Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale - De Gruyter

 
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Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale - De Gruyter
BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 2022; 46(2): 301–317

Inkubator für Demokratie

Anne Rethmann*

Politische Bildung in Bibliotheken:
Herausforderungen und Potenziale
https://doi.org/10.1515/bfp-2022-0010                                     5     Handlungsfelder von Bibliotheken im Bereich
                                                                                der politischen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Zusammenfassung: Der Artikel knüpft an Arbeiten in den                    6     Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Bibliothekswissenschaften an, die sich mit dem Verhältnis
von Demokratie und Bibliotheken sowie einer politischen
Theorie der Bibliotheken beschäftigen. Im Gegensatz zu                    1 Theoretische Reflexion – wozu?
dem Gros der Arbeiten, die sich auf die Öffentlichkeits-
funktion von Bibliotheken fokussieren, soll hier verstärkt                Gesellschaftliche Polarisierungen, gefühlte und reale Un-
das Individuum ins Zentrum gerückt werden. In einem                       sicherheiten, antisemitische, rassistische und andere men-
zweiten Schritt diskutiert die Autorin die Frage nach dem                 schenverachtende Hetze, zunehmender Verlust einer ge-
Bedeutungsgehalt einer gegenwärtigen politischen Bil-                     teilten Wirklichkeit (die mittlerweile so genannte post-
dung, um schließlich eine strategische Einbindung von                     truth world), schwindendes Vertrauen in demokratische
Bibliotheken in diesem Bereich vorzuschlagen.                             Institutionen auch in scheinbar gefestigten Demokratien1
                                                                          haben den Ruf nach politischer Bildung in den letzten
Schlüsselwörter: Politische Bildung; Demokratie; politi-
                                                                          Jahren wieder lauter werden lassen.2 Verschreiben sich
sche Theorie; Kritische Theorie; Bibliothekswissenschaf-
                                                                          Bibliotheken3 neben der Bereitstellung von Information
ten
                                                                          und des Zugangs zu Wissen4 nun explizit auch der politi-
                                                                          schen Bildung, ist dies durchaus begrüßenswert. Auf den
Civic Education in Libraries: Challenges and Potentials
                                                                          ersten Blick scheinen Bibliotheken ohnehin prädestiniert
Abstract: Building on ongoing discussions about democra-                  dafür zu sein. Jedenfalls ist eine Verbindung von Wissen
cy and libraries in the field of library and information                  und politischer Teilhabe gegeben und als niedrigschwellig
studies, the author aims to contribute to a political theory              zugängliche Einrichtungen können Bibliotheken unter-
of libraries. While most studies in this field deal with                  schiedliche Bevölkerungsgruppen erreichen, von denen
concepts of the public sphere, the author calls attention to              einige sonst nur schwer den Zugang zu den Angeboten der
the individual facing current challenges. In a second step,               nonformalen, außerschulischen politischen Bildung fin-
she focuses on the meaning of civic education nowadays                    den.5 So heißt es bereits im IFLA/UNESCO-Manifest von
and the potential role of libraries in strengthening civic
literacy.
                                                                          1 Vgl. dazu die Studie der Friedrich-Ebert Stiftung: Decker et al.
Keywords: Civic education; democracy; political theory;                   (2019) und die weltweit angelegte Jugendstudie vom Centre for the
Critical Theory; library and information studies                          Future of Democracy: Foa et al. (2020).
                                                                          2 Das zeichnet sich u. a. in Bundesprogrammen wie „Demokratie
                                                                          leben!“ ab, aber auch bei anderen Förderinstanzen wie der Mercator-
                                                                          Stiftung, die einen ihrer Strategieschwerpunkte nicht mehr in der
Inhalt                                                                    kulturellen, sondern in der europapolitischen Bildung sehen, Merca-
                                                                          tor Stiftung (2020).
1    Theoretische Reflexion – wozu? . . . . . . . . .         . . . 301   3 In diesem Artikel liegt der Schwerpunkt auf den Öffentlichen Bi-
2    Bibliotheken und Demokratie: ein selbstver-                          bliotheken. Damit soll aber nicht suggeriert werden, dass das Thema
     ständliches Verhältnis? . . . . . . . . . . . . . . .    . . . 303   der politischen Bildung keine Relevanz für wissenschaftliche Biblio-
3    Politische Theorie der Bibliotheken. . . . . . .         . . . 304   theken hat, vgl. Kranich (2019), Yerbury und Henninger (2020).
                                                                          4 Das sind die Grundfunktionen von Bibliotheken und bei den Öf-
4    Das Politische der politischen Bildung. . . . .          . . . 309
                                                                          fentlichen Bibliotheken kommt noch der Unterhaltungs- und Freizeit-
                                                                          aspekt dazu.
                                                                          5 Zu den Potenzialen von Bibliotheken als niedrigschwellig zugäng-
*Kontaktperson: Anne Rethmann, anne.rethmann@posteo.de                    liche Orte vgl. Deutscher Bibliotheksverband (2020).

  Open Access. © 2022 Anne Rethmann, publiziert von De Gruyter.           Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons
Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale - De Gruyter
302           Anne Rethmann

1994: „Constructive participation and the development of                    Was heißt also politische Bildung unter gegenwärtigen
democracy depend on satisfactory education as well as on               gesellschaftlichen Bedingungen? Welchen Sinn und Zweck
free and unlimited access to knowledge, thought, culture               erfüllen politische Bildungsangebote für die Demokratie?
and information.“6                                                     Was ist der konkrete Zusammenhang von Wissen und Bil-
     Aber das Engagement von Bibliotheken, eigene Mei-                 dung und welche Rolle können Bibliotheken in diesem
nungsbildung und politisch-gesellschaftliche Teilhabe                  Bereich einnehmen? Politische Bildung bedarf schließlich
durch entsprechende Bildungsangebote zu fördern, ist                   der theoretischen Beschäftigung mit dem (spannungsgela-
nicht voraussetzungslos – nicht nur in Bezug auf die eige-             denen) Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. In
nen Möglichkeiten wie ausreichend vorhandene personel-                 diesem Artikel soll das Individuum in den Vordergrund
le und infrastrukturelle Kapazitäten, sondern auch bezo-               gerückt werden und von Interesse ist die Frage nach der
gen auf das Verständnis von Begriffen, die spätestens seit             Möglichkeit kritischen Denkens – verstanden als Vorbedin-
den 1970er-Jahren in der politischen Bildung eine zentrale             gung eines politischen Teilnehmen-Könnens – unter ge-
Rolle spielen: Mündigkeit, Urteilskraft und Teilhabe. Das              genwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, die Mündig-
Reflektieren über die eigene Vorstellung von diesen Begrif-            keit erschweren oder gar verhindern. Um ferner die Frage
fen (Was beinhalten sie? Auf was sollen sie zielen? In                 nach den Handlungsfeldern für Bibliotheken im Bereich
welchem Verhältnis stehen sie zueinander?) ist kein netter             der politischen Bildung beantworten zu können, ist die
intellektueller Zeitvertreib für das Bibliothekspersonal,              Berücksichtigung von Fachdiskussionen aus den Berei-
sondern ein notwendiger Schritt, wenn erstens die Beto-                chen der politischen Bildung und der Demokratietheorien
nung auf die eigene gesellschaftspolitische Funktion7 und              unerlässlich. Sich Klarheit über zentrale Begriffe und Kon-
die Selbstbezeichnung als ein „Ort für lebendige Demokra-              zepte zu verschaffen und (Fach-)Diskussionen zu verfol-
tie“8 nicht nur Lippenbekenntnisse sein sollen und zwei-               gen, die jenseits der Bibliotheken stattfinden, ist insofern
tens Bibliotheken als ernstzunehmende Partnerinnen in                  auch wichtig, als damit erst Zuständigkeiten, Kompeten-
diesem Bereich wahrgenommen werden wollen, die mit                     zen und potenzielle Kooperationen für Bibliotheken son-
Kooperationsfähigkeit und langfristigen Angeboten selbst               diert werden können. Ich diskutiere hier zudem nicht nur
entsprechende Bildungsprozesse anregen könn(t)en.                      eine mögliche strategische Einbindung von Bibliotheken
     Theoretische Reflexion, d. h. sich etwas bewusst ma-              im Bereich der politischen Bildung, sondern zeige auch
chen und ein Verständnis von etwas zu entwickeln, hat                  auf, dass politische Bildung Möglichkeiten der Orientie-
Auswirkungen auf die Umsetzung im Bibliotheksalltag und                rung bieten kann in einer gegenwärtigen Welt, die zuneh-
ist somit nicht isoliert von diesem zu sehen. Theorie und              mend orientierungsloser zu werden scheint.
Praxis bedingen sich gegenseitig, stehen in einem Span-                     An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass im
nungsfeld und gerade das macht Reflexion notwendig. Ulla               Folgenden der Fokus insbesondere auf den USA liegt. Be-
Wimmer fasst dies treffend zusammen: „Wir brauchen                     reits in der Abschlussarbeit im Rahmen meines Referenda-
Theorie, sonst ersticken wir irgendwann in der Praxis!“9               riats habe ich mich mit der Thematik beschäftigt und Inter-
Ferner ist das Nachdenken darüber, welche Fähigkeiten bei              views mit US-amerikanischen Kolleg:innen geführt. Meine
wem auf welche Weise gefördert werden sollen und wa-                   Schwerpunktsetzung begründete ich u. a. damit, dass die
rum, insofern wichtig, um insbesondere auch Menschen zu                USA auf eine lange (akademische) Tradition zurückblicken
erreichen, die bislang von solchen Angeboten gar nicht erst            kann, die das Verhältnis von Bibliotheken und Demokratie
angesprochen und somit ausgeschlossen worden sind.                     reflektiert. Dies beruht nicht zuletzt darauf, dass die Idee
                                                                       von einer für alle Menschen offenstehenden Bibliothek mit
                                                                       einem großen Freihandbereich in der amerikanischen Pu-
                                                                       blic Library ihren Ursprung findet. Die Public Library kann
6 IFLA (1994).                                                         dabei nicht nur wegen der Freihandaufstellung als Vorbild
7 In der dbv-Stellungnahme heißt es: „Die Meinungs- und Informati-
                                                                       betrachtet werden, sondern auch wegen des Zusammen-
onsfreiheit aus Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland bildet die verfassungsrechtliche Grundlage bibliotheka-    bringens von wissenschaftlicher und populärer Literatur
rischer Praxis. Indem sie die informationelle Grundversorgung aller    in einer Bibliothek. Dieser Anspruch auf Wissen für alle
Bürger*innen mit ihrem überparteilichen und qualitätsgeprüften Me-     trägt einen zutiefst demokratischen Charakter und wendet
dien- und Informationsangebot fördern, übernehmen Bibliotheken         sich gegen die teilweise in Deutschland immer noch vor-
als besucherstärkste Bildungs- und Kultureinrichtungen eine zentrale
                                                                       handene elitäre Unterscheidung von Populärkultur und
demokratische und gesellschaftspolitische Funktion.“ Deutscher Bi-
bliotheksverband (2019).
                                                                       Hochkultur. Diese amerikanische Tradition, aber auch die
8 Deutscher Bibliotheksverband (2019).                                 gegenwärtigen Outreach-Initiativen und Programme im
9 Wimmer (2015) 88.                                                    Bereich Civic Education and Engagement seitens amerika-
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale          303

nischer Bibliotheken können als „Vergleichsfolie“10 für die            more to the point, libraries can also be important assets in
eigenen Antworten auf ähnliche gesellschaftliche Heraus-               nondemocratic regimes.“13 Indem er darauf verweist, dass
forderungen dienen.                                                    Bibliotheken auch in nicht-demokratischen Staaten als
                                                                       wichtig erachtet werden, wendet sich Buckland gegen eine
                                                                       vorschnelle Assoziation von Demokratie und Bibliotheken.
                                                                       Ferner kritisiert er: „United States writings on librarianship
2 Bibliotheken und Demokratie: ein                                     have a tendency to treat democracy as an essential (inhe-
  selbstverständliches Verhältnis?                                     rent) feature of librarianship rather than an accidental
                                                                       (historically contingent) feature of librarianship.“14 Eine
Im Juni 1941 auf der Annual Conference of the American                 ähnliche Zurückhaltung formulierte bereits 1938 der nord-
Library Association (ALA) verlas Luther H. Evans die Gruß-             amerikanische Bibliothekswissenschaftler Sydney Mit-
worte des damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roo-                    chell in seiner Präsidentschaftsansprache vor der Califor-
sevelt. Dieser formulierte darin seine Sicht auf Biblio-               nia Library Association, die den Titel trug: „The public
theken als „essential to the functioning of a democratic               library in defense of democracy“. Darin betonte Mitchell,
society“, als „great symbols of the freedom of the mind“,              dass Bibliotheken selbst auf demokratische Verhältnisse
und er betonte auf diesem Weg ihre gesellschaftspolitische             angewiesen seien. Denn in „the totalitarian state the libra-
Bedeutung, wenn nicht sogar Verantwortung, die ihr gera-               rian becomes merely an agency for propaganda, for the
de in konfliktreichen Zeiten zukomme.11                                dissemination of such information as the authorities care
     Das Jahr 1941 war nicht irgendein Jahr: Im Januar 1941            to pass on.“15 Die Beteiligung – sei sie nun aktiv oder passiv
hielt Roosevelt vor dem US-Kongress seine berühmte Rede                gewesen – vom deutschen Bibliothekspersonal an der
über die Four Freedoms – über Redefreiheit, Religionsfrei-             Konzeption und Umsetzung nationalsozialistischer Kam-
heit, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht –, die später           pagnen wie das Erstellen von sogenannten schwarzen Lis-
nicht nur die Gründung der Vereinten Nationen normativ                 ten und die darauf folgende Aussonderung von Büchern
prägen sollten, sondern auch 1948 in der Präambel der                  aus dem Bestand der jeweiligen Bibliothek, aber auch das
Universellen Erklärung der Menschenrechte explizit ge-                 Herausdrängen jüdischer und politisch missliebiger Kol-
nannt wurden. Sechs Monate nach der ALA Konferenz                      leg:innen unterstreicht diese Analyse.16
griffen die Japaner am 7. Dezember 1941 Pearl Harbor an,                    Abgesehen davon war selbst in demokratisch verfass-
woraufhin die USA ihren Eintritt in den Zweiten Weltkrieg              ten Gesellschaften wie in den USA ein Einhergehen von
erklärten.                                                             Demokratie und Bibliotheken mit ihrem Versprechen auf
     Mehr als achtzig Jahre später sind die gesellschafts-             freien und gleichen Zugang zu Wissen nicht automatisch
politischen Kontexte andere, aber Roosevelts Sichtweise                gegeben. Die widersprüchliche Geschichte der US-ame-
auf Bibliotheken als „symbols of the freedom of the mind“              rikanischen Demokratie, wo die Idee der Public Library als
stößt nach wie vor auf große Zustimmung.12 Angesichts                  ein Ort für alle ihren Ursprung findet und die seit ihrer
dessen scheint der Informationswissenschaftler Michael                 Gründung auch immer eine wichtige Anlaufstelle für Im-
Buckland eine Gegenposition einzunehmen, wenn er                       migrant:innen war und nach wie vor ist, erlaubt diesen
schreibt: „It is widely accepted that libraries are important          Kurzschluss von Demokratie und Bibliothek nicht.
for sustaining Western liberal democracy. But so is oil, and,               In „Part of our Lives: A People’s History of the Ame-
                                                                       rican Public Library“17 stellt Wayne Wiegand die Perspek-
                                                                       tiven und Erfahrungen der Amerikaner:innen mit ihren
10 Kloubert (2019) 7.                                                  Öffentlichen Bibliotheken18 vor. Mit diesem Rück- und Ge-
11 Roosevelt (1941).
12 Exemplarisch wären hier zu nennen Nancy Kranichs Sammelband
„Library and Democracy“, der den Untertitel „The Cornerstones of       13 Buckland (2009) 272.
Liberty“trägt: Kranich (2001), (2020) und die Stellungnahme des        14 Buckland (2009) 272.
Deutschen Bibliotheksverbands, die anlässlich des 70-jährigen Jubi-    15 Mitchell (1939).
läums des Grundgesetzes im Jahr 2019 mit dem Titel „Bibliotheken       16 Vgl. Kuttner und Vodosek (2017).
und Demokratie“ veröffentlicht wurde. Darin heißt es u. a., Biblio-    17 Wiegand (2017).
theken seien Orte gelebter Demokratie und übernehmen mit ihrem         18 Zur Großschreibung des Buchstabens „Ö“: Mit dieser Schreibwei-
Medien- und Informationsangebot eine zentrale demokratische Funk-      se soll unterstrichen werden, dass es sich hierbei um einen Gattungs-
tion: Deutscher Bibliotheksverband (2019); dazu auch IFLA (1994)       begriff handelt. Wimmer zufolge beschreibt das Wort „wissenschaft-
und die von der ALA 1939 erstmals formulierten Hauptaufgaben von       lich“ lediglich den Charakter einer Bibliothek, Wimmer (2019) 34.
Bibliotheken. Dazu zählt u. a. der freie Zugang zu Wissen und Infor-   Aber zu einem eigenständigen Bibliothekstyp wurde „die Stadtbiblio-
mation, American Library Association (2006).                           thek durch ihre Ausrichtung auf die gesamte Bevölkerung [...], durch
304          Anne Rethmann

genwartsblick zeigt er insbesondere die emanzipatorische,            voraussetzung für Mündigkeit und Urteilsfähigkeit ver-
die auf einen Zugewinn an Freiheit und Gleichheit zielende           standen werden kann. Und „eine Demokratie, die nicht
Seite von Bibliotheken, die nicht nur diesen Anspruch                nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten
haben, sondern de facto auch so sein können: offen, ein-             soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirk-
ladend, unterstützend und nicht-diskriminierend. Aber                lichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vor-
der Autor bringt ebenso das Nachwirken der im Jahr 1865              stellen.“23
abgeschafften Sklaverei zur Sprache. Als beispielsweise in                An dieser Feststellung von Theodor W. Adorno knüpfe
Atlanta 1902 die erste Public Library der Stadt eröffnet             ich in meinen Überlegungen an, um somit auch zu zeigen,
wurde, war es der afroamerikanischen Bevölkerung unter-              dass die Wissenskategorie ein wesentlicher Bezugspunkt
sagt, diese zu benutzen. W.E.B. Du Bois stellte ironisch             ist, an dem Bibliotheken in ihrer politischen Bildungsar-
fest, dass er zwar Steuern zahlte für die Carnegie Public            beit ansetzen können.
Library of Atlanta, dort aber selbst keine Bücher ausleihen
dürfte.19 Anstatt die Bibliothek für alle zu öffnen, wurde 19
Jahre später eine separate Bibliothek für die afroamerika-
nische Bevölkerung eröffnet.20 Die von den Südstaaten-
                                                                     3 Politische Theorie der
Demokraten beschlossenen Jim-Crow-Gesetze mit ihrem                    Bibliotheken
de facto diskriminierenden Grundsatz von „separate but
equal“ wurden erst mit dem Civil Rights Act und dem                  Das Verhältnis von Bibliotheken und moderner Demokra-
Voting Rights Act Mitte der 1960er-Jahre abgeschafft, und            tie ist – wie oben dargelegt – nicht eindeutig bestimmbar.
eine rassistisch begründete räumliche und soziale Tren-              Auch in der Wissenschaft war und ist dieses Verhältnis
nung öffentlicher Bereiche ist seitdem zumindest rechtlich           immer wieder Gegenstand von bibliotheksspezifischen
untersagt.21 Wiegands Institutionengeschichte der Biblio-            Fachdiskussionen (LIS).24 Eine der ersten wissenschaftli-
theken kann somit auch als eine Geschichte der Demo-                 chen Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex
kratie in den USA seit dem 19. Jahrhundert verstanden                nahm der Historiker Sidney Ditzion vor.25 Dieser beschrieb
werden. Genau diese Widersprüche zu benennen, heißt                  den Entstehungsprozess der Free Public Libraries in Neu-
allerdings nicht, die von Roosevelt genannten normativen             england und im Mittleren Westen der USA in der Zeitspan-
Ansprüche an Bibliotheken als reine Ideologie abzutun,               ne von 1850 bis 1900. Diese ersten steuerfinanzierten städ-
sondern ganz im Gegenteil: Gerade durch das Aufzeigen                tischen Bibliotheken wurden – so Ditzion – zunehmend zu
der Widersprüche wird es erst möglich, Kritik zu formulie-           Orten, an denen Öffentlichkeit entstand. So waren die Öf-
ren, Bibliotheken an ihrem eigenen Maßstab zu messen,                fentlichen Bibliotheken in der Anfangszeit auch noch nicht
ihre Grenzen und Potenziale zu bestimmen.                            für Kinder gedacht, sondern dezidiert für Erwachsene:
     Das Interessante und gleichzeitig das zu Präzisierende          „The recognized need for informed voters in a democracy
an Roosevelts Zuschreibungen, Bibliotheken seien für das             along with a deeply rooted faith in the value and possibility
Funktionieren von Demokratien wesentlich und würden                  of self-improvement favored this development.“26 Ziel war
symbolisch für Gedankenfreiheit stehen, ist also die dahin-          aber weniger die Förderung von Mündigkeit und Kritik-
terstehende Annahme: Indem Bibliotheken den Zugang                   fähigkeit. Vielmehr, so schreibt Margaret P. Redfield in
zu Wissen (in welcher Form auch immer)22 gewährleisten               ihrer Rezension zu Ditzions „Arsenals of a democratic cul-
und fördern, stellen sie das zur Verfügung, was als Grund-           ture“, sollten die Arbeiter:innen in ihrem Arbeitsprozess
                                                                     effizienter werden, indem ihnen der Zugang zur Fachlitera-
                                                                     tur ermöglicht wurde. Ein weiterer Zweck, den diese Biblio-
die Vielfalt der Nutzungszwecke, durch ihre Bedeutung als Einrich-   theken erfüllen sollten, war das Fernhalten der Leute von
tung der Chancengleichheit und des freien Zugangs zu Bildung, Kul-
tur und Information für alle Mitglieder der Gesellschaft.“, Wimmer
(2019) 15.
19 Wiegand (2017) 8.
20 Popowich (2019) 6.                                                verschiedenster Formate ist meines Erachtens dabei ausschlagge-
21 Einen sehr guten Überblick über den Kampf um Gleichbehand-        bend und wird noch Gegenstand des Artikels sein.
lung von aus den Südstaaten kommenden afroamerikanischen Biblio-     23 Adorno (2013a) 107.
thekarinnen während der Jim-Crow-Ära bietet der Artikel von Poole    24 Bibliotheks- und Informationswissenschaften wird in diesem Ar-
(2018).                                                              tikel mit der englischen Bezeichnung LIS (Library and Information
22 Das kann über den Bestand, über Dialogformate, Informations-      Science) abgekürzt.
veranstaltungen, Wissenschaftskommunikation oder über die Ver-       25 Ditzion (1947).
mittlung von Informationskompetenz erfolgen. Ein Zusammenspiel       26 Redfield (1948).
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale              305

der Straße „away from ‘the low amusements of the poor’ to       Autors, aber er teilt nicht dessen Konklusion. Wiegand
discourage delinquency and crime.“27                            zeigt in seiner historisch-empirisch angelegten Studie, dass
     Der Großindustrielle und Philanthrop Andrew Carne-         die Verbindung von Demokratie und Bibliotheken eher
gie, auf dessen Initiative beinahe 1 700 Öffentliche Bib-       schwach sei und die Rolle der Bibliotheken in diesem Zu-
liotheken in den USA gebaut wurden, steht für diese pa-         sammenhang überschätzt werde. So zitiert Wiegand auch
ternalistische Haltung exemplarisch: Auf der einen Seite        die ehemalige Richterin am Supreme Court Sandra Day
investierte er in zahlreiche Bibliotheksbauten und legte        O’Connor, die vor einem Publikum im Jahr 2013 nüchtern
somit den Grundstein für den freien Zugang zu Wissen,           konstatierte, dass die amerikanische Gesellschaft in einem
gleichzeitig ging er aber brutal gegen seine Arbeiter vor,      erschreckenden Ausmaß an Unwissenheit in Bezug auf
die für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen in den             öffentliche Angelegenheiten leide.35 Und Wiegand fügt
Streik traten. Der Homestead Steel Strike von 1892 gehört       dem hinzu:
zu den gewalttätigsten Arbeitskonflikten in der amerika-
nischen Geschichte.28 Ditzion thematisiert diese Fakten.              „If Americans care to be better informed, the 17,219 public library
                                                                      facilities available to them [...] will provide this information for
Neben der Institutionengeschichte gebe das Buch daher
                                                                      free. [...] Still, if surveys are accurate about how poorly informed
auch, so Redfield, „some insight into the difficulties in             most Americans are, one has to wonder whether the public
building up democratic institutions in general.“29 Sie be-            library’s rhetoric as an institution essential to democracy holds
mängelt allerdings, dass der Autor wenig bzw. gar nicht               up against this evidence.“36
auf Details eingeht wie beispielsweise auf Fragen, welche
Literatur genau von den Bibliotheken als Trivialliteratur       Buschman sieht darin jedoch eine Verengung des Blicks.
verbannt wurde und wie gleichzeitig dem Publikum das            Es komme darauf an, die veränderten Bedingungen ein-
Interesse für bestimmte Literatur nahegebracht werden           zubeziehen in die Fragestellung, ob Bibliotheken eine Rol-
sollte. Sie endet ihre Rezension mit dem Satz, der im Jahr      le in der Demokratiestärkung einnehmen (können). Wie-
2022 nicht aktueller sein könnte: „Now more than ever,          gand vernachlässige das und somit die Potenziale von
when democratic culture is in difficulties, we should like to   Bibliotheken:
know to what degree the libraries actually are the ‘arse-
nals’ that they were conceived to be.“30                              „The formal site of politics and political participation—govern-
                                                                      ment and the state—has eroded, but democratic politics now
     In den letzten Jahren wird diese Frage wieder vermehrt
                                                                      exist in multiple social venues [...] In other words, democracy
gestellt. Nancy Kranichs Sammelband „Libraries and De-                takes place directly and indirectly in venues not commonly
mocracy“31 kann als Auftakt der verstärkten Fokussierung              thought of as sites for it but where everyday life is negotiated and
auf das Thema betrachtet werden und markiert darüber                  played out (e.g., libraries), thereby constructing the culture.“37
hinaus auch den Arbeitsschwerpunkt ihrer ALA Präsident-
schaft 2000/2001. Von akademischer Seite aus setzt sich         Die Frage stellt sich hier wiederum, ob tatsächlich Demo-
bis dato besonders John Buschman mit der Thematik aus-          kratie heute in diesen gesellschaftlichen Räumen stattfin-
einander. In „Dismantling the Public Sphere“32 kritisiert er,   det oder ob die Aussage von Buschman selbst normativ
dass sich das Bibliothekswesen zu sehr mit Detailfragen         geprägt ist und in der Realität so nicht vorzufinden ist.38
beschäftige, anstatt selbst eine intellektuelle Basis für die   Ferner steht hinter dieser Annahme eine spezifische Vor-
Verteidigung der eigenen Werte zu entwickeln. Die soziale       stellung von Demokratie, die sich einerseits an deliberati-
Rolle von Bibliotheken sei durch gesellschaftliche, sprich      ven Demokratietheorien mit dem Fokus auf Diskurs und
neoliberale Veränderungen gefährdet und das bedürfe ei-         Öffentlichkeit (public sphere) orientiert und andererseits
ner Antwort seitens der Bibliotheken.33 In „On Democracy        an partizipativen Demokratietheorien, die bürgerschaftli-
and Libraries“34 analysiert er Wiegands „Part of our Lives“.    ches Engagement und Gemeinwohlorientierung stark be-
Buschman schätzt zwar die ausführliche Darstellung des          tonen. Die für moderne Demokratien konstitutiven rechts-
                                                                staatlichen Verfahren und Vorkehrungen wie Wahlen und
                                                                Schutz des Individuums vor tyrannischen Mehrheiten (wie
27   Redfield (1948).                                           einst dies Alexis de Tocqueville treffend formulierte) spie-
28   Vgl. Mickelson (1975) 131.
29   Redfield (1948).
30   Redfield (1948).
31   Kranich (2001), Kranich (2020).                            35   Wiegand (2017) 264.
32   Buschman (2003).                                           36   Wiegand (2017) 264.
33   Vgl. Buschmann (2017), Buschmann (2020).                   37   Buschman (2018) 34.
34   Buschman (2018).                                           38   Vgl. dazu Popowich (2019) 18 f.
306            Anne Rethmann

len gerade bei den partizipativen Theorien eine unterge-                   konzept inspiriert worden.43 In diesem Kontext sei auch die
ordnete Rolle.39                                                           quantitativ angelegte Studie erwähnt, die in sechs europäi-
     Buschman fordert nun, dass die LIS selbst eine politi-                schen Ländern im Jahr 2017 durchgeführt und 2019 ver-
sche Theorie für/der Bibliotheken entwickeln müssten.40                    öffentlicht wurde.44 Die Umfragen richteten sich zum einen
Was heißt das im Konkreten bzw. was muss eine politische                   an die jeweilige Bevölkerung und zum anderen an das
Theorie eigentlich leisten? Ihrem eigenen Anspruch nach                    Bibliothekspersonal. In vergleichender Perspektive soll-
richtet sie das Erkenntnisinteresse auf die Beurteilung nor-               te herausgefunden werden, welchen Stellenwert Biblio-
mativer Annahmen und fragt nach den praktischen Aus-                       theken für die digitale und demokratische Gesellschaft
wirkungen, die diese haben können. Franz Neumann fasst                     einnehmen. Aus den Ergebnissen der Studie, so der betei-
das nochmals ein wenig konkreter, wenn er bezogen auf                      ligte Bibliothekswissenschaftler Hans-Christoph Hobohm,
die individuelle Freiheit schreibt:                                        kann resümiert werden, dass selbst trotz der Bibliotheks-
                                                                           gesetzgebung in den skandinavischen Ländern mit ihrer
      „Die Wahrheit der politischen Theorie ist die Freiheit. Daraus       expliziten Bezugnahme auf Demokratie die Rolle von Bi-
      ergibt sich ein grundsätzliches Postulat: da keine politische Ord-
                                                                           bliotheken im Bereich der Demokratieförderung in allen
      nung die politische Freiheit vollkommen verwirklichen kann,
      muß die politische Theorie immer kritisch sein. Eine konformisti-
                                                                           untersuchten Fällen nicht so stark ins Bewusstsein der
      sche politische Theorie ist keine Theorie.“41                        Interviewten getreten ist, wie hätte vermutet werden kön-
                                                                           nen.45 Sein Fazit knüpft schließlich an die Idee von Biblio-
Auffällig ist jedenfalls, dass sich das Gros der wissen-                   theken als Orte für Debatten46 an:
schaftlichen Arbeiten in den LIS, die sich in den letzten
Jahren mit der Thematik Demokratie und Bibliotheken                            „Reicht die neutrale Konsensorientierung des Rationalismus, bei
beschäftigen, vor allem mit dem Öffentlichkeitsbegriff ar-                     der Bibliotheken ‚nur‘ zur Wissensgenerierung für den rationa-
                                                                               len Diskurs beitragen oder bedeutet ‚Arena‘ oder ‚Agora‘ nicht
beiten. Diese thematische Beschäftigung mit dem Begriff
                                                                               viel mehr Debatte, Einmischen und Dialog in der persönlichen
Öffentlichkeit im Zusammenhang mit Demokratie nimmt                            Begegnung? Vielleicht doch auch ganz im Sinne des Diktums
nicht nur im englischsprachigen Raum, sondern auch in                          von David Lankes, dass Wissen nur durch Konversation entsteht.
Deutschland und Europa einen großen Stellenwert ein.                           Und viel Wissen und Konversation braucht die Demokratie in
Insbesondere in den skandinavischen Ländern lässt sich                         Zeiten disruptiver Erneuerungen.“47
in Bezug auf bibliothekspolitische Strategien eine explizite
Hervorhebung der Verbindung von Demokratie mit der                         Eric Klinenberg, der Öffentliche Bibliotheken als „among
Öffentlichkeitsfunktion von Bibliotheken erkennen, die                     the most critical forms of social infrastructure that we
teilweise sogar Eingang in die nationale Gesetzgebung                      have“48 versteht, geht in eine ähnliche Richtung. Er argu-
gefunden hat:                                                              mentiert, dass öffentliche Orte wie Bibliotheken entschei-
                                                                           dend seien für die Förderung einer Diskussionskultur. Die-
      „As far as libraries are concerned, this is reflected in recent      se betrachtet er wiederum als Voraussetzung für eine
      changes in library legislation in Norway, Sweden, and Finland,
                                                                           funktionierende Demokratie, die sich durch kulturelle und
      focusing upon the libraries’ role as meeting place and arenas for
      debate (Norway), institutions promoting the free formation of
                                                                           soziale Vielfalt auszeichne.
      opinion (Sweden), and active citizenship and democracy (Fin-             Bezogen auf die Frage, in welchem Verhältnis Biblio-
      land).“42                                                            theken und Demokratie stehen, kann resümierend gesagt
                                                                           werden, dass bei dem Gros der Arbeiten der kommunikati-
Viele dieser Arbeiten zu Public Sphere sind dabei insbe-                   ve Aspekt mit einem starken Fokus auf das Gemeinschaft-
sondere von Jürgen Habermas und dessen Öffentlichkeits-

                                                                           43 Vgl. Audunson et al. (2020), Buschman (2003), (2005), (2019),
39 Der begrenzte Umfang lässt hier keinen Raum für eine tiefer-            Widdersheim und Koizumi (2016), Widdersheim und Koizumi (2020).
gehende Auseinandersetzung mit den Theorien. Es sei jedoch darauf          Über die unterschiedlichen und zum Teil kontrovers diskutierten
verwiesen, dass es nicht die eine deliberative oder partizipative De-      theoretischen Zugänge zum Öffentlichkeitskonzept gibt Larsen einen
mokratietheorie gibt. Es gibt unterschiedliche partizipative Verfahren     sehr guten Überblick (2021). Eine systematische Analyse zur For-
und es gibt unterschiedliche deliberative Theorien: von expertenori-       schungsliteratur haben Vårheim et al. (2019) verfasst, dazu auch
entierten bis zu bürgerorientierten Ansätzen. Ferne können die Gren-       Audunson et al. (2019a).
zen zwischen diesen beiden Theorien fließend sein, vgl. Geissel            44 Audunson et al. (2019b), Hobohm (2019).
(2020).                                                                    45 Hobohm (2019) 22.
40 Buschman (2007), dazu auch Widdersheim (2018).                          46 Johnston und Audunson (2019).
41 Neumann (1967) 102.                                                     47 Hobohm (2019) 22.
42 Audunson et al. (2020) 4.                                               48 Klinenberg (2018) 32.
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale         307

liche, auf Community Building zentral ist49 und dies wie-           chen Startchancen geschaut werden, denn es gebe einen
derum oft normativ begründet wird. An dieser Stelle möch-           lebenslänglichen Herkunftseffekt. Folgende Fragen seien
te ich betonen, dass eine normative Argumentation per se            vor diesem Hintergrund also relevant: Was bedeutet es, in
nicht das Problem ist, ganz im Gegenteil: Eine (kritische)          Armut aufzuwachsen? Warum nutzen arme Menschen ten-
Theorie ist auf sie angewiesen, sie bedarf der Vorstellung          denziell Bibliotheken weniger und machen seltener oder
eines Dritten. Dieser „Begriff von einer verschiedenen Far-         gar nicht Gebrauch von ihrem Wahlrecht? Diese Fragen
be“, wie Adorno es nennt,50 muss allerdings als solche              müssen sich El-Mafaalani zufolge steuerfinanzierte Ein-
explizit gemacht werden. Das ist einerseits notwendig, um           richtungen wie Bibliotheken und Museen stellen. Wenn der
Kritik an der Vorstellung selbst üben zu können (auf was            Umgang mit struktureller Knappheit langfristige Auswir-
ist sie gerichtet?) und andererseits, um zu verhindern, dass        kungen auf das Verhalten hat – dazu zählt laut El-Mafaa-
indirekt der Anspruch zum Fakt gemacht wird. Offen bleibt           lani Risikovermeidung und ein eher kurzfristiges, prag-
zum Beispiel, ob Wissen per se durch (vermeintlich) un-             matisches Denken –, dann muss dieses auch bei der
mittelbare Konversation entstehen kann, wie dies beson-             Konzipierung von Bibliotheksangeboten mitgedacht wer-
ders von David Lankes51 vertreten wird, und inwiefern kon-          den. Hannah Arendt hat diesen Sachverhalt einst gut auf
versationsorientierte Formate ohne Anbindung an die                 den Punkt gebracht: „Education is very nice, but the real
gesellschaftlichen Konstellationen überhaupt zum politi-            thing is money.“53 Allein auf partizipative Einbindung54 zu
schen Denken (und Handeln) anregen.                                 setzen, die zudem auch als Zwang zur Partizipation wahr-
      Es wird mit dieser Perspektive auch weniger auf die           genommen werden kann, ist also zu wenig, da es schon viel
Frage eingegangen, welche subjektiven und objektiven                zu voraussetzungsvoll ist. Eine einseitige Fokussierung auf
Voraussetzungen für die Individuen gegeben sein müssen,             partizipative Verfahren läuft zudem Gefahr, wieder nur
um am Öffentlichen Leben teilnehmen und teilhaben zu                eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen, die ohnehin
können. Mit der theoretischen Perspektive der Öffentlich-           schon politisch interessiert und engagiert ist.
keitsfunktion von Bibliotheken können zwar gesellschaft-                 Darüber hinaus ist die Neoliberalisierung politischer
liche Probleme wie zunehmende Privatisierungen öffent-              Institutionen, die Bürger:innen zu Kunden:innen und
licher Angelegenheiten und Bereiche zur Sprache gebracht            Konsumierenden macht, laut Wendy Brown umfassend
werden und es kann damit auch auf die zentrale Bedeu-               (2010).55 Wenn – an Brown anknüpfend – (behauptete)
tung von Öffentlichkeit für Demokratien verwiesen wer-              Effizienz zum alleinigen Kriterium von gutem Regieren
den. Aber bei der Frage, ob und wie diese Vorstellungen             wird und Partizipation dazu tendiert, sich zu einer wei-
von Öffentlichkeit in einer nicht-harmonischen Realität             teren Technik der Selbstverwaltung zu entwickeln, anstatt
umgesetzt werden können, bleibt die Antwort in der Ten-             Selbstbestimmung der Individuen zu fördern,56 dann wer-
denz vage. Hierfür ist ein Blick auf die Verfasstheit der           den die Möglichkeiten, Politik mitzugestalten rar, da Poli-
Individuen unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingun-             tik selbst entpolitisiert ist. In diesem Sinne kritisiert auch
gen unerlässlich. Die in diesem Zusammenhang relevan-               Danielle Allen den derzeitigen Zustand politischer Institu-
ten und erkenntnisversprechenden LIS-Arbeiten sind vor              tionen. Ihre Kritik bezieht sich zwar auf die USA, sie kann
allem diejenigen, die sich mit dem Verhältnis von freiem            aber als paradigmatisch für liberale Demokratien insge-
Zugang zu Wissen (u. a. über Bibliotheken), Nicht-Nutzung           samt gelesen werden:
und Armut beschäftigen.52
      Auf dem Zweiten Bibliothekspolitischen Kongress 2021              „So when we look around and we see that lots of people are
                                                                        disaffected or alienated or feel disempowered, that doesn’t just
hat der Erziehungswissenschaftler El-Mafaalani in seinem
                                                                        mean that they’re sort of haven’t got enough education or don’t
Vortrag „Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr               have the right perspective. It also means that our institutions
Bildungssystem und seine Zukunft“ genau auf diese Pro-                  aren't delivering what they promise. They’re not responsive.
blematik hingewiesen. So könne zwar Bildung ein Ausweg
aus der Armut sein, aber gleichzeitig legitimiere Bildung
soziale Ungleichheit. Es müsse viel stärker auf die unglei-

                                                                    53 Arendt (1977) 106.
                                                                    54 Ferner lohnt es sich, Partizipationsformen genauer anzuschauen.
49 Vgl. dazu auch Wimmer (2020) 16 f.                               Ist damit nur „joining the game“ gemeint oder gibt es auch „the
50 Adorno (2003) 370.                                               possibility to question the rules of the game“?, s. Engström und
51 Lankes (2011) 117.                                               Dahlquist (2020) 318.
52 Clarke et al. (2011), Mckeown (2016), Thompson (2011), Wheeler   55 Brown (2010).
(2021).                                                             56 Vgl. Engström und Dahlquist (2020) 328.
308            Anne Rethmann

      They don’t generally empower ordinary people and they very            Einführung eines Unterrichtsfaches für die politische Bildung –
      often don’t deliver sort of equal representation.“57                  analog zu den ‚Social Studies‘ in den USA.“59

Mit welchen gesellschaftlichen Konsequenzen muss also                   Es stellt sich aber grundsätzlich die Frage, ob ein Anknüp-
gerechnet werden, wenn politische Akteure, Regierende                   fen an aufklärerische Ideale – wie das vom Individuum als
nicht in der Lage sind, das Leben der Menschen, die sie                 ein moralisches Subjekt und somit ein eigenverantwortlich
gewählt haben, zu verbessern? Was bedeutet es, wenn der                 handelndes Individuum – ohne Weiteres möglich ist. Dies
Umschlag von demokratischen in autoritäre Staaten oder                  vorauszusetzen, anstatt das Fehlen zum Ausgangspunkt
gar Diktaturen nicht durch einen Putsch, sondern schlei-                der Überlegungen zu machen, weist ein Moment der Indif-
chend erfolgt unter formal eingehaltenen demokratischen                 ferenz gegenüber der Wirklichkeit auf, die es den meisten
Prozeduren? Und wie soll damit umgegangen werden,                       Menschen gerade schwer macht, den eigenen Lebensinhalt
wenn Menschen dies nicht als problematisch betrachten,                  zu bestimmen.60 Die gegenwärtige Einrichtung der Welt, so
solange ein gewisser Wohlstand im Privaten gesichert ist?               schreibt Adorno dann auch, „übt einen so ungeheuren
    Oftmals liegt der politischen Bildung aber ein Men-                 Druck auf die Menschen aus, daß er alle Erziehung über-
schenbild zugrunde, welches diese gesellschaftlichen Be-                wiegt. Es wäre wirklich idealistisch im ideologischen Sinn,
dingungen vernachlässigt und sich vielmehr exklusiv an                  wollte man den Begriff der Mündigkeit verfechten, ohne
dem Humboldt’schen, neuhumanistischen Bildungsideal                     daß man die unermeßliche Last der Verdunkelung des
von Mündigkeit zu orientieren scheint. Diese Fähigkeit, für             Bewußtseins durch das Bestehende mitaufnimmt.“61 Shan-
sich selbst zu sprechen, gilt seit Immanuel Kants „Beant-               non Mariotti greift mit Bezug auf Adorno diese Problematik
wortung der Frage: Was ist Aufklärung“ als elementarer                  auf und wendet sie auf die Gegenwart an: „How can one
Bestandteil westlicher Bildung. John Dewey, einer der                   argue that liberal capitalism cultivates a passive citizenry
wichtigsten theoretischen Bezugspersonen für die politi-                and also argue that it is possible today to foster indepen-
sche Bildung, knüpfte hier mit „Democracy and Educati-                  dent thinking and action?“62 Diese Fragen und die Frage,
on“ (1916) an, erweiterte es jedoch um eine praktische                  inwiefern den Einzelnen die Übernahme von persönlicher
Dimension: Bildung sei nicht auf abstraktes Wissen zu                   Verantwortung für ihr Verhalten dennoch zugemutet wer-
reduzieren, sondern müsse bei den Lebensrealitäten an-                  den kann und auch muss, bilden die Konstante in der
setzen und durch gemeinsames Lösen von Problemen zum                    politischen Bildungsarbeit, die Mündigkeit zwar nicht ga-
eigenständigen Denken ermuntern. Demokratie ist Dewey                   rantieren kann, aber fördern will.63 Vor dem Hintergrund,
zufolge nicht nur eine Staats-und Regierungsform, son-                  dass Mündigkeit keine statische, sondern eine dynamische
dern auch Gesellschafts- und Lebensform. Deweys Kon-                    Kategorie darstellt, ist es hilfreich, Adornos Verständnis
zepte sind besonders für Deutschland relevant. So waren                 von Erziehung hier zu erwähnen, da er das Spannungsver-
seine Bildungskonzepte für die amerikanische Ausrich-                   hältnis zwischen Mündigkeit voraussetzen und zu Mündig-
tung der Re-Education nach Kriegsende leitend:58                        keit erziehen präzisiert:

      „Für die Amerikaner standen dabei die Reform des Bildungs-            „Ich möchte es danach riskieren, auf einem Beine stehend, zu
      wesens und seine Demokratisierung im Mittelpunkt. Ihr Ziel war        sagen, was ich mir zunächst unter Erziehung überhaupt vorstelle.
      die Übertragung des amerikanischen Schulsystems in ihre Besat-        Eben nicht sogenannte Menschenformung, weil man kein Recht
      zungszone, und das bedeutete: Stufen- oder Einheitsschule (heu-       hat, von außen her Menschen zu formen; nicht aber auch bloße
      te würden wir sagen: Gesamtschule), egalitäre Erziehung mit           Wissensübermittlung [...], sondern die Herstellung eines richtigen
      Chancengleichheit, kooperatives Verhältnis zwischen Lehrer            Bewußtseins. Es wäre zugleich von eminenter politischer Bedeu-
      und Schülern, Erziehung zur Selbstständigkeit im Denken und           tung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert.
      Handeln, Vermittlung von demokratischen Grundwerten sowie             Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern
                                                                            ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen.
                                                                            Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von
                                                                            Mündigen vorstellen. Wer innerhalb der Demokratie Erziehungs-

57 Allen (2020). Allen ist eine der Initiator:innen der im März 2021
öffentlich gemachten US-Initiative „Educating for American Demo-        59 Gagel (2002).
cracy“. Diese – auch wenn sie erst einmal nur für den formalen          60 Eine sehr erkenntnisfördernde Arbeit zum Begriff der Mündigkeit
Bildungsweg vorgesehen ist – steht exemplarisch für eine Rückbesin-     in der politischen Bildung und ihren normativen Voraussetzungen
nung auf historisch-politische Bildung in den USA.                      hat Stefan Müller (2020) verfasst.
58 Die Konzepte aus den USA stießen allerdings auch auf (starke)        61 Adorno (2013a) 108 f.
Abwehr. Beispielsweise scheiterte die Initiative zur Schulreform am     62 Mariotti (2014) 435.
Widerstand der deutschen Kirche und der Christdemokraten.               63 Müller (2020).
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale   309

      ideale verficht, die gegen Mündigkeit, also gegen die selbständi-   wendungen aber oftmals keine theoretischen und prak-
      ge bewußte Entscheidung jedes einzelnen Menschen, gerichtet         tisch pädagogischen Konzepte zugrunde.68 Ferner zeichne
      sind, der ist antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvor-       sich in dieser Entwicklung ein Paradigmenwechsel inner-
      stellungen im formalen Rahmen der Demokratie propagiert. Die
                                                                          halb der politischen Bildungsarbeit ab: von der auf Mün-
      Tendenzen, von außen her Ideale zu präsentieren, die nicht aus
      dem mündigen Bewußtsein selber entspringen, oder besser viel-       digkeit zielenden politischen Bildung hin zu einer eher auf
      leicht: vor ihm sich ausweisen, diese Tendenzen sind stets noch     Prävention orientierten Demokratieförderung.69 Vor dem
      kollektivistisch-reaktionär. Sie weisen auf eine Sphäre zurück,     Hintergrund dieser begrifflichen Verschiebung lohnt ein
      der man nicht nur äußerlich politisch, sondern auch bis in sehr     genauerer Blick auf die Inhalte und Zielsetzungen der
      viel tiefere Schichte opponieren sollte.“64
                                                                          politischen Bildung, um über diesen Weg die Unterschiede
                                                                          und das Verhältnis von politischem und sozialem Lernen
In diesem Sinne gilt es also auch, den Fokus auf die gesell-              aufzeigen zu können.
schaftlichen Bedingungen und Verhältnisse zu legen, die                        Generelles Ziel der politischen Bildung ist, so kann
Mündigkeit gar nicht erst zulassen und den Menschen –                     zusammengefasst werden, den Menschen politische
wie Fritz Bauer betonte – oft vergeblich nach Luft schnap-                Strukturen und Sachverhalte sowie historisch-politisches
pen lassen.65 Dieses Dilemma aufzugreifen muss Teil der                   Grundlagenwissen zu vermitteln, um somit wissensbasier-
politischen Bildungsarbeit sein. Ohne diesen Schritt wür-                 te Urteile fällen und Handlungsmöglichkeiten erkennen zu
den sie ihrem Anspruch, Mündigkeit und Urteilskraft zu                    können (civic literacy). Dabei geht es heute nicht mehr nur
fördern, nicht mehr gerecht werden können.                                um die reine Weitergabe von Institutionenwissen und ver-
                                                                          fassungsrechtlichen Kenntnissen, sondern auch um die
                                                                          aktive Förderung politischer Teilnahme. Wolfgang Sander
                                                                          unterscheidet idealtypisch zwischen drei Grundmustern
4 Das Politische der politischen                                          der politischen Bildung hinsichtlich der Zielsetzung: 1)
  Bildung                                                                 Herrschaftslegitimation, 2) Mission und 3) Mündigkeit:70
                                                                          Die Funktion der Herrschaftslegitimation diene der Anpas-
Zwei charakteristische Merkmale teilt sich die politische                 sung und der Erziehung zur Treue gegenüber dem Staat.
Bildungsarbeit mit Bibliotheken: ihr Engagement im Be-                    Das Grundmuster Mission verstehe politische Bildung als
reich der nonformalen Bildung und ihr Anspruch, Mög-                      ein Instrument zur Verbesserung gesellschaftspolitischer
lichkeiten für lebenslanges Lernen zu eröffnen. So schreibt               Verhältnisse. Hier kann von einer klassischen Konstellati-
auch Oskar Negt: „Demokratie ist die einzige staatlich ver-               on von Lehrenden zu Lernenden gesprochen werden. San-
fasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss –                    der sieht dieses Grundmuster vor allem in der Gründungs-
früh, im Kindergarten, aber auch im hohen Alter.“66 Die                   phase der Bundesrepublik, aber auch in der Arbeiter:
nonformale Bildung findet jenseits von Schulen und Uni-                   innenbewegung des 19./20. Jh. realisiert. Seit den 1970er-
versitäten statt und verzichtet auf die benotete Zertifi-                 Jahren gilt die Förderung von Mündigkeit als das Denk-
zierung der Teilnahme. Vielmehr ist das Moment der Frei-                  muster, welches die politische Bildung bis heute prägt
willigkeit hier ausschlaggebend und das Recht auf Nicht-                  bzw. prägen sollte. Eigenständige und freiwillige Aus-
Partizipation bildet hierfür die Grundvoraussetzung.                      einandersetzung mit politischen Sachverhalten soll ge-
     Seit den 2000er-Jahren lässt sich, so Benedikt Widmai-               fördert werden, ohne dabei die Ergebnisse schon vor-
er, eine zunehmende Verwendung synonymer Begriffe für                     wegzunehmen. Sander zufolge ist das der entscheidende
politische Bildung feststellen, die zu einer neuen termino-               Punkt, der Mündigkeit auch qualitativ unterscheidet von
logischen, aber auch konzeptionellen Unübersichtlichkeit                  den anderen beiden Mustern, welche die Lernenden als
geführt habe. Dies ginge einher mit der Etablierung neuer                 Objekte im Bildungsprozess sehen. Die von Sander formu-
staatlicher Förderprogramme und dem Entstehen weiterer                    lierten idealtypischen Grundmuster sind dabei allerdings
Trägerstrukturen.67 Neben Demokratiepädagogik haben                       nicht als chronologisch nacheinander auftretend zu ver-
sich laut Widmaier folgende Komposita mit der Vorsilbe                    stehen. Es ist vielmehr eine Frage der konkreten Fallana-
„Demokratie“ etabliert: Erziehung, Bildung, Förderung,                    lyse, welches Grundmuster in dem entsprechenden Bil-
Lernen und Didaktik. Widmaier zufolge lägen diesen Ver-                   dungsangebot impliziert ist. Es kann also eher von einem

64   Adorno (2013a) 107.
65   Bauer (1955) 182.                                                    68 Widmaier (2020) 71.
66   Negt (2018) 21.                                                      69 Widmaier (2020) 69.
67   Widmaier (2020) 63.                                                  70 Sander (2014) 27 f.
310           Anne Rethmann

Nebeneinander, Gegeneinander und auch Miteinander ge-                      Informationen strukturieren, einordnen und reflektieren
sprochen werden. So ist Wissensvermittlung, wie es das                     zu können, um sie dann in Argumente zu übersetzen, ist
Grundmuster Mission vorsieht, nicht per se autoritär, son-                 ein wichtiges Moment in der politischen Bildung. Politi-
dern kann (oft) Mittel zum Zweck für Mündigkeit sein.                      sche Bildung kann sich jedoch nicht nur darin erschöpfen,
Denn es gibt – wie Adorno schreibt – „so etwas wie                         ein kritisches Verständnis von der Welt zu entwickeln,
Sachautorität – also die Tatsache, dass ein Mensch von                     sondern sie muss auch einen Möglichkeitssinn wecken. In
einer Sache mehr versteht als ein anderer –, die man nicht                 einem Radiogespräch mit Adorno und Eugen Kogon im
einfach vom Tisch fegen darf. Sondern der Begriff der                      Jahr 1953 macht Max Horkheimer darauf aufmerksam:
Autorität erhält seinen Stellenwert innerhalb des sozialen
Kontextes, in dem er aufkommt.“71                                              „Eine Gefahr ist aber, gerade wenn die Menschen die gesell-
                                                                               schaftlichen Tendenzen als überindividuelle, gesellschaftliche
     Der 1976 formulierte Beutelsbacher Konsens mit sei-
                                                                               Tendenzen erkennen, sich vom Handeln überhaupt abhalten
nen drei Grundsätzen versuchte schließlich, das Denkmus-
                                                                               lassen. Ich glaube, es ist das wichtigste, daß wir den Menschen
ter Mündigkeit für die praktische Bildungsarbeit produktiv                     klarmachen, daß dies nicht geschehen soll.“77
zu machen.72 Mit dem Indoktrinationsverbot, dem Kontro-
versitätsgebot und dem Prinzip der Subjektorientierung                     An diesem Punkt tritt das soziale Lernen in den Vorder-
soll eine Bevormundung durch die Lehrenden vermieden                       grund mit dem Zweck, den Ohnmachtsgefühlen entgegen-
und ein größtmöglicher Spielraum für die Lernenden                         zuwirken. Durch bürgerschaftliches Engagement soll die
gewährleistet werden.73 Seit den 1970er-Jahren wird in                     eigene Selbstwirksamkeit erfahrbar werden. Soziales Ler-
Deutschland (und deutlich früher in den USA) politische                    nen zielt somit auf den Nahbereich und hat den Anspruch,
Bildung also nicht mehr auf reine Wissensvermittlung re-                   soziale Kompetenzen wie Empathie- und Kooperations-
duziert. Hinzu tritt das soziale Lernen, das Lernen über                   fähigkeit zu fördern. Politisches Lernen ist zwar auf diese
bürgerschaftliches Engagement (service learning).74 Die                    Kompetenzen angewiesen, geht aber in der Zielsetzung
Vermittlung von Orientierungswissen, wie Negt Grund-                       über den Nahbereich hinaus und will gegebenenfalls po-
lagenwissen passend bezeichnet, müsse die individuel-                      litische Entscheidungen mitprägen. Hierfür sind Analyse-
len Lebensrealitäten der Adressat:innen berücksichtigen.75                 kompetenz, Konfliktfähigkeit, Absehen von eigenen Inte-
Politische Bildung bewegt sich also in diesem Spannungs-                   ressen, Folgeabschätzung und ganz besonders Urteilskraft
feld von Wissensvermittlung über verfassungsrechtliche                     unerlässlich. Erst dieses Bündel an Fähigkeiten ermöglicht
Themen und individuellen Lebensrealitäten. Negt hat in                     politisches Handeln und kennzeichnet das politische Mo-
„Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“76                      ment der politischen Bildung.
auf diesen Zusammenhang bereits hingewiesen. Darin be-                          Die von Widmaier nun angesprochene Begriffsver-
schreibt er drei Ebenen, die im Bildungsprozess adressiert                 schiebung ist insofern nicht nur eine Veränderung auf
werden sollten: 1) Nähe zu individuellen Interessen, 2)                    sprachlicher, sondern auch auf inhaltlicher Ebene, als die
gemeinsame Interessen einer Gruppe und 3) größere ge-                      Schwerpunktsetzung bei der Demokratiebildung dazu ten-
sellschaftliche Zusammenhänge. Der letzte Punkt, also die                  diert, die politische Bildung auf soziales Lernen zu re-
Förderung der Fähigkeit, große Mengen an Wissen und                        duzieren. Sie kann dadurch aber eine entpolitisierende
                                                                           Wirkung haben. Ein Blick in die USA ist hierbei erkennt-
                                                                           nisreich. Seit den 1990er-Jahren ist service learning in den
71 Adorno (2013b) 139.
                                                                           USA verstärkt zum festen Bestandteil der schulischen und
72 Sander (2014) 28.                                                       vor allem der akademischen Ausbildung geworden. Studi-
73 Die Frage, inwiefern der Beutelsbacher Konsens hinsichtlich des         en zufolge würden Studierende, die sich ehrenamtlich
Neutralitätsgebots hilfreich ist, wird immer wieder diskutiert, vgl.       engagieren, mehr, besser und schneller lernen als diejeni-
Widmaier und Zorn (2016). So betont z. B. auch die Weimarer Erklä-         gen, die sich nicht oder wenig engagieren.78 Freiwilligen-
rung (2019), dass demokratische Bildungsarbeit gar nicht wertneutral
                                                                           dienst verstanden in diesem Sinne ist aus mehreren Grün-
sein kann.
74 Eine sehr lesenswerte und ausführliche Beschreibung und Ana-            den problematisch. Zum einen geht es hier primär um das
lyse der Inhalte und Ziele von politischem und sozialem Lernen hat         eigene Selbst und zum anderen trägt es insofern selbst
Wohnig (2017) vorgelegt. Im Englischen wird soziales Lernen oft mit        Züge des indirekten Zwangs, als fehlendes Engagement
service learning übersetzt. Letzteres hat aber durchaus eine leicht ver-   die eigene Konkurrenzfähigkeit zur Disposition stellen
änderte Schwerpunktsetzung. Beim service learning steht die gemein-
nützige Tätigkeit im Vordergrund, weniger die Selbsthinterfragung,
die Reflexion über die eigene individuelle Verfasstheit.
75 Negt (2018) 25.                                                         77 Horkheimer (1989) 150.
76 Negt (1968).                                                            78 Kloubert (2019) 17.
Politische Bildung in Bibliotheken: Herausforderungen und Potenziale   311

könnte. Diese Form des sozialen Lernens ist dann besser           fördern scheint. Diese gesellschaftlich produzierte Selbst-
als eine weitere Variante der Selbstoptimierung zu verste-        bezogenheit ist nicht Ausdruck von Individualität, sondern
hen und nicht als soziales Engagement. Abgesehen von              mache, so Max Horkheimer, den Einzelnen zum Element
dieser Variante des sozialen Lernens ist ehrenamtliche            der Masse und Konformismus.81 Der moderne Massen-
Arbeit auch immer eine Zeitfrage, die man sich folglich           mensch, den Arendt in „Organisierte Schuld“ auch Spießer
ökonomisch leisten können muss. Ferner tendiert ein ex-           nennt,82 hängt nur an seiner privaten Existenz. Sein Modus
klusiver service-learning-Ansatz, welcher vom politischen         ist das bloße Sich-Verhalten ohne Interesse an öffentlichen
Lernen abgekoppelt wird, zu Vereinfachungen komplexer             Angelegenheiten. Es ist dann die unkritische Übernahme
politischer Verfahrensweisen und dadurch zu voreiligen            allgemeiner Regeln, die die Erfahrung mit anderen ver-
Rückschlüssen auf etwaige Zusammenhänge von sozialem              unmöglicht. Die politische Bildung versucht jedoch mit
und politischem Lernen. Es wird dabei versucht, über ver-         ihren Methoden und Ansätzen, sich dagegen zu stellen,
meintlich unmittelbare Ansätze zum politischen Engage-            einen kritischen Denkprozess in Gang zu setzen und zu
ment zu motivieren. Partizipative Demokratietheorien wie          einer wissensbasierten Urteilsbildung zu motivieren. Im
Benjamin Barbers „Strong Democracy“ gehen von dieser              Gegensatz zu populistischen und rechtsextremen Antwor-
These aus. Allerdings fehlt es an empirischen Belegen für         ten setzt sie daher auf ein Mehr an Komplexität. Sie will
einen sogenannten Spill-Over-Effekt zwischen sozialer             helfen, komplexe Sachverhalte verstehbar zu machen. Bi-
und politischer Partizipation.79 Es ist eher zu beobachten,       bliotheken könnten dafür ein Forum bieten.
das bereits politisch Aktive sich auch sozial engagieren „In
sum, the results of our study imply that there are no easy
ways to generate politically engaged citizens. Voluntary          5 Handlungsfelder von Bibliotheken
associations do not make citizens politically active but
bring politically active citizens together.“80
                                                                    im Bereich der politischen
     Für eine politische Bildungsstrategie, die ein „prea-          Bildung
ching to the converted“ vermeiden will, wäre also gerade
das Zusammenspiel von sozialem und politischem Lernen             Wissensvermittlung zusammen mit der Förderung der Ur-
notwendig und vor allem müsste sie auch die strukturellen         teilskraft sind grundlegende Aufgaben der politischen Bil-
und institutionellen Bedingungen adressieren, die gege-           dung, um Bürger:innen dabei zu unterstützen, an einer
ben sein müssen, um den Individuen eine politische Teil-          Demokratie des 21. Jahrhunderts auch tatsächlich teilneh-
habe de facto auch zu ermöglichen.                                men zu können. Nicht nur Data, Information und Digital
     Es stellen sich also zwei Fragen, wenn politische Teil-      Literacy sind dafür notwendig, sondern eben auch civic
habe bzw. die Möglichkeit des Teilnehmen-Könnens Ziel             literacy. Dies setzt voraus, dass Demokratie nicht nur tech-
sein soll. Die erste ist eine strukturelle, die nach gerechten    nokratisch im Sinne von Effizienz und Problemlösung
gesellschaftlichen Verhältnissen und politischen Institu-         verstanden wird, sondern als eine potenziell individuelle
tionen fragt. Dies fällt in den Aufgabenbereich der politi-       Freiheit ermöglichende Gesellschafts-, Staats- und Regie-
schen Entscheidungsträger:innen, die sich daran messen            rungsform. Die politische Bildung teilt sich dementspre-
lassen müssen und gegebenenfalls (hoffentlich) abge-              chend in drei Aspekte auf: Wissensvermittlung (civic
wählt werden. Die zweite Frage bezieht sich auf die indivi-       knowledge/information), Förderung der Urteilsbildung (ci-
duelle Verfasstheit und fragt nach den Möglichkeiten              vic dispositions/attitudes) und Stärkung der Handlungs-
unabhängigen, d. h. kritischen Denkens, das die Vorbedin-         fähigkeit bzw. ein wenig vorsichtiger formuliert: Aufzeigen
gung für politische Teilhabe ist. In Anbetracht gegenwärti-       von Handlungsoptionen (civic behavior/action). Welche
ger gesellschaftspolitischer Umbrüche und Konflikte, die          Rolle können also Bibliotheken hierbei konkret einneh-
nicht getrennt werden können von den massiven struktu-            men? Insbesondere ein Blick in die USA ist hier wieder
rellen Veränderungen in der Arbeitswelt, ist eine politische      erkenntnisreich. Nicht nur verfügen vor allem die Public
Bildungsstrategie dabei vor schwierige Aufgaben gestellt.         Libraries über langjährige Erfahrungen im Bereich der Citi-
Sie soll zum eigenständigen Denken und zur Selbstreflexi-         zenship Classes, sondern sie zeichnen sich auch durch das
on motivieren in einem gesellschaftlichen Kontext, der            Bündeln verschiedener Formate in einer Bibliothek aus,
nicht Selbsthinterfragung, sondern Selbstbehauptung zu            die in genau dieser thematischen Zusammenstellung als

79 Vgl. Reinhardt (2013) 164.                                     81 Horkheimer (1991) 402.
80 Van der Meer und Van Ingen (2009) 303.                         82 Arendt (2012) 35.
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