PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Cover: Theaterfestival Basel, ‹Ganesh Versus the Third Reich›, Back to Back Theatre Australia, Foto: Jeff Busby u S. 13 Kultur im Raum Basel September 2014 | Nr. 298 CHF 8.00 | EUR 6.50 Menschen, Häuser, Orte, Daten ProgrammZeitung
Denk mal! dagm a r bru n n e r Editorial. Einem bekömmlichen Thema sind in diesem Jahr die ‹Denkmaltage› gewidmet: dem kulinarischen und gastronomischen Kulturerbe der Schweiz. Die von diversen Fachstellen für Archäologie und Denkmalpflege organisier- ten und von der Nationalen Informationsstelle für Kultur- güter-Erhaltung (NIKE) koordinierten Anlässe im ganzen Land wollen ein breites Publikum ansprechen. Führungen, Vorträge, Exkursionen usw. machen mit Orten und Traditi- onen bekannt, in unserer Region diesmal in Arlesheim und Riehen. Neben der Besichtigung von Bauten aller Art gibt es Konzerte und Kindertheater, historische Tramfahrten und Mahlzeiten. Die ‹Denkmaltage› werden in 50 weiteren europäischen Ländern durchgeführt. Mehr zu Kulinari- schem auf S. 5 und S. 15 – Tipps für hiesige Gastroperlen geben wir gerne an unseren Autor weiter ... Kein erfreuliches, aber weitreichendes Thema ist der Erste Weltkrieg, dem derzeit vielerorts gedacht wird. Welche Auswirkungen hatte er in der Schweiz? Ausstellungen dazu sind soeben im Historischen Museum Basel und im Spiel- Aus: Karl zeugmusem Riehen angelaufen bzw. am Museum BL in druckt. Mehr zum Thema Druckgrafik lesen Sie auf S. 21. Rössing, Liestal in Vorbereitung. Eine Fülle von Publikationen zu Ferner berichten wir im vorliegenden Heft u.a. über die ‹Literatur- alphabet›, ‹1914› ist greifbar, das ‹Kriegsromangeschäft› gedeiht freilich Eröffnung des Jazzcampus (S. 11), das neue Festival Klang- Jahresgabe der zu jeder Zeit. Verdienstvollerweise wurde auch ältere Lek- basel (S. 9) und eine Ausstellung zu 60 Jahren Fernsehen in Pirckheimer- türe wieder aufgelegt, etwa der Novellenband ‹Menschen der Schweiz (S. 23). Gesellschaft im Kulturbund im Krieg› von Andreas Latzko, der 1917 anonym im Zürcher ‹Zu Tisch›, 21. Europäische Tage des Denkmals: Sa 13./So 14.9., div. Orte, der DDR, Rascher Verlag erschien und als Antikriegsliteratur 1933 www.hereinspaziert.ch Berlin 1979 der nazistischen Bücherverbrennung anheim fiel. Oder Weitere Ausstellungen zur Schweiz im 1. Weltkrieg: Meinrad Inglins eindrücklicher Wälzer ‹Schweizerspiegel› Landesmuseum Zürich; Fotostiftung Winterthur; Nationalbibliothek Bern; Museum für Kommunikation Bern u.a. von 1938, der nun in Auszügen auch als Hörbuch erhältlich ist. Der Roman schildert die Entwicklung einer grossbür- Andreas Latzko, ‹Menschen im Krieg›, 6 Novellen, Milena Verlag, Wien. 200 S., gb., CHF 29.90 gerlichen Schweizer Familie zur Zeit des Ersten Weltkriegs Meinrad Inglin, ‹Schweizerspiegel›, Roman, Limmat Verlag, Zürich. und gibt damit tiefen Einblick in helvetische Mentalität und 1200 S., Ln., CHF 55 Geschichte. Hörbuch (Auszüge), Christoph Merian Verlag, Basel. 4 CDs, 285 Min., CHF 34 Die obige Abbildung ist übrigens ein Holzstich aus Karl Ausserdem: Theaterprojekt ‹Wider den Krieg› (Euripides ‹Troerinnen›), Rössings ‹Literaturalphabeth›, 1931/32 erstmals in der Ber- Gymnasium Liestal: So 7. bis Mi 10.9., 20.30, Open-Air im Hof des liner Zeitschrift ‹Die Literarische Welt› von Ernst Rowohlt Antikenmuseums und Willy Haas veröffentlicht, 1979 in Leipzig nachge- Hauskultur herzlich zum Jubiläum und wünschen eine viel- saitige Zukunft! (Saiten–Kulturtipp u S. 24) Inhalt db. Das Septemberheft läutet jeweils einen neu- Unsere langjährige, etwas ‹versteckte› freie Mit- Redaktion 3 en Jahrgang ein – bereits den 28.! Aufmerksame arbeiterin Claire Guerrier, die für unsere Web- Lesende werden zudem entdecken, dass wir uns site die Fotos zu Oliver Lüdis Kolumne ‹Alltag› Kultursplitter 24 wieder einem Jubiläum nähern: dem 300. Heft. liefert (deren Lektüre wir wieder einmal nach- Kulturszene 25 Dass wir uns dazu etwas Besonderes einfallen drücklich empfehlen), Claire also eröffnet mit lassen, versteht sich von selbst. Die November- ihrer Kollegin Maya Totaro im Kleinbasel eine Agenda 50 ausgabe wird Ende Oktober mit Mehrwert er- Beiz. Eingedenk ihrer Vielseitigkeit als Künstle- Kurse 83 scheinen, Infos dazu folgen. rin, Köchin und Gastgeberin können wir dieses Satte 20 Jahre hat nun auch unser Ostschweizer Lokal unbesehen empfehlen (La Fourchette, Kly- Impressum 83 Partnermagazin Saiten auf dem Buckel. Dies beckstr. 122, ab September). Ausstellungen & Museen 84 | 85 wurde Anfang August gebührend mit einem Gerne verweisen wir auch auf den Kurs ‹Schreib- zweitägigen Fest gefeiert, mit Folksongs und zirkel› unserer Autorin Verena Stössinger, bei Essen & Trinken 86 Blues, Literatur und Video, Versteigerung und dem Schreibende ihre Texte in kleiner Runde Afterparty. Auch wenn wir nicht dabei sein besprechen können (4 x montags ab 29.9., 19 h, konnten, gratulieren wir den KollegInnen ganz www.literaturhaus-basel.ch). September 2014 | ProgrammZeitung | 3
„Auf Augenhöhe“ - Suzanne Daetwyler Zsuzsa Füzesi Heierli 15 Basler Künstler Verena Jeck 29. August bis Michel Kapelli 20. September 2014 Kreativwerkstatt Bürgerspital: Markus Buchser Bruno Hofer Sebasian Kaeser Galerie „die Aussteller“ Oliver Reigber Temporär an der Maiengasse 7, Ronald Saladin 4056 Basel www.dieaussteller.ch Werner Lutz Eric Marchal Erich Münch Hans Remond Leo Remond Urban Saxer Voce d’Argovia das Aargauer Vokalensemble Maria!? Mit Werken aus 1500 Jahren Marien-Musik mit Uraufführungen von Simon MacHale und Markus J. Frey 13. September 2014 20.00 Uhr Kartäuserkirche Basel Eintritt: CHF 30 www.ticketino.com
Erotische Kulinarik – politisch gewürzt a l f r e d s c h l i e nge r Filmstill aus Andersleben ‹Der Koch› Martin Suters ‹Der Koch› verführt jetzt im Kino. Manchmal kann ein Film – selten genug – besser sein als das Buch, das dagm a r bru n n e r ihm zugrunde liegt. Etwa wenn die Kinoadaption in ihrer greifbaren Kurzfilme zu allerlei Handicaps. Sinnlichkeit einem nicht nur Augen und Herz übergehen lässt, sondern Alle zwei Jahre sind am Festival ‹Look & Roll› förmlich vorgibt, man könne die Dinge auch riechen und schmecken. Der Kurzfilme zu sehen, die uns u.a. mit Befindlich- Verfilmung ‹Der Koch› nach dem Roman von Martin Suter gelingt genau keiten von Menschen mit Behinderungen aller Art dies. Regisseur Ralf Huettner zelebriert darin Zubereitung und Genuss bekannt machen und ungewöhnliche, eindrück- exotischer Speisen so bildhaft und genüsslich, wie es Suters papierene liche und mutmachende Lebensgeschichten erzäh Rezepte nie können. Das zischt und dampft, brutzelt und brodelt in allen len. Das Festival, seit 2006 von der Selbsthilfe Farben und Aggregatzuständen, dass einem unweigerlich das Wasser im organisation Procap organisiert, ist das einzige Mund zusammenläuft. seiner Art in der Schweiz und weltweit eines von Es ist eine ganz besondere Kochkunst, der hier gehuldigt wird. Maravan, ganz wenigen, und es setzt sich auch dafür ein, ein junger tamilischer Flüchtling in der Schweiz, beherrscht die Zuberei- dass Kinoveranstaltungen für möglichst alle Men tung ayurvedischer Gerichte mit aphrodisischen Wirkungen. Mit einer schen zugänglich werden. Dazu gehören etwa Kollegin entwickelt er daraus ein Geschäftsmodell, das Catering ‹Love schwellenfrei erschlossene Lokalitäten, Audiodes Food›, mit dem erotisch bedürftigen Paaren wieder auf die Sprünge gehol- kription und spezielle Untertitel für Hörgeschä- fen werden soll. Doch die Lustkulinarik hat eine bewegte Vor- und Folge- digte sowie die Übertragung von Redebeiträgen geschichte. in die Gebärdensprache. Zwischen Profit und Ethik. Der Bürgerkrieg in Sri Lanka hat mehr als Für die fünfte Ausgabe des Festivals wurden 100’000 Opfer gefordert, darunter auch Maravans Eltern. Wie 40’000 an- zahlreiche Kurzfilme aus aller Welt visioniert dere tamilische Flüchtlinge kommt der junge Mann (Hamza Jeetooa) in und von einer Jury 23 herausragende Werke aus die Schweiz und schuftet in einem Edelrestaurant als Küchenhilfe auf der 12 Ländern ausgewählt, die nun prämiert wer- untersten Hierarchiestufe. Wegen eines kleinen Vergehens wird er fristlos den; für die 5 Preise stehen insgesamt 18’000 entlassen. Die Service-Kollegin Andrea (Jessica Schwarz), die Kontakte zu Franken zur Verfügung. Zur Eröffnung ist als einer Paartherapeutin hat, ermuntert ihn zur Catering-Idee. So ist bereits Ehrengast Nikki Rappl, Schauspieler im Film ein erstes Kundensegment gesichert, das sich allerdings als wenig krisen- ‹Vielen Dank für Nichts› eingeladen. An den fol- fest erweist. Andrea drängt darauf, die Kundschaft in den Polit- und Wirt- genden drei Tagen werden in acht Blöcken Kurz- schaftsbereich auszuweiten. Und wie es Zufall und Drehbuch so wollen, geschichten geschildert über Menschen mit tummeln sich hier auch die Waffenhändler, die am kriegerischen Konflikt Mobilitäts-, Lern-, Seh- oder Hörbehinderung, in Maravans Heimat ihre dreckigen Millionen verdienen. Die Geschichte im Sprechstörung, psychosoziale oder sonstige Ein- Schussfeld von Sex, Profit und Ethik eskaliert. schränkungen. Freiwillig Helfende unterstützen ‹Der Koch› ist erotokulinarische Hymne, Waffenkrimi, bittersüsse Romanze das Festival, und auch für Verpflegung vor Ort und Gesellschaftssatire in einem. Die politischen Zusammenhänge sind im ist gesorgt. Nach Basel wird ‹Look and Roll› in Film zwar stark vereinfacht, aber doch immer präsent. Die kulturbedingten weiteren Orten im In- und Ausland gastieren. Konflikte in der tamilischen Exilgemeinschaft grundieren selbst Maravans ‹Look & Roll›: Mi 24.9., 19 h (Eröffnung), bis Sa 27.9., private Liebesgeschichte. Auch wenn die ‹Love Food›-Episoden manchmal Kultkino Atelier u S. 46, www.lookandroll.ch ins Klamaukige abrutschen, garantiert ‹Der Koch› ein so lustvolles wie Do bis Sa ab 13.30, Preisverleihung Sa 27.9., 19.30 nachdenklich stimmendes Kino-Menü. Weitere Festivals: 12. ‹Fantoche›, Animationsfilme: Der Film läuft ab Do 4.9. in einem der Kultkinos. Di 2. bis So 7.9., Baden, www.fantoche.ch 10. Zurich Film Festival: Do 25.9.–So 5.10., www.zff.com September 2014 | ProgrammZeitung | 5
Wie unterm Mikroskop a l f r e d s c h l i e nge r Tierisch menschlich ‹Class Enemy› seziert die prekäre Dynamik in einer Schulklasse. Die Ausgangslage scheint fast trivial: Eine Gymnasialklasse kurz vor dem a l f r e d s c h l i e nge r Abschluss erhält einen neuen Lehrer, weil die Vorgängerin ein Kind Debütfilm ‹Of Horses and Men›. bekommt. Die Kollegin hatte einen sehr nahen, übermütterlichen Kontakt Die absonderlichsten Geschichten kommen nicht gepflegt zur Klasse, der Neue erscheint deutlich anspruchsvoller und setzt selten von den Rändern der Welt. Dem Isländer auf Distanz, Disziplin und Eigenständigkeit im Denken. Das löst sofort eine Benedikt Erlingsson (Regie und Drehbuch) ist mit Dynamik aus zwischen Anpassung, Verunsicherung und offenem Wider- seinem Erstling ein filmisches Kleinod gelungen. stand. In diese explosive Mischung fällt die Nachricht vom Selbstmord Lakonisch, aber grandios beredt in seinen Bildern. Sabinas, der stillsten Schülerin. Und schnell ist für die meisten der Schul Mit surrealen Einsprengseln und doch ganz in dige gefunden: der neue, überstrenge Lehrer. der kargen isländischen Wirklichkeit verwurzelt. Der slowenische Regisseur Rok Bicek thematisiert in seinem Erstling nicht Eine so tragische wie komische Parabel über das die Problematik des jugendlichen Suizids, sondern er fokussiert ganz auf Zusammenleben von Mensch und Tier. Die lose die Auswirkungen, die dieser Selbstmord in der Klasse und im System verknüpften Episoden erzählen von Liebe und Schule hat. In einem hochspannenden Prozess zeigt er die wechselnden Tod, Begehren und Rache, Einsamkeit und gesell- Koalitionen, Erklärungsversuche und Schuldzuweisungen bis hin zu den schaftlicher Kontrolle. Eine junge Frau erkämpft Auseinandersetzungen in der Lehrer- und Elternschaft. Das nimmt einen ihre Emanzipation in der männerdominierten beim Zuschauen im Doppelsinn ganz schön mit. Reiterwelt. Mal hat’s die Wucht eines antiken Schmerzhafter Prozess. Denn Gewissheit ist gerade nicht das, was dieser Schicksaldramas, mal den trockenen Humor eines Film vermitteln will. Wir werden vielmehr immer skeptischer gegenüber Kaurismäki. den eigenen vorschnellen Urteilen. Ist dieser Lehrer wirklich so kalt und Menschliches spiegelt sich im Tierischen und um- herzlos, wie er wirkt? Welchen sonstigen Frust werfen die Jugendlichen gekehrt. Beim Ritt zu seiner Verehrerin besteigt in ihre Revolte? Wie sehr geht es ihnen um die tote Kollegin? Wer kannte ein schwarzer Hengst vor aller Augen (bzw. Fern- sie denn überhaupt wirklich? Wie hilflos und verbohrt können Eltern und gläser) die Schimmelstute des Reiters. Vor Scham Unterrichtende sein? ‹Class Enemy› zeigt diesen schmerzhaften Verarbei- und verletztem Stolz erschiesst er sein Lieblings tungsprozess wie unter einem Mikroskop. Der Raum Schule wird praktisch tier. Ein anderer überlebt einen Schneesturm nicht verlassen. Das gibt der Versuchsanordnung zusätzlich etwas Klaustro- nur, indem er sein Pferd aufschlitzt, ausweidet phobisches. Dazu passen die kühlen, blassen Farben, in die alles getaucht und sich im warmen Tierbauch verkriecht. Wie ist. Starre Räume, starre Bankreihen, starre Denkweisen. Der Film reisst bei einer Geburt wird er wieder in die kalte Welt sie Schritt für Schritt auf. hinausgezogen. So abstrus einzelne Episoden in Igor Samobor spielt diesen Lehrer grossartig. Auch wenn er das Beste will der Nacherzählung wirken mögen, der Filmer und man durchaus gewillt ist, ihm in einigem recht zu geben, fröstelt es liebt sichtlich Land, Leute und Tiere und verlacht einen vor dieser undurchdringlichen, überkontrollierten Miene. Hervor sie nicht. Die Kamera fängt die Pferde im wilden ragend in Szene gesetzt ist auch die ganze Klasse, die durchgehend von Galopp und in stoischer Ruhe ein, sie feiert ihre Laien dargestellt wird. Die verschiedenen Charaktere wirken so authen- Schönheit ohne Pathos. Gleiches gilt für die tisch, als würden sie sich selber spielen. Wenn sich der Lehrer am Schluss urtümliche isländische Vulkanlandschaft. Keine der Kritik stellt, bringt es eine Schülerin bewegend auf den Punkt: «Sie Kalenderbilder für die Tourismusförderung, son- haben Sabinas Tod als Lehrbeispiel betrachtet und nicht als Tragödie.» dern einfach – Heimat, mit all ihren Abgründen. Der Film läuft ab Do 4.9. in einem der Kultkinos u S. 46 Filmstill Der Film läuft ab Do 11.9. in einem der Kultkinos. aus ‹Class Enemy› 6 | ProgrammZeitung | September 2014
Der Kampf für Lebensfreude a l f r e d s c h l i e nge r Strudel der Gier a l f r e d s c h l i e nge r Der Thriller ‹Il capitale umano›. Paolo Virzìs Film zielt in die Eingeweide zweier norditalienischer Familien und gleichzeitig des Finanzkapitalismus. Serena Ossola und Massimi- liano Bernaschi sind ein Liebespaar und stehen vor ihrem Schulabschluss. Serenas Vater Dino, ein verkrachter Immobilienhändler, wittert in der Liaison seiner Tochter die Chance, sich an den Spekulationsgeschäften der reichen Familie Bernaschi beteiligen zu können. Doch die Börse kriselt, Dino droht das gesamte Geld, das er auf- genommen hat, zu verlieren. Zudem reisst ein Unfall, bei dem ein Radfahrer zu Tode kommt und Massimilianos Auto involviert war, die bei- den Familien in einen heillosen Strudel. Filmstills aus Zusätzlich spannend wird die Geschichte, weil Ken Loachs ‹Jimmy’s Hall› ist hoffentlich nicht sein letzter Film. ‹Jimmy's Hall› Virzì sie dreimal aus verschiedenen Perspektiven (oben) und Was haben ihm jene, die sich darüber ärgern wollen, dass hier einer seinen erzählt, aus jener Dinos, aus der von Massimi ‹Il capitale Themen ein Leben lang treu bleibt, nicht alles vorgeworfen. Humorlos sei umano› lianos Mutter Carla und schliesslich aus jener seine ständige Anklage der sozialen Ungerechtigkeit. Er könne keine Liebes- Serenas. Das fächert Faktenlage und Wahrneh- geschichten erzählen. Seine Welt sei unsinnlich und aufgeteilt in Schwarz mungen immer wieder neu auf und wirft auch und Weiss, in Gut und Böse. Dass das Gegenteil richtig ist, beweist auch der das Publikum in einen Schüttelbecher. Das Er- jüngste Film des inzwischen 78-jährigen Ken Loach. eignis des Films ist aber Valeria Bruni Tedeschi ‹Jimmy’s Hall› blendet kraftvoll zurück in die Zeiten der irischen Unabhän- als Carla. Sie zeigt die Leere, Fürsorglichkeit und gigkeits- und Bürgerkriegswirren der 1920er- und frühen Dreissigerjahre in Zerrissenheit dieser Grossbürgergattin hinreis- Irland und erzählt nach einer wahren Geschichte den Kampf der einfachen send vielschichtig und sensibel. Am Schluss Bevölkerung für ein selbstorganisiertes Freizeitzentrum. Hier finden politi- bringt sie die Logik der Finanzspekulationen sche Bildung und Boxtraining, Näh- und Tanzkurse, Theaterspiel und Lese- ihres Mannes kühl auf den Punkt: «Ihr habt auf zirkel statt. Ein Ort des Gemeinschaftsgefühls und der Lebensfreude im den Zusammenbruch des Landes gesetzt, und ihr kargen Alltag des Landvolks. Für den Pfarrer (Jim Norton) aber ist der habt gewonnen.» Treffpunkt ein Sündenpfuhl, eine Brutstätte der Subversion, und mit der In Italien ist ‹Il capitale umano› mit Preisen Macht der örtlichen Autorität predigt er von der Kanzel herab heftig gegen förmlich überschüttet worden. Einzelne Schwä- ihn an. chen sind dennoch nicht zu übersehen. Fabrizio Machtzersetzender Humor. Am Anfang des Films kehrt Jimmy Gralton Bentivoglio raubt der Rolle Dinos durch sein (Barry Ward) aus dem Exil in den USA zurück nach Irland und lässt sich Chargieren viel Glaubwürdigkeit. Und manch- von der tanzfreudigen Jugend für die Wiedererrichtung dieses Zentrums mal knarren die dramaturgischen Scharniere gewinnen. Am Schluss ist die Tanzhalle niedergebrannt, und Jimmy wird überdeutlich, etwa wenn Dino die Mails seiner erneut ins Exil getrieben. Und dennoch ist das kein niederschmetternder Tochter lesen muss, damit die Katastrophe ihren Film. Denn er atmet in jeder Szene, dass Lebensfreude sich nicht langfristig Fortgang nehmen kann. Zudem wäre ein etwas unterdrücken lässt, dass Widerstand, Empathie und Solidarität sich lohnen weniger versöhnlicher Schluss wohl um einiges und dem Leben Sinn geben, auch wenn man vorläufig unterliegt. Die grösste realistischer gewesen. Entwicklung macht ausgerechnet der Pfarrer durch, der erkennen muss, Der Film läuft ab Do 11.9. in einem der Kultkinos u S. 46 dass Jimmys Haltung all seinen Verfolgern um Welten überlegen ist. Gibt es eine zartere Art, eine Liebesgeschichte tragend zu machen, ohne damit alles andere zu überdecken oder ins Seifige abzurutschen, als es Ken Loach in ‹Jimmy’s Hall› gelingt? So wie ein Kleid zum Bild dieser schmerz- lichen Liebe wird, so ist der ungestüme Tanz von Alt und Jung, der den Film durchzieht, eine Metapher für die gemeinschaftsbildende Lebensfreude. Links sein heisst bei Ken Loach auch Genuss und Spass für alle. Eine Hal- tungsfrage. Das gilt nicht zuletzt für den Humor. Das Lachen hat auch in diesem jüngsten Film des kämpferischen Briten eine klare Richtung, es zersetzt Autoritäts- und Machtgehabe. Ein Vergnügen. Der Film läuft derzeit in einem der Kultkinos. September 2014 | ProgrammZeitung | 7
Kapaune und Kastraten dagm a r bru n n e r mals zu Händels Haus gezogen, wo sie sich nun gemeinsam an ihre gar nicht nur leichte Zeit mit dem Maestro erinnern: die italienische Sängerin Margherita Durastante und der deutsch-stämmige Sänger Gustavus Waltz, der auch Hän- dels Koch gewesen sein soll. Dabei entsteht ein farbiges Bild der Persönlichkeit Händels, kommen dessen Charakter und Befindlichkeit, Vorlieben und Beziehungen, Erfolge und Niederlagen, Wirkungsorte und Pläne zur Sprache. Auch seine barocke Epoche wird lebendig, mit ihren Intrigen und Opernskandalen, den üppigen Speisen, glanzvollen Festen und anstrengenden Reisen. Galantes Monster. Dieser ‹Mann-Berg›, wie Jonathan Swift ihn nannte, war gebürtiger Sachse (geb. 1685), ein vir- tuoser Musiker und vitaler Unternehmer, der Rembrandts Bilder, deftige Kost und derbe Witze mochte, sprachbegabt und weltgewandt, ein ‹Meister der Affekte› und diskreter Liebhaber. Reich geworden, spielte er auch für Arme, später erblindete er, und seine Musik hält bis heute die Sehnsucht nach ‹Arkadien› wach. Einblicke in Leben und Umfeld dieses Genies bietet eine Konzert-Lesung nach einer Idee der Sängerin und Flötistin Katharina Eicke. Unter dem Titel ‹Händels Koch oder Das G.F. Händel, beste Rezept für Arkadien› hat sie mit Nadia Carboni (Kla- Collage: Ein musikalisch-poetisches Porträt von Händels vier), Christian Hickel (Cello) und Christopher Zimmer Katharina Eicke Person und Zeit. (Text) ein Pasticcio mit Arien und Instrumentalstücken von Wer weiss schon Genaueres über das Leben der ‹gewöhn Händel erarbeitet. In einer kurzweiligen Stunde lässt das lichen› Leute im Schatten grosser Geister? Über die Freuden Ensemble das ‹galante Monster› und seine bezaubernde und Leiden der treuen Dienstboten, des Pflegepersonals? Musik nach akribisch recherchierten Quellen aufleben; Selbst über Sekretäre und Geliebte ist oft wenig bekannt, danach wird angestossen. und auch wenn sie ihre Umgebung verlassen, werden sie ‹Händels Koch›: Di 23.9., 19.30, Allg. Lesegesellschaft ALG, Münsterplatz 8 ihre ‹Meister› kaum los, sind diese lebensbestimmend. Ausserdem: ‹Ombra cara›, Vokal- und Instrumentalwerke von Händel: So ergeht es auch zwei ZeitgenossInnen Händels, die sich Fr 26.9., 19.30, Stadtcasino. Mit Bejun Mehta (Countertenor) und dem am Tag von dessen Beisetzung in London treffen, am 20. Freiburger Barockorchester, Leitung Gottfried von der Goltz, www.famb.ch April 1759. Unabhängig voneinander hat es sie nach der gross angelegten Trauerfeier in Westminster Abbey noch- Auf Erfolgskurs Paul Sachers 1987 aufgelöstes Basler Kammer orchester. Auch inhaltlich knüpfte es an Sacher Programmen oder auf Tournee mit Stars wie Cecilia Bartoli und Rolando Villazon. Es hat a l f r e d z i lt e n e r an und pflegte vor allem Musik aus Barock und zahlreiche CDs eingespielt, darunter eine viel 30 Jahre Kammerorchester Basel. Klassik sowie den Neoklassizismus des 20. Jahr- gelobte Gesamtaufnahme der Sinfonien von Am Anfang stand die Begeisterung einiger Stu- hunderts. Dass dafür der renommierte Alte Musik- Ludwig van Beethoven unter Giovanni Antonini. dierender aus Schweizer Musikhochschulen um Spezialist Christopher Hogwood als Principal Mit ihm ist nun auch eine Aufnahme aller 107 den Dirigenten Johannes Schlaefli. In dessen Chor Guest Conductor gewonnen werden konnte, war Sinfonien Joseph Haydns geplant. sangen sie, organisierten gemeinsame Musik ein Glücksfall. Sein Engagement öffnete viele Glücklicherweise bleibt das KOB trotz des gros- lager – und gründeten ein selbstverwaltetes Or- Türen und weckte das Interesse anderer grosser sen Erfolgs Basel treu. Die neue Saison bringt chester, die Serenata Basel. Im November 1984 KünstlerInnen an der Basler Formation. Vor allem vielversprechende Orchesterkonzerte, nächtliche stellten sie sich dem hiesigen Publikum vor. aber war er, so Weibel, «ein guter Orchestertrai- Kammermusik sowie Projekte für Kinder und Sie seien ein qualitätsbewusstes, ehrgeiziges ner» und brachte das Ensemble in erstaunlich Jugendliche. Sie beginnt im Rahmen des Festivals Ensemble gewesen, erzählt der Geiger Matthias kurzer Zeit auf internationales Niveau. Klangbasel (S. 9) mit einer Uraufführung des Weibel, der danach dazu stiess und heute noch Heute gehört das KOB zu den führenden Kammer- jungen Komponisten Maurilio Cacciatore und mitwirkt. Doch die Serenata blieb ein regionaler orchestern weltweit, ein präzis, farbenreich und Beethovens Neunter Sinfonie unter Antonini. Klangkörper. 1999 trennte sich das Orchester da- lebendig agierendes Ensemble mit einem unver- Kammerorchester Basel spielt Beethoven: her von seinem Dirigenten und wagte den radi- wechselbaren Klang, dessen Mitglieder auf Barock- Sa 20.9., 19.30, Stadtcasino Basel kalen Neubeginn. instrumenten ebenso selbstverständlich spielen Zunächst benannte es sich um in Kammer wie auf modernen. Es ist in allen bedeutenden orchester Basel (KOB) in kühner Anlehnung an Konzertsälen der Welt aufgetreten, mit eigenen 8 | ProgrammZeitung | September 2014
Ein Fest für die Musik a l f r e d z i lt e n e r Das Festival Klangbasel präsentiert die Vielfalt Das Festival soll alle zwei Jahre durchgeführt werden und des Basler Musiklebens. jeweils ein Quartier der Stadt bespielen. Zum Auftakt hat Das Barockorchester La Cetra und die Band Tango Crash, man sich fürs Kleinbasel entschieden und den Anlass mit die Jazzsängerin Lisette Spinnler und der Altus Andreas der Eröffnung des Jazzcampus der Musikhochschule ver- Scholl, die Mädchenkantorei Basel (mit ihrer neuen Leiterin knüpft (S. 11). Das Konzept ist inspiriert von der Museums- Marina Niedel) und das Alphorn-Quartett Hornroh sowie nacht: Jeweils vormittags finden an Dutzenden von Spiel- viele andere Basler Musikschaffende treten bei der ersten stätten rund einstündige Konzerte aller Stilrichtungen Auflage des Festivals Klangbasel auf – die Veranstalter statt. Die Gäste können von Ort zu Ort flanieren, und natür- rechnen mit rund 500 Mitwirkenden. Initianten des Anlas- lich hofft Hofmann, dass sie dabei auch Musik entdecken, ses sind Hans-Georg Hofmann, der künstlerische Manager die ihnen bisher fremd war. des Sinfonieorchesters, und Stephan Schmidt, der Leiter Neue Orte, neue Töne. Gespielt wird nicht nur in den der Musikakademie. üblichen Lokalitäten und Kirchen, sondern auch bei weni Was aber ist der Sinn dieses neuen Festivals zwischen dem ger bekannten, kleineren Veranstaltern. Bau-Art an der Feld Theaterfestival (S. 13), Culturescapes und den Martinu- bergstrasse etwa präsentiert u.a. eine Schubertiade und Festtagen? In den letzten Jahrzehnten, erklärt Hofmann, eine Carte Blanche für den Gambisten Paolo Pandolfo, im sei die einstige ‹Musikstadt› Basel vor allem als Stadt der Vinyl-Mekka Plattofon legen DJs auf, und im Clara-Brocki Museen und bildenden Künste wahrgenommen worden, gastiert The bianca Story mit der Bühnenshow ‹M and the die Musik habe an Stellenwert verloren. Klangbasel wolle Acid Monks›. Konzerte in Galerien, Restaurants, Privat- daher in konzentrierter Form den Reichtum des Musik wohnungen, in der Kasernenturnhalle und im Freien sind lebens vor Ort aufzeigen. geplant. Mit Klangbasel will Hofmann aber nicht nur das Publikum zur Begegnung mit unbekannter Musik verführen, sondern auch Kunstschaffende verschiedener Sparten miteinander vernetzen und zu gemeinsamen Projekten ermuntern, die im normalen, weitgehend vom Schubladendenken be- stimmten Konzertbetrieb schwierig zu realisieren wären. Ansätze dazu finden sich bereits in diesem Jahr. So treffen sich in der Clarakirche zwei Meister der Improvisation, der Organist Rudolf Lutz und der Jazzpianist Hans Feigenwin- ter, und in der Kaserne kombiniert Hofmann Chorgesang mit elektronischer Musik. Noch weiter über die Grenzen schaut die Cembalistin Daniela Dolci. Im Union wird sie mit ihrem Barockensemble Musica Fiorita und indischen Musi- kerInnen Auszüge aus Jean-Philippe Rameaus Ballett-Oper ‹Les Indes galantes› und Musik aus Indien aufführen – dazu treten indische und europäische Tanzschaffende auf. Festival Klangbasel: Fr 19. bis So 21.9., div. Orte, www.klangbasel.ch Vorkonzert: Do 18.9., 21 h, Union, Klybeckstr. 95 (mit Andreas Scholl) Eröffnung: Fr 19.9., 17 h, Jazzcampus, Utengasse 15 u S. 11 Div. Tages- und Festivalpässe, Vorverkauf Bider & Tanner Culturescapes: Tokio db. Seit 150 Jahren pflegen die Schweiz und Japan diplomatische Beziehungen, weshalb manchenorts derzeit versucht wird, ver- tiefte Einblicke in Geschichte, Gesellschaft und Kultur des fernen Landes zu vermitteln. Auch das diesjährige Festival Culture scapes widmet sich der Metropole Tokio und zeigt in acht Schwei- zer Orten ein breites Spektrum von Veranstaltungen zwischen Tradition und Cyberspace. Den Auftakt in Basel machen das Bun- raku-Puppentheater, eine Teezeremonie und die Ikebana-Blumen steckkunst sowie Präsentationen von Fotos und Kunstpublikatio- nen, ferner stehen Animationsfilme, Theaterproduktionen, Jazzsängerin experimentelle Musik und Kunst auf dem Programm. Lisette Spinnler, 12. Culturescapes, Tokio: Sa 27.9. bis Sa 22.11., div. Orte, Foto: zVg www.culturescapes.ch September 2014 | ProgrammZeitung | 9
Aber bitte unplugged! m ic h a e l b a a s ‹Akustik in Agathen› pflegt möglichst unverstärkte Konzerte. Der Name ist Programm: ‹Akustik in Agathen› – kurz AiA. Die Reihe in der Ton und Text kleinen Kirche im Schopfheimer Stadtteil Fahrnau präsentiert nach Mög- dagm a r bru n n e r lichkeit akustische Konzerte. Unplugged ist zwar kein Dogma, aber doch Vielsaitig, barock und humoresk. eine Linie, die Bernhard Wehrle und Anja Lohse im intimen Ambiente der Das internationale ‹Akkorde-Gitarren-Festival am im frühen 18. Jahrhundert erbauten, Ende der 1990er-Jahre im Inneren Hochrhein› geht auch in diesem Jahr über Bühnen sanierten früheren Pfarrkirche durchzuhalten versuchen und lange vor der in den Gemeinden Bad Säckingen (D), Laufen- neuen Leidenschaft für Unverstärktes etabliert haben. burg (D), Rheinfelden (D/CH) und Wehr (D). Die Seit gut einem Jahrzehnt organisieren sie ehrenamtlich, mit privater Unter- zehn Konzerte präsentieren die ganze Bandbreite stützung, aber ohne institutionelle Förderung, vier bis sechs Konzerte pro von Gitarren und Stilen; nebst Klassischem, Jazz, Saison. Stilistisch oszillieren diese zwischen Folk-World und Jazz-Experi- Latin- und Balkan-Rhythmen erklingen US-Stan ment, den Vorlieben des Veranstalter-Duos. «Wir finden interessante Grenz- dards und Eigenkompositionen, zudem werden gänger zwischen Stilen mit oft ungewohnten Klängen», schildert der Lehrer ein Workshop und ein Musikfilm angeboten. Zu und Radiomacher beim Freien Sender Wiesental. «Und mitunter finden den Auftretenden gehören das Münchner Gitar- diese auch uns», ergänzt die Mitarbeiterin der Volkshochschule beider Basel. rentrio, die Schweizer Kummerbuben und der Kreativer Sound-Mix. In der Tat ist AiA längst in der Szene verankert: sizilianische Liedermacher Pippo Pollina. Unab- der Bassist Renaud Garcia Fons war schon zu Gast, ebenso der französische hängig von diesem Festival sind auch in Basel im Serpentspieler Michel Godard oder das Ukulele Orchestra of Great Britain. Rahmen eines internationalen Wettbewerbs zahl Diese Saison wird von Arstidir aus dem isländischen Reykjavik eröffnet, reiche Konzerte für Gitarre zu hören. – der heimlichen Hauptstadt eines vielfältigen Sound-Amalgams auf elek Eine Veranstaltungsreihe mit Musik, Texten und tronischer Basis. Auch Arstidir, die 2008 gegründete Indie-Folkband, mischt Licht ist den vier Jahreszeiten gewidmet. Jeweils klassische Elemente mit Progressive Rock und Minimal Music zu einem zur Tagundnachtgleiche (Frühling und Herbst) mal melancholischen, mal düsteren oder treibenden, dann sehnsüchtigen sowie zur Sonnwende (Sommer und Winter) ge- Gebräu und zeichnet sich nicht zuletzt durch mehrstimmige Gesänge aus, stalten das Barockensemble Il Bacio und die die auch mal a cappella erklingen. Stammbesetzung sind die Gitarristen Schauspielerin Serena Wey ein gemeinsames Pro Daniel Audunsson und Gunnar Már Jakobsson, Ragnar Ólafsson (Klavier) gramm, um mit dem Publikum den Übergang in und Karl James Pestka (Violine); live kommt mitunter ein Cellist dazu. eine neue Phase zu erleben und zu feiern. So Das zweite AiA-Konzert bestreitet dann der inzwischen in Hamburg lebende wird etwa herbstlich inspirierte Kammermusik aus Felix Meyer, ein Liedermacher, der zeitweise als Strassenmusiker unter- dem 17. und 18. Jhdt. mit Gedichten von Ingeborg wegs war und das Genre mitunter heute noch pflegt. In seinen zwischen Bachmannn, Rolf Dieter Brinkmann, R.M. Rilke, Chanson und Gypsy-Swing angesiedelten Liedern verbreitet er nicht nur Luisa Famos u.a. ergänzt. Ein saisonaler Apéro ansteckenden Groove, sondern auch oft einen leicht morbiden Charme des beschliesst jeden Abend, an den Sonnwenden sind Verfalls. 2010 war er mit dem Förderpreis der Liederbestenliste ausgezeich- auch Tanzpartys vorgesehen. – net worden, und das zweite Album ‹Erste Liebe/Letzter Tanz› erhielt 2012 Anlässlich seines 100. Todestags wird Christian beachtliche Resonanz. Morgenstern heuer besonders gewürdigt. So auch ‹Akustik in Agathen›, Kirchplatz 1, Schopfheim-Fahrnau in einer musikalisch-literarischen Hommage, die Arstidir: Sa 27.9., 20 h; Felix Meyer: Fr 7.11., 20 h, 2012 bereits im Isaak gastierte und dem grossen Vorverkauf: Buchhandlung Uehlin, Schopfheim, 0049 7622 668230 Dichter auf beglückende Weise gerecht wird. Ein ‹Arstidir›, Foto: zVg fünfköpfiges Team, darunter der lange am Thea- ter Basel engagierte Schauspieler Klaus Henner Russius und die Sängerin Christine Hutmacher, bringt mit eigenen, beschwingten Vertonungen den vielschichtigen Ernst und Humor Morgen- sterns zum Ausdruck. ‹Akkorde›-Gitarren-Festival: So 21.9. bis Do 30.10., div. Orte, www.akkorde-hochrhein.de 2. Internat. Gitarrenwettbewerb: Fr 12. bis Mo 15.9., Musik-Akademie und Stadtcasino, www.guitarcompetitionbiasini.org Jahreszeiten mit Il Bacio & Serena Wey: Sa 27./So 28.9., 20 h (Herbst), Theatergarage, Bärenfelserstr. 20 Winter: 20./21.12., Frühling: 14./15.3.15, Sommer: 20./21.6.15, www.theatergarage.ch Morgenstern-Abend ‹Ein Viertelschwein und eine Auftakteule›: Sa 20.9., 20.15, Theater auf dem Lande, Trotte, Arlesheim u S. 36 10 | ProgrammZeitung | September 2014
Willkommen im Jazzparadies! t i l o r ic h t e r Der Jazzcampus wird seiner Bestimmung übergeben. Zuletzt brauchte es einige Geduld bei allen Beteiligten – die Eröffnung des neuen Basler Jazzcampus im Kleinbasel wurde um neun Monate verschoben. Mit Semesterbeginn starten die Musik-Akademie Basel und die Musikhochschulen der Fachhochschule Nordwestschweiz nun inmitten der Alt- stadt durch und laden alle zum Mitfeiern ein. Insbesondere die künftigen Jazzstudierenden, die MusikschülerInnen und ihr Lehrpersonal dürfen sich auf einen architektonischen und akustischen Ort der Extraklasse freuen. In einem einst unscheinbaren Hinterhof, wo früher Maschinen produziert wurden, gut versteckt hinter mittelalterlichen Wohnhäu- sern, ist seit Mai 2011 eines der ungewöhnlichsten Musik- schulgebäude Europas gewachsen. Mit Mitteln (in ungenannter Höhe) der Stiftungen Levedo und Habitat realisierte das Architekturbüro Buol & Zünd den Umbau der historischen Gebäude und die dahinter liegen- den, zwei- bis sechsgeschossigen Neubauten. Beide Stiftun- gen werden vor allem von Beatrice Oeri alimentiert, von deren Engagement für die Basler Jazzszene bereits The Bird’s Eye Jazz Club profitiert. Für den künftigen Unterhalt und Betrieb des Jazzcampus sorgen die Musik-Akademie Basel und die Fachhochschule Nordwestschweiz. Ein lebendiges Ganzes. Zu jenen, die die Idee eines Jazz- campus vehement verfolgt haben, zählt Bernhard Ley, Gründer und Leiter der ehemaligen Jazzschule Basel, heute Leiter der Abteilung Jazz innerhalb der Musikhochschulen FHNW. «Es ist ein einzigartiges Zentrum für Jazz in der Basler Altstadt. Ein inspirierender Ausbildungs-, Begeg- nungs- und Veranstaltungsort, der zu einer Plattform für Musikschaffende aus der ganzen Welt wird.» Für Ley ist der Campus ein «lebendiges Ganzes», von dem auch die Öffent- lichkeit profitieren wird: Der im Neubau mit 50 Zimmern und Aufnahmestudios integrierte Jazzclub für bis zu 150 Gäste wird vermutlich schnell als neue Konzertlokalität in die Basler Kulturagenda Eingang finden. Mehrere Veran- staltungen pro Woche sind avisiert, die Regie führt hier die Studentenschaft. Zum Auftakt bietet ein langes Wochenende beste Gelegen- Bald kein heit, die neuen Räume im Gebrauch zu erleben: Gleich nach «Wir wollen nicht an der Peripherie, sondern mitten in der Geheimtipp mehr: Der neue dem Semesterstart für die 250 Schülerinnen und Schüler Stadt präsent sein.» Für Leben ausserhalb der eigentlichen Jazzcampus, der Jazzschule (Musikschule), die 64 Studierenden und 45 Unterrichtszeiten sorgt zudem die Nutzung der Altbauten Foto: Kathrin Lehrpersonen der Musikhochschule lädt der Campus zum für Studenten-WGs und eine Wohnung für GastdozentIn- Schulthess grossen Eröffnungsfest, das in Kooperation mit dem Musik- nen. Der Basler Campus steht – wie der Jazz in der Musik festival Klangbasel (S. 9) stattfindet. – für die Innovation: Einem geschichtsträchtigen Stadtort Mittendrin präsent sein. Dass der Jazzcampus die welt- wird mit einer anderen Bestimmung eine neue Zeitschicht besten Dozierenden anziehen will, ist kein Geheimnis. Jo hinzugefügt. Dunkel von der Stiftung Habitat erläutert, dass kein Auf- Open House Jazzcampus: Fr 19. bis So 21.9., Utengasse 15, wand gescheut wurde, um ideale Voraussetzungen für www.jazzcampus.com. Lehre und Performance zu schaffen. In Zusammenarbeit Mit Konzerten, Architekturführungen, Gesprächen, Food & Drinks mit einer Gelterkinder Firma wurde im Vorfeld etwa das Ausserdem: Jazzfestival Freiburg: Fr 19. Bis So 28.9., div. Lokale, www.jazzfestival-freiburg.de 1:1-Modell eines Unterrichtsraums für Akustiktests gebaut. «Fachleute aus Architektur und Akustik haben sich hier Reihe ‹Jazz im Parterre›, organisiert vom Jazzkollektiv Basel: Mo 29.9., 20.30, Parterre, www.jazzkollektivbasel.ch Hand in Hand dem Optimum angenähert. Dabei standen Programm The Bird’s Eye Jazz Club u S. 38 die spezifischen Wünsche der Lehrkräfte im Mittelpunkt.» Und auch die Lage in der Innenstadt ist für Dunkel ideal. September 2014 | ProgrammZeitung | 11
Föhnsturm und Totentanz a l f r e d z i lt e n e r Das Theater Basel startet wetterfühlig. Schon als Kind, erzählt der Musiker und Regisseur Christian Zehnder, habe ihn der Föhn fasziniert. Er habe sich diesen Wind, der die Dinge trügerisch nahe rückt, Kopfschmerzen und andere Beschwerden hervorruft und die sexuelle Lust stimulieren soll, als Frau vorgestellt, die aus dem Berg ge- boren wird. Am Theater Basel geht er nun dem Phänomen und seiner Bedeutung in der archaischen Mythenwelt der Alpen nach. Sein ‹zyklisches Wetterspiel› eröffnet im Foyer die neue Saison. Zwar hat Zehnder das Stück konzipiert, doch mitgewirkt haben auch der Komponist Fortunat Frölich und der im April verstorbene Autor Urs Widmer. Dieser hat in lakonisch- kraftvollen Texten den Mythos von der Frau Föhn geschaf- fen, die vom Mannsberg ins Tal hinunter fährt, für Ver wirrung und Zerstörung sorgt und schliesslich das Dorf in Flammen aufgehen lässt. Dazwischen schieben sich die skurrilen, in einem Kunst-Dialekt gehaltenen Dialoge eines clownesken Bauernpaars (gespielt von Carina Braunschmidt und Martin Hug). Ballung und Auflösung. Urs Widmer hat an diesen Tex- ten bis zuletzt mit Herzblut gearbeitet und gegen Schluss auch seinen eigenen Kampf gegen den Tod in eindrückliche Bilder gebracht. Dass er schliesslich eine Brücke schlägt vom Föhn zum Basler Totentanz, überrascht, ist in diesem Zusammenhang aber folgerichtig. Er hätte die Texte auch Martin Hug selber vortragen sollen; nun übernimmt der Schauspieler Koloraturen der Frau Föhn. Zehnder selbst führt Regie und und Carina Hans Rudolf Twerenbold die Aufgabe. hat das Bühnenbild entworfen: einen mehrere Meter hohen Braunschmidt als Bauernpaar, Der Föhn bestimmt auch Frölichs Partitur für Instrumental- Mannsberg, um den auf Schienen eine Lore kreist. Zudem Foto: Karen Ensemble und kleinen Chor, der die Talschaft verkörpert. ist er vom Tonband als Stimme des Bergs und am Schluss Petermann Sie setzt den meteorologischen Zyklus von Ballung und mit einem selber komponierten Alpsegen zu hören, der Auflösung musikalisch um, der den Fallwind entstehen und Melodik und Harmonik alter Bet-Rufe aufnimmt. verschwinden lässt. Erik Oña leitet das Ensemble Phoenix ‹Föhn. Ein zyklisches Wetterspiel›: ab Di 16.9., 19.30, Theater Basel u S. 34 und einen von Fritz Näf handverlesenen neunköpfigen Ausserdem: Tag der offenen Tür am Theater Basel: Sa 6.9., 11–17 h, Kammerchor. Die Sopranistin Susanne Elmark singt die Eintritt frei. Mit Darbietungen aus allen Sparten, Workshops, Führungen, Shows, Kostümverkauf und Kulinarischem Charmante Nische einem grösseren Podium präsentiert sich der neue Raum, und sogar eine Bar hat Platz gefun- bares Land›, Nagel & Kimche) auf, dessen perfor- mative Lesungen beim Publikum auf Begeiste- pe t e r bu r r i den. Doch es blieb – auch das war eine Auflage rung stossen. Theaterfabrik in Hegenheim. – bei 49 Sitzplätzen, was den intimen Charakter Mit musikalischen Akzenten wie etwa der Basler Vier Jahre konnte das 2009 eröffnete Théâtre de bewahrt. Gruppe Prekmurski Kavbojci oder dem deutschen la Fabrik in Hegenheim spielen, dann musste es Zur Krönung ihrer Bemühungen, aus der Not Boogie-Pianisten Thomas Scheytt mit seinen von einem Tag auf den andern schliessen. Ver- eine Tugend zu machen, konnten der Basler Alle- Chanson- und Kabarettabenden (von einer Hom- schärfte französische Gesetze verlangten weitere mann und sein Team unlängst den badisch- mage an Boris Vian bis zu den Berner Gebirgs feuerpolizeiliche Massnahmen und einen behin- elsässischen Kulturpreis entgegennehmen, wäh- poeten) dürfte aber auch das vielfältige reguläre dertengerechten Zugang. rend die Bühne mit trinationalem Programm hier Programm des neuen Théâtre de la Fabrik am Nun aber feiert das Theaterchen in der früheren zulande noch ein Geheimtipp zu sein scheint. alten Ort den kleinen kulturellen Grenzverkehr Garnspinnerei an der Rue de Bâle, die zum Basler Das mag auch daran liegen, dass sie sich in einem beleben. Grenzübergang Hegenheimerstrasse führt, seine ÖV-Niemandsland befindet. Nun aber wird auf Prekmurski Kavbojci: Sa 13.9., 20 h; Knuth & Tucek: wundersame Auferstehung. Mit Hilfe des Schwei Bestellung ein Shuttledienst ab Kannenfeldplatz Sa 27.9., 20 h, www.theatredelafabrik.com zer Arealbesitzers Christoph Staehli konnte der angeboten. Als erste Basler Institution hat mittler PS: ‹Zeitreise im Elsass› war in der letzten Ausgabe der Theatergründer Freddy Allemann die Kleinbühne weile das Literaturfestival die charmante Nische ProgrammZeitung (Nr. 297) an dieser Stelle als Titel zu lesen. Doch der beschriebene Ort Plombières-les-Bains vom Keller ins Erdgeschoss der Kulturfabrik in der Flugschneise des Euroairports entdeckt: liegt nicht im Elsass, sondern im Departement Vosges zügeln, wo sie nun einen abgetrennten Teil der Ende Oktober tritt dort der welsche, aus Rumänien (Region Lorraine). Shedhalle belegt. Heller, freundlicher und mit stammende Schriftsteller Eugène (‹Ein unfass- 12 | ProgrammZeitung | September 2014
Körper, Grenzen, Utopien i ng o s ta r z Das Theaterfestival Basel spiegelt lokales und Werner Kroesinger, ein Pionier des dokumentarischen fernes Zeitgeschehen. Theaters in Deutschland, nimmt mit seinem Stück ‹Fron- Die sommerliche Grossveranstaltung startet partizipativ in tex Security› Einblick in die Flüchtlings- und Asylpolitik den September: Sie lädt die Bevölkerung in die Turnhalle Europas. «Kroesinger [betrachtet] die Grenzschutzagentur auf dem Kasernengelände ein, wo man im Rahmen des Pro- im grösstmöglichen historischen Kontext und arbeitet prä- jekts ‹home sweet home› Modellhäuser gestalten darf. Das zise heraus, an welchen Fixpunkten sich die europäische britische Kollektiv Subject To Change lässt Stadtutopien aus Asylpraxis jeweils durch welche Interessenlagen verändert Karton erstehen, die zeigen, welche Anliegen die urbane hat.» (Der Tagesspiegel) Gesellschaft beschäftigen. Das Anlegen dieses ungewöhn Starke Frauen. Der Tanz hat unter Carena Schlewitt einen lichen und einzigartigen Archivs wird mit einem Strassen- wichtigen Platz im Programm der Kaserne erhalten. Am fest abgeschlossen. Festival bildet tänzerische Frauenpower einen markanten Brisante Fragen. Dass Rechtsextremismus und Antisemi- Schwerpunkt, dabei stehen Identitäten und Geschlechter- tismus in vielen europäischen Ländern (wieder) auf dem kampf im Zentrum: Die Soli ‹Yellow Towel› von Dana Michel Vormarsch sind, ist heute nicht mehr zu übersehen. Selbst und ‹Macho Dancer› von Eisa Jocson verhandeln diese The- das Hakenkreuz, das in Europa ein für allemal mit dem men in eindringlicher Weise. Michels Tanzstück wird von Dritten Reich verbunden ist, kommt da und dort wieder anhaltenden Transformationen bestimmt, die das Multiple zum Vorschein. Die Swastika ist jedoch viel älter und ein einer Persönlichkeit hervortreten lassen. Widersprüchliche wichtiges, unbelastetes Symbol im Hinduismus. Das austra Elemente wie Freiheitsdrang und Anpassung geraten so in lische Back to Back Theatre geht davon aus und lässt die ein Zusammenspiel. Jocsons Performance zielt, wie der Titel elefantenköpfige Gottheit Ganesha nach Nazideutschland verrät, auf den um Begehren buhlenden Mann. Das Stück reisen, um Hitler das Symbol zu entreissen. Die theatralen entlarvt die Posen der in Nachtclubs tanzenden Männer als Verwicklungen, welche die vier Darstellenden mit Behin- Ausdruck eines Körpers im Zeichen seiner Verwertbarkeit. derungen und ihr Regisseur Bruce Gladwin durchmachen, In ‹So Blue› katapultiert die kanadische Ausnahmetän- beginnen in ‹Ganesh Versus the Third Reich› mit der Frage, zerin Louise Lecavalier zunächst allein, dann im Duo mit wer Hitler, wer die Juden spielen solle. «Wer wen darstellen Frédéric Tavernini Körperenergien in den Raum. Für die kann, wer die Deutungshoheit über eine Erzählung hat, wer elektronischen Beats sorgt Mercan Dede. in der Historie zum Subjekt wird und wer nicht – das ist der Unheimliche Gegenwart. Der bekannte ungarische Thea- rote Faden.» (TAZ) termacher Béla Pintér blickt in ‹Unsere Geheimnisse› noch- Aktuelle Themen. Die Asylfrage beschäftigt derzeit un- mals hinter den Eisernen Vorhang, zeigt das furchterregen- seren Kontinent in besonderem Masse. Kein Tag vergeht de Klima im Budapest der 1980er-Jahre. In Anbetracht der ohne Nachrichten von Flüchtlingsdramen an den Mittel- jüngsten politischen Entwicklungen in Ungarn gewinnt meerküsten. Allzu passiv nehmen Politik und Gesellschaft dieser Rückblick erschreckende Aktualität: Mit dem auto- das schreckliche Geschehen hin, manche glauben gar, dass ritären Kurs von Viktor Orban ist die Angst in den Alltag sich mit der von der EU ins Leben gerufenen Frontex-Agen- zurückgekehrt. Und das Theaterfestival ist auch hier nah tur Asylbewerber wirksam von Europa fern halten liessen. am Puls der Zeit. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein, wenn man sich die Theaterfestival Basel: bis So 7.9., Kaserne Basel, Theater Roxy, Junges stetig steigenden Personenzahlen vergegenwärtigt. Hans- Theater und Theater Basel, www.theaterfestival.ch ‹Ganesh Versus the Third Reich›, Foto: Jeff Busby September 2014 | ProgrammZeitung | 13
Theaterspaziergänge im Outernet d om i n iqu e spi rgi Machtmechanismen Die Reihe ‹Portable Reality› beleuchtet Theater- und Kunstwelten, die Grenzen der physischen Realität überschreiten. a l f r e d z i lt e n e r Die Theatergäste werden an Bretter angeschnallt und mit Datenbrillen Demokratieprobe im Römertheater. sowie Kopfhörern von der realen Welt abgeschnitten. Beziehungsweise Wie konnte es bloss soweit kommen ? Fassungs- quasi als Avatar auf eine Reise durch virtuelle und erweiterte Realitäten los sitzt eine Gruppe Jugendlicher in den Ruinen geschickt. Das ist ‹Terra Nova› der belgischen Gruppe Crew. Der Titel ist ihres Zeltlagers, zu ihren Füssen die Leiche eines durchaus doppeldeutig zu verstehen, denn er bezieht sich nicht nur auf das Kameraden, den sie soeben umgebracht haben. technische Neuland, sondern auch auf den Plot, der sich an die gleichnamige Das Ende ist der Anfang des Stücks ‹Camp Cäsar›, Antarktis-Expedition von Robert Scott (1910–1912) anlehnt, die bekanntlich mit dem das Junge Theater Basel (JTB) erstmals ein tragisches Ende nahm. in Augusta Raurica auftritt. Der Text stammt von Theater auf der Bühne, Kunst im Museum, das gibt es nach wie vor. Doch Tim Staffel, mit dem das Theater bereits 2007 immer mehr Theater- und Kunstschaffende verlassen ihre angestammten bei ‹Next Level Parzival› erfolgreich zusammen- Räumlichkeiten und vermitteln mit Hilfe digitaler Medien neue Erlebnis- gearbeitet hat. Für die Inszenierung kehrt der und Erfahrungswelten. Die Compagnie Crew des ehemaligen Comiczeich- Schauspieler und Regisseur Daniel Wahl, dessen ners Eric Joris führt bereits ziemlich weit in die Virtual oder Augmented Karriere vor rund 15 Jahren beim JTB begonnen Reality hinein. Mit ‹Immersion›, also mit Eintauchen in künstlerisch-künst- hat, nach Basel zurück. liche Welten, bezeichnet er das Prinzip seiner Theaterreisen im Outernet. Grundlage des Stücks ist William Shakespeares Fantastische Parallelwelten. ‹Terra Nova› ist nun in Basel zu sehen bzw. Tragödie ‹Julius Cäsar›, in deren Zentrum die zu erleben. Die Theaterinstallation ist Teil einer Veranstaltungsreihe, die Ermordung des römischen Diktators steht. Das sich ‹Portable Reality› nennt und vom Haus der elektronischen Künste Stück sei nach wie vor aktuell, erklärt Theater- (HeK) gemeinsam mit Kaserne Basel und Museum Tinguely organisiert leiter Uwe Heinrich, es werfe wesentliche Fragen wird. Neben ‹Terra Nova› sind ein Symposium, Workshops und weitere auf zum Verhältnis von Staat/Gemeinschaft und Performances angekündigt. Einzelnem, zu politischen Mechanismen, zum Zum Beispiel die Live Art Performance ‹C.A.P.E.› (Computer Assisted Perso- Wesen der Demokratie. Cäsar sei in seinem nal Environment), die ebenfalls aus dem Repertoire von Crew stammt. Die unbedingten Streben nach Macht durchaus ver- sehr technisch klingende Bezeichnung ist Programm: Anders als bei ‹Terra gleichbar mit Blocher oder Berlusconi. Nova› befinden sich die Teilnehmenden dieser Reise nicht im noch einiger- Allerdings hätte Shakespeares Drama mit seinen massen geschützten Theaterraum. Sie bewegen sich vordergründig über rhetorisch ausgefeilten Volksreden die jugend Basler Boden im und um das Museum Tinguely, während die Datenbrille lichen Darstellenden überfordert. Staffel hat daher ganz andere Schauplätze vermittelt: etwa Spaziergänge durch Tokio und ein Stück geschrieben, das unter jungen Men- Brüssel sowie einen Marsch mitten in einem Strassenumzug in Ghent. schen von heute spielt und sich wie Pauspapier Auf einem ähnlichen Prinzip beruht das Augmented-Reality-Projekt ‹live über die Vorlage legt: Kein Wort stammt von Clipper› von Jan Torpus, welches das Publikum im St. Johanns-Park mit Shakespeare, doch die Umrisse seiner Handlung Hilfe eines tragbaren Computersystems in Sphären zwischen der realen bleiben gegenwärtig. Erzählt wird von Jugend Alltagswelt und fantastischen Parallelwelten entführt. ‹Portable lichen, die sich aus einem politischen Diskus Reality›, mit ‹Portable Reality›: Mi 24. bis So 28.9., Kaserne Basel, Museum Tinguely und weitere öffentliche sionsforum im Internet kennen und beschliessen, ‹c.a.p.e›, Orte in Basel u S. 32, 33 Foto: Crew in einem Camp das demokratische Zusammen leben zu erproben. Doch die Mechanismen, die Shakespeare beschreibt, spielen auch hier: Einer von ihnen reisst die Macht an sich und wird deswegen getötet. Im Nachhinein versuchen die Beteiligten, die Gründe für die Katastrophe zu finden. Die Proben zu ‹Camp Cäsar› finden vor Ort statt: Dafür ziehen alle Mitwirkenden für fünf Wochen in ein Zeltlager in der Nähe des Theaters; ihre Erfahrungen werden sicher in die Aufführung einfliessen. Gespielt wird auf den Rängen des Theaters; das Publikum sitzt auf einer Tribüne in der Orchestra. Und bei schlechtem Wetter? Es gibt keinen Ersatzspielort, doch für Heinrich ist klar: «Wenn jemand kommt, spielen wir.» JTB, ‹Camp Cäsar›: So 7. bis Sa 13.9., 19.30 (täglich), Römertheater, Augst u S. 37, Foto: u S. 25 14 | ProgrammZeitung | September 2014
Fieser Standesdünkel dagm a r bru n n e r Das Theater ‹ex/ex› spielt Maupassant. Eine geballte Ladung Psychologie und Gesellschaftskritik vereinen sich in der Novelle ‹Boule de suif› (1880) von Guy de Maupassant (1850–93). Die meisterhafte, tragikomische Geschichte diente der Theatergruppe ‹ex/ex› als Vorlage für ihre neue Produktion ‹Eine für alle›. Sie handelt von einer bunten Menschengruppe auf der Flucht vor dem Deutsch- Französischen Krieg; alle Schichten und politischen Rich- tungen sind vertreten, darunter eine Prostituierte. Wie diese zuerst verachtet, dann respektiert, schliesslich benutzt, ver lacht und im Stich gelassen wird, das zeigt ein aus Laien und Profis bestehendes Ensemble in der Regie von Sasha Mazzotti und Barbara Rettenmund. Dessen Mitglieder stammen alle aus der Region und sind zwischen 16 und 75 Jahren alt. Gespielt wird openair an verschiedenen Orten, auf Plätzen, in Parks und Höfen. Davor wird jeweils Gastro- nomisches angeboten. Abgründe. Der Autor wusste, wovon er schrieb, als Spross eines aufstrebenden Neuadligen und Womanizers lebte er später selbst auf grossem Fuss und in unsteten Verhältnis- sen. Bereits früh unternahm er literarische Versuche, flog wegen eines frechen Gedichts von der Schule und lernte Flaubert kennen, der ihn fortan väterlich beriet. Er stu- dierte Jura, wurde in den Französisch-Preussischen Krieg ‹ex/ex› eingezogen, den er glimpflich überstand, und arbeitete da- in eine psychiatrische Klinik, wo er auch starb. Seine präzis Foto: Petra Stettler nach eher lustlos in verschiedenen Ministerien. Daneben beobachteten, mit leichter Hand geschilderten Abgründe verfasste er zahlreiche regierungskritische Zeitungsartikel menschlichen Verhaltens in ‹Boule de suif› – Ausgrenzung, und schrieb mit zunehmendem Erfolg meist naturalistische Vorurteile, Frauenfeindlichkeit – sind zeitlos aktuell. Erzählungen und Romane, die in seiner Heimat Normandie Openair Theater ‹ex/ex› mit ‹Eine für alle›: bis Sa 27.9., www.exex.ch oder in Paris spielen. Die Syphilis brachte ihn schliesslich (bei jeder Witterung, jeweils Mi bis Fr/Sa) 28. bis 31.8., Freizeitzentrum Landauer, Riehen 3. bis 6.9., Singeisenhof, Riehen 10. bis 13.9., Zähringerpark, Rheinfelden 17. bis 19.9., Kannenfeldpark, Basel 24. bis 27.9., Bahnhofsplatz, Rodersdorf Messerscharf Klassiker – Brät im Darm – die 30-Franken- Schallmauer durchbrochen haben wird. Fisch aus einer Vielzahl von Möglichkeiten willkürlich das Renger-Patzsch in Schöneberg oder das Rio a l a i n c l au de s u l z e r ist, was den Preis betrifft, längst über die Ufer Grande in Kreuzberg vor). Zufriedenstellend enttäuschend. getreten. Hier versuchen wir uns an das Hin- Statt teuer, mittelmässig und uniform in Basel Essen Sie (manchmal/immer) lieber auswärts als und Herschwappen zwischen 36 und 45 Franken überall mehr oder weniger dasselbe zu essen zu Hause? Ein teures Vergnügen, wenn Sie das zu gewöhnen. Ein paniertes Kalbsschnitzel (ein (Kalbsleber, Hackbraten, Geschnetzeltes, Tartare, Pech haben, in der Schweiz zu leben – und nur Wiener Schnitzel also) kostet durchschnittlich Maispoularde, Bratwurst), empfehle ich allen, selten ein ungetrübtes. 42 Franken. Und dazu brauchen wir kein Sterne- die ihrem Magen eine Abwechslung gönnen Ein nicht notwendig aussergewöhnliches, son- Restaurant zu betreten. möchten, einen Kurztrip nach Wien oder Berlin. dern in den allermeisten Fällen passables Drei- Aber wem sage ich das. Ich sage es Leuten, die das Selbst wenn man den Hin- und Rückflug rechnet, gangmenü, dessen Beilagen (Pommes frites, wissen und entweder nicht mehr auswärts essen wird man insgesamt nur unwesentlich mehr aus Gemüse, Saucen) nicht selten aus Tiefkühlfertig- gehen oder ausgewandert sind, weil sie auf Res- geben, als wenn man in Basel das Tram nimmt, produkten zusammengewürfelt wurden, kostet taurantbesuche nicht verzichten wollten. Etwa um einmal mehr im Restaurant X zufriedenstel- hierzulande durchschnittlich 60 Franken (meist nach Wien, wo das Schnitzel seinen Namen her lend und im Y enttäuschend, in jedem Fall aber mehr). Getrunken hat man für dieses Geld besten- hat und man sich wirklich anstrengen muss, wenn teuer zu essen. Es gibt für diese Preise, wie man falls Hahnenwasser, das immerhin noch gratis man dafür mehr als 16 Euro bezahlen will. Wenn immer wieder hört, gute Gründe (Personalkos- fliesst (es würde mich allerdings nicht wundern, nicht nach Wien, dann nach Berlin, wo man locker ten, Mieten, Einkaufspreise). Fürs Zuhauseblei- wenn auch dieses da und dort schon kostet). Es einen Dreigänger für 32 Euro bekommt (ich schlage ben – oder verreisen – aber leider auch. wird wohl nicht mehr lange dauern, bis auch der ‹Messerscharf› verbindet Dicht- und Küchenkunst. September 2014 | ProgrammZeitung | 15
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