Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale - De Gruyter
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 2022; 46(2): 301–317 Inkubator für Demokratie Anne Rethmann* Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale https://doi.org/10.1515/bfp-2022-0010 5 Handlungsfelder von Bibliotheken im Bereich der politischen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Zusammenfassung: Der Artikel knüpft an Arbeiten in den 6 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Bibliothekswissenschaften an, die sich mit dem Verhältnis von Demokratie und Bibliotheken sowie einer politischen Theorie der Bibliotheken beschäftigen. Im Gegensatz zu 1 Theoretische Reflexion – wozu? dem Gros der Arbeiten, die sich auf die Öffentlichkeits- funktion von Bibliotheken fokussieren, soll hier verstärkt Gesellschaftliche Polarisierungen, gefühlte und reale Un- das Individuum ins Zentrum gerückt werden. In einem sicherheiten, antisemitische, rassistische und andere men- zweiten Schritt diskutiert die Autorin die Frage nach dem schenverachtende Hetze, zunehmender Verlust einer ge- Bedeutungsgehalt einer gegenwärtigen politischen Bil- teilten Wirklichkeit (die mittlerweile so genannte post- dung, um schließlich eine strategische Einbindung von truth world), schwindendes Vertrauen in demokratische Bibliotheken in diesem Bereich vorzuschlagen. Institutionen auch in scheinbar gefestigten Demokratien1 haben den Ruf nach politischer Bildung in den letzten Schlüsselwörter: Politische Bildung; Demokratie; politi- Jahren wieder lauter werden lassen.2 Verschreiben sich sche Theorie; Kritische Theorie; Bibliothekswissenschaf- Bibliotheken3 neben der Bereitstellung von Information ten und des Zugangs zu Wissen4 nun explizit auch der politi- schen Bildung, ist dies durchaus begrüßenswert. Auf den Civic Education in Libraries: Challenges and Potentials ersten Blick scheinen Bibliotheken ohnehin prädestiniert Abstract: Building on ongoing discussions about democra- dafür zu sein. Jedenfalls ist eine Verbindung von Wissen cy and libraries in the field of library and information und politischer Teilhabe gegeben und als niedrigschwellig studies, the author aims to contribute to a political theory zugängliche Einrichtungen können Bibliotheken unter- of libraries. While most studies in this field deal with schiedliche Bevölkerungsgruppen erreichen, von denen concepts of the public sphere, the author calls attention to einige sonst nur schwer den Zugang zu den Angeboten der the individual facing current challenges. In a second step, nonformalen, außerschulischen politischen Bildung fin- she focuses on the meaning of civic education nowadays den.5 So heißt es bereits im IFLA/UNESCO-Manifest von and the potential role of libraries in strengthening civic literacy. 1 Vgl. dazu die Studie der Friedrich-Ebert Stiftung: Decker et al. Keywords: Civic education; democracy; political theory; (2019) und die weltweit angelegte Jugendstudie vom Centre for the Critical Theory; library and information studies Future of Democracy: Foa et al. (2020). 2 Das zeichnet sich u. a. in Bundesprogrammen wie „Demokratie leben!“ ab, aber auch bei anderen Förderinstanzen wie der Mercator- Stiftung, die einen ihrer Strategieschwerpunkte nicht mehr in der Inhalt kulturellen, sondern in der europapolitischen Bildung sehen, Merca- tor Stiftung (2020). 1 Theoretische Reflexion – wozu? . . . . . . . . . . . . 301 3 In diesem Artikel liegt der Schwerpunkt auf den Öffentlichen Bi- 2 Bibliotheken und Demokratie: ein selbstver- bliotheken. Damit soll aber nicht suggeriert werden, dass das Thema ständliches Verhältnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 der politischen Bildung keine Relevanz für wissenschaftliche Biblio- 3 Politische Theorie der Bibliotheken. . . . . . . . . . 304 theken hat, vgl. Kranich (2019), Yerbury und Henninger (2020). 4 Das sind die Grundfunktionen von Bibliotheken und bei den Öf- 4 Das Politische der politischen Bildung. . . . . . . . 309 fentlichen Bibliotheken kommt noch der Unterhaltungs- und Freizeit- aspekt dazu. 5 Zu den Potenzialen von Bibliotheken als niedrigschwellig zugäng- *Kontaktperson: Anne Rethmann, anne.rethmann@posteo.de liche Orte vgl. Deutscher Bibliotheksverband (2020). Open Access. © 2022 Anne Rethmann, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
302 Anne Rethmann 1994: „Constructive participation and the development of Was heißt also politische Bildung unter gegenwärtigen democracy depend on satisfactory education as well as on gesellschaftlichen Bedingungen? Welchen Sinn und Zweck free and unlimited access to knowledge, thought, culture erfüllen politische Bildungsangebote für die Demokratie? and information.“6 Was ist der konkrete Zusammenhang von Wissen und Bil- Aber das Engagement von Bibliotheken, eigene Mei- dung und welche Rolle können Bibliotheken in diesem nungsbildung und politisch-gesellschaftliche Teilhabe Bereich einnehmen? Politische Bildung bedarf schließlich durch entsprechende Bildungsangebote zu fördern, ist der theoretischen Beschäftigung mit dem (spannungsgela- nicht voraussetzungslos – nicht nur in Bezug auf die eige- denen) Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. In nen Möglichkeiten wie ausreichend vorhandene personel- diesem Artikel soll das Individuum in den Vordergrund le und infrastrukturelle Kapazitäten, sondern auch bezo- gerückt werden und von Interesse ist die Frage nach der gen auf das Verständnis von Begriffen, die spätestens seit Möglichkeit kritischen Denkens – verstanden als Vorbedin- den 1970er-Jahren in der politischen Bildung eine zentrale gung eines politischen Teilnehmen-Könnens – unter ge- Rolle spielen: Mündigkeit, Urteilskraft und Teilhabe. Das genwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, die Mündig- Reflektieren über die eigene Vorstellung von diesen Begrif- keit erschweren oder gar verhindern. Um ferner die Frage fen (Was beinhalten sie? Auf was sollen sie zielen? In nach den Handlungsfeldern für Bibliotheken im Bereich welchem Verhältnis stehen sie zueinander?) ist kein netter der politischen Bildung beantworten zu können, ist die intellektueller Zeitvertreib für das Bibliothekspersonal, Berücksichtigung von Fachdiskussionen aus den Berei- sondern ein notwendiger Schritt, wenn erstens die Beto- chen der politischen Bildung und der Demokratietheorien nung auf die eigene gesellschaftspolitische Funktion7 und unerlässlich. Sich Klarheit über zentrale Begriffe und Kon- die Selbstbezeichnung als ein „Ort für lebendige Demokra- zepte zu verschaffen und (Fach-)Diskussionen zu verfol- tie“8 nicht nur Lippenbekenntnisse sein sollen und zwei- gen, die jenseits der Bibliotheken stattfinden, ist insofern tens Bibliotheken als ernstzunehmende Partnerinnen in auch wichtig, als damit erst Zuständigkeiten, Kompeten- diesem Bereich wahrgenommen werden wollen, die mit zen und potenzielle Kooperationen für Bibliotheken son- Kooperationsfähigkeit und langfristigen Angeboten selbst diert werden können. Ich diskutiere hier zudem nicht nur entsprechende Bildungsprozesse anregen könn(t)en. eine mögliche strategische Einbindung von Bibliotheken Theoretische Reflexion, d. h. sich etwas bewusst ma- im Bereich der politischen Bildung, sondern zeige auch chen und ein Verständnis von etwas zu entwickeln, hat auf, dass politische Bildung Möglichkeiten der Orientie- Auswirkungen auf die Umsetzung im Bibliotheksalltag und rung bieten kann in einer gegenwärtigen Welt, die zuneh- ist somit nicht isoliert von diesem zu sehen. Theorie und mend orientierungsloser zu werden scheint. Praxis bedingen sich gegenseitig, stehen in einem Span- An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass im nungsfeld und gerade das macht Reflexion notwendig. Ulla Folgenden der Fokus insbesondere auf den USA liegt. Be- Wimmer fasst dies treffend zusammen: „Wir brauchen reits in der Abschlussarbeit im Rahmen meines Referenda- Theorie, sonst ersticken wir irgendwann in der Praxis!“9 riats habe ich mich mit der Thematik beschäftigt und Inter- Ferner ist das Nachdenken darüber, welche Fähigkeiten bei views mit US-amerikanischen Kolleg:innen geführt. Meine wem auf welche Weise gefördert werden sollen und wa- Schwerpunktsetzung begründete ich u. a. damit, dass die rum, insofern wichtig, um insbesondere auch Menschen zu USA auf eine lange (akademische) Tradition zurückblicken erreichen, die bislang von solchen Angeboten gar nicht erst kann, die das Verhältnis von Bibliotheken und Demokratie angesprochen und somit ausgeschlossen worden sind. reflektiert. Dies beruht nicht zuletzt darauf, dass die Idee von einer für alle Menschen offenstehenden Bibliothek mit einem großen Freihandbereich in der amerikanischen Pu- blic Library ihren Ursprung findet. Die Public Library kann 6 IFLA (1994). dabei nicht nur wegen der Freihandaufstellung als Vorbild 7 In der dbv-Stellungnahme heißt es: „Die Meinungs- und Informati- betrachtet werden, sondern auch wegen des Zusammen- onsfreiheit aus Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bildet die verfassungsrechtliche Grundlage bibliotheka- bringens von wissenschaftlicher und populärer Literatur rischer Praxis. Indem sie die informationelle Grundversorgung aller in einer Bibliothek. Dieser Anspruch auf Wissen für alle Bürger*innen mit ihrem überparteilichen und qualitätsgeprüften Me- trägt einen zutiefst demokratischen Charakter und wendet dien- und Informationsangebot fördern, übernehmen Bibliotheken sich gegen die teilweise in Deutschland immer noch vor- als besucherstärkste Bildungs- und Kultureinrichtungen eine zentrale handene elitäre Unterscheidung von Populärkultur und demokratische und gesellschaftspolitische Funktion.“ Deutscher Bi- bliotheksverband (2019). Hochkultur. Diese amerikanische Tradition, aber auch die 8 Deutscher Bibliotheksverband (2019). gegenwärtigen Outreach-Initiativen und Programme im 9 Wimmer (2015) 88. Bereich Civic Education and Engagement seitens amerika-
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale 303 nischer Bibliotheken können als „Vergleichsfolie“10 für die more to the point, libraries can also be important assets in eigenen Antworten auf ähnliche gesellschaftliche Heraus- nondemocratic regimes.“13 Indem er darauf verweist, dass forderungen dienen. Bibliotheken auch in nicht-demokratischen Staaten als wichtig erachtet werden, wendet sich Buckland gegen eine vorschnelle Assoziation von Demokratie und Bibliotheken. Ferner kritisiert er: „United States writings on librarianship 2 Bibliotheken und Demokratie: ein have a tendency to treat democracy as an essential (inhe- selbstverständliches Verhältnis? rent) feature of librarianship rather than an accidental (historically contingent) feature of librarianship.“14 Eine Im Juni 1941 auf der Annual Conference of the American ähnliche Zurückhaltung formulierte bereits 1938 der nord- Library Association (ALA) verlas Luther H. Evans die Gruß- amerikanische Bibliothekswissenschaftler Sydney Mit- worte des damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roo- chell in seiner Präsidentschaftsansprache vor der Califor- sevelt. Dieser formulierte darin seine Sicht auf Biblio- nia Library Association, die den Titel trug: „The public theken als „essential to the functioning of a democratic library in defense of democracy“. Darin betonte Mitchell, society“, als „great symbols of the freedom of the mind“, dass Bibliotheken selbst auf demokratische Verhältnisse und er betonte auf diesem Weg ihre gesellschaftspolitische angewiesen seien. Denn in „the totalitarian state the libra- Bedeutung, wenn nicht sogar Verantwortung, die ihr gera- rian becomes merely an agency for propaganda, for the de in konfliktreichen Zeiten zukomme.11 dissemination of such information as the authorities care Das Jahr 1941 war nicht irgendein Jahr: Im Januar 1941 to pass on.“15 Die Beteiligung – sei sie nun aktiv oder passiv hielt Roosevelt vor dem US-Kongress seine berühmte Rede gewesen – vom deutschen Bibliothekspersonal an der über die Four Freedoms – über Redefreiheit, Religionsfrei- Konzeption und Umsetzung nationalsozialistischer Kam- heit, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht –, die später pagnen wie das Erstellen von sogenannten schwarzen Lis- nicht nur die Gründung der Vereinten Nationen normativ ten und die darauf folgende Aussonderung von Büchern prägen sollten, sondern auch 1948 in der Präambel der aus dem Bestand der jeweiligen Bibliothek, aber auch das Universellen Erklärung der Menschenrechte explizit ge- Herausdrängen jüdischer und politisch missliebiger Kol- nannt wurden. Sechs Monate nach der ALA Konferenz leg:innen unterstreicht diese Analyse.16 griffen die Japaner am 7. Dezember 1941 Pearl Harbor an, Abgesehen davon war selbst in demokratisch verfass- woraufhin die USA ihren Eintritt in den Zweiten Weltkrieg ten Gesellschaften wie in den USA ein Einhergehen von erklärten. Demokratie und Bibliotheken mit ihrem Versprechen auf Mehr als achtzig Jahre später sind die gesellschafts- freien und gleichen Zugang zu Wissen nicht automatisch politischen Kontexte andere, aber Roosevelts Sichtweise gegeben. Die widersprüchliche Geschichte der US-ame- auf Bibliotheken als „symbols of the freedom of the mind“ rikanischen Demokratie, wo die Idee der Public Library als stößt nach wie vor auf große Zustimmung.12 Angesichts ein Ort für alle ihren Ursprung findet und die seit ihrer dessen scheint der Informationswissenschaftler Michael Gründung auch immer eine wichtige Anlaufstelle für Im- Buckland eine Gegenposition einzunehmen, wenn er migrant:innen war und nach wie vor ist, erlaubt diesen schreibt: „It is widely accepted that libraries are important Kurzschluss von Demokratie und Bibliothek nicht. for sustaining Western liberal democracy. But so is oil, and, In „Part of our Lives: A People’s History of the Ame- rican Public Library“17 stellt Wayne Wiegand die Perspek- tiven und Erfahrungen der Amerikaner:innen mit ihren 10 Kloubert (2019) 7. Öffentlichen Bibliotheken18 vor. Mit diesem Rück- und Ge- 11 Roosevelt (1941). 12 Exemplarisch wären hier zu nennen Nancy Kranichs Sammelband „Library and Democracy“, der den Untertitel „The Cornerstones of 13 Buckland (2009) 272. Liberty“trägt: Kranich (2001), (2020) und die Stellungnahme des 14 Buckland (2009) 272. Deutschen Bibliotheksverbands, die anlässlich des 70-jährigen Jubi- 15 Mitchell (1939). läums des Grundgesetzes im Jahr 2019 mit dem Titel „Bibliotheken 16 Vgl. Kuttner und Vodosek (2017). und Demokratie“ veröffentlicht wurde. Darin heißt es u. a., Biblio- 17 Wiegand (2017). theken seien Orte gelebter Demokratie und übernehmen mit ihrem 18 Zur Großschreibung des Buchstabens „Ö“: Mit dieser Schreibwei- Medien- und Informationsangebot eine zentrale demokratische Funk- se soll unterstrichen werden, dass es sich hierbei um einen Gattungs- tion: Deutscher Bibliotheksverband (2019); dazu auch IFLA (1994) begriff handelt. Wimmer zufolge beschreibt das Wort „wissenschaft- und die von der ALA 1939 erstmals formulierten Hauptaufgaben von lich“ lediglich den Charakter einer Bibliothek, Wimmer (2019) 34. Bibliotheken. Dazu zählt u. a. der freie Zugang zu Wissen und Infor- Aber zu einem eigenständigen Bibliothekstyp wurde „die Stadtbiblio- mation, American Library Association (2006). thek durch ihre Ausrichtung auf die gesamte Bevölkerung [...], durch
304 Anne Rethmann genwartsblick zeigt er insbesondere die emanzipatorische, voraussetzung für Mündigkeit und Urteilsfähigkeit ver- die auf einen Zugewinn an Freiheit und Gleichheit zielende standen werden kann. Und „eine Demokratie, die nicht Seite von Bibliotheken, die nicht nur diesen Anspruch nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten haben, sondern de facto auch so sein können: offen, ein- soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirk- ladend, unterstützend und nicht-diskriminierend. Aber lichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vor- der Autor bringt ebenso das Nachwirken der im Jahr 1865 stellen.“23 abgeschafften Sklaverei zur Sprache. Als beispielsweise in An dieser Feststellung von Theodor W. Adorno knüpfe Atlanta 1902 die erste Public Library der Stadt eröffnet ich in meinen Überlegungen an, um somit auch zu zeigen, wurde, war es der afroamerikanischen Bevölkerung unter- dass die Wissenskategorie ein wesentlicher Bezugspunkt sagt, diese zu benutzen. W.E.B. Du Bois stellte ironisch ist, an dem Bibliotheken in ihrer politischen Bildungsar- fest, dass er zwar Steuern zahlte für die Carnegie Public beit ansetzen können. Library of Atlanta, dort aber selbst keine Bücher ausleihen dürfte.19 Anstatt die Bibliothek für alle zu öffnen, wurde 19 Jahre später eine separate Bibliothek für die afroamerika- nische Bevölkerung eröffnet.20 Die von den Südstaaten- 3 Politische Theorie der Demokraten beschlossenen Jim-Crow-Gesetze mit ihrem Bibliotheken de facto diskriminierenden Grundsatz von „separate but equal“ wurden erst mit dem Civil Rights Act und dem Das Verhältnis von Bibliotheken und moderner Demokra- Voting Rights Act Mitte der 1960er-Jahre abgeschafft, und tie ist – wie oben dargelegt – nicht eindeutig bestimmbar. eine rassistisch begründete räumliche und soziale Tren- Auch in der Wissenschaft war und ist dieses Verhältnis nung öffentlicher Bereiche ist seitdem zumindest rechtlich immer wieder Gegenstand von bibliotheksspezifischen untersagt.21 Wiegands Institutionengeschichte der Biblio- Fachdiskussionen (LIS).24 Eine der ersten wissenschaftli- theken kann somit auch als eine Geschichte der Demo- chen Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex kratie in den USA seit dem 19. Jahrhundert verstanden nahm der Historiker Sidney Ditzion vor.25 Dieser beschrieb werden. Genau diese Widersprüche zu benennen, heißt den Entstehungsprozess der Free Public Libraries in Neu- allerdings nicht, die von Roosevelt genannten normativen england und im Mittleren Westen der USA in der Zeitspan- Ansprüche an Bibliotheken als reine Ideologie abzutun, ne von 1850 bis 1900. Diese ersten steuerfinanzierten städ- sondern ganz im Gegenteil: Gerade durch das Aufzeigen tischen Bibliotheken wurden – so Ditzion – zunehmend zu der Widersprüche wird es erst möglich, Kritik zu formulie- Orten, an denen Öffentlichkeit entstand. So waren die Öf- ren, Bibliotheken an ihrem eigenen Maßstab zu messen, fentlichen Bibliotheken in der Anfangszeit auch noch nicht ihre Grenzen und Potenziale zu bestimmen. für Kinder gedacht, sondern dezidiert für Erwachsene: Das Interessante und gleichzeitig das zu Präzisierende „The recognized need for informed voters in a democracy an Roosevelts Zuschreibungen, Bibliotheken seien für das along with a deeply rooted faith in the value and possibility Funktionieren von Demokratien wesentlich und würden of self-improvement favored this development.“26 Ziel war symbolisch für Gedankenfreiheit stehen, ist also die dahin- aber weniger die Förderung von Mündigkeit und Kritik- terstehende Annahme: Indem Bibliotheken den Zugang fähigkeit. Vielmehr, so schreibt Margaret P. Redfield in zu Wissen (in welcher Form auch immer)22 gewährleisten ihrer Rezension zu Ditzions „Arsenals of a democratic cul- und fördern, stellen sie das zur Verfügung, was als Grund- ture“, sollten die Arbeiter:innen in ihrem Arbeitsprozess effizienter werden, indem ihnen der Zugang zur Fachlitera- tur ermöglicht wurde. Ein weiterer Zweck, den diese Biblio- die Vielfalt der Nutzungszwecke, durch ihre Bedeutung als Einrich- theken erfüllen sollten, war das Fernhalten der Leute von tung der Chancengleichheit und des freien Zugangs zu Bildung, Kul- tur und Information für alle Mitglieder der Gesellschaft.“, Wimmer (2019) 15. 19 Wiegand (2017) 8. 20 Popowich (2019) 6. verschiedenster Formate ist meines Erachtens dabei ausschlagge- 21 Einen sehr guten Überblick über den Kampf um Gleichbehand- bend und wird noch Gegenstand des Artikels sein. lung von aus den Südstaaten kommenden afroamerikanischen Biblio- 23 Adorno (2013a) 107. thekarinnen während der Jim-Crow-Ära bietet der Artikel von Poole 24 Bibliotheks- und Informationswissenschaften wird in diesem Ar- (2018). tikel mit der englischen Bezeichnung LIS (Library and Information 22 Das kann über den Bestand, über Dialogformate, Informations- Science) abgekürzt. veranstaltungen, Wissenschaftskommunikation oder über die Ver- 25 Ditzion (1947). mittlung von Informationskompetenz erfolgen. Ein Zusammenspiel 26 Redfield (1948).
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale 305 der Straße „away from ‘the low amusements of the poor’ to Autors, aber er teilt nicht dessen Konklusion. Wiegand discourage delinquency and crime.“27 zeigt in seiner historisch-empirisch angelegten Studie, dass Der Großindustrielle und Philanthrop Andrew Carne- die Verbindung von Demokratie und Bibliotheken eher gie, auf dessen Initiative beinahe 1 700 Öffentliche Bib- schwach sei und die Rolle der Bibliotheken in diesem Zu- liotheken in den USA gebaut wurden, steht für diese pa- sammenhang überschätzt werde. So zitiert Wiegand auch ternalistische Haltung exemplarisch: Auf der einen Seite die ehemalige Richterin am Supreme Court Sandra Day investierte er in zahlreiche Bibliotheksbauten und legte O’Connor, die vor einem Publikum im Jahr 2013 nüchtern somit den Grundstein für den freien Zugang zu Wissen, konstatierte, dass die amerikanische Gesellschaft in einem gleichzeitig ging er aber brutal gegen seine Arbeiter vor, erschreckenden Ausmaß an Unwissenheit in Bezug auf die für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen in den öffentliche Angelegenheiten leide.35 Und Wiegand fügt Streik traten. Der Homestead Steel Strike von 1892 gehört dem hinzu: zu den gewalttätigsten Arbeitskonflikten in der amerika- nischen Geschichte.28 Ditzion thematisiert diese Fakten. „If Americans care to be better informed, the 17,219 public library facilities available to them [...] will provide this information for Neben der Institutionengeschichte gebe das Buch daher free. [...] Still, if surveys are accurate about how poorly informed auch, so Redfield, „some insight into the difficulties in most Americans are, one has to wonder whether the public building up democratic institutions in general.“29 Sie be- library’s rhetoric as an institution essential to democracy holds mängelt allerdings, dass der Autor wenig bzw. gar nicht up against this evidence.“36 auf Details eingeht wie beispielsweise auf Fragen, welche Literatur genau von den Bibliotheken als Trivialliteratur Buschman sieht darin jedoch eine Verengung des Blicks. verbannt wurde und wie gleichzeitig dem Publikum das Es komme darauf an, die veränderten Bedingungen ein- Interesse für bestimmte Literatur nahegebracht werden zubeziehen in die Fragestellung, ob Bibliotheken eine Rol- sollte. Sie endet ihre Rezension mit dem Satz, der im Jahr le in der Demokratiestärkung einnehmen (können). Wie- 2022 nicht aktueller sein könnte: „Now more than ever, gand vernachlässige das und somit die Potenziale von when democratic culture is in difficulties, we should like to Bibliotheken: know to what degree the libraries actually are the ‘arse- nals’ that they were conceived to be.“30 „The formal site of politics and political participation—govern- ment and the state—has eroded, but democratic politics now In den letzten Jahren wird diese Frage wieder vermehrt exist in multiple social venues [...] In other words, democracy gestellt. Nancy Kranichs Sammelband „Libraries and De- takes place directly and indirectly in venues not commonly mocracy“31 kann als Auftakt der verstärkten Fokussierung thought of as sites for it but where everyday life is negotiated and auf das Thema betrachtet werden und markiert darüber played out (e.g., libraries), thereby constructing the culture.“37 hinaus auch den Arbeitsschwerpunkt ihrer ALA Präsident- schaft 2000/2001. Von akademischer Seite aus setzt sich Die Frage stellt sich hier wiederum, ob tatsächlich Demo- bis dato besonders John Buschman mit der Thematik aus- kratie heute in diesen gesellschaftlichen Räumen stattfin- einander. In „Dismantling the Public Sphere“32 kritisiert er, det oder ob die Aussage von Buschman selbst normativ dass sich das Bibliothekswesen zu sehr mit Detailfragen geprägt ist und in der Realität so nicht vorzufinden ist.38 beschäftige, anstatt selbst eine intellektuelle Basis für die Ferner steht hinter dieser Annahme eine spezifische Vor- Verteidigung der eigenen Werte zu entwickeln. Die soziale stellung von Demokratie, die sich einerseits an deliberati- Rolle von Bibliotheken sei durch gesellschaftliche, sprich ven Demokratietheorien mit dem Fokus auf Diskurs und neoliberale Veränderungen gefährdet und das bedürfe ei- Öffentlichkeit (public sphere) orientiert und andererseits ner Antwort seitens der Bibliotheken.33 In „On Democracy an partizipativen Demokratietheorien, die bürgerschaftli- and Libraries“34 analysiert er Wiegands „Part of our Lives“. ches Engagement und Gemeinwohlorientierung stark be- Buschman schätzt zwar die ausführliche Darstellung des tonen. Die für moderne Demokratien konstitutiven rechts- staatlichen Verfahren und Vorkehrungen wie Wahlen und Schutz des Individuums vor tyrannischen Mehrheiten (wie 27 Redfield (1948). einst dies Alexis de Tocqueville treffend formulierte) spie- 28 Vgl. Mickelson (1975) 131. 29 Redfield (1948). 30 Redfield (1948). 31 Kranich (2001), Kranich (2020). 35 Wiegand (2017) 264. 32 Buschman (2003). 36 Wiegand (2017) 264. 33 Vgl. Buschmann (2017), Buschmann (2020). 37 Buschman (2018) 34. 34 Buschman (2018). 38 Vgl. dazu Popowich (2019) 18 f.
306 Anne Rethmann len gerade bei den partizipativen Theorien eine unterge- konzept inspiriert worden.43 In diesem Kontext sei auch die ordnete Rolle.39 quantitativ angelegte Studie erwähnt, die in sechs europäi- Buschman fordert nun, dass die LIS selbst eine politi- schen Ländern im Jahr 2017 durchgeführt und 2019 ver- sche Theorie für/der Bibliotheken entwickeln müssten.40 öffentlicht wurde.44 Die Umfragen richteten sich zum einen Was heißt das im Konkreten bzw. was muss eine politische an die jeweilige Bevölkerung und zum anderen an das Theorie eigentlich leisten? Ihrem eigenen Anspruch nach Bibliothekspersonal. In vergleichender Perspektive soll- richtet sie das Erkenntnisinteresse auf die Beurteilung nor- te herausgefunden werden, welchen Stellenwert Biblio- mativer Annahmen und fragt nach den praktischen Aus- theken für die digitale und demokratische Gesellschaft wirkungen, die diese haben können. Franz Neumann fasst einnehmen. Aus den Ergebnissen der Studie, so der betei- das nochmals ein wenig konkreter, wenn er bezogen auf ligte Bibliothekswissenschaftler Hans-Christoph Hobohm, die individuelle Freiheit schreibt: kann resümiert werden, dass selbst trotz der Bibliotheks- gesetzgebung in den skandinavischen Ländern mit ihrer „Die Wahrheit der politischen Theorie ist die Freiheit. Daraus expliziten Bezugnahme auf Demokratie die Rolle von Bi- ergibt sich ein grundsätzliches Postulat: da keine politische Ord- bliotheken im Bereich der Demokratieförderung in allen nung die politische Freiheit vollkommen verwirklichen kann, muß die politische Theorie immer kritisch sein. Eine konformisti- untersuchten Fällen nicht so stark ins Bewusstsein der sche politische Theorie ist keine Theorie.“41 Interviewten getreten ist, wie hätte vermutet werden kön- nen.45 Sein Fazit knüpft schließlich an die Idee von Biblio- Auffällig ist jedenfalls, dass sich das Gros der wissen- theken als Orte für Debatten46 an: schaftlichen Arbeiten in den LIS, die sich in den letzten Jahren mit der Thematik Demokratie und Bibliotheken „Reicht die neutrale Konsensorientierung des Rationalismus, bei beschäftigen, vor allem mit dem Öffentlichkeitsbegriff ar- der Bibliotheken ‚nur‘ zur Wissensgenerierung für den rationa- len Diskurs beitragen oder bedeutet ‚Arena‘ oder ‚Agora‘ nicht beiten. Diese thematische Beschäftigung mit dem Begriff viel mehr Debatte, Einmischen und Dialog in der persönlichen Öffentlichkeit im Zusammenhang mit Demokratie nimmt Begegnung? Vielleicht doch auch ganz im Sinne des Diktums nicht nur im englischsprachigen Raum, sondern auch in von David Lankes, dass Wissen nur durch Konversation entsteht. Deutschland und Europa einen großen Stellenwert ein. Und viel Wissen und Konversation braucht die Demokratie in Insbesondere in den skandinavischen Ländern lässt sich Zeiten disruptiver Erneuerungen.“47 in Bezug auf bibliothekspolitische Strategien eine explizite Hervorhebung der Verbindung von Demokratie mit der Eric Klinenberg, der Öffentliche Bibliotheken als „among Öffentlichkeitsfunktion von Bibliotheken erkennen, die the most critical forms of social infrastructure that we teilweise sogar Eingang in die nationale Gesetzgebung have“48 versteht, geht in eine ähnliche Richtung. Er argu- gefunden hat: mentiert, dass öffentliche Orte wie Bibliotheken entschei- dend seien für die Förderung einer Diskussionskultur. Die- „As far as libraries are concerned, this is reflected in recent se betrachtet er wiederum als Voraussetzung für eine changes in library legislation in Norway, Sweden, and Finland, funktionierende Demokratie, die sich durch kulturelle und focusing upon the libraries’ role as meeting place and arenas for debate (Norway), institutions promoting the free formation of soziale Vielfalt auszeichne. opinion (Sweden), and active citizenship and democracy (Fin- Bezogen auf die Frage, in welchem Verhältnis Biblio- land).“42 theken und Demokratie stehen, kann resümierend gesagt werden, dass bei dem Gros der Arbeiten der kommunikati- Viele dieser Arbeiten zu Public Sphere sind dabei insbe- ve Aspekt mit einem starken Fokus auf das Gemeinschaft- sondere von Jürgen Habermas und dessen Öffentlichkeits- 43 Vgl. Audunson et al. (2020), Buschman (2003), (2005), (2019), 39 Der begrenzte Umfang lässt hier keinen Raum für eine tiefer- Widdersheim und Koizumi (2016), Widdersheim und Koizumi (2020). gehende Auseinandersetzung mit den Theorien. Es sei jedoch darauf Über die unterschiedlichen und zum Teil kontrovers diskutierten verwiesen, dass es nicht die eine deliberative oder partizipative De- theoretischen Zugänge zum Öffentlichkeitskonzept gibt Larsen einen mokratietheorie gibt. Es gibt unterschiedliche partizipative Verfahren sehr guten Überblick (2021). Eine systematische Analyse zur For- und es gibt unterschiedliche deliberative Theorien: von expertenori- schungsliteratur haben Vårheim et al. (2019) verfasst, dazu auch entierten bis zu bürgerorientierten Ansätzen. Ferne können die Gren- Audunson et al. (2019a). zen zwischen diesen beiden Theorien fließend sein, vgl. Geissel 44 Audunson et al. (2019b), Hobohm (2019). (2020). 45 Hobohm (2019) 22. 40 Buschman (2007), dazu auch Widdersheim (2018). 46 Johnston und Audunson (2019). 41 Neumann (1967) 102. 47 Hobohm (2019) 22. 42 Audunson et al. (2020) 4. 48 Klinenberg (2018) 32.
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale 307 liche, auf Community Building zentral ist49 und dies wie- chen Startchancen geschaut werden, denn es gebe einen derum oft normativ begründet wird. An dieser Stelle möch- lebenslänglichen Herkunftseffekt. Folgende Fragen seien te ich betonen, dass eine normative Argumentation per se vor diesem Hintergrund also relevant: Was bedeutet es, in nicht das Problem ist, ganz im Gegenteil: Eine (kritische) Armut aufzuwachsen? Warum nutzen arme Menschen ten- Theorie ist auf sie angewiesen, sie bedarf der Vorstellung denziell Bibliotheken weniger und machen seltener oder eines Dritten. Dieser „Begriff von einer verschiedenen Far- gar nicht Gebrauch von ihrem Wahlrecht? Diese Fragen be“, wie Adorno es nennt,50 muss allerdings als solche müssen sich El-Mafaalani zufolge steuerfinanzierte Ein- explizit gemacht werden. Das ist einerseits notwendig, um richtungen wie Bibliotheken und Museen stellen. Wenn der Kritik an der Vorstellung selbst üben zu können (auf was Umgang mit struktureller Knappheit langfristige Auswir- ist sie gerichtet?) und andererseits, um zu verhindern, dass kungen auf das Verhalten hat – dazu zählt laut El-Mafaa- indirekt der Anspruch zum Fakt gemacht wird. Offen bleibt lani Risikovermeidung und ein eher kurzfristiges, prag- zum Beispiel, ob Wissen per se durch (vermeintlich) un- matisches Denken –, dann muss dieses auch bei der mittelbare Konversation entstehen kann, wie dies beson- Konzipierung von Bibliotheksangeboten mitgedacht wer- ders von David Lankes51 vertreten wird, und inwiefern kon- den. Hannah Arendt hat diesen Sachverhalt einst gut auf versationsorientierte Formate ohne Anbindung an die den Punkt gebracht: „Education is very nice, but the real gesellschaftlichen Konstellationen überhaupt zum politi- thing is money.“53 Allein auf partizipative Einbindung54 zu schen Denken (und Handeln) anregen. setzen, die zudem auch als Zwang zur Partizipation wahr- Es wird mit dieser Perspektive auch weniger auf die genommen werden kann, ist also zu wenig, da es schon viel Frage eingegangen, welche subjektiven und objektiven zu voraussetzungsvoll ist. Eine einseitige Fokussierung auf Voraussetzungen für die Individuen gegeben sein müssen, partizipative Verfahren läuft zudem Gefahr, wieder nur um am Öffentlichen Leben teilnehmen und teilhaben zu eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen, die ohnehin können. Mit der theoretischen Perspektive der Öffentlich- schon politisch interessiert und engagiert ist. keitsfunktion von Bibliotheken können zwar gesellschaft- Darüber hinaus ist die Neoliberalisierung politischer liche Probleme wie zunehmende Privatisierungen öffent- Institutionen, die Bürger:innen zu Kunden:innen und licher Angelegenheiten und Bereiche zur Sprache gebracht Konsumierenden macht, laut Wendy Brown umfassend werden und es kann damit auch auf die zentrale Bedeu- (2010).55 Wenn – an Brown anknüpfend – (behauptete) tung von Öffentlichkeit für Demokratien verwiesen wer- Effizienz zum alleinigen Kriterium von gutem Regieren den. Aber bei der Frage, ob und wie diese Vorstellungen wird und Partizipation dazu tendiert, sich zu einer wei- von Öffentlichkeit in einer nicht-harmonischen Realität teren Technik der Selbstverwaltung zu entwickeln, anstatt umgesetzt werden können, bleibt die Antwort in der Ten- Selbstbestimmung der Individuen zu fördern,56 dann wer- denz vage. Hierfür ist ein Blick auf die Verfasstheit der den die Möglichkeiten, Politik mitzugestalten rar, da Poli- Individuen unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingun- tik selbst entpolitisiert ist. In diesem Sinne kritisiert auch gen unerlässlich. Die in diesem Zusammenhang relevan- Danielle Allen den derzeitigen Zustand politischer Institu- ten und erkenntnisversprechenden LIS-Arbeiten sind vor tionen. Ihre Kritik bezieht sich zwar auf die USA, sie kann allem diejenigen, die sich mit dem Verhältnis von freiem aber als paradigmatisch für liberale Demokratien insge- Zugang zu Wissen (u. a. über Bibliotheken), Nicht-Nutzung samt gelesen werden: und Armut beschäftigen.52 Auf dem Zweiten Bibliothekspolitischen Kongress 2021 „So when we look around and we see that lots of people are disaffected or alienated or feel disempowered, that doesn’t just hat der Erziehungswissenschaftler El-Mafaalani in seinem mean that they’re sort of haven’t got enough education or don’t Vortrag „Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr have the right perspective. It also means that our institutions Bildungssystem und seine Zukunft“ genau auf diese Pro- aren't delivering what they promise. They’re not responsive. blematik hingewiesen. So könne zwar Bildung ein Ausweg aus der Armut sein, aber gleichzeitig legitimiere Bildung soziale Ungleichheit. Es müsse viel stärker auf die unglei- 53 Arendt (1977) 106. 54 Ferner lohnt es sich, Partizipationsformen genauer anzuschauen. 49 Vgl. dazu auch Wimmer (2020) 16 f. Ist damit nur „joining the game“ gemeint oder gibt es auch „the 50 Adorno (2003) 370. possibility to question the rules of the game“?, s. Engström und 51 Lankes (2011) 117. Dahlquist (2020) 318. 52 Clarke et al. (2011), Mckeown (2016), Thompson (2011), Wheeler 55 Brown (2010). (2021). 56 Vgl. Engström und Dahlquist (2020) 328.
308 Anne Rethmann They don’t generally empower ordinary people and they very Einführung eines Unterrichtsfaches für die politische Bildung – often don’t deliver sort of equal representation.“57 analog zu den ‚Social Studies‘ in den USA.“59 Mit welchen gesellschaftlichen Konsequenzen muss also Es stellt sich aber grundsätzlich die Frage, ob ein Anknüp- gerechnet werden, wenn politische Akteure, Regierende fen an aufklärerische Ideale – wie das vom Individuum als nicht in der Lage sind, das Leben der Menschen, die sie ein moralisches Subjekt und somit ein eigenverantwortlich gewählt haben, zu verbessern? Was bedeutet es, wenn der handelndes Individuum – ohne Weiteres möglich ist. Dies Umschlag von demokratischen in autoritäre Staaten oder vorauszusetzen, anstatt das Fehlen zum Ausgangspunkt gar Diktaturen nicht durch einen Putsch, sondern schlei- der Überlegungen zu machen, weist ein Moment der Indif- chend erfolgt unter formal eingehaltenen demokratischen ferenz gegenüber der Wirklichkeit auf, die es den meisten Prozeduren? Und wie soll damit umgegangen werden, Menschen gerade schwer macht, den eigenen Lebensinhalt wenn Menschen dies nicht als problematisch betrachten, zu bestimmen.60 Die gegenwärtige Einrichtung der Welt, so solange ein gewisser Wohlstand im Privaten gesichert ist? schreibt Adorno dann auch, „übt einen so ungeheuren Oftmals liegt der politischen Bildung aber ein Men- Druck auf die Menschen aus, daß er alle Erziehung über- schenbild zugrunde, welches diese gesellschaftlichen Be- wiegt. Es wäre wirklich idealistisch im ideologischen Sinn, dingungen vernachlässigt und sich vielmehr exklusiv an wollte man den Begriff der Mündigkeit verfechten, ohne dem Humboldt’schen, neuhumanistischen Bildungsideal daß man die unermeßliche Last der Verdunkelung des von Mündigkeit zu orientieren scheint. Diese Fähigkeit, für Bewußtseins durch das Bestehende mitaufnimmt.“61 Shan- sich selbst zu sprechen, gilt seit Immanuel Kants „Beant- non Mariotti greift mit Bezug auf Adorno diese Problematik wortung der Frage: Was ist Aufklärung“ als elementarer auf und wendet sie auf die Gegenwart an: „How can one Bestandteil westlicher Bildung. John Dewey, einer der argue that liberal capitalism cultivates a passive citizenry wichtigsten theoretischen Bezugspersonen für die politi- and also argue that it is possible today to foster indepen- sche Bildung, knüpfte hier mit „Democracy and Educati- dent thinking and action?“62 Diese Fragen und die Frage, on“ (1916) an, erweiterte es jedoch um eine praktische inwiefern den Einzelnen die Übernahme von persönlicher Dimension: Bildung sei nicht auf abstraktes Wissen zu Verantwortung für ihr Verhalten dennoch zugemutet wer- reduzieren, sondern müsse bei den Lebensrealitäten an- den kann und auch muss, bilden die Konstante in der setzen und durch gemeinsames Lösen von Problemen zum politischen Bildungsarbeit, die Mündigkeit zwar nicht ga- eigenständigen Denken ermuntern. Demokratie ist Dewey rantieren kann, aber fördern will.63 Vor dem Hintergrund, zufolge nicht nur eine Staats-und Regierungsform, son- dass Mündigkeit keine statische, sondern eine dynamische dern auch Gesellschafts- und Lebensform. Deweys Kon- Kategorie darstellt, ist es hilfreich, Adornos Verständnis zepte sind besonders für Deutschland relevant. So waren von Erziehung hier zu erwähnen, da er das Spannungsver- seine Bildungskonzepte für die amerikanische Ausrich- hältnis zwischen Mündigkeit voraussetzen und zu Mündig- tung der Re-Education nach Kriegsende leitend:58 keit erziehen präzisiert: „Für die Amerikaner standen dabei die Reform des Bildungs- „Ich möchte es danach riskieren, auf einem Beine stehend, zu wesens und seine Demokratisierung im Mittelpunkt. Ihr Ziel war sagen, was ich mir zunächst unter Erziehung überhaupt vorstelle. die Übertragung des amerikanischen Schulsystems in ihre Besat- Eben nicht sogenannte Menschenformung, weil man kein Recht zungszone, und das bedeutete: Stufen- oder Einheitsschule (heu- hat, von außen her Menschen zu formen; nicht aber auch bloße te würden wir sagen: Gesamtschule), egalitäre Erziehung mit Wissensübermittlung [...], sondern die Herstellung eines richtigen Chancengleichheit, kooperatives Verhältnis zwischen Lehrer Bewußtseins. Es wäre zugleich von eminenter politischer Bedeu- und Schülern, Erziehung zur Selbstständigkeit im Denken und tung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert. Handeln, Vermittlung von demokratischen Grundwerten sowie Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen. Wer innerhalb der Demokratie Erziehungs- 57 Allen (2020). Allen ist eine der Initiator:innen der im März 2021 öffentlich gemachten US-Initiative „Educating for American Demo- 59 Gagel (2002). cracy“. Diese – auch wenn sie erst einmal nur für den formalen 60 Eine sehr erkenntnisfördernde Arbeit zum Begriff der Mündigkeit Bildungsweg vorgesehen ist – steht exemplarisch für eine Rückbesin- in der politischen Bildung und ihren normativen Voraussetzungen nung auf historisch-politische Bildung in den USA. hat Stefan Müller (2020) verfasst. 58 Die Konzepte aus den USA stießen allerdings auch auf (starke) 61 Adorno (2013a) 108 f. Abwehr. Beispielsweise scheiterte die Initiative zur Schulreform am 62 Mariotti (2014) 435. Widerstand der deutschen Kirche und der Christdemokraten. 63 Müller (2020).
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale 309 ideale verficht, die gegen Mündigkeit, also gegen die selbständi- wendungen aber oftmals keine theoretischen und prak- ge bewußte Entscheidung jedes einzelnen Menschen, gerichtet tisch pädagogischen Konzepte zugrunde.68 Ferner zeichne sind, der ist antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvor- sich in dieser Entwicklung ein Paradigmenwechsel inner- stellungen im formalen Rahmen der Demokratie propagiert. Die halb der politischen Bildungsarbeit ab: von der auf Mün- Tendenzen, von außen her Ideale zu präsentieren, die nicht aus dem mündigen Bewußtsein selber entspringen, oder besser viel- digkeit zielenden politischen Bildung hin zu einer eher auf leicht: vor ihm sich ausweisen, diese Tendenzen sind stets noch Prävention orientierten Demokratieförderung.69 Vor dem kollektivistisch-reaktionär. Sie weisen auf eine Sphäre zurück, Hintergrund dieser begrifflichen Verschiebung lohnt ein der man nicht nur äußerlich politisch, sondern auch bis in sehr genauerer Blick auf die Inhalte und Zielsetzungen der viel tiefere Schichte opponieren sollte.“64 politischen Bildung, um über diesen Weg die Unterschiede und das Verhältnis von politischem und sozialem Lernen In diesem Sinne gilt es also auch, den Fokus auf die gesell- aufzeigen zu können. schaftlichen Bedingungen und Verhältnisse zu legen, die Generelles Ziel der politischen Bildung ist, so kann Mündigkeit gar nicht erst zulassen und den Menschen – zusammengefasst werden, den Menschen politische wie Fritz Bauer betonte – oft vergeblich nach Luft schnap- Strukturen und Sachverhalte sowie historisch-politisches pen lassen.65 Dieses Dilemma aufzugreifen muss Teil der Grundlagenwissen zu vermitteln, um somit wissensbasier- politischen Bildungsarbeit sein. Ohne diesen Schritt wür- te Urteile fällen und Handlungsmöglichkeiten erkennen zu den sie ihrem Anspruch, Mündigkeit und Urteilskraft zu können (civic literacy). Dabei geht es heute nicht mehr nur fördern, nicht mehr gerecht werden können. um die reine Weitergabe von Institutionenwissen und ver- fassungsrechtlichen Kenntnissen, sondern auch um die aktive Förderung politischer Teilnahme. Wolfgang Sander unterscheidet idealtypisch zwischen drei Grundmustern 4 Das Politische der politischen der politischen Bildung hinsichtlich der Zielsetzung: 1) Bildung Herrschaftslegitimation, 2) Mission und 3) Mündigkeit:70 Die Funktion der Herrschaftslegitimation diene der Anpas- Zwei charakteristische Merkmale teilt sich die politische sung und der Erziehung zur Treue gegenüber dem Staat. Bildungsarbeit mit Bibliotheken: ihr Engagement im Be- Das Grundmuster Mission verstehe politische Bildung als reich der nonformalen Bildung und ihr Anspruch, Mög- ein Instrument zur Verbesserung gesellschaftspolitischer lichkeiten für lebenslanges Lernen zu eröffnen. So schreibt Verhältnisse. Hier kann von einer klassischen Konstellati- auch Oskar Negt: „Demokratie ist die einzige staatlich ver- on von Lehrenden zu Lernenden gesprochen werden. San- fasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – der sieht dieses Grundmuster vor allem in der Gründungs- früh, im Kindergarten, aber auch im hohen Alter.“66 Die phase der Bundesrepublik, aber auch in der Arbeiter: nonformale Bildung findet jenseits von Schulen und Uni- innenbewegung des 19./20. Jh. realisiert. Seit den 1970er- versitäten statt und verzichtet auf die benotete Zertifi- Jahren gilt die Förderung von Mündigkeit als das Denk- zierung der Teilnahme. Vielmehr ist das Moment der Frei- muster, welches die politische Bildung bis heute prägt willigkeit hier ausschlaggebend und das Recht auf Nicht- bzw. prägen sollte. Eigenständige und freiwillige Aus- Partizipation bildet hierfür die Grundvoraussetzung. einandersetzung mit politischen Sachverhalten soll ge- Seit den 2000er-Jahren lässt sich, so Benedikt Widmai- fördert werden, ohne dabei die Ergebnisse schon vor- er, eine zunehmende Verwendung synonymer Begriffe für wegzunehmen. Sander zufolge ist das der entscheidende politische Bildung feststellen, die zu einer neuen termino- Punkt, der Mündigkeit auch qualitativ unterscheidet von logischen, aber auch konzeptionellen Unübersichtlichkeit den anderen beiden Mustern, welche die Lernenden als geführt habe. Dies ginge einher mit der Etablierung neuer Objekte im Bildungsprozess sehen. Die von Sander formu- staatlicher Förderprogramme und dem Entstehen weiterer lierten idealtypischen Grundmuster sind dabei allerdings Trägerstrukturen.67 Neben Demokratiepädagogik haben nicht als chronologisch nacheinander auftretend zu ver- sich laut Widmaier folgende Komposita mit der Vorsilbe stehen. Es ist vielmehr eine Frage der konkreten Fallana- „Demokratie“ etabliert: Erziehung, Bildung, Förderung, lyse, welches Grundmuster in dem entsprechenden Bil- Lernen und Didaktik. Widmaier zufolge lägen diesen Ver- dungsangebot impliziert ist. Es kann also eher von einem 64 Adorno (2013a) 107. 65 Bauer (1955) 182. 68 Widmaier (2020) 71. 66 Negt (2018) 21. 69 Widmaier (2020) 69. 67 Widmaier (2020) 63. 70 Sander (2014) 27 f.
310 Anne Rethmann Nebeneinander, Gegeneinander und auch Miteinander ge- Informationen strukturieren, einordnen und reflektieren sprochen werden. So ist Wissensvermittlung, wie es das zu können, um sie dann in Argumente zu übersetzen, ist Grundmuster Mission vorsieht, nicht per se autoritär, son- ein wichtiges Moment in der politischen Bildung. Politi- dern kann (oft) Mittel zum Zweck für Mündigkeit sein. sche Bildung kann sich jedoch nicht nur darin erschöpfen, Denn es gibt – wie Adorno schreibt – „so etwas wie ein kritisches Verständnis von der Welt zu entwickeln, Sachautorität – also die Tatsache, dass ein Mensch von sondern sie muss auch einen Möglichkeitssinn wecken. In einer Sache mehr versteht als ein anderer –, die man nicht einem Radiogespräch mit Adorno und Eugen Kogon im einfach vom Tisch fegen darf. Sondern der Begriff der Jahr 1953 macht Max Horkheimer darauf aufmerksam: Autorität erhält seinen Stellenwert innerhalb des sozialen Kontextes, in dem er aufkommt.“71 „Eine Gefahr ist aber, gerade wenn die Menschen die gesell- schaftlichen Tendenzen als überindividuelle, gesellschaftliche Der 1976 formulierte Beutelsbacher Konsens mit sei- Tendenzen erkennen, sich vom Handeln überhaupt abhalten nen drei Grundsätzen versuchte schließlich, das Denkmus- lassen. Ich glaube, es ist das wichtigste, daß wir den Menschen ter Mündigkeit für die praktische Bildungsarbeit produktiv klarmachen, daß dies nicht geschehen soll.“77 zu machen.72 Mit dem Indoktrinationsverbot, dem Kontro- versitätsgebot und dem Prinzip der Subjektorientierung An diesem Punkt tritt das soziale Lernen in den Vorder- soll eine Bevormundung durch die Lehrenden vermieden grund mit dem Zweck, den Ohnmachtsgefühlen entgegen- und ein größtmöglicher Spielraum für die Lernenden zuwirken. Durch bürgerschaftliches Engagement soll die gewährleistet werden.73 Seit den 1970er-Jahren wird in eigene Selbstwirksamkeit erfahrbar werden. Soziales Ler- Deutschland (und deutlich früher in den USA) politische nen zielt somit auf den Nahbereich und hat den Anspruch, Bildung also nicht mehr auf reine Wissensvermittlung re- soziale Kompetenzen wie Empathie- und Kooperations- duziert. Hinzu tritt das soziale Lernen, das Lernen über fähigkeit zu fördern. Politisches Lernen ist zwar auf diese bürgerschaftliches Engagement (service learning).74 Die Kompetenzen angewiesen, geht aber in der Zielsetzung Vermittlung von Orientierungswissen, wie Negt Grund- über den Nahbereich hinaus und will gegebenenfalls po- lagenwissen passend bezeichnet, müsse die individuel- litische Entscheidungen mitprägen. Hierfür sind Analyse- len Lebensrealitäten der Adressat:innen berücksichtigen.75 kompetenz, Konfliktfähigkeit, Absehen von eigenen Inte- Politische Bildung bewegt sich also in diesem Spannungs- ressen, Folgeabschätzung und ganz besonders Urteilskraft feld von Wissensvermittlung über verfassungsrechtliche unerlässlich. Erst dieses Bündel an Fähigkeiten ermöglicht Themen und individuellen Lebensrealitäten. Negt hat in politisches Handeln und kennzeichnet das politische Mo- „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“76 ment der politischen Bildung. auf diesen Zusammenhang bereits hingewiesen. Darin be- Die von Widmaier nun angesprochene Begriffsver- schreibt er drei Ebenen, die im Bildungsprozess adressiert schiebung ist insofern nicht nur eine Veränderung auf werden sollten: 1) Nähe zu individuellen Interessen, 2) sprachlicher, sondern auch auf inhaltlicher Ebene, als die gemeinsame Interessen einer Gruppe und 3) größere ge- Schwerpunktsetzung bei der Demokratiebildung dazu ten- sellschaftliche Zusammenhänge. Der letzte Punkt, also die diert, die politische Bildung auf soziales Lernen zu re- Förderung der Fähigkeit, große Mengen an Wissen und duzieren. Sie kann dadurch aber eine entpolitisierende Wirkung haben. Ein Blick in die USA ist hierbei erkennt- nisreich. Seit den 1990er-Jahren ist service learning in den 71 Adorno (2013b) 139. USA verstärkt zum festen Bestandteil der schulischen und 72 Sander (2014) 28. vor allem der akademischen Ausbildung geworden. Studi- 73 Die Frage, inwiefern der Beutelsbacher Konsens hinsichtlich des en zufolge würden Studierende, die sich ehrenamtlich Neutralitätsgebots hilfreich ist, wird immer wieder diskutiert, vgl. engagieren, mehr, besser und schneller lernen als diejeni- Widmaier und Zorn (2016). So betont z. B. auch die Weimarer Erklä- gen, die sich nicht oder wenig engagieren.78 Freiwilligen- rung (2019), dass demokratische Bildungsarbeit gar nicht wertneutral dienst verstanden in diesem Sinne ist aus mehreren Grün- sein kann. 74 Eine sehr lesenswerte und ausführliche Beschreibung und Ana- den problematisch. Zum einen geht es hier primär um das lyse der Inhalte und Ziele von politischem und sozialem Lernen hat eigene Selbst und zum anderen trägt es insofern selbst Wohnig (2017) vorgelegt. Im Englischen wird soziales Lernen oft mit Züge des indirekten Zwangs, als fehlendes Engagement service learning übersetzt. Letzteres hat aber durchaus eine leicht ver- die eigene Konkurrenzfähigkeit zur Disposition stellen änderte Schwerpunktsetzung. Beim service learning steht die gemein- nützige Tätigkeit im Vordergrund, weniger die Selbsthinterfragung, die Reflexion über die eigene individuelle Verfasstheit. 75 Negt (2018) 25. 77 Horkheimer (1989) 150. 76 Negt (1968). 78 Kloubert (2019) 17.
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale 311 könnte. Diese Form des sozialen Lernens ist dann besser fördern scheint. Diese gesellschaftlich produzierte Selbst- als eine weitere Variante der Selbstoptimierung zu verste- bezogenheit ist nicht Ausdruck von Individualität, sondern hen und nicht als soziales Engagement. Abgesehen von mache, so Max Horkheimer, den Einzelnen zum Element dieser Variante des sozialen Lernens ist ehrenamtliche der Masse und Konformismus.81 Der moderne Massen- Arbeit auch immer eine Zeitfrage, die man sich folglich mensch, den Arendt in „Organisierte Schuld“ auch Spießer ökonomisch leisten können muss. Ferner tendiert ein ex- nennt,82 hängt nur an seiner privaten Existenz. Sein Modus klusiver service-learning-Ansatz, welcher vom politischen ist das bloße Sich-Verhalten ohne Interesse an öffentlichen Lernen abgekoppelt wird, zu Vereinfachungen komplexer Angelegenheiten. Es ist dann die unkritische Übernahme politischer Verfahrensweisen und dadurch zu voreiligen allgemeiner Regeln, die die Erfahrung mit anderen ver- Rückschlüssen auf etwaige Zusammenhänge von sozialem unmöglicht. Die politische Bildung versucht jedoch mit und politischem Lernen. Es wird dabei versucht, über ver- ihren Methoden und Ansätzen, sich dagegen zu stellen, meintlich unmittelbare Ansätze zum politischen Engage- einen kritischen Denkprozess in Gang zu setzen und zu ment zu motivieren. Partizipative Demokratietheorien wie einer wissensbasierten Urteilsbildung zu motivieren. Im Benjamin Barbers „Strong Democracy“ gehen von dieser Gegensatz zu populistischen und rechtsextremen Antwor- These aus. Allerdings fehlt es an empirischen Belegen für ten setzt sie daher auf ein Mehr an Komplexität. Sie will einen sogenannten Spill-Over-Effekt zwischen sozialer helfen, komplexe Sachverhalte verstehbar zu machen. Bi- und politischer Partizipation.79 Es ist eher zu beobachten, bliotheken könnten dafür ein Forum bieten. das bereits politisch Aktive sich auch sozial engagieren „In sum, the results of our study imply that there are no easy ways to generate politically engaged citizens. Voluntary 5 Handlungsfelder von Bibliotheken associations do not make citizens politically active but bring politically active citizens together.“80 im Bereich der politischen Für eine politische Bildungsstrategie, die ein „prea- Bildung ching to the converted“ vermeiden will, wäre also gerade das Zusammenspiel von sozialem und politischem Lernen Wissensvermittlung zusammen mit der Förderung der Ur- notwendig und vor allem müsste sie auch die strukturellen teilskraft sind grundlegende Aufgaben der politischen Bil- und institutionellen Bedingungen adressieren, die gege- dung, um Bürger:innen dabei zu unterstützen, an einer ben sein müssen, um den Individuen eine politische Teil- Demokratie des 21. Jahrhunderts auch tatsächlich teilneh- habe de facto auch zu ermöglichen. men zu können. Nicht nur Data, Information und Digital Es stellen sich also zwei Fragen, wenn politische Teil- Literacy sind dafür notwendig, sondern eben auch civic habe bzw. die Möglichkeit des Teilnehmen-Könnens Ziel literacy. Dies setzt voraus, dass Demokratie nicht nur tech- sein soll. Die erste ist eine strukturelle, die nach gerechten nokratisch im Sinne von Effizienz und Problemlösung gesellschaftlichen Verhältnissen und politischen Institu- verstanden wird, sondern als eine potenziell individuelle tionen fragt. Dies fällt in den Aufgabenbereich der politi- Freiheit ermöglichende Gesellschafts-, Staats- und Regie- schen Entscheidungsträger:innen, die sich daran messen rungsform. Die politische Bildung teilt sich dementspre- lassen müssen und gegebenenfalls (hoffentlich) abge- chend in drei Aspekte auf: Wissensvermittlung (civic wählt werden. Die zweite Frage bezieht sich auf die indivi- knowledge/information), Förderung der Urteilsbildung (ci- duelle Verfasstheit und fragt nach den Möglichkeiten vic dispositions/attitudes) und Stärkung der Handlungs- unabhängigen, d. h. kritischen Denkens, das die Vorbedin- fähigkeit bzw. ein wenig vorsichtiger formuliert: Aufzeigen gung für politische Teilhabe ist. In Anbetracht gegenwärti- von Handlungsoptionen (civic behavior/action). Welche ger gesellschaftspolitischer Umbrüche und Konflikte, die Rolle können also Bibliotheken hierbei konkret einneh- nicht getrennt werden können von den massiven struktu- men? Insbesondere ein Blick in die USA ist hier wieder rellen Veränderungen in der Arbeitswelt, ist eine politische erkenntnisreich. Nicht nur verfügen vor allem die Public Bildungsstrategie dabei vor schwierige Aufgaben gestellt. Libraries über langjährige Erfahrungen im Bereich der Citi- Sie soll zum eigenständigen Denken und zur Selbstreflexi- zenship Classes, sondern sie zeichnen sich auch durch das on motivieren in einem gesellschaftlichen Kontext, der Bündeln verschiedener Formate in einer Bibliothek aus, nicht Selbsthinterfragung, sondern Selbstbehauptung zu die in genau dieser thematischen Zusammenstellung als 79 Vgl. Reinhardt (2013) 164. 81 Horkheimer (1991) 402. 80 Van der Meer und Van Ingen (2009) 303. 82 Arendt (2012) 35.
Sie können auch lesen