser Zeit und aus dem Gedanken der kollektiven Arbeit: Im
Abspann werden die zahlreichen Personen, von denen das im Film verwendete
Ton- und Bildmaterial stammt, als die eigentlichen Autoren des Films bezeichnet.
Die Liste der Angeführten versammelt ein eindrucksvolles Spektrum an Namen
aus dem Bereich des politisch engagierten und militanten Filmschaffens dieser Jah-
re, darunter die Journalistin Michèle Ray, die auch zu Loin du Viêt-nam beigetragen
hat, der Fotograf und Filmemacher Raymond Depardon und Pol Cèbe, ein Arbei-
ter, welcher der Groupe Medvedkine angehörte und in Le Fond de l’air est rouge
mehrmals zu sehen und zu hören ist. Auch über diese Geste hinaus zeigt sich Le
Fond de l’air est rouge grundlegend den Idealen eines politisch engagierten Filme-
machens verpflichtet, wie sie während der fraglichen Dekade diskutiert wurden.

                     5.2.2 Eine Politik der Repräsentation als
                   Arbeitsvorhaben von Le Fond de l’air est rouge

Le Fond de l’air est rouge befasst sich nicht nur mit einer politischen Geschichte,
sondern macht sich das Politische ihrer Darstellung zum Thema, das unter ande-
rem Pascal Bonitzer anhand des autoritären Diskurses der vermeintlich bloßen In-
formation theoretisiert hat, der sowohl den Gegenstand der Information als auch
deren Empfänger ideologisch vereinnahmt.32 Die (nahezu) ausschließliche Ver-
wendung von bereits existenten Filmaufnahmen zielt darauf ab, so Marker im Buch
zum Film, die „Verdrängung dieser Bilder“ entlang des Themas der politischen
Entwicklungen der vergangenen Dekade zu befragen und dabei einige dieser Bilder
wiederzubeleben.33 Diese verdrängten Bilder unterteilt er in zwei Kategorien, die
sich durch ihre Verwertung definieren: einerseits die ausgesonderten Bilder, ab-
oder herausgeschnittene Stücke und Sequenzen, die aus inhaltlichen oder qualitati-
ven Gründen keine Verwendung fanden – Bilder also, die übrig geblieben und
kaum von jemandem gesehen worden sind –, und andererseits die zwar verwende-
ten, bereits gesehenen Bilder, die jedoch in der Flut visueller Eindrücke, wie sie das

 31 Richard Roud, „The Left Bank Revisited“, in: Sight and Sound, Nr. 46.3 (März 1977),
    S. 143-145, hier: S. 143. Auch van Wert, „Chris Marker: The SLON Films“, S. 45, sieht in
    den Filmen, die aus der kooperativen Arbeit hervorgegangen sind, Züge der Autorschaft
    gänzlich zurücktreten, während für Jeancolas, „La centrale Marker. 1967-1976“, in einigen
    der kollektiven Projekte die „Handschrift“ Markers noch zu erkennen ist.
 32 Vgl. Kap. 3 dieser Arbeit, S. 118 ff.
 33 Vorwort zu Le Fond de l’air est rouge (Buch), S. 5 ff., hier: S. 5. Zitiert wird hier und im Fol-
    genden aus der deutschen Übersetzung in: Kämper; Tode (Hg.), Chris Marker. Filmessayist,
    S. 176 f., hier: S 176.

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CHRIS MARKER, FILM UND POLITIK ZWISCHEN 1967 UND 1977                              227

Fernsehen produziert, untergegangen sind, „sofort vom Treibsand, auf dem diese
Imperien gebaut sind, verschluckt wurden. Ein Ereignis wird von einem anderen
weggefegt, Geträumtes wird durch Wahrgenommenes ersetzt, und schließlich fällt
alles dem kollektiven Nicht-Erinnern anheim.“34 Le Fond de l’air est rouge lässt die-
se beiden Kategorien von verdrängten Bildern aufeinandertreffen, um „in der einen
so etwas wie eine Erleuchtung der anderen zu suchen“, wobei in der projektierten
Gegenüberstellung eine weitere Differenzierung formuliert wird: „die aus einem
militanten Film herausgeschnittene – da zu widersprüchliche – Aufnahme, die mit
demselben Ereignis zusammenprallt, das ‚objektiv‘ von einer Bildagentur beschrie-
ben wird.“ Hinter diesem Vorhaben verbirgt sich eine politische Agenda, die, um
wirksam zu werden, nach einer Reflexion der Beschaffenheit von Information ver-
langt, sei diese aus „offiziellen“ oder „militanten“ Quellen:

   Le mode d’information fait partie de l’information et l’enrichit. C’est un des principes
   de choix des documents: chaque fois que c’était possible (écrans de télévision, lignes du
   kinescope, citations d’actualité, lettre enregistrée „sur mini-cassette“, images trem-
   blées, voix de radios, commentaires des images à la première personne par ceux qui les
   ont captées, rappel des conditions de tournage, caméra clandestine, ciné-tract …), rap-
   procher le document des circonstances concrètes de son élaboration […].35

In einer solchen alternativen Politik der Repräsentation kommt einer Politik der
„Stimme“ eine wichtige Rolle zu, jenes Diskurses, den der Film konstruiert, und
der Art, wie er sich dem Zuschauer präsentiert. Die autoritäre Funktion des Kom-
mentars aufzubrechen, der im Film direkt verbalisiert wird oder sich implizit in der
Montage artikuliert, ist ein Ziel, das sich Marker in Le Fond de l’air est rouge gesetzt
hat, auch um die Vielfalt der Stimmen, die sich im Mai 68 zusammengefunden
haben, heraufzubeschwören:

   Wir hoffen, daß die Montage der Geschichte ihre Mehrstimmigkeit zurückgibt. […]
   Jeder Schritt dieses imaginären Dialogs zielt darauf ab, eine dritte Stimme zu schaffen

 34 Marker artikuliert hier einen gängigen Vorwurf gegen die Massenmedien, wie ihn auch De-
    bray, „Le Fond de l’air est rouge, l’apprentissage de notre génération“, S. 39, formuliert und
    an die politischen Machthaber adressiert: „Tout pouvoir nous veut sans mémoire – et les
    mass media aujourd’hui ont les moyens d’accomplir cette volonté immémoriale du pouvoir
    politique“ [„Jede Macht möchte, dass wir ohne Gedächtnis sind – und die Massenmedien
    haben heute die Mittel, um diesen Willen der politischen Mächte zum Nicht-Erinnern zu
    erfüllen“].
 35 Le Fond de l’air est rouge (Buch), S. 10 (Stichwort „Information“): „Der Modus der Informa-
    tion ist Teil der Information und bereichert diese. Eines der Prinzipien der Auswahl der
    Dokumente ist, jedes Mal, wenn möglich (TV-Bildschirme, Linien des Kineskops [Spezial-
    kamera zum Abfilmen von Monitorbildern; B. F.], Zitate aus Nachrichten, ein ‚auf Mini-
    Kassette‘ aufgezeichneter Brief, zitternde Bilder, Radiostimmen, Kommentare zu den Bil-
    dern in der ersten Person durch diejenigen, die sie aufgezeichnet haben, Erinnerung an die
    Bedingungen bei den Dreharbeiten, heimliche Kameras, ciné-tract …), das Dokument den
    konkreten Umständen seiner Bearbeitung anzunähern […].“

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228                          LE FOND DE L’AIR EST ROUGE (1977)

   aus dem Zusammentreffen der ersten beiden, die sich von diesen aber deutlich un-
   terscheidet … Vielleicht versteht man ja genau das unter Dialektik? Ich will nicht be-
   haupten, daß mir ein dialektischer Film gelungen ist. Doch ich habe (nachdem ich zu
   meiner Zeit häufig genug die Machtausübung durch einen lenkenden Kommentar
   genutzt habe) zumindest dieses Mal versucht, dem Zuschauer durch die Montage
   „seinen“ Kommentar, d. h. seine Macht wiederzugeben.

Die anvisierte „Dialektik“ im Aufeinandertreffen von zwei Stimmen – den Reden
und Aussagen, die im Film zu hören sind, aber auch von zwei Bildern sowie von
Stimme und Bild –, aus dem eine dritte Stimme erwachsen soll, verweist auf Sergej
Eisensteins Konzept der intellektuellen Montage. Doch soll diese dritte Stimme
nicht dem Zuschauer die Botschaft diktieren, die Mehrstimmigkeit nicht zu einem
Gleichklang kanalisieren, sondern quasi dazu treten, als die Stimme des Zuschau-
ers, die sich dem Dialog anschließt. Marker reagiert mit Le Fond de l’air est rouge
auf die theoretischen Auseinandersetzungen mit den ideologischen Problemen und
der hegemonialen Diskursivität des Films. Fast scheint es sogar, als gäbe er eine di-
rekte Replik auf die Kritik Pascal Bonitzers an seinem Einsatz der Kommentarstim-
me in früheren Filmen in dem bereits an anderer Stelle ausführlicher vorgestellten
Text „Les silences de la voix“.36 Auf einen gesprochenen Kommentar aus dem Off
verzichtet Le Fond de l’air est rouge nicht, jedoch wird dabei die angestrebte Poly-
phonie nicht aufgegeben: Es kommentieren verschiedene Stimmen, die sich immer
wieder zwischen die zahlreichen Stimmen des zusammengetragenen Materials mi-
schen.

                5.3 Die Polyphonie der (hörbaren) Stimmen
                            5.3.1 Dokumentierte Stimmen

In Le Fond de l’air est rouge kommt eine Vielzahl an Stimmen zu Wort, darunter
viele bekannte Persönlichkeiten: Valérie Giscard d’Estaing, François Mitterand,
André Malraux, Charles de Gaulle, Georges Pompidou, um nur einige Vertreter
der französischen Politik zu nennen; Intellektuelle, Schriftsteller und Filmemacher,
wie Arthur Penn, Jorge Semprun und Régis Debray; namhafte Mitglieder der stu-
dentischen Protestbewegungen, etwa Daniel Cohn-Bendit, Rudi Dutschke und
Larry Bensky; Guerillakämpfer oder Revolutionsführer, wie Che Guevara und
Douglas Bravo. Aber auch anonyme Teilnehmer an Streiks und Demonstrationen
sind zu hören, etwa eine Gruppe von Arbeitern in Saint-Florentin oder Studenten
vor einem Renault-Werk im Mai 68. Des Weiteren enthält der Film Stellungnah-
men einiger unbeteiligter Augen- und Zeitzeugen, beispielsweise eines älteren Ehe-

 36 Pascal Bonitzer, „Les silences de la voix (A propos de Mai 68, de Gudie Lawaetz)“ (1975),
    in: ders., Le Regard et la voix. Essais sur le cinéma, Paris 1976, S. 25-49. Vgl. Kap. 3 dieser
    Arbeit, S. 129 f.

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DIE POLYPHONIE DER (HÖRBAREN) STIMMEN                                     229

paares, das über De Gaulles wiederholte Rücktrittsdrohungen spricht, oder einer
Dame in den Straßen des Quartier Latin, die am Morgen nach der Besetzung des
Viertels in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1968 mutmaßt, dass Daniel Cohn-
Bendit in einem Wagen der chinesischen Botschaft nach Paris eingeschleust wor-
den sei.
    Die meisten der dokumentierten Stimmen erhalten in Le Fond de l’air est rouge
ein Gesicht, die Sprechenden erscheinen im Bild. Daneben gibt es aber auch sol-
che, die sich nicht sichtbar manifestieren, wie die der Radioreporter, die von der
„Nacht der Barrikaden“ aus dem Quartier Latin berichten, oder der Kommentato-
ren, welche die Texte in den Ausschnitten aus Fernsehsendungen verlesen. In der
Regel handelt es sich dabei um die teils anonymen, teils namentlich bekannten
Sprecher öffentlicher Medien, „Stimmen der Information“. Doch auch die Stim-
men der verschiedenen talking heads, wurden sie einmal visuell identifiziert, unter-
legt der Film oft mit anderen Bildern.
    Nur wenigen seiner zahlreichen Sprechenden gewährt Le Fond de l’air est rouge
eine längere Redezeit, häufig sind nur Auszüge von wenigen Sätzen zu hören.37
Derart aus ihrem Kontext gerissen, erscheinen oft Stellungnahmen und Aufrufe
von Politikern. Diese sind so auffällig beschnitten und in einer Montage von Stim-
me und Gegenstimme (oder Gegenbild) funktionalisiert, dass die kommentierende
Operation dieser De- und Rekontextualisierung deutlich wird, wie es der eine Auf-
tritt von Charles de Gaulle in Le Fond de l’air est rouge illustriert: Der Ankündigung
der Ereignisse des Mai 68 durch einen Off-Kommentar folgt ein kurzer Ausschnitt
einer Fernsehansprache des französischen Präsidenten, in dem er das neue Jahr 1968
willkommen heißt. Bevor De Gaulle ausführen kann, worauf sich seine Vorfreude
gründet, bricht der Ton ab. Der Satz bleibt unvollendet und das Bild blendet ins
Schwarz über. Dem schließen sich die ersten Aufnahmen nächtlicher Straßen-
schlachten in Paris an, die sichtbaren Anzeichen der Ereignisse, welche die Regie-
rung De Gaulles in die Krise stürzen sollten.
    An den merklich beschnittenen Äußerungen wird eine der kompositorischen
Strategien der Polyphonie der dokumentierten Stimmen deutlich: die Konfrontati-
on von Rede und Widerrede, die eine Mehrstimmigkeit auch der Ansichten trans-

 37 Umfangreicher äußern sich in Le Fond de l’air est rouge: ein Verkaufsleiter eines Citroën-
    Werks, der einzige Vertreter einer Firmenleitung, der die Problematik der im Mai 68 gefor-
    derten Umwälzungen aus unternehmerischer Sicht betrachtet; Pol Cèbe, von dem ein auf
    Kassette gesprochener Brief über das Engagement eines Arbeiters, der sein gesamtes Leben
    dem Klassenkampf gewidmet hatte, zu hören ist; ein Arbeiter, der im Buch als P. benannt
    wird und die Haltung der Gewerkschaften im Mai 68 kritisiert; Jean Elleinstein (ursprüng-
    lich als Historiker und KPF-Mitglied vorgestellt, in den späteren Fassungen dann als ehema-
    liges Parteimitglied präsentiert), der über das Problem des Stalinismus spricht, wobei er mit-
    tels der Montage mit Ausschnitten aus einem Interview mit Jorge Semprun zum selben
    Thema in eine Diskussion versetzt wird. Am häufigsten ist Fidel Castro zu hören, in über
    den gesamten Film verteilten Ausschnitten aus diversen Reden und Interviews. Die Redean-
    teile der Citroën-Führungskraft und Elleinsteins sind in den gekürzten Fassungen des Films
    in unterschiedlichem Umfang reduziert worden.

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                                                                    Downloaded from Brill.com09/21/2020 05:35:45AM
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