PROJEKTBERICHT - NETZWERKMEDIZIN - IMPULSE FÜR DEUTSCHLAND AUS DEN USA - STIFTUNG MÜNCH - Stiftung Münch

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JULI 2015
            STIFTUNG MÜNCH

            PROJEKTBERICHT

NETZWERKMEDIZIN –
IMPULSE FÜR DEUTSCHLAND
AUS DEN USA
ABSTRACT
Das US Gesundheitssystem wird häufig aufgrund seiner           Auch wenn es in den meisten Fällen für eine abschließende
bestenfalls durchschnittlichen Qualität bei zugleich ho-       Bewertung noch zu früh ist, lassen sich die ersten Erkennt-
hen Kosten kritisiert. Dennoch lohnt sich ein differenzier-    nisse schlaglichtartig zu zehn Impulsen verdichten:
ter Blick. Die aus der starken Fragmentierung des Systems
entstehenden Probleme eröffnen zahlreiche Ansatzpunkte                 Mehr Experimente zulassen.
für Experimente mit neuen Versorgungs- und Vergütungs-                 Unternehmerische Freiheit sichern.
formen. Zugleich treffen viele der in den USA vorliegenden             Vergütungssystem flexibilisieren.
Probleme auch auf Deutschland zu: Kostendruck, Brüche in               Qualitätsmessung fördern.
der Kontinuität der Versorgung, Qualitätsdefizite, die Ge-             Finanzielle Anreize für Electronic Health Records
fahr impliziter Rationierung, unzureichende IT-Infrastruk-             setzen.
tur, um nur einige zu nennen.                                          Patienten gezielt durch das Versorgungssystem
                                                                       steuern.
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, herauszuarbeiten, in-           Regionale Cluster fördern.
wiefern aus den Erfahrungen in den USA Impulse für eine                Konzentrierte Strukturen vermeiden.
Reform des deutschen Gesundheitswesens abgeleitet wer-                 Blockade der Selbstverwaltung durchbrechen.
den können, die sich am Konzept der Netzwerkmedizin ori-               Zu starke Fragmentierung verhindern.
entiert. Hierzu werden zentrale Reformelemente des Pati-
ent Protection and Affordable Care Acts (ACA) skizziert und    Auf absehbare Zeit lohnt es sich, die Entwicklungen in
die ersten vorliegenden Ergebnisse diskutiert.                 den USA weiter zu verfolgen und die Ergebnisse einer
                                                               kritischen Analyse zu unterziehen. Positive wie negative
Im Fokus stehen Affordable Care Organizations, Patient         Erfahrungen können dabei die Diskussion in Deutsch-
Centered Medical Homes, Episode Based Payment Systems          land bereichern. Ziel muss es sein, Offenheit für Impulse
und die an Electronic Health Records ausgerichtete IT-Inf-     von außen zuzulassen, ohne dabei die Stärken des eige-
rastruktur.                                                    nen Systems in Gefahr zu bringen.

  2      Stiftung Münch | Projektbericht
INDEX
 1 Die USA als Testlabor für
   neue Versorgungsstrukturen.....................4

   1.1 Die USA als Vorbild?...................................................5
   1.2 Netzwerkmedizin als Vision...................................6
   1.3 Impulse für Deutschland ........................................ 7

 2 Struktur der Leistungserbringung
   in den USA vor ACA ..................................... 9

 3 Komponenten des Patient Protection
   and Affordable Care Act (ACA) ................. 10

   3.1 Allgemein . .................................................................. 11
   3.2 Accountable Care Organisations ....................... 12
   3.3 Patient Centered Medical Homes ...................... 15
   3.4 Episode Based Payment System . ...................... 15
   3.5 Electronic Health Records ................................... 16

 4 Effekte des ACA auf die
   Versorgungsstruktur ...................................... 17

   4.1 Allgemeiner Stand der Forschung zum ACA ....18
   4.2 Accountable Care Organizations ........................18
   4.3 Patient Centered Medical Homes .......................19
   4.4 Episode Based Payment Systems ....................20
   4.5 Electronic Health Records ....................................21
   4.6 Strukturelle Veränderungen ................................21

 5 Impulse für Netzwerkmedizin in
   Deutschland ................................................ 22

 6 Fazit .............................................................. 26

    Literaturverzeichnis .................................................... 28

                                                                                           IN ZUSAMMENARBEIT MIT:

                                                                                                   Stiftung Münch | Projektbericht   3
1.
DIE USA ALS
TESTLABOR FÜR
NEUE
VERSORGUNGS-
STRUKTUREN

4   Stiftung Münch | Projektbericht
1.1 DIE USA ALS VORBILD?                                      aggressive efforts in the history of the nation to address
                                                              the problems of the delivery system. Perhaps a fairer cri-
Der Ansatz, in den USA nach positiven Impulsen für die        ticism of the law is that it tried to do too much — that
Versorgungsstruktur im deutschen Gesundheitswesen zu          it launched too many divergent experiments and lacks a
suchen, erscheint zunächst fragwürdig. Kaum ein Gesund-       coherent strategy.”
heitssystem wird derart häufig als Negativbeispiel heran-
gezogen wie das amerikanische:                                Dies findet vor dem Hintergrund statt, dass das „Eine“
                                                              amerikanische Gesundheitssystem nicht exisiert. Viel-
Zu teuer bei mittelmäßiger Qualität und erhebliche Defizite   mehr erzeugen diverse parallel existierende Versicherungs-
beim Zugang lauten, typische Argumente (Squires 2012).        systeme ein höchst ineffizientes, da extrem fragmentiertes
Auch wenn sich in den letzten Jahren an einigen Stellen       Ganzes (Smith und Medalia 2014). Medicare, das im
Verbesserungen eingestellt haben – insbesondere was den       Wesentlichen die Versorgung der älteren Bevölkerung
Versicherungsschutz angeht (Carman et al. 2015) – trifft      übernimmt, ist eine staatliche Krankenversicherung auf
diese Kritik im Wesentlichen sicher zu. Dennoch – oder        Bundesebene und stellt für viele Leistungserbringer den
besser: gerade deswegen – lohnt sich jedoch der Blick in      wichtigsten Kostenträger dar.
die USA, denn der große Druck an den unzähligen Bruch-
und Problemstellen hat dazu geführt, dass eine noch grö-      Medicaid übernimmt vereinfacht gesprochen den Versiche-
ßere Anzahl an Versuchen unternommen wurde, diese zu          rungsschutz für Teile der armen Bevölkerung und wird von den
beheben. Mit dem Affordable Care Act (ACA), der weitrei-      einzelnen Bundesstaaten verantwortet. Um die Versorgung
chenden unter der Präsidentschaft von Barack Obama auf        aktiver Mitglieder der Armed Forces kümmert sich das Mili-
den Weg gebrachten Gesundheitsreform, wurden zahlrei-         tary Health System des Verteidigungsministeriums in eige-
che weitere Impulse gesetzt. Das Ergebnis ist ein Schatz      nen Einrichtungen. Aus dem Militärdienst ausgeschiedene
an Versorgungsexperimenten oder, wie Blumenthal et            Veteranen werden hingegen von der Veterans Health Admi-
al. (2015) es formulieren: “A careful examination of the      nistration versorgt – ebenfalls inklusive eines eigenen Leis-
law, however, shows that it constitutes one of the most       tungserbringernetzes. Hinzu kommen weitere Subsysteme

BEVÖLKERUNG NACH VERSICHERUNGS-
SCHUTZ IM JAHR 2013

   ARBEITGEBERGEBUNDENE VERISCHERUNG

   INDIVIDUALVERSICHERUNG

   MEDICARE

   MEDICAID

   MILITÄR, VETERANEN ETC.

   GANZJÄHRIG OHNE VERSICHERUNGSSCHUTZ

                                                              Abbildung 1: Bevölkerung nach Versicherungschutz im Jahr 2013
                                                              Quelle: Smith und Medalia (2014), U.S.Census Bureau

                                                                                             Stiftung Münch | Projektbericht   5
beispielsweise für die Versorgung von Kindern (z. B. SCHIP).    Blick darauf, dass die Herausforderungen im Grunde sehr
Der privatwirtschaftlich verantwortete Versicherungsmarkt       ähnlich sind. In beiden Ländern gilt, dass während auf
lässt sich wiederum in die primär üblichen Krankenversiche-     der einen Seite nahezu alles medizinisch und technisch
rungsverträge, die über den Arbeitgeber für die Beschäftigten   Denkbare zur Verfügung steht, sich auf der anderen Seite
abgeschlossen werden, sowie die auf Personenebene               viele Patienten mit einer völlig anderen Realität konfron-
geschlossenen Einzelverträge unterscheiden. Jeder dieser        tiert sehen, die durch Wartezeiten, ausbaufähige Qualität
Bereiche differenziert sich weiter aus, so zum Beispiel in      und implizite Rationierung geprägt wird. In beiden Län-
unterschiedliche Optionen für kleinere, mittlere und große      dern gibt es großen öffentlichen Druck, dem entgegenzu-
Unternehmen. Hinzu kommt die nach wie vor hohe Zahl an          wirken.
US Bürgern ohne Versicherungsschutz – weder staatlich
noch privat (Silberman et al. 2008).                            Im Hinblick auf die Versorgungsstrukturen gibt es neben
                                                                den Unterschieden auch Gemeinsamkeiten. So sind in bei-
Die Systeme sind dabei nicht komplementär ausgelegt, viel-      den Ländern öffentliche, private not-for-profit und private
mehr stehen sie meist weitestgehend unverbunden neben-          for-profit Krankenhäuser wichtige Bestandteile der Versor-
einander, zum Teil sich überlappend, zum Teil mit Lücken, die   gung. Probleme liegen bei der Sicherstellung der Versor-
für den Einzelnen fatale ökonomische und gesundheitliche        gung im ländlichen Raum und viele Staaten praktizieren
Folgen haben können. Unzureichender Versicherungs-              vor diesem Hintergrund eine staatliche Krankenhauspla-
schutz, beispielsweise durch hohe Zuzahlungen, stellt ein       nung (Maier und Schmid 2009).
weiteres gravierendes Problem dar (Schoen et al. 2014). Im
Ergebnis kommt es auf verschiedenen Ebenen zu systembe-         In diesem Kontext ist auch zu betonen, dass das amerika-
dingter, impliziter Rationierung, die nur bei entsprechender    nische Gesundheitssystem nicht im Geringsten weniger
Zahlungsfähigkeit umgangen werden kann.                         stark reguliert ist als das deutsche. Auch prägen in weiten
                                                                Teilen die staatlichen Versicherungszweige – insb. Me-
Diese Situation stellt auch die Leistungserbringer vor große    dicare – beispielsweise die Abrechnungspraxis weitaus
Herausforderungen, sind doch unzählige verschiedene             mehr, als der private Versicherungsmarkt. Medicare stellt
Abrechnungsmodalitäten zu beachten und in vielen Fällen         letztlich auch das Einfallstor für die Versorgungsstruktu-
auch zu verhandeln. Dazu kommt der Umgang mit nicht             ren betreffende Gesundheitspolitik auf Bundesebene dar,
bezahlten Krankenhausrechnungen. Der daraus resultie-           da über die Vergütung gezielt Anreize gesetzt werden kön-
rende Verwaltungsaufwand erklärt zumindest einen Teil der       nen. Ein, die Innovationsfähigkeit des amerikanischen Sys-
Kostenunterschiede zwischen den USA und Deutschland             tems sicherlich beförderndes Element ist das Fehlen einer
(Himmler und Jugl 2015).                                        Selbstverwaltung nach deutschem Muster.

Des Weiteren kommen für die Kostenträger neben vielen
anderen Faktoren hohe Ausgaben durch die Inanspruch-            1.2 NETZWERKMEDIZIN ALS VISION
nahme der Notaufnahmen für Bagatellkrankheiten oder zu
späte Erstkontakte aufgrund eines unzureichenden Ver-           Das Konzept der Netzwerkmedizin (Münch und Scheytt
sicherungsschutzes (The Kaiser Comission on Medicaid            2014) setzt an den von ihren Vordenkern wahrgenommenen
and the Uninsured 2014). Die Fragmentierung des Versiche-       Defiziten des deutschen Gesundheitswesens an. Ressourcen
rungssystems wirkt sich auch auf die Versorgung aus, so         werden demnach verschwendet, da Patienten auf dafür
dass sich discontinuity of care – also Brüche im Behand-        ungeeigneten Versorgungsstufen diagnostiziert und be-
lungsverlauf – als ein weiteres zentrales Problem auftut        handelt werden – beispielsweise Bagatellkrankheiten in
(Shih et al. 2008).                                             der Notaufnahme eines Universitätskrankenhauses oder
                                                                komplexe neurologische Indikationen in einem kleinen
Diese Probleme und – gerade auch was den Versicherungs-         Krankenhaus der Grundversorgung. Dies erhöht das
schutz betrifft – gravierende systembedingte Unterschiede       Risiko fehlerhafter Diagnosen, unnötig teurer Versorgung
zwischen den USA und Deutschland, verstellen häufig den         und mangelhafter Qualität. Zugleich verhindern Brüche

  6      Stiftung Münch | Projektbericht
entlang des Versorgungspfades einen schnellen Infor-             stehen. Verschiedene Nebenbedingungen werden für ein
mationsfluss und Leistungserbringer mit ineffizienten            gesellschafts- und gesundheitspolitisch positiv zu bewer-
Organisationsstrukturen können die u.a. demographisch            tendes Gesamtergebnis als notwendig erachtet. Hierzu
bedingte Mehrnachfrage kaum bewältigen. Die dem So-              gehört eine aktive und prominente Rolle von Patienten-
lidargedanken verpflichtet Gesetzliche Krankenversiche-          rechtsvertretern, die ein Gegengewicht zum allein durch
rung (GKV) kann die finanziellen Ressourcen, die für die         seine Größe bereits mächtigen Leistungserbringer darstellen.
Finanzierung des von den Patienten erwarteten Versor-            Ferner muss sichergestellt werden, dass es mehrere, mit-
gungsniveaus im Rahmen der gewachsenen Versorgungs-              einander in Konkurrenz stehende Netzwerke dieses Typs
strukturen benötigt würden, nicht generieren.                    gibt. Abschließend erscheint ein derart radikales Konzept
Im Ergebnis kommt es zu impliziter Rationierung durch            nur umsetzbar, wenn es aus einem unternehmerischen
lange Wartezeiten und ungleichen Zugangsmöglich-                 Impetus heraus – also in bewusstem Kontrast zur gesund-
keiten zu Gesundheitsleistungen zwischen GKV- und                heitspolitischen Planung – entsteht und die hierfür not-
PKV-Versicherten. Unter dem Stichwort Zweiklassenme-             wendigen Freiräume eingeräumt werden.
dizin wird dies öffentlich beklagt. Substantielle Lösungs-
vorschläge werden dadurch jedoch nicht generiert.
                                                                 1.3 IMPULSE FÜR DEUTSCHLAND
Das Konzept der Netzwerkmedizin nimmt nun genau dies
für sich in Anspruch. Durch eine gezielte Optimierung der        Ziel dieses Beitrags ist es weder, das amerikanische Ge-
Versorgungsstrukturen und die Ausschöpfung von Ratio-            sundheitssystem in seiner Gesamtheit zu bewerten noch
nalisierungspotentialen soll Rationierung vermieden werden.      die Tragfähigkeit des Konzepts der Netzwerkmedizin zur
Im Kern geht es um die Entwicklung von gestuften Versor-         Lösung der Probleme im deutschen Gesundheitswesen
gungskonzepten, in denen ambulante Medizinische Ver-             auszuloten. Vielmehr soll untersucht werden, inwiefern
sorgungszentren, Portalkliniken und Maximalversorger ein         in den USA Versorgungsstrukturen existieren bzw. durch
abgestimmtes Versorgungsnetz aufspannen.                         den ACA angestoßen wurden, die Elementen der oben skiz-
                                                                 zierten Netzwerkmedizin nahekommen. Dabei ist sowohl
Erste Anlaufstelle für einen Patienten ist der ambulan-          auf die Anreize zur Schaffung derartiger Versorgungs-
te Zugangspunkt, der jedoch durch entsprechende digitale         strukturen einzugehen als auch auf die vorliegenden bzw.
Vernetzung bei Bedarf auf die diagnostischen Kapazitäten der     sich abzeichnenden Erfahrungen mit diesen Ansätzen. In
nachgelagerten Versorgungsstufen direkt zugreifen kann.          einer kritischen Würdigung soll abschließend diskutiert
Dies erhöht die diagnostische Qualität beim Erstkontakt          werden, inwiefern hieraus Impulse für die weitere Ent-
und ermöglicht eine zielgenaue Weitervermittlung des Pa-         wicklung der deutschen Versorgungsstruktur abgeleitet
tienten an den fachlich geeigneten Spezialisten auf der an-      werden können.
gemessenen Versorgungsstufe.
                                                                 Im folgenden Kapitel wird zunächst die Ausgangslage
Eine elektronische Patientenakte stellt sicher, dass jederzeit   der Versorgungsstruktur in den USA vor dem ACA skiz-
auf alle vorliegenden Untersuchungsergebnisse zugegrif-          ziert. Die Kernelemente des ACA sowie ausgewählte, das
fen werden kann - unabhängig davon, in welchem Teil des          Konzept der Netzwerkmedizin tangierende Teilbereiche
Netzwerkes sich der Patient bewegt. Die Behandlungspfade         werden in Kapitel 3 behandelt. Hierzu zählen insbesonde-
sind aufeinander abgestimmt und stellen sicher, dass eine        re Anreize durch innovative Vergütungsvarianten sowie
effiziente Verteilung der Ressourcen erfolgt. Den Zugang         sonstige Anreize zur Integration der Leistungserbringung
zu den garantierten Leistungen des bundesweit präsenten          und der digitalen Vernetzung durch Electronic Health Re-
Netzwerkes – beispielsweise keine Wartezeiten für notwen-        cords. Kapitel 4 beleuchtet kritisch den Erfolg dieser Maß-
dige Großgerätediagnostik – ermöglichen dem Patienten            nahmen im amerikanischen Kontext. In Kapitel 5 erfolgt
Zusatzversicherungen, die von privaten Versicherungsun-          schließlich die Analyse hinsichtlich möglicher Impulse
ternehmen angeboten werden und komplementär zur im               für Netzwerkmedizin in Deutschland. Kapitel 6 schließt
Kostenerstattungsprinzip abgewickelten GKV-Komponente            mit einem kurzen Fazit.

                                                                                          Stiftung Münch | Projektbericht   7
2.
STRUKTUR DER
LEISTUNGS-
ERBRINGUNG IN
DEN USA VOR ACA

8   Stiftung Münch | Projektbericht
Typischerweise wird die Leistungserbringung in den USA          und eine zunehmende Aversion der Versicherten gegen die
von niedergelassenen Allgemein- und Fachärzten sowie            radikale Beschneidung ihrer Wahlfreiheit führten letztlich
durch Krankenhäuser durchgeführt. Die niedergelassenen          zum sogenannten Managed Care Backlash.
Fachärzte sind im weiteren Sinne als Belegärzte in den
Krankenhäusern tätig, die selbst keine Fachärzte direkt         Dieser hatte die Konsequenz, dass außerhalb von Kalifornien
anstellen. Formen der Kooperation und Integration unter-        heute nur noch wenige derartige HMOs anzutreffen sind.
liegen in den USA jedoch schon immer einer starken Dy-          Andererseits gilt zugleich „any care is managed care“, d. h.
namik, sodass das „Standardmodell“ die Realität kaum hin-       auch wenn die starke Integration von Versicherung und
reichend beschreibt. Mittlerweile gehen beispielsweise mehr     Leistungserbringung in weiten Teilen gescheitert ist, sind
und mehr Krankenhäuser dazu über, Ärzte direkt anzu-            nahezu alle Versicherungsverträge mit Anreizen gekoppelt,
stellen. Die ambulante fachärztliche Versorgung findet          die Versicherte beispielsweise durch reduzierte Zuzahlun-
dann über die den stationären Einrichtungen angeschlos-         gen belohnen, wenn sie innerhalb des mit dem Versiche-
senen Out Patient Clinics statt. Hinzu kommt, dass es diverse   rer kontrahierenden Netzwerks Leistungen in Anspruch
Varianten ärztlicher Verbünde gibt, die von eher losen Asso-    nehmen. Über die Höhe der Selbstbeteiligung und den Grad
ziationen wie Independent Practice Associations (IPA) bis       der in Kauf genommenen Beschränkungen lässt sich so die
hin zu geschlossenen Medical Groups mit einem starken           Versicherungsprämie gravierend beeinflussen.
rechtlichen und ökonomischen Integrationsgrad gehen.
                                                                Im Zuge des Managed Care Booms kam es zu einer mas-
Gruppen mit hohem Organisationsgrad und eigenem recht-          siven horizontalen und vertikalen Konsolidierungswelle.
lichen Träger sind elementare Kooperationspartner oder          Hierfür waren verschiedene Gründe ausschlaggebend: So
auch Akquisitionsziele für stationäre Leistungserbringer.       musste man, um ein attraktiver Vertragspartner für Versi-
Letztere sind meist Teil eines lokalen oder regionalen Hos-     cherungsunternehmen zu sein, in einer bestimmten Region
pital Systems oder einer überregionalen Krankenhausket-         eine möglichst große Abdeckung erreichen. Ferner machen
te, wobei die Hospital-Systems präsenter sind. Über die         es Varianten, die mit der Übernahme eines höheren Kosten-
letzten Jahrzehnte haben sich immer wieder Trends abge-         risikos einhergehen, notwendig, größere Fallzahlen zu gene-
wechselt, die einmal eine starke Ausdehnung vollständig         r­ieren, um dieses zu minimieren. Nicht zuletzt war bei den
vertikaler Integration brachten (Hospital-Systems kauften       Verhandlungen Marktmacht ein zentrales Argument: Hat-
Ärztenetzwerke auf), die dann wieder von einer Auflösung        ten Leistungserbringer hinreichend weit fusioniert, sodass
dieser Strukturen gefolgt wurde und vice versa (Cutler und      ohne sie in einer Region vom Versicherer keine flächende-
Scott Morton 2013; Bazzoli et al. 2004).                        ckende Versorgung angeboten werden konnte, stärkte dies
                                                                die Verhandlungsposition gegenüber den Versicherern gra-
Eine der prägnantesten Entwicklungen stellten in diesem         vierend. Unabhängig von den konkreten vertraglichen Aus-
Kontext Aufstieg und Fall von Managed Care Konzepten            gestaltungen spielen Verhandlungen zwischen Versiche-
in den 1980ern und 1990ern dar. Versicherer begannen            rern und Leistungserbringern über Leistungsumfänge und
stark Einfluss auf die Leistungserbringung zu nehmen,           Vergütungsformen eine zentrale Rolle (Bazzoli et al. 2004).
um Kosten zu drücken und die so generierte Marge selbst
verbuchen zu können. In der konsequentesten Umsetzung
der Staff-Model Health Maintenance Organisation (HMO)
waren die Krankenhäuser sowie die zugehörigen Ärzte-
netzwerke Eigentum der Versicherer. Patienten durften
Leistungen nur innerhalb der HMO in Anspruch nehmen
und wurden mit einem minimierten Leistungsportfolio
konfrontiert. Verschiedenste Exzesse dieses Modells (z. B.
Vorenthaltung notwendiger medizinischer Leistungen)

                                                                                         Stiftung Münch | Projektbericht   9
3.
KOMPONENTEN
DES PATIENT
PROTECTION AND
AFFORDABLE CARE
ACT (ACA)

10   Stiftung Münch | Projektbericht
3.1 ALLGEMEIN                                                  rern erfolgt. Zudem ist jeder Amerikaner, der finanziell dazu in
                                                               der Lage ist, dazu verpflichtet (mandate) substantiellen Kran-
Das amerikanische Gesundheitswesen ist durch eine              kenversicherungsschutz zu erwerben oder aber eine spür-
Koexistenz verschiedener Systeme charakterisiert, in           bare Steuerstrafe zu zahlen. Dies soll vor allem verhindern,
der eine ganzheitliche, sinnvolle Gesundheitspolitik nur       dass risikoarme Bevölkerungsschichten, deren erwartete
schwer umzusetzen ist. An einer Verwirklichung einer           Gesundheitsausgaben weit unter der durchschnittlichen
solchen Politik ist Präsident Clinton in den 90er Jahren       Prämie liegen, aus dem Versicherungsmarkt austreten. Für
trotz einer Mehrheit in Kongress und Senat gescheitert.        den privaten Krankenversicherungsmarkt sind zudem neu
Dies macht die Verabschiedung des ACA im Jahr 2010             geschaffene Subventionen essentiell. Diese sollen für einen
ohne eine demokratische Mehrheit im Senat umso be-             Großteil der Bevölkerung nicht nur die Prämien erschwing-
eindruckender. Der Patient Protection and Affordable Care      lich machen, sondern auch vor einer zu hohen Selbstbe-
Act (ACA) wurde nach langer politischer Diskussion im          teiligung schützen. Individuen und Familien, die zwischen
März 2010 verabschiedet und bildet die größte Reform           133% und 400% der Armutsgrenze liegen, erhalten ge-
des amerikanischen Gesundheitssystems seit der Ein-            staffelte Subventionen, falls sie nicht anderweitig über
führung von Medicare und Medicaid. Der über 800 Sei-           Medicare/Medicaid oder über den Arbeitgeber versichert
ten lange Gesetzestext adressiert verschiedene Bereiche        sind. Die Subventionen können dann an den neu kreierten
der Gesundheitsversorgung, von Krankenversicherung             Versicherungsmärkten zum Kauf von Versicherungsverträ-
und Bürokratieabbau über Effizienz und Qualität der Ver-       gen verwendet werden (McDonough 2011). Diejenigen, die
sorgung bis hin zu Prävention und Anforderungen an die         sich unter 133% des Armutsniveaus befinden, sind nach
Beschäftigten im Gesundheitswesen.                             dem ACA über Medicaid versichert, solange der betreffen-
                                                               de Staat einer Medicaid Expansion zugestimmt hat (United
Die genannte Fragmentierung des Systems ist vermut-            States Congress 2010).
lich auch eine Ursache der zwei drängendsten Probleme
im amerikanischen Gesundheitswesen, die der ACA lösen          Trotz Medicaid Expansion und den Versicherungssubven­
soll. Zum einen soll der weitere Anstieg des international     tionen soll das Gesetz von 2010 bis 2019 das staatliche De-
unerreichten Ausgabenniveaus gedämpft werden, zum              fizit um 143 Milliarden Dollar reduzieren (Congressional
anderen soll die Anzahl der Nichtversicherten und Unter-       Budget Office 2010). Durch administrative Vereinheitlichun-
versicherten gesenkt werden, die sich vor der Reform auf       gen, Maßnahmen gegen Missbrauch von Medicare und Me-
47 bzw. 32 Millionen Amerikaner belaufen haben (Schoen         dicaid, Einsatz von Generika, Abbau von Subventionen für
et al. 2014).                                                  Medicare Advantage Plans und Reduzierung von Medicare
                                                               Vergütungen wird das Ausgabenniveau abgesenkt. Um das
Die ersten Kapitel des ACAs befassen sich mit verschiedenen    Ausgabenwachstum zu verringern, wurde zum einen die so-
Instrumenten, die den Krankenversicherungsschutz der           genannte Cadillac Steuer eingeführt, die das Halten von zu
amerikanischen Bürger erhöhen sollen. Der heterogene           teuren Versicherungsplänen und damit Überversicherung
Versicherungsmarkt mit seinen unterschiedlichen Regel-         bestraft. Zum anderen soll der durch den ACA geschaffene
werken in den verschiedenen Staaten wird durch bundes-         Wettbewerb an den Versicherungsmärkten zu Einsparun-
weite Vorgaben stärker vereinheitlicht und Onlineplattformen   gen führen. Es wurden zudem Institutionen, wie das „Pa-
– die sogenannten Exchanges oder Health Insurance Market       tient-Centered Outcomes Research Institute“, das „In-
Places – erhöhen die Transparenz. Elementar ist auch das       dependent Payment Advisory Board“ und das „Center for
„guaranteed issue“, das mit dem in Deutschland bekann-         Medicare & Medicaid Innovation“ (CMMI) geschaffen, die
ten Kontrahierungszwang zu vergleichen ist. Versicherer        eine effizientere Gesundheitsversorgung vorantreiben sollen
müssen Interessenten aufnehmen, die gewisse Kriterien          (Orszag und Emanuel 2010; Zuckerman und Holahan 2012).
erfüllen und können nicht mehr aufgrund von bestehenden
Erkrankungen den Versicherungsschutz verwehren. Eine           Das größte Potential, das Wachstum der Gesundheitsausga-
individuelle Risikoadjustierung findet nicht statt, weshalb    ben zu reduzieren und dabei auch die Versorgungsqualität
ein Ausgleich der Risikostruktur zwischen den Versiche-        zu verbessern, liegt vermutlich allerdings in dem Teil, der

                                                                                          Stiftung Münch | Projektbericht   11
mit „Payment & Delivery System Reform“ zusammengefasst
werden kann und durch verstärkte Integration der Versor-
gung, Setzung entsprechender Anreize und den Einsatz von
Informationstechnologie gekennzeichnet ist. Dafür bein-
haltet der ACA einen bunten Strauß an Neuerungen und
Instrumenten, von denen die wichtigsten im Folgenden
dargestellt werden. Aufgrund der starken Fragmentierung
des Systems ist allerdings zu beachten, dass deren Anwen-
dung und damit auch deren Einfluss zunächst meist auf
Teilbereiche beschränkt ist.
                                                                                           IT-INFRASTRUKTUR
                                                                                            Electronic Health Records

                     Accountable Care Organisations
                     Patient Centered Medical Homes
                                                                      VERSORGUNGS-
                                                                         REFORM

                                                                                                           Center for Medicare
                                                                                                            and Medicaid
                                                                                                            Innovation
                                             INNOVATIONEN                                                  Patient-Centered
    Episode Based Payment                    ANREGEN UND                         VERGÜTUNGS                Outcomes Research
    Pay for Performance                       EVALUIEREN                                                   Institute
                                                                                   REFORM
    Value Based Purchasing                                                                                 Independent Patient
                                                                                                           Advisory Board

Abbildung: Hauptbestandteile der Payment and Delivery System Reform
Quelle: Eigene Darstellung

Im Folgenden soll nun zunächst auf zwei der Versor-                       kooperieren oder diese in ihr System integrieren. Als
gungsreform zuzurechnende Innovationen eingegangen                        Beispiel für verschiedene Ansätze, wie mit den neuen
werden: Accountable Care Organisationen (ACO) und Pa-                     Versorgungsstrukturen kompatible Vergütungsformen
tient Centered Medical Homes (PCMH). ACOs stellen dabei                   aussehen können, folgt darauf eine kurze Erläuterung
den breitesten Ansatz dar, der die größte Integrationstiefe               der Episode Based Payments, welche die noch immer
besitzt, und potentiell vom Maximalversorger bis zum nie-                 weit verbreitete Einzelleistungsvergütung ablösen sol-
dergelassenen Physiotherapeuten alle Leistungserbringer                   len. Abschließend wird auf die konsequente Förderung
unter einem strukturellen Dach vereinen kann. PCMH set-                   von Electronic Health Records (EHR) eingegangen. Die-
zen hingegen an der Primärversorgung der Patienten an und                 se stellen ein notwendiges Bindeglied für die effiziente
sollen eine Screening-, Koordinations- und Lotsenfunktion                 Kooperation verschiedener Leistungserbringer dar. Auch
erfüllen. Eine weitergehende Integration zum Beispiel in                  viele der innovativen Versorgungsansätze oder Vergü-
den Bereich der stationären Versorgung ist nicht vor-                     tungssysteme sind ohne eine derartige IT-Infrastruktur
gesehen. Natürlich kann eine ACO aber auch mit PCMH                       nicht umsetzbar.

 12        Stiftung Münch | Projektbericht
3.2 ACCOUNTABLE CARE                                          den 90er Jahren ist, dass Patienten ohne ihr aktives Zutun,
                                                              prospektiv auf Grundlage ihres Leistungsgeschehens den
    ORGANISATIONS                                             ACOs zugeordnet werden, dabei aber nicht in der Wahl ih-
Accountable Care Organisations (ACO) sind Netzwerke           res Leistungserbringers eingeschränkt werden (Berenson
von Ärzten, Krankenhäusern und anderen zugelassenen           und Burton 2012; Casalino 2014). Die Versicherer haben al-
Leistungserbringern, die für Qualität und Kosten des ge-      lerdings die Möglichkeit, entsprechende Anreize zu setzen,
samten Versorgungsgeschehens für eine bestimmte Pati-         indem sie die Höhe der Zuzahlungen für die Inanspruch-
entenpopulation verantwortlich sind. Dies stellt insofern     nahme von Leistungserbringer innerhalb bzw. außerhalb
eine Neuerung dar, als das bisherige System vor allem         einer ACO entsprechend staffeln.
durch eine mengentreibende, reine fee-for-service (FFS)
Vergütung und starre sektorale Grenzen geprägt ist. Ei-       ACOs können dabei unterschiedlichste Organisationsformen
nige wenige, aber prominente Ausnahmen stellen hierbei        annehmen, die sich aus der Eigentümerstruktur – einzelner
Leistungserbringer wie die Mayo Clinic oder Weiterent-        Eigentümer vs. mehrere Eigentümer – und dem Ausmaß
wicklungen der klassischen HMOs wie Geisinger Health          der Integration ergeben, wobei die ACO sowohl von Kraken-
Systems dar, die als voll integrierte Versorger das gesam-    häusern, Ärztenetzten als auch von sonstigen Leistungser-
te Behandlungsspektrum abdecken und schon länger al-          bringern geführt werden können. Wie in Tabelle 1 zusammen-
ternative Vergütungsansätze verfolgen.                        gefasst, lassen sich die ACOs dabei in sechs Grundtypen
                                                              einordnen (Muhlestein et al. 2014): So gibt es voll integrierte
ACOs können als eigene rechtliche Einheit firmieren, sie      Versorgungssysteme, den Archetyp der ACOs, die einen
können jedoch auch lediglich als virtuelle Organisationen     Großteil des Versorgungsspektrum abdecken, eine domi-
kooperierender Akteure existieren. Leistungserbringer in      nante Rolle im lokalen Markt spielen, an einer langfristigen
der ACO können unter Einhaltung gewisser Qualitätsstan-       Mehrwert generierenden Gesundheitsversorgung orientiert
dards finanziell von Kosteneinsparungen bezogen auf die       sind, dabei das Kostenrisiko übernehmen und verstärkt auf
gesamte Behandlungsepisode profitieren. Dabei gibt es ver-    umfassende IT-Lösungen setzen.
schiedene Formen, wie dieser Anreiz zu erhöhter Integra-
tion gesetzt wird. Im Medicare System z. B. erhalten ACOs     Daneben existieren unabhängige Arztgruppen ACOs, bei
durch das Shared Savings Programm zusätzlich zur Ein-         denen überwiegend Hausärzte lose miteinander koope-
zelleistungsvergütung einen Bonus, falls ein bestimmtes       rieren, mit dem Ziel, die Mindestanforderungen für das
Kostenziel erreicht wird. Die ACO erhält zwischen 50 und      Medicare Shared Savings Program (MSSP) zu erfüllen. Der
60 Prozent der eingesparten Kosten einer Behandlungsepi-      dritte Typ, Arztgruppen Allianzen, unterscheiden sich von
sode, wobei der Bonus auf 10 bis 15 Prozent des Kostenziels   den unabhängige Arztgruppen ACOs nur dadurch, dass hier
gedeckelt ist.                                                auch Fachärzte mit einbezogen werden. Bei den erweiter-
                                                              ten Arztgruppen ACOs handelt es sich um eine Verbindung
Eine Modifizierung dieses Modells sind Shared Risk            von niedergelassenen Ärzten, die mit anderen Versor-
Verträge, bei denen die Leistungserbringer zwar auch von      gungsstufen, hauptsächlich Krankenhäusern, kooperiert
Kosteneinsparungen profitieren, aber auch das Kostenrisi-     und durch multiple Eigentümerschaft gekennzeichnet ist.
ko tragen, indem sie bei Überschreitung eines Kostenziels     Unabhängige Krankenhaus ACOs haben dagegen nur ein
Strafzahlungen zu leisten haben. Die Zahlungen sind abge-     alleinstehendes Krankenhaus als Eigentümer, wobei aller-
staffelt und die ACO übernimmt nicht die volle Kostenver-     dings auch ambulante Leistungen durch Kooperationen mit
antwortung, wie es z. B. bei einem reinen Capitation Modell   niedergelassenen Ärzten erbracht werden können. Diese
der Fall wäre. Die daran teilnehmenden ACOs werden in         Art der ACO bietet allerdings oft keine spezialisierte Medizin
Anlehnung an das entsprechende Programm Pioneer ACOs          an und wurde oft mit dem Ziel gegründet, dem Kranken-
genannt. Parallel wird auch mit sogenannten Partial Capita-   haus einen stetigen Patientenstrom zu sichern, um sich
tion Modellen experimentiert, bei denen Einzelleistungs-      gegen größere Hospital Systems behaupten zu können.
vergütung und eine pauschale Vergütung pro Patient kom-       Krankenhaus Allianz ACOs haben wiederum mehrere Eigen-
biniert werden. Ein großer Unterschied zu den HMOs aus        tümer mit oft mehreren, kleinen Krankenhäusern, die

                                                                                         Stiftung Münch | Projektbericht   13
zusammen mit niedergelassenen Leistungserbringern ver-              CMMI soll das Versorgungsgeschehen sowie Qualität und
mehrt in ländlichen Gebieten tätig sind. Dort haben diese eine      Kosten der verschiedenen ACO Formen evaluieren, um
große Patientenbasis auf deren Grundlage die ACO das                letztendlich die wirksamste Variante zu ermitteln, die dann
finanzielle Risiko gut glätten können. Unter anderem das            anschließend weiter gefördert werden soll.

ACO TYP                              LEISTUNGSERBRINGER            EIGENTÜMERSCHAFT               ZIELE

                                     Krankenhäuser, Nieder-        Multiple Eigentümerschaft      Langfristige Generierung von
VOLL INTEGRIERTES                    gelassene Ärzte, Langzeit     dominant, vereinzelt ledig-    Mehrwert für Patienten
VERSORGUNGSSYSTEM                    pflege, sonstige Leistungser-
                                                                   lich ein Eigentümer
                                     bringer

                                                                                                  Zugriff auf Vergütung des
UNABHÄNGIGES                         Erbringer medizinischer       Ein Ärztenetz ist alleiniger
                                                                                                  MSSP (Medicare Shared
ARZTGRUPPEN ACO                      Grundleistungen               Eigentümer der ACO
                                                                                                  Savings Program)

ARZTGRUPPEN                                                                                       Angebot einer ambulanten
                                     Haus- und Fachärzte           Mehrere Ärztenetze
ALLIANZEN ACO                                                                                     Vollversorgung

                                                                                               Schaffung eines Zusatz-
ERWEITERTE                           Ärzte in Kooperation mit      Überwiegend multiple Eigen-
                                                                                               nutzens ohne zu hohem
ARZTGRUPPEN ACO                      zumindest einer Kliniken      tümerschaft
                                                                                               Integrationsgrad

                                     Krankenhaus bzw. Kranken-
UNABHÄNGIGE                          haussystem; Ambulante         Krankenhaus alleiniger         Sicherung des Patienten-
KRANKENHAUS ACO                      Leistungserbringer als        Eigentümer                     stroms für das Krankenhaus
                                     Kooperationspartner

                                     Krankenhäuser mit eigenen
                                                                                                  Schaffung einer breiten
KRANKENHAUSALLIANZ                   Ärztenetzen bzw. Koope-
                                                                   Mehrere Eigentümer             Patientenbasis zur Risiko-
ACO                                  rationen mit ambulanten
                                                                                                  glättung
                                     Leistungserbringern

 14      Stiftung Münch | Projektbericht
3.3 PATIENT CENTERED MEDICAL HOMES                             zur Erbringung medizinischer Grundversorgung ist die
                                                               großflächige Förderung der PCMH die wichtigste Neuerung
Ein weiteres Versorgungsmodell, das in gewissen Teilbe-        durch den ACA, um die unzulängliche Primärversorgung in
reichen bereits in den 90er Jahren eingeführt wurde, ist       den USA zu verbessern.
das Patient Centered Medical Home (PCMH). Auch wenn es
sehr unterschiedliche Formen des PCMH gibt, lässt sich
der Idealtyp wie folgt beschreiben: Patientenzentrierung,      3.4 EPISODE BASED PAYMENT SYSTEM
erleichterter Zugang sowie eine stabile, langfristige und
persönliche Beziehung zu einem Arzt, der die Versorgung        Eine weitere Neuerung durch den ACA, die zu einer stärke-
lenkt und organisiert. Prävention allgemein und die The-       ren Integration führen kann, ist die Einführung von Epi-
matik chronischer Erkrankungen spielen dabei eine zentra-      sode Based Payments, die den im stationären Sektor be-
le Rolle (Davis et al. 2011).                                  reits existierenden DRGs ähneln. Der Unterschied besteht
                                                               allerdings darin, dass die Behandlungsepisode breiter
Im Gegensatz zu den ACOs besteht eine Organisationseinheit     definiert wird und über sektorale Grenzen hinweg geht.
hier überwiegend aus einem Team mit einem niedergelas-         Für festgelegte klinische Episoden erhalten die an der
senen, für die Primärversorgung verantwortlichen Arzt im       Leistungs­erbringung beteiligten Akteure einen Pauschal-
Zentrum und nicht aus einem Netzwerk von Leistungser-          betrag von den Versicherungen. Wie bei den ACOs tragen
bringern, welches das gesamte Behandlungsspektrum ab-          die Leistungserbringer damit das finanzielle Risiko, falls die
deckt (Edwards et al. 2014). Das PCMH Team kann neben          Kosten über der Pauschale liegen. Sie können aber auch
Ärzten und Pflegern auch Ernährungsberater, Pharmako-          von Kosteneinsparungen profitieren (Hussey et al. 2011).
logen und Sozialarbeiter umfassen. Der integrative Aspekt      Eine Behandlungsepisode könnte z. B. alle mit eine Knie-
dieser Versorgungsform besteht in dieser interdisziplinären,   endoprothese zusammenhängenden Schritte umfas-
ganzheitlichen Herangehensweise an die Primärversorgung,       sen. Die Episode und damit die entsprechende Pauschale
die Gesundheitsförderung und Prävention mit einschließt.       umfassen sowohl mehrere Tage vorstationärer Behand-
Des Weiteren sollen die PCMH die Koordination des Ver-         lung, den stationären Aufenthalt als auch die darauf fol-
sorgungsgeschehens übernehmen. Die Organisation des            genden 30 Tage in der Rehabilitation. Der Anreiz für die
Übergangs von ambulanter zu stationärer Versorgung, vom        Leistungs­erbringer liegt damit darin, durch eine höhere
Krankenhaus zu Rehabilitation oder Langzeitpflege, sowie       Koopera­tion, Koordination und Integration der Versor-
die Berücksichtigung familiärer Umstände liegt im Aufga-       gung Effizienz­potentiale zu realisieren und wie bei den
benbereich der PCMH (Davis et al. 2011; National Conference    ACOs gemeinsam von den Kosteneinsparungen zu profi-
of State Legislatures 2012).                                   tieren (Mechanic 2011). Die Bündelung der Vergütung
                                                               kann dabei entweder auf eine bestimmte Prozedur oder
Um das Ziel der PCMH – verbesserte Qualität bei zumindest      auf eine medizinische Indikation bezogen werden, wobei
gleich bleibenden Kosten – zu erreichen, müssen ent-           sich hier insbesondere chronische Erkrankungen anbieten
sprechende Formen der Vergütung angewendet werden,             dürften.
welche die Behandlung und zusätzlich vorgehaltene Infra-
struktur abbilden und z. B. aus einem Mix aus Einzelleis-      Die Schwierig­keiten der Episode Based Payments liegen
tungsvergütung und einer Pauschale pro eingeschriebe-          darin, eine Episode klar und sinnvoll zu definieren, eine
nem Patient bestehen. Die Bundesstaaten wurden durch           angemessene Pauschale zu kalkulieren sowie sicher zu
den ACA befähigt, Vergütungssysteme für PCMH zu ent-           stellen, dass keine Einsparungen auf Kosten der Behand­
wickeln, die dann im Medicaid Sektor angewendet wer-           lungsqualität erfolgen. Schon vor dem ACA wurde in ein-
den sollen. Ferner ist eine zielgenaue Outcome-Messung         zelnen Staaten bezogen auf wenige Indikationen mit ge-
nötig, um die Behandlungsqualität sicher zu stellen. Für       bündelten Vergütungen experimentiert, wobei durchaus
viele der genannten Aspekte ist zudem essentiell, dass eine    Kosteneinsparungen bei gleichbleibender oder sogar
funk­tionierende IT Infrastruktur aufgebaut und vorgehalten    verbesserter Qualität zu beobachten waren (Korda und
wird (Fields et al. 2010). Neben neuen finanziellen Anreizen   Eldridge 2011).

                                                                                          Stiftung Münch | Projektbericht   15
3.5 ELECTRONIC HEALTH RECORDS                                Act sind geschätzte 30 Mrd. Dollar, die von 2011 bis 2017
                                                             bereitgestellt werden und den Leistungserbringern zu Gute
Mit der großflächigen Einführung einer einheitlichen IT      kommen, sobald diese Electronic Health Records (EHR) ein-
Infrastruktur im Gesundheitswesen wird schon lange die       führen und benutzen. Außerdem sollen Leistungserbringer
Hoffnung auf Kosteneinsparungen und Qualitätsverbesser­      ab 2015 finanzielle Einbußen erleiden, falls sie keine EHR
ungen verbunden (Terry 2013). Die oben vorgestellten Ver-    verwenden.
sorgungsformen mit ihren komplexen Vergütungsmecha-
nismen und Qualitätsanforderungen machen den Aufbau          Darüber hinaus werden nicht unerhebliche Mittel bereitge-
einer IT-Infrastruktur mit einer elektronischen Patienten-   stellt, um Unterstützungssysteme und regionale IT Zentren
akte als Kernbestandteil unerlässlich. Fehlanreize und       zu bilden, die den Leistungserbringern bei der Implemen-
die auf Ebene des einzelnen Leistungserbringers durch-       tierung und Verwendung der EHR zur Seite stehen (Blu-
aus ratio­nale Strategie, die weitere Entwicklung erst       menthal 2009). Durch die genannten Maßnahmen wurde
abzuwarten, verhinderten jedoch lange Zeit entscheidende     die Implementierung von EHR vorangetrieben. Ob sich die
Fortschritte bei ihrer Verbreitung (Christensen und Rem-     erhofften Effekte von EHR auf die Gesundheitsversorgung
ler 2009). Als Vorgriff auf den ACA und als Teil des Reco-   einstellen, hängt vor allem von zwei Faktoren ab: Erstens
very Acts, dem Konjunkturpaket von 2009, wurde deshalb       muss die Zertifizierung von EHR, die unter der Bundes­
ein milliardenschweres Paket geschnürt, das die Verbreit­    behörde ONCHIT erfolgt, zu anwenderfreundlichen und
ung von Gesundheits-IT vorantreiben sollte (Schmid und       sinnvoll einsetzbaren Patientenakten führen. Zweitens
Schmidt 2014; Korda und Eldridge 2011). Unter dem Begriff    müssen diese dann auch in einem substantiellen Umfang
HITECH Act werden verschiedene Maßnahmen gebün-              in der Praxis verwendet werden. Dies soll dadurch sicher-
delt. Eine davon ist die Stärkung einer bereits unter der    gestellt werden, dass die finanziellen Mittel nur fließen,
Präsidentschaft von G. W. Bush geschaffenen Bundesbe-        wenn „meaningful use“ der EHR nachgewiesen wird, d.h.
hörde, der ONCHIT, welche die Führung und Koordinati-        sukzessiv steigende Anforderungen an den Umfang, die
on der Implementierung von bundesweiter, kompatibler         Leistungsfähigkeit und die Interoperabilität der IT erfüllt
Gesundheits-IT übernehmen soll. Herzstück des HITECH         werden (Buntin et al. 2010).

 16      Stiftung Münch | Projektbericht
4.
  EFFEKTE DES
   ACA AUF DIE
VERSORGUNGS-
    STRUKTUR

        Stiftung
        Stiftung Münch
                 Münch | Projektbericht   17
4.1 ALLGEMEINER STAND DER                                     Versich­erungsschutzes nicht zu einer Vereinheit­lichung
                                                              des Systems führen. Während die Zahl der Nichtver-
    FORSCHUNG ZUM ACA                                         sicherten reduziert wird, bleibt die Fragmentierung
Obwohl bereits fünf Jahre seit Verabschiedung des ACA         bestehen. Dies stellt eines der Zugeständnisse an die
vergangen sind, ist kaum abschließend einzuschätzen, ob       politische Durchsetzbarkeit des Reformprojekts dar.
einzelne Reformbestandteile erfolgreich waren. Dies liegt     Die Nachteile dieser Fragmentierung für die Leistungs­
vor allem daran, dass einige der Instrumente und Ver-         erbringer – insbesondere der hohe administrative Auf-
sorgungsformen erst seit relativ kurzer Zeit tatsächlich      wand – bleiben bestehen.
angewendet werden und dadurch eine umfassende quali-
tative und quantitative Analyse noch nicht möglich ist. Die
folgenden Ausführungen basieren deshalb oft auf Schätz­       4.2 ACCOUNTABLE CARE
ungen und Tendenzen.                                              ORGANIZATIONS
Als gesichert kann die erhöhte Verfügbarkeit von Kranken­     Was die Versorgungs- und Vergütungsmodelle betrifft, ist
versicherungsschutz angesehen werden. Bis Februar 2015        vor allem die Entwicklung der ACOs hervorzuheben. Nimmt
haben 11,7 Millionen Amerikaner eine Krankenversicher­        man die verschiedenen Formen der ACOs zusammen,
ung über die neu geschaffenen Exchanges erworben, wobei       wurden bis Ende 2014 im Medicare Bereich 424 derartige
die meisten Käufer Subventionen erhalten haben. Durch         Organisationen gegründet. Diese bestehen aus circa 40.000
die Medicaid Erweiterung und sonstige Regelungen beläuft      Leistungserbringern, die für die Gesundheitsversorgung
sich die Zahl der durch den ACA versicherten Personen auf     von knapp acht Millionen Amerikanern verantwortlich
über 30 Millionen.                                            sind.

Da viele dieser Personen vorher allerdings bereits über       Verschiedene Studien deuten derzeit auf moderat po-
anderweitigen Krankenversicherungsschutz verfügten,           sitive Effekte bezüglich Kriterien wie Patientenzufrie-
wird die Nettozunahme an Versicherten auf zwischen 7          denheit und Behandlungsqualität hin. Auch scheinen
und 16 Millionen geschätzt, was einer anderen Schätzung       zumindest geringe Einsparungen hinsichtlich der Medicare
nach einer Abnahme des Anteils der Nichtversicher-            Behandlungskosten möglich, wobei allerdings in vielen
ten von ungefähr 20 auf 16 Prozent entspricht (Blument-       Kalkulationen die Investitions- und Administrationskosten
hal et al. 2015). Bezogen auf die Kostenentwicklung im        der Leistungserbringern und Kostenträger nicht berück-
amerikanischen Gesundheitswesen lassen sich keine             sichtigt werden. Neben den Medicare ACOs existieren hun-
allgemeingültigen Schlüsse ziehen. Das Wachstum der           derte ACO-ähnliche Verträge mit privaten Versicherern, für
Gesundheitsausgaben von 2010 bis 2013 hat sich im             welche die Studienlage jedoch noch weniger aussagekräf-
Vergleich zu den Vorjahren zwar verlangsamt, doch             tig ist.
ist davon auszugehen, dass dies eher ein Resultat der
Wirtschaftskrise ist und nicht dem ACA zugeschrieben          Ein starker Treiber für diese privaten ACOs ist der durch
werden kann (Centers for Medicare & Medicaid Services         verschiedene Maßnahmen des ACA weiter zunehmen-
2014).                                                        de Druck auf die Rendite der privaten Versicherungen,
                                                              die deshalb versuchen, ein größeren Teil des finanziellen
Im Medicare-Bereich, lässt sich die Abschwächung des          Risikos auf die Leistungserbringer zu übertragen (Sha-
Ausgabentrends allerdings auch durch die Einschnitte bei      lowitz 2013; McWilliams et al. 2015; Casalino 2014; Cavan-
der Vergütung von Gesundheitsleistungen erklären.             augh 2014; Blumenthal et al. 2015). Wie Casalino (2014)
Unter anderem deswegen wird prognostiziert, dass die          hervorhebt, ist allerdings nur ein Teil der ACOs öko-
Medicare Ausgaben im Jahr 2020 um 200 Mrd. Dollar             nomisch erfolgreich. Einige der Pioneer ACOs haben
niedriger sein werden, als noch 2010 prognostiziert           sich aus dem Projekt zurückgezogen und sind vorerst
wurde (Blumenthal et al. 2015). Es bleibt festzuhalten,       in das Shared Savings Programm gewechselt, andere
dass die durchaus umfassenden Reformen im Bereich des         renommierte Health Systems nahmen von Anfang an

 18      Stiftung Münch | Projektbericht
nicht Teil. Casalino sieht vor diesem Hintergrund zwei        daran, dass selbst unter den diversen existierenden
Gefahren:                                                     innovativen Primärversorgungsformen lediglich 40% als
                                                              PCMH zertifiziert sind. Noch scheint die Akkreditierung
Zum einen, dass die ACOs scheitern, da insgesamt zu we-       als PCMH nicht attraktiv genug und die Anforderungen
nige Verträge abgeschlossen werden, sie sich also nicht       der Zertifizierung – zumindest aus Sicht der Leistungs­
durchsetzen können. Zum anderen, dass ACOs erfolgreich        erbringer – zu hoch zu sein (Hahn et al. 2014). Mit Stand
sind, allerdings aus den „falschen“ Gründen. Letztere seien   2013 war auch die Zahl der evaluierten PCMH Projekte noch
in der im Folgenden noch näher ausgeführten Anhäufung         zu klein, um belastbare Aussagen zum ökonomischen Er-
von Marktmacht vollständig integrierter Systeme zu sehen,     folg zu machen. Es zeigten sich allerdings starke Indizien
die sich in der Vergangenheit in starken Preissteigerungen    für eine zumindest moderate Verbesserung im Bereich der
niedergeschlagen hat.                                         Patientenzufriedenheit und der Prävention (Jackson et al.
                                                              2013).
Von den oben skizzierten Varianten möglicher ACO Ausprä-
gungen erscheinen jene am erfolgreichsten, die von einem      Zugleich gibt es mittlerweile einzelne, umfangreich doku-
großen Universitätsklinikum koordiniert werden. „Virtu-       mentierte und analysierte Beispiele, wie die von Geisinger
elle“ ACOs (d. h. Kooperationen zwischen den Leistungs-       Health Systems unter dem Begriff ProvenHealthNavigator
erbringern) sind zwar möglich, scheinen aber deutlich         (PHN) etablierten Medical Homes (Maeng et al. 2015). Hier
schwerer implementierenbar zu sein als real integrierte       koordinieren in den Praxen situierte Case Manager sekto-
Organisationen.                                               renübergreifend die Versorgung der Patienten. Dabei wird
                                                              ein populationsbezogener Ansatz verfolgt, in welchem auf
Insbesondere Fragen wie die Aufteilung der erreichten         Basis von Abrechnungs- und Behandlungsdaten Hoch­
Einsparungen sind hier kritisch. Solange die fee-for-         risikopatienten identifiziert und gezielt angesprochen wer-
service Komponente nach wie vor eine zentrale Rolle spielt,   den. Im Hintergrund steht ein umfangreiches EHR System,
bestehen ferner starke Anreize, die einer Reduktion des       das die notwendigen Daten standortübergreifend zugäng-
Fallvolumens entgegenwirken. So interpretiert Shalowitz       lich macht, populationsbezogene Auswertungen ermög-
(2013) die bisher vorliegenden Ergebnisse dahingehend,        licht und teambasierte Behandlungspfade unterstützt.
dass die Präsenz eines Krankenhauses in einer ACO eher
ein Hindernis für die Realisierung von Einsparpotentialen     Die Vergütung erfolgt neben einer klassischen fee-for-ser-
darstellt, da Krankenhäuser in der Regel nach wie vor ein     vice Komponente über erfolgsabhängige Komponenten,
stark volumenorientiertes Geschäftsmodell verfolgen. Noch     die neben den erreichten Einsparungen auch Qualitäts-
weitestgehend ungeklärt ist die Frage, wie sich die Situa-    und     Patientenzufriedenheitsindikatoren    berücksich-
tion entwickeln wird, wenn nach den ersten durch Effizienz-   tigen. Verschiedene Auswertungen konnten für dieses
steigerungen realisierten Einsparungen weitere Erfolge nur    Beispiel eine deutlich wahrnehmbare Kostenreduktion
deutlich langsamer zu erzielen sind. Manche Beobachter        dokumentieren. Den größten Beitrag dazu lieferten Ein-
befürchten insbesondere für die Shared Savings Program-       sparungen durch vermiedene oder kürzere stationäre Auf-
me, dass bei einem Nachziehen der Benchmark kurzfristig       enthalte. Aber auch in anderen Kostenkategorien, wie den
kaum weitere verteilbare Einsparungen erreichbar sind.        Ausgaben für Arzneimittel, wurden Kosten reduziert. Die
                                                              inhärente Präventionslogik zeigt sich dadurch, dass
                                                              über eine zunehmende Dauer der Mitgliedschaft in ei-
4.3 PATIENT CENTERED                                          nem Geisinger Medical Home die realisierten Einsparun-
    MEDICAL HOMES                                             gen zunehmen. Dabei haben nicht nur Praxen, die zum
                                                              Geisinger Health System gehören, den PHN implementiert,
Was die PCMH angeht, scheinen für eine Implementie-           sondern auch Independent Physician Practices. Alle Pra-
rung in der Breite noch einige Hürden zu bestehen. Ende       xen versorgen nicht nur Geisinger Patienten, sondern im
2013 waren einer nationalen Studie zufolge nur 5% der         Mittel 70% Patienten anderer Versicherer. Letztere wurden
Primärversorger als PCMH anerkannt. Das liegt auch            in die vorangehenden Analysen naturgemäß nicht einbe-

                                                                                       Stiftung Münch | Projektbericht   19
zogen, profitieren aber in Teilen von den durch den PHN         des Leistungsvolumens bis Ende 2016 nicht mehr über
etablierten Strukturen in den teilnehmenden Praxen. Be-         fee-for-service Modelle abrechnet. 2018 soll die 50% Mar-
stimmte Elemente, wie der Zugang zu den Case-Managern,          ke überschritten werden und die dann noch existierenden
stehen allerdings ausschließlich den Teilnehmern am             fee-for-service Komponenten sollen beinahe vollständig an
PHN offen. Geisinger selbst hat nach einer Startphase aus-      Qualitätskriterien angekoppelt werden (Cutler 2015). Cutler
schließlich mit Medicare Patienten das Modell auch auf          und Ghosh (2012) gehen ferner davon aus, dass es für das
den Rest der Versicherten ausgeweitet.                          Einsparpotential nachrangig ist, ob die Bündelung auf Epi-
                                                                sodenebene oder Patientenebene erfolgt, obwohl erstge-
Als Nebenprodukt generieren die Experimente mit PCMH            nannte Option den Anreiz zur Maximierung der Anzahl an
wertvolle Erfahrungen für Multipayer Ansätze, d. h.             Behandlungsepisoden nicht verringert.
Koopera­tionen verschiedener Kostenträger zum Abschluss
von Verträgen mit Leistungserbringern, die innovative Ver-
sorgungsformen anbieten. So wurden zwischen 2008 und            4.5 ELECTRONIC HEALTH RECORDS
2014 siebzehn Multipayer Kooperationen für PCMHs umge-
setzt und umfangreich dokumentiert (Takach et al. 2015).        Die Verbreitung und der sinnvolle Einsatz von EHR sind
                                                                unter anderem durch den Recovery Act sowie den ACA
Zusammenfassend ist noch unsicher, ob durch die zu-             stark angestiegen. Von 2007 bis 2012 hat sich der Anteil der
sätzlichen ACA Mittel für PCMH durch Medicaid deren             Arztpraxen mit einer vollfunktionsfähigen EHR von 4 auf
Verbreitung entscheidend gefördert werden kann. Bereits         24% erhöht, wobei der Anstieg seit 2009 bedeutend höher
vor dieser zusätzlichen Förderung konnten PCMH eta-             ausgefallen ist (Hsiao et al. 2014). Auch im stationären Be-
bliert werden, die ökonomisch erfolgreich waren. Aller-         reich sprang die Durchdringung zumindest mit grundlegen-
dings scheint dies primär großen und zumeist integrierten       den EHR von 9 Prozent im Jahr 2008 auf 44 Prozent im Jahr
Health Systems zu gelingen (Jackson et al. 2013), die nicht     2012. Allerdings konnten nur 17 Prozent der Einrichtungen
nur entsprechende Anfangsinvestitionen leisten können,          einen umfassenden EHR vorweisen, wobei jedoch ein deut-
sondern auch die nötigen Managementressourcen besit-            lich positiver Trend vorlag. Insbesondere die drohenden
zen. Eine systematische Analyse der Erfolgsfaktoren liegt       Kürzungen von Medicare Zahlungen scheinen einen star-
nach heutigem Stand noch nicht vor.                             ken Anreiz darzustellen und haben eine in diesem Bereich
                                                                vorher nicht bekannte Dynamik entfacht. Im Rahmen der
                                                                Implementierung mussten allerdings mehrfach Deadlines
4.4 EPISODE BASED PAYMENT SYSTEMS                               für die Erfüllung der meaningful use Kriterien verschoben
                                                                werden. Zudem wurden insbesondere Anforderungen, wel-
Episode Based Payment Systems scheinen zunehmend                che die Interoperabilität betreffen, eher abgeschwächt.
angenommen zu werden, da bereits fast 7000 Leistungs-
erbringer an einer Art der gebündelten Vergütung teil-          Der veranschlagte Zeitrahmen erscheint rückblickend als
nehmen. Allerdings gibt es hierzu bisher kaum belastbare        vermutlich zu ambitioniert und beschleunigte zudem die
Studien, sodass eine weiterführende Bewertung über die          Konsolidierung der Anbieter weiter. So sahen sich viele
Zahlen der amtlichen Statistik hinaus derzeit noch nicht        insbesondere kleinere Anbieter von der schnell ansteigen-
möglich ist (Blumenthal et al. 2015). Es zeichnet sich jedoch   den Nachfrage bei gleichzeitiger Knappheit an Fachperso-
im Kontext der bereits beschriebenen ACOs ab, dass der-         nal überfordert. Zugleich haben Krank­enhäuser eine starke
artige Vergütungsformen an Bedeutung gewinnen und die           Präferenz für etablierte Systeme mit minimalen Implemen-
noch dominierenden fee-for-service Varianten sukzessive         tierungsrisiken. Beide Aspekte haben ferner bewirkt, dass
ergänzen bzw. ersetzen werden. Ferner dürfte wiederum           in der Tendenz eher auf ältere Systemarchitekturen zu-
durch Medicare Policy Reformen ein starker Impuls in den        rückgegriffen wurde, statt die Gelegenheit für die Verbrei-
gesamten Markt erfolgen. So wird von Seiten des Gesund-         tung innovativer Systeme zu nutzen, welche die heute be-
heitsministeriums angestrebt, dass Medicare – mithin der        reits existierenden technischen Möglichkeiten vollständig
größte Kostenträger des US-Gesundheitssystems – 30%             ausschöpfen (Schmid und Schmidt 2014).

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