PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Menschen, Häuser, Orte, Daten ProgrammZeitung CHF 8.00 | EUR 6.50 Mai 2014 | Nr. 295 Kultur im Raum Basel Filmstill aus ‹Something Must Break› Cover: 4. Bildrausch-Filmfest u S. 5
Bücher-Netzwerke dagm a r bru n n e r Editorial. 2012 wurde die Kulturvermittlerin Bettina Spoerri zur neuen Leiterin der Solothurner Literaturtage gewählt. Sie führte die 35. Ausgabe 2013 erfolgreich durch, trat aber bald danach zurück, weil sie die Strukturen als einengend und unprofessionell empfand und übernahm die Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Die Solothurner Literaturtage blieben indes in Frauenhand. Die Gesamtleitung der 36. Ausgabe liegt bei Reina Gehrig, die bereits in zahlreichen Kulturbetrieben tätig war (u.a. im Basler Gare du Nord) und in der Geschäftsführung mit Beat Mazenauer und Franco Supino sowie der Programmkom- Abb. aus Hugh Raffles/Judith Schalansky (Hg.), mission von versierten Fachleuten unterstützt wird. In kur- Insektopädie, Verlag Matthes & Seitz, Berlin. 380 S., 80 Abb., CHF 47.90 zer Zeit mussten neue Strukturen und ein attraktives Pro- gramm erarbeitet werden, was scheinbar gelungen ist; der traditionelle ‹Dichtertreff› im Mittelland ist reich bestückt: gen und eigenwilligen wie präzisen und sensiblen Beobach- 70 Autorinnen und Autoren, darunter ein Dutzend auswär- terin menschlicher Befindlichkeiten und der Gegenwart. tige wie Aris Fioretos aus Schweden, Claire Keegan aus Ir- Ihre Bücher sind Gesamtkunstwerke, vereinen gutgeschrie- land, Katja Petrowskaja aus Berlin bzw. der Ukraine und benen, originellen Inhalt mit sorgfältig konzipierter, kon- Gerhard Rühm aus Österreich sowie heimische aus allen genialer Form, verlieren dadurch jeden Warencharakter Landesteilen werden aus neuen Werken lesen. Preisträger, und bereiten nachhaltig Freude (etwa ihr ‹Atlas der abgele- Übersetzerinnen und VerfasserInnen von Jugendliteraur genen Inseln›). Was unzeitgemäss erscheint, hat Erfolg, sind ebenfalls vor Ort, und die Begleitveranstaltungen sind Schalanskys Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und vielfältig: Hommage an Hermann Burger, Gesprächsrun- übersetzt. Nun kommt die Vielseitige, für die das Buch u.a. den, Schreibwerkstatt, Live-Hörspiel, Konzerte, Filme, Aus- «ein trostspendendes Medium» ist, im Rahmen ihrer Preis- stellung, Zukunftsatelier, Fussballmatch und Preisverlei- Lesereise auch nach Basel. Wer Bücher liebt, wird den hung. Dies alles dient nur dem einen Ziel: dem Buch, der Abend ebenso geniessen wie die Auffahrtstage in Solo- Literatur, den Schreibenden Plattformen und Vernetzungs- thurn. möglichkeiten zu bieten. 36. Solothurner Literaturtage: Fr 30.5. bis So 1.6., div. Orte, Das will auch das Netzwerk der Literaturhäuser, dem elf www.literatur.ch Einrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz Ausserdem: 28. Salon du Livre: Mi 30.4. bis So 4.5., Genf, angehören, darunter das Literaturhaus Basel. Ein wichtiges www.salondulivre.ch, 31. Foire du livre: Fr 9. bis So 11.5., Saint-Louis, www.foirelivre.com Projekt dieses Vereins ist (seit 2002) die jährliche Vergabe eines ‹Preises der Literaturhäuser›. Er wurde heuer der Judith Schalansky: Mi 14.5., 19 h, Literaturhaus Basel. Laudatio: Alexander Honold ostdeutschen Buchgestalterin, Autorin und Herausgeberin Judith Schalansky (geb. 1980) verliehen, einer ebenso klu- Hauskultur sechs Qualitätsgrundsätze einzuhalten und sind durch einen blauen Aufkleber gekennzeichnet. db. An einer Tagung, die vom SKM – Studienzen- Abgesehen davon, dass auch die ProgrammZei- trum Kulturmanagement lanciert wurde, wollen tung z.T. an diesen Orten verkauft wird, schlies- teils prominente Kulturschaffende und -interes- sen wir uns der sinnvollen Devise gerne an: sierte über Herausforderungen, Trends und ‹Denk weiter – kauf näher: Buy local›! ‹Strategien für die Kulturszene Schweiz› nach- Die Auswirkungen der Mindestlohninitiative denken und diskutieren. Auf die hoffentlich (18.5.) auf Kulturhäuser hat bereits unser Part- Inhalt wegweisenden Erkenntnisse werden wir ggf. zu ner-Kulturmagazin 041 in Luzern untersucht. Redaktion 3 einem späteren Zeitpunkt eingehen. Fazit: Die meisten Betriebe kämen bei einer An- Über ihre Zukunft haben sich auch die unabhän- nahme kaum darum herum, Stellen und Ange- Kulturszene 24 gigen, persönlich geführten Basler Geschäfte bote abzubauen. Viele Kulturschaffende seien Agenda 53 Gedanken gemacht, die sich zum Netzwerk ‹buy- froh, «mindestens Lohn zu haben», frotzelte ein local.ch› zusammengeschlossen haben. Die Initi- Kollege … Kurse 91 ative, die es auch in Deutschland gibt, ging von Strategie-Tagung: Di 13.5., Gare du Nord Impressum 91 zwei Buchhändlerinnen aus (Isabelle Hof, Gan- Anmeldung: www.skm-kulturmanagement.ch zoni, Basel, und Maya Itin, Rapunzel, Liestal) Aktionswochen: Di 6. bis Sa 17.5., www.buy-local.ch Ausstellungen & Museen 92 | 93 und strebt durchaus einen landesweiten Ver- Kultur-Mindestlöhne: www.null41.ch (Februar) Essen & Trinken 94 bund an. Mit dem Label werden die Vorzüge die- ser Kleinbetriebe betont. Sie verpflichten sich, Kultursplitter 95 Mai 2014 | ProgrammZeitung | 3
CONCERTS AURORE BASEL Sonntag, 25. Mai 2014, 17 Uhr Wildt’sches Haus, Petersplatz 13, Basel Johannes Brahms C. Coin, H. Mätzener, J.-J. Dünki www.concertsaurore.ch Stadt- und Naturführungen Basel natürlich 2014 Das Jahresprogramm ist erhältlich bei: Basel Tourismus, Zolli, wägwyser GGG Sternengasse, Naturhistor. Museum Ökostadt Basel
Abenteuer des Sehens i ng o s ta r z Filmstill aus ‹Das grosse Museum› Das Filmfest ‹Bildrausch› präsentiert Bildern berauschen lassen. Dabei ist es oft die Stille, sind visuelle Leckerbissen. es die ruhigen Einstellungen, die einen in den Bann zie- Manche werden sich an Gustav Deutschs ‹Shirley. Visions of hen. In Athanasios Karanikolas Film ‹Sto spiti / At home› Reality› erinnern, den letztjährigen Eröffnungsfilm von ‹Bild wird keine griechische Tragödie erzählt, eher gleicht das rausch›. Er durchmass in hinreissender Weise Bildräume Geschehen einem Abgesang. Die im Zuge der Finanzkrise des amerikanischen Malers Edward Hopper. Auch in die- erodierenden gesellschaftlichen Bande werden am Beispiel sem Jahr steht ein österreichischer Film am Anfang und der Haushälterin Nadja vorgeführt, die einer Familie der wiederum mit Referenz zur bildenden Kunst: ‹Das grosse griechischen Oberschicht nahesteht. Ihre schwere Krank- Museum›, ein Dokumentarfilm von Johannes Holzhausen, heit und finanzielle Probleme des Hausherrn führen zur eröffnet einen faszinierenden Blick in den Betrieb des Kündigung. Die emotionale Bindung Nadjas zur Familie Kunsthistorischen Museums in Wien. Man schaut hinter aber bleibt, was der Film eindringlich vor Augen führt. die Kulissen, folgt wissenschaftlichen und technischen Mit In einer träumerischen Logik, die an Werke von Fellini arbeiterInnen auf ihrem Weg durch das Haus, wird auf- und Kusturica erinnert, kann man sich in Alejandro Jodo- merksam auf den Balanceakt einer Institution zwischen rowskys ‹La Danza de la Realidad / The Dance of Reality› Gedächtnisort und Kulturdienstleister. verlieren. Der Film verbindet die Autobiografie des Film- Als Nicole Reinhard und Beat Schneider vor drei Jahren regisseurs mit mythologischen und poetischen Bildern, die ‹Bildrausch› ins Leben riefen, fragte man sich, ob ein weite- zum Bekenntnis eines Bildermachers verschmelzen. «Die res Filmfestival vonnöten sei. Die Antwort lieferte das Pro- Geschichte meines Lebens ist gekennzeichnet durch ein gramm: Eine erlesene Auswahl filmkünstlerischer Werke ständiges Bemühen darum, die Vorstellungskraft und deren und vielfältige Begegnungen mit Filmschaffenden liessen Grenzen zu erweitern.» ‹Bildrausch› wird fraglos die Imagi das Cineasten-Herz höher schlagen. Angeregt durch die nation seiner Gäste beflügeln und in der Festivallounge im Viennale, das Wiener Filmfestival, hat das Kuratorenduo Werkstattraum der Kunsthalle für Gesprächsstoff sorgen. ein ‹Festival der Festivals› geschaffen, wo staunenswerte 4. ‹Bildrausch›-Filmfest: Mi 28.5. bis So 1.6., Stadtkino Basel und Kultkino und herausfordernde Filme einen ebenso intimen wie idea- Atelier, www.bildrausch-basel.ch len Aufführungsort finden. Im internationalen Wettbewerb ‹Cutting Edge› werden 14 Besondere Filme Filme gezeigt. Ein Schwerpunkt widmet sich dem däni- db. Das Neue Kino Basel präsentiert im Mai eine Auswahl neuerer schen Filmregisseur Nils Malmros, der mit seinem jüngsten Filme von und mit Indigenen aus Nordamerika. Alle wurden am Film ‹Sorg Og Glæde / Sorrow and Joy› auch am Wettbe- American Indian Film Festival ausgezeichnet und erzählen von werb teilnimmt. Ferner gibt es in Zusammenarbeit mit den Tradition und Gegenwart der indianischen Bevölkerung. – Basler Medienwissenschaften ein ‹Wahrnehmungslabor 3D› Die LiebhaberInnen von Gay-Filmen kommen an verschiedenen zu sieben Filmwerken sowie ein Kurzfilmprogramm mit fünf Festivals im In- und nahen Ausland auf ihre Kosten. Am grössten Filmen. Als Specials sind Edgar Reitz’ ‹Die andere Heimat schwullesbischen Filmanlass der Schweiz, ‹Pink Apple›, werden – Chronik einer Sehnsucht› und Frederick Wisemans ‹At über 80 Filme aus aller Welt gezeigt, begleitet von Podien und Berkeley› zu sehen. Diskussionen und eine Preisvergabe Vorträgen. runden den Anlass ab. Indian Films: jeden Do/Fr, Neues Kino Basel, www.neueskinobasel.ch Im Sog der Bilder. Das Basler Filmfest ist vor allem eines: Gay-Filme in Zürich, Frauenfeld und Freiburg i.Br.: www.pinkapple.ch, ein Abenteuer des Sehens. In wenigen Tagen kann man sich www.schwule-filmwoche.de, www.freiburger-lesbenfilmtage.de von avancierten Ästhetiken mit ihrer Fülle an betörenden Weitere Filmfestivals: www.visionsdureel.ch, www.videoex.ch Mai 2014 | ProgrammZeitung | 5
Der besessene Kunstverbesserer a l f r e d s c h l i e nge r Junges Driften a l f r e d s c h l i e nge r ‹Left Foot Right Foot›. Das Thema ist nicht neu, und doch findet es in diesem Schweizer Spielfilm einen ganz eigenen Ton. ‹Left Foot Right Foot› von Germinal Roaux zeigt das orientierungslose Dahintreiben eines jungen, kaum der Adoleszenz entwachsenen Paares. Vincent (Nahuel Perez Biscayart) ist pas- sionierter Skater, was seinen flirrenden Zustand schön untermalt. In den Gelegenheitsjobs hält es ihn nicht lange. Eigentlich sucht er nur Arbeit, weil er lästige Schulden am Hals hat. Hinge- bungsvoll sorgt er jedoch für seinen autistischen Bruder Mika (Dimitri Stapfer). Freundin Marie (Agathe Schlencker) lässt sich als Hostess in einem Filmstill aus Club anwerben und driftet halb neugierig, halb ‹Die Kunst der ‹Die Kunst der Fälschung› zeigt, wie’s gemacht wird. widerständig in prostitutive Bereiche ab. Wie Fälschung› Gleich zwei Geschichten erzählt dieser Dokumentarfilm: von einem geris- seine Hauptfiguren erklärt auch der Film nicht senen Fälscher, der ausgewiesene Kunstfachleute während Jahrzehnten viel, er tastet sich gekonnt lakonisch hinein in hinters Licht führt, und, nicht minder spannend, von den Gesetzen eines diese Rutsch- und Schwebepartien ungesicher- gierigen Kunstmarkts, der den Hals nicht voll genug kriegen kann. ter Existenzen. Regisseur Arne Birkenstock ist es offenbar gelungen, zum überführten Was diesen jungen Film zudem auszeichnet, ist deutschen Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi (geb. 1951) ein Vertrauens- seine kunstvolle, aber nicht gekünstelte Mach- verhältnis aufzubauen, das diesen frisch von der Leber weg erzählen und art. Die Schwarzweissbilder sind von stimmiger zeigen lässt, wie er bei seinen Fälschungen grosser Meister vorgegangen Schönheit und Tristesse. Immer mal wieder ist. Oder ist es einfach der Narzissmus eines begabten Nachahmers, der schaut die Kamera auf die Füsse der Menschen immer auch darunter gelitten hat, dass seine Bilder zwar in allen mög und schweift ab in den Himmel, folgt dem hin- lichen Museen hängen, aber niemand weiss, dass er sie gemalt hat? Beltrac- reissenden Flug von Vogelschwärmen. In dieser chi gibt sich jedenfalls unglaublich entspannt, changiert kokett zwischen Spannung lassen sich Marie und Vincent durchs Understatement und Grössenwahn und sonnt sich im Interesse an seiner Leben treiben. Der Film versteckt nicht, dass er Begabung – und seiner kriminellen Energie. Vorbilder hat. So erinnert er an das Skater-Drama Malen sei für ihn, meint er beiläufig, «wie Zähneputzen, nichts Heiliges». ‹Paranoid Park› von Gus Van Sant, an ‹Oh Boy› Und natürlich könne er alles nachahmen, auch Leonardo, auch Rembrandt, von Jan-Ole Gerster oder an ‹What’s Eating Gil- manches werde unter seinem Pinsel gar besser als im Original. Rund 300 bert Grape› von Lasse Hallström, in dem der junge Werke von 80 Künstlern hat Beltracchi im Verlauf von 40 Jahren gefälscht. Leonardo DiCaprio als behinderter Bruder von «Ich hätte 2000 Bilder malen können, und der Markt hätte es aufgenom- Johnny Depp seine erste Paraderolle ablieferte. men», sagt er. Bei der jüngsten Verleihung der Schweizer Film- Echter Staub. Zwei Möglichkeiten zur Fälschung gibt es grundsätzlich: preise wurde ‹Left Foot Right Foot› für die beste Man kopiert ein reales Bild, das verschollen ist, oder man erfindet ein neues, Kamera und für die beste Nebenrolle (Dimitri imaginäres, das aber gut in die Lücke eines Gesamtwerks hineinpasst. Stapfer als Autist) ausgezeichnet. Hochverdient. Beltracchi war in beidem ein Meister. Er legte Spuren, erfand Geschich- Der Film läuft ab 15.5. in einem der Kultkinos u S. 50 Filmstill aus ten, erklärte den verstorbenen Grossvater seiner Frau zu einem heimlichen ‹Left Foot Kunstsammler, aus dessen Fundus er immer wieder neue Fundstücke auf- Right Foot› tauchen liess. Das Fälschen aber beginnt gar nicht beim Malen. Sondern bei der richtigen Unterlage, bei zeitechten Rahmen. Die stöbert Beltracchi auf Flohmärkten auf, schabt die Farbe ab und trägt sein neu-altes Bild auf. Zum Schluss wird wieder der richtige alte Staub unter den Bilderrahmen gemischt. Der Teufel steckt im Detail. Mit seinen Fälschungen von Max Ernst, Heinrich Campen- donk oder Max Pechstein erwirtschaftete sich Beltracchi Abermillionen, führte ein High Life zwischen Côte d’Azur, Karibik und Süddeutschland. Und weil im Kunstmarkt das Interesse am Finanziellen alles überwiegt, gibt es in diesem System auch niemanden, der möchte, dass ein Bild als gefälscht erkannt wird. Denn alle profitieren von der ‹Echtheit›, auch die ExpertInnen mit ihren hohen Honoraren. Der Film läuft ab Anfang Mai in einem der Kultkinos. 6 | ProgrammZeitung | Mai 2014
Innigkeit statt Perfektion a l f r e d s c h l i e nge r Bruno Molls ‹Schubert und ich› spürt dem individuellen Wesen der Musik nach. Da fasziniert zuerst einmal die unglaublich entspannte Herangehensweise. Die gleichzeitig die höchste Intensität, den tieferen Gehalt im Forschungs- gegenstand aufzuspüren sucht. Der vielseitige Schweizer Dokumentarfil- mer Bruno Moll (‹Pizza Bethlehem›, ‹Brain Concert›) begleitet diesmal den Musiker und Komponisten Marino Formenti, der genug hat von der Perfek- tion der Konzertsäle, vom Stimmenfetischismus im professionellen Musik- betrieb. Er will raus aus der Kunstecke und sucht deshalb Laien ohne ge- sangliche Vorbildung, die bereit sind, mit ihm Franz Schuberts Lieder auf ihre Gegenwärtigkeit hin abzuklopfen. Funktionieren diese wehmütigen Gesänge noch als Geschichten von heute? Formenti packt sein E-Piano ein und reist nach Wien. Hier findet er den Ökonomen Johann, die Multimediakünstlerin Julia, den Biophysiker Vedran, den Studenten Ahmed, den Musikjournalisten Heinz und übt mit ihnen in sanftem Ringen verschiedene Schubertlieder ein. «Wie viel Zeit haben wir?», fragt der Ökonom. «Fünf Monate, fünf Jahre, was du willst», antwortet der Zersetzte Liebe a l f r e d s c h l i e nge r Musiker. Ermutigung zur Kreativität. Es sind zerbrechliche Stimmen, die sich Nahost-Drama ‹Omar›. da in ihren Privaträumen an dieses Projekt wagen. Keine hätte wohl eine Mit seinem differenzierten Spielfilm ‹Paradise Chance bei gängigen Castingshows. Aber genau darin liegt der Reiz. In der Now› über zwei palästinensische Selbstmord tastenden Annäherung, in der unangestrengten Ausweitung der Möglich- attentäter sorgte der Regisseur und Drehbuch keiten, im Verinnerlichen des ganz persönlichen Ausdrucks. Und sehr bei- autor Hany Abu-Assad 2006 weltweit für Auf läufig werden auch grosse Fragen angeschnitten, von Glaube und Moral, sehen, gewann den Golden Globe für den besten Sexualität und Einsamkeit, Führung und Gehenlassen. fremdsprachigen Film und wurde in derselben Bruno Molls und Marino Formentis ‹Schubert und ich› ist mehr als eine Kategorie auch für den Oscar nominiert. Jetzt Ermutigung zur künstlerischen Kreativität für jeden Menschen. Der Film legt er mit ‹Omar› ein weiteres Werk vor, das im nimmt uns mit in die Intimität dieser Probenprozesse. «Wenn ich blödeln Konfliktbereich zwischen Palästina und Israel dürfte, würd’s mir leichter fallen», meint die Multimediakünstlerin. Sie spielt. In Cannes wurde es bereits mit einem darf natürlich. Man erlebt den Kampf mit Grenzen, das Aufbrechen ver- Sonderpreis der Jury ausgezeichnet und ist schütteter Teile der eigenen Biografie. Und nicht zuletzt die stille Grösse erneut für den Oscar nominiert. von Schuberts Liedern im nichtperfekten Vortrag. Je inniger, umso ge- ‹Omar› erzählt eine Freundes- und Liebesge- schlossener sind die Augen. Man übt in engen Küchen, in weiten Salons, in schichte unter den Bedingungen der Besatzung in der Badewanne. Und oft haben die Übenden ihren Schubert einfach im der Westbank. Omar, Tarek und Amjad, die sich Ohr, in der Bibliothek, in der U-Bahn, auf dem Laufband im Fitnesscenter. Filmstills aus seit Kindsbeinen kennen, sind in einer Wider- ‹Omar› (oben), Es ist das Gegenteil einer Trivialisierung. Wer singt, wird diesen Film sehen ‹Schubert standsgruppe organisiert. Bei einem Anschlag auf wollen. Andere könnten zum Singen finden. Und zu Schuberts Wehmut. und ich› einen Armeeposten töten sie einen israelischen (links Marino Soldaten. Omar wird verhaftet und soll im Ge- Der Film läuft ab So 11.5. im Rahmen des Basler Musikprojekts ‹reinhören› u S. 11 Formenti) fängnis zu einem Kollaborateur mit den Israelis umfunktioniert werden. Als Omar überraschend freikommt, hält man ihn für einen Verräter. Auch Nadia, Tareks Schwes- ter, die er liebt und heiraten will, kann ihm nicht mehr trauen. Es kommt zu einem verstörenden Showdown, in dem die eng geknüpften Bezie- hungen von Vertrauen, Freundschaft und Liebe aufs Schmerzlichste zersetzt werden. Wie schon in ‹Paradise Now› verherrlicht Abu-Assad keines- wegs die Gewalt. Er zeigt vielmehr, wie sie ent- steht und wohin sie führt. Und alles in einem sehr begrenzten, authentisch wirkenden Setting von ganz wenigen Personen. Bemängeln kann man allerdings, dass die brutalen Folterverhöre mit ihrem Licht- und Schattenspiel arg ästheti- sierend wirken. Der Film läuft ab 29.5. in einem der Kultkinos u S. 50 Mai 2014 | ProgrammZeitung | 7
Neuentdeckter Tastensinn s t e fa n f r a nz e n Die Konzertreihe ‹Piano Di Primo al Primo Piano› in Allschwil. Im Jazz ist es zentrales Instrument und gerade deshalb stetigem Wandel Grenzgänge unterworfen. Nach Tastenvirtuosen wie Thelonious Monk, Oscar Peterson dagm a r bru n n e r oder Bill Evans versuchen auch heutige InterpretInnen, das Piano von kon- Jazz, Tango & mehr. ventionellen Vokabeln zu befreien. Vor allem im neuen europäischen Jazz Seine Autobiografie von 2002 trägt den befremd- wird mit Verbindungen zu Rock, Pop und Klassik experimentiert. Solch lichen Titel ‹Als weisser Neger geboren›. George spannende Grenzüberschreitungen lassen sich während einer sommer Gruntz, Jahrgang 1932, spielte mit afroamerika- lichen Konzertreihe hautnah in stimmungsvollem Ambiente verfolgen. nischen Kollegen, als deren Diskriminierung Eingeladen hat das Organisationsteam um Béa Boenzli etwa den finni- noch ‹normal› war. Der Basler trat schon mit 16 schen Giganten Iiro Rantala, der schon wiederholt beim Jazzfestival Basel als Jazzpianist auf, wurde mit 31 Berufsmusiker, zu hören war. Von seinem Soloauftritt kann man erwarten, dass er die Ver- spielte mit den Besten seines Fachs und kannte knüpfungen von Bach-Interpretationen, urwüchsiger Rockmotorik und zahlreiche Grössen des internationalen Kultur- melodischen Lyrizismen noch intensiver herausmeisselt als im Ensemble. betriebs, etwa Rolf Liebermann, Allen Ginsberg, Rantala erneuert die Pianosprache einerseits mit Zitaten aus der klassi- Robert Wilson. Vielseitig und neugierig, verband schen Sphäre, die er auf seine Spielweise überträgt. Doch er hat auch keine er Klassik, Jazz und Volksmusik aus aller Welt, Berührungsängste vor der Ära des Swing und Bebop, zugleich zaubert er komponierte für Orchester, Theater, Ballett und auch mal einen Hendrix aus dem Hut. Das Resultat nennt er ganz selbst Film. Mit seiner 1972 gegründeten Concert Jazz bewusst ‹My History Of Jazz›. Band tourte er jährlich um den Globus und blieb 4 Solos und 1 Duo. Das Spiel von Stefan Rusconi als ‹sophisticated› zu auch nach seiner Krebserkrankung kreativ und bezeichnen, ist durchaus gerechtfertigt, trifft den Kern der Sache aber nur aktiv. Wenige Monate nach seinem 80. Geburts- halb. Sonst vor allem mit seinem Trio unterwegs, hat der Zürcher für seinen tag starb er im Januar 2013. Die Pläne für ein Solo-Act das vielsagende Thema ‹Randspiele› kreiert und interpretiert eigene Programm mit der Basel Sinfonietta konnte er Stücke und Lieder in einer Sphäre zwischen zugänglichem Pop-Appeal und nicht mehr verwirklichen; das Orchester spielt Avantgarde. Rusconis Universum scheint keine Grenzen zu kennen: Der nun ein Konzert, das sein vielfältiges Schaffen musikalische Freigeist erkundet die Innenwelt seines Flügels, ist neugie- zum Ausdruck bringen will. – rig auf Fernöstliches, Psychedelisches und Minimal Music, kann aber auch Eine Hommage ist auch das Konzert der Gruppe souligen Groove und Ohrwurm-Pop spielen. Musique des Lumières. Und zwar an den grossen Schliesslich der Schwede Martin Tingvall: Auch er hat sich aus seinem Trio argentinischen Schriftsteller Julio Cortazar, der herausgelöst, um solo seine Tugenden zu präsentieren. Und die bestehen vor 100 Jahren geboren wurde und vor 30 Jahren aus einem lyrischen Anschlag, der die Melancholie und Einsamkeit der starb (auf einer seiner Kurzgeschichten basiert skandinavischen Weite verkündet, aber auch klare, sonnige Stimmungen z.B. Antonionis Film ‹Blow up›). Er lebte ab 1951 ‹En ny Dag› verströmt. Tingvall orientiert sich dabei bewusst nicht an der in Frankreich und war auch linkspolitisch aktiv. amerikanischen Jazztradition, sondern knüpft wie sein Kollege Rantala an Das Orchester ehrt seinen Landsmann mit eige- den Ton abendländischer Komponisten von Bach bis Grieg an. nen Kompositionen, die unter der Leitung von Umrankt werden die Auftritte dieser drei Stars von zwei Entdeckungen: Facundo Agudin uraufgeführt werden und auch Einmal gibt sich Fabian M. Mueller, neues ‹enfant terrible› des Schweizer auf CD erhältlich sind. Im Anschluss an das Pianojazz mit seinem Programm ‹Klingende Schatten› die Ehre, und zum Konzert ist Tangotanz angesagt. – Auftakt holen Lutz Gerlach und Ulrike Mai mit ‹Musica Mare› die Ostsee Mit «waghalsiger Musik zwischen den Genres ans Rheinknie. Piano di Primo und abseits des Mainstreams» feiert das Festival ‹Piano Di Primo al Primo Piano›, Untere Kirchgasse 4, Allschwil, www.piano-di-primo.ch: al Primo Piano, Taktlos in Zürich seinen 30. Geburtstag. Zu erle- Gerlach/Mai: 10.5., Rantala: 7.6., Rusconi: 21.6., Müller: 19.7., Tingvall: 6.9. Foto: Heiner ben sind u.a. das Sun Ra Arkestra unter Marshall Grieder Allen (die damit auch den 100. Geburtstag der exzentrischen Jazzlegende Sun Ra würdigen), das Barry Guy New Orchestra, Silvie Courvoisier & Mark Feldman, Charlotte Hug & Stefano Pas- tor, Musik aus Indien und Äthiopien usw. ‹A Tribute To George Gruntz›, Basel Sinfonietta und NDR Bigband, Leitung Jörg Achim Keller: So 18.5., 19 h, Stadtcasino u S. 42, sowie Sa 17.5., 19.30 h, KKL, Luzern Musique des Lumières, ‹Nuevo Tango Nuevo II›: Fr 2.5., 20 h, Gare du Nord u S. 39 (Werke von Marcelo Nisinman, Julio Viera, Pablo Ortiz) 30. Taktlos-Festival: Do 22. bis So 25.5., Rote Fabrik, Zürich, www.taktlos.com 8 | ProgrammZeitung | Mai 2014
Klangfarben der Welt s t e fa n f r a nz e n Mit Musik aus Mali, dem Libanon und Portugal klingt das Jazzfestival Basel aus. Die bewährte Partnerschaft zwischen Kaserne und Offbeat sorgt traditionsgemäss vor allem in der zweiten Hälfte des Jazzfestivals für aufregende Weltmusikabende. In diesem Jahr ist das nicht anders. Den Auftakt macht der Sohn einer Legende: Auch wenn es die Übersetzung seines Namens nicht vermuten liesse, ist er der Sprössling des grossen, 2006 verstorbenen Ali Farka Touré und führt den Wüsten- blues seines Vaters mit neuen Mitteln ins 21. Jahrhundert. Vieux Farka Touré fusionierte die ruppigen Fünftonskalen vom Ufer des Niger mit Hardrock, Reggae, Dub und Blues- rock, spielte mit John Scofield, Derek Trucks und Ivan Neville. Trotz aller elektrischer Begeisterung bekennt er jedoch: «Bei allem, was ich tue, liegt die Quelle in der Musik meines Vaters. Es ist unmöglich, dass ich diese Tradition vergesse.» Sein neues Werk ‹Mon Pays› (‹Mein Land›) ist wieder eine ganz akustische Sache geworden, denn eingedenk des poli- tischen Konflikts verbeugt sich Vieux musikalisch vor sei- ner Heimat Mali. «Ich konnte nicht einfach wieder ein Rock’n’Roll-Album machen», erklärt der Musiker aus dem Volk der Songhai. «Es ging mir darum, die Aufmerksamkeit der Leute für meine Heimat zu bekommen, für die Vielfalt unserer Kultur.» In seinem neuen Programm stimmt er des- halb Lieder aus allen Traditionen der Völker Malis an, mit Akustikgitarre, Spiesslaute, Kora, Kalebasse und vereinzel- ten Pianophrasen. Orientalisches Erbe. Zu einem Star sog. Weltmusik ist in den letzten Jahren auch der junge Ibrahim Maalouf aus dem Libanon aufgestiegen. Er ist ein Zauberer der orienta- lischen Trompete, und sein musikalischer Horizont spannt sich weit. Zunächst tat er sich auf seinem Instrument als Wunderkind der klassischen Musik hervor, wurde Meister- Vieux Farka schüler von Maurice André. Doch der Vater, der eine Trom- Geschichten zu erzählen. «Ich war immer eine sehr nach innen Touré (oben), pete entwickelt hat, die mit vier Ventilen die Mikrotöne gewandte Person», bekennt sie im Interview, «und viel- Ana Moura, Fotos: zVg der arabischen Skalen wiedergeben kann, machte ihn im leicht hat mich deshalb der Fado so gefangen genommen, Pariser Exil auch von klein auf vertraut mit dem Erbe der denn er ist mysteriös, sinnlich und sehr direkt». Heimat. «Ich habe das Privileg, mit einem Instrument, das Ana Moura reichert ihr Repertoire mit innovativen Ansät- per se okzidental ist, orientalische Musik zu spielen», erläu- zen an, für die sie auch Songwriter und Sänger aus anderen tert Maalouf. Aus den verschiedenen Lebenslinien schöpft Genres ins Studio lädt. Ihr Credo: «Meine Arrangements er seine individuelle musikalische Sprache. und die Intros der Stücke sind neuartig gestaltet. Nur so Er experimentierte schon visionär mit Fanfaren vom macht es Sinn, Lieder aufzunehmen, die schon tausendmal Balkan, mit brasilianischem Trommel- und kubanischem eingespielt worden sind. Dabei achte ich auch darauf, dass Salsaorchester, lässt Heavy Metal und Michael Jackson ich Texte verwende, die etwas mit der heutigen Zeit zu tun antönen. Doch sein Meisterwerk ‹Wind› ist eine klare Ver- haben. Natürlich wechseln Gefühle nicht von Generation pflichtung gegenüber dem Cool Jazz seines grössten Idols zu Generation. Die Art, wie wir damit umgehen, schon!» Miles Davis. Maalouf ist einer der wenigen seiner Genera Diese Einstellung hat ihr sogar die Türen zur New Yorker tion, die Jazzimprovisation, das Rüstzeug eines abendlän- Carnegie Hall geöffnet und zu Duetten mit den Rolling dischen Konservatoriums und die Farben der Welt zu einer Stones und Prince. Mit ihrem geschmeidigen, kräftigen Alt neuen Sprache vereinigen können, ohne dass der Spagat voll geheimnisvoller, dunkler Schattierungen lässt diese künstlich klingt. portugiesische Diva niemanden kalt. Farbiger Fado. Fürs grosse Finale des Jazzfestivals ist Vieux Farka Touré & Trio: Fr 2.5., 20 h, Kaserne Basel eine herausragende Fadista unserer Tage angekündigt: Ana Ibrahim Maalouf & Band: Sa 3.5., 20 h, Kaserne Basel Moura zählt neben Mariza und Carminho zu den jüngeren, Ana Moura & Grupo: Sa 10.5., 20.30, Foyer Theater Basel Programm: www.offbeat-concert.ch u S. 37 international bekannten Stimmen Lissabons, und sie weiss in dem alten, zuweilen ritualisierten Genre durchaus neue Mai 2014 | ProgrammZeitung | 9
Vielstimmiges von nah und fern a l f r e d z i lt e n e r Young People’s Das Jugendchor Festival bietet mit internationaler dem Opernhaus in Tallin angeschlossen ist, wo einzelne Chorus of New Besetzung über 40 Konzerte. Mitglieder auch solistisch auftreten. York City, 18 hochkarätige Kinder- und Jugendchöre mit insgesamt Das Festivalprogramm ist wie immer umfangreich und Foto: YPC rund 800 Mitwirkenden treten im Hauptprogramm des bezieht auch die Schweizer Nachbarschaft zwischen Rhein- 9. Europäischen Jugendchor Festivals im Raum Basel auf. felden und Mariastein mit ein. Neben Konzerten zu allen Sie stammen aus Weissrussland und den USA, aus Irland Tageszeiten gibt es Anlässe zum Mitsingen, einen Sing- und Island, aus Spanien und Israel – und natürlich aus der match zwischen drei Chören und das Familienkonzert Region. Dazu kommen in den Rahmenanlässen weitere ‹Gruselgroove und Gänsehaut› mit dem Sinfonieorchester einheimische Formationen. Als Auswahlkriterien nennt Basel und regionalen Chören. Am Samstag-Nachmittag Festivalleiterin Kathrin Renggli die künstlerische Qualität, geht das Festival auf die Strasse: Auf sechs Bühnen in der die Bühnenpräsenz und die Breite des Repertoires, das Innenstadt sind dann alle Formationen zu hören. Unter- auch Musik aus der eigenen Kultur umfassen soll – schliess- stützt wird der Anlass u.a. von den Basler Kantonen, der lich will das Festival möglichst vielfältig sein. Als Beispiel CMS und erstmals vom Bundesamt für Kultur. erwähnt sie den Hitziger Appenzeller Chor: Dessen Mix aus 9. Europäisches Jugendchor Festival: Mi 28.5. bis So 1.6., www.ejcf.ch traditioneller Volksmusik, Rap und Pop finde man sonst nirgends. Stimmen & Bilder Ein Schwerpunkt gilt in diesem Jahr «singenden Jungs». Es db. Eine ganz besondere Aufführung von Händels Oratorium werde immer schwieriger, erklärt Renggli, Buben und ‹Messiah› ist im Münster zu erleben. Der Laien-Chor Cantabile junge Männer für das Chorsingen zu begeistern. Es sei aber aus Pratteln, der immer wieder ungewöhnliche Projekte realisiert nicht so, dass sie nicht gern sängen: «Im Fussballstadion und heuer sein 20-jähriges Bestehen feiert, singt unter der Lei- tun sie es ja auch.» Aber das Angebot traditioneller Knaben- tung seines Gründers Bernhard Dittmann das dreiteilige Werk chöre decke nicht alle Bedürfnisse. Vier unterschiedliche von 1741. Dazu wurde von Erich Busslinger eine Bild- und Licht- Formationen, darunter die Knabenkantorei Basel, treten choreografie entwickelt, die aus der christlichen Tradition sowie am Festival auf, und bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion Gegenwartsbezügen schöpft und sich mit dem Librettotext und diskutieren deren Leiter Strategien zur Problemlösung. der Musik zu einer visuell-akustischen Meditation verdichtet. Knabenchöre im Fokus. Die Spannweite zeigt Renggli an Die Bildkomposition wurde in Kooperation mit verschiedenen zwei Beispielen. The Choristers of Jesus College Cambridge Museen (Unterlinden Colmar, Pinakothek München und Kunst- ist ein konventioneller Chor in der kirchlichen Tradition. museum Basel) erarbeitet. Francisco Nunez vom Young People’s Chorus of New York Cantabile Chor und Cappriccio Orchester Basel mit ‹Messias›: City hingegen lässt Boys und Girls teilweise unterschied Sa 17./So 18.5., 19.30, Basler Münster (mit Bildern), sowie Fr 23./Sa 24.5., liches Repertoire singen und gibt den Burschen dabei Ge- 19.30, Christkath. Kirche St. Martin, Rheinfelden (ohne Bilder) u S. 40 legenheit, sich auch körperlich auszutoben, z.B. im virilen, Ausserdem: Gesangstraditionen aus aller Welt versammeln sich von Liedern begleiteten Gum Boot Dance. Eine besondere am 6. Klangfestival ‹Naturstimmen› im Toggenburg: Mi 28.5. bis Mo 9.6., Stellung hat der Estonian National Opera Boys’ Choir, der www.klangwelt.ch 10 | ProgrammZeitung | Mai 2014
Einfach in Ruhe zuhören ... a l f r e d z i lt e n e r Das Projekt ‹reinhören› sorgt für Musikgenuss. Als Gegenmodell zu exzessiver ‹Event-Kultur› verstehen die Mitglieder des Ton & Text Vereins Pro Münsterplatz ihr Projekt ‹reinhören›. Eine Reihe ungewöhn dagm a r bru n n e r licher Konzerte soll dem Publikum Konzentration und Entschleunigung Kreative Verbindungen. ermöglichen. Die Anregung dazu stammt aus Berlin, wo der Pianist Marino Das Sinfonieorchester Basel verknüpft in seiner Formenti drei Wochen in einem eigens aufgebauten japanischen Haus täg- Reihe ‹Schwarz auf Weiss›, die es mit der Papier- lich zwölf Stunden lang spielte, für alle, die frei kommen und gehen und im mühle veranstaltet, Musik und Literatur (Kon- Sitzen oder Liegen zuhören konnten. Ein ähnliches Haus will nun auch auf zept Christian Sutter). Der letzte Anlass der Sai- dem Münsterplatz zu akustischen Erlebnissen einladen. Studierende des son ist dem Thema ‹Unterwegs / On The Road› Instituts für Innenarchitektur und Szenografie der HGK haben dafür eine gewidmet. Die Texte stammen von zwei ameri- Kombination ineinander verschränkter Kuben entworfen, die sich perfekt kanischen Autoren der Beat Generation, Jack zwischen die Bäume einfügt. Gespielt wird täglich acht Stunden; wie in Kerouac und Allen Ginsberg, vom US-Lyriker Berlin ist der Zugang frei und unentgeltlich. Walt Whitman sowie vom deutschen Dichter Das Programm ist vielseitig. Die ersten fünf Tage wird Formenti solo bestrei- Wilhelm Müller, dessen ‹Winterreise› von Schu- ten, danach sind ganz unterschiedliche KünstlerInnen, vor allem aus der bert vertont wurde. Dazu erklingt denn auch Region, zu erleben. Viele haben sich um einen Auftritt beworben, weil das Schuberts kurz vor seinem Tod komponiertes, Langzeitformat sie interessierte. Das Spektrum reicht dabei von traditionel- traumhaft-wehmütiges Streichquintett C-Dur, ler Volksmusik bis zu Improvisationen, die das Publikum mitgestalten kann. D 956, das von Sehnsucht und rastlosem, unste- Die Geräusche von aussen werden dabei zu einem Teil des Konzerts. Einen tem Dasein erzählt. – Schritt weiter geht das Vokalensemble Thélème; die Singenden agieren hin- Dem Unbehagen an der aktuellen Finanz- und ter drei Bildschirmen, die live das Geschehen im Aussenraum zeigen. Wirtschaftskrise verleihen vier Komponierende Klang-Erkundungen. Etliche Mitwirkende kombinieren Musik und Wort, und drei Schreibende mit ihren Mitteln Aus- etwa die Gruppe Matterhorn Produktionen, die Schubert-Lieder über das druck. Ausgehend von Medienmeldungen der Wandern mit Aussagen von Asylsuchenden (s. S. 15) verbindet. Verspielter letzten Monate kommentieren Ruth Schweikert, ist der Abend mit den ‹Exercices de style› von Raymond Queneau, der eine Jürgen Theobaldy und Guy Krneta (Texte) sowie Alltagsbegebenheit zum Ausgangpunkt nimmt für eine amüsante Reise Alex Buess, Thomas Lauck, Daniel Ott und Rico durch den Reichtum der Sprache in 99 Variationen. Desirée Meiser liest auf Gubler (Musik) das Zeitgeschehen; es spielt das Französisch und in deutscher Übersetzung; musikalische Improvisationen Basler Ensemble Kontur. – und visuelle Umsetzung ergänzen den Text. Zu einem ‹Kriminalkonzert› laden das Kriminal- Zum genauen Hinhören will Jean-Jacques Dünki mit Musik für vier sehr klangensemble und der Sprecher Thomas Doug- unterschiedliche Tasteninstrumente verführen: Flügel, Cembalo, Clavi- las ein. Zum Einsatz kommen Profis an Posaune chord und Celesta. Am Schluss wird der Pavillon in ein grosses Instrument und Schlagzeug sowie ein versiertes Zitherquar- verwandelt, mit Klangobjekten und im Raum gespannten Saiten, mit denen tett. Sie gestalten Graham Greenes Roman ‹Der die Gäste ihre eigene Musik erzeugen können. Workshops mit Schulen dritte Mann›, den Orson Welles verfilmt hat, beschliessen den Anlass. nach einer Komposition von Georg Haider und ‹reinhören›, ‹reinhören›: So 11. bis Di 27.5., täglich 14–22 h, Münsterplatz u S. 41 Schnittbilder unter der Regie von Klaus Brömmelmeier. – Mehr zu Marino Formenti in Bruno Molls Film ‹Schubert und ich› u S. 7 der Architek- Tierbeschreibungen einer holländischen Kinder- So 11.5., 11 h (mit Marino Formenti), Di 13.5., 18 h, und So 18.5., 11 h, Kultkino Atelier ten Adrian buchautorin liegen dem musikpädagogischen Beerli und Mehr zu Matterhorn Produktionen u S. 15 Stefan Waser, Theaterprojekt ‹Faultier, Yak & Kakerlak› zu- FHNW HGK grunde. Junge SchülerInnen der Schola Canto- rum Basiliensis (SCB) präsentieren mit ihren In- strumenten eine komponierte und improvisierte Collage aus Tier-/Naturlauten und -geschichten. Die von einem Studenten der SCB geschriebenen Musikstücke sind einfach gehalten, sodass alle mitmachen können, und werden szenisch er- gänzt; Regie führt Sibylle Burkart. Schwarz auf Weiss, ‹Unterwegs / On The Road›: Sa 17.5., 17 h (engl.), So 18.5., 17 h (dt.), Papiermühle (siehe zum Thema auch u S. 15, 16) Kommentare zur Zeit: Mi 28.5., 20 h, Gare du Nord u S. 39 sowie Di 10.6., 19.30, Palazzo, Liestal Kriminalkonzert ‹Der dritte Mann›: Fr 16. und Sa 17.5., 20 h, Ackermannshof, sowie So 18.5., 17.30, Theater Palazzo, Liestal u S. 43 ‹Faultier, Yak & Kakerlak›: Fr 9. bis So 11.5., Vorstadttheater u S. 34 Mai 2014 | ProgrammZeitung | 11
Ein neues Festival für Freiburg m ic h a e l b a a s Das Tanz- und das frühere Theaterfestival Improvisation als roter Faden. ‹Still Current›, die erste spannen zusammen. Tanzproduktion, stammt von Russel Maliphant, was eine Freiburg meldet sich zurück auf der Festival-Landkarte für Körpersprache verspricht, die vom Ballett über zeitgenös- performative Künste. ‹Tanz und Theater Internationales sischen Tanz bis zur Kampfkunst reicht. Die Improvisation Festival Freiburg› nennt sich das Format und ersetzt nicht als ein roter Faden des Festivals steht dann im Mittelpunkt nur das seit 1986 bestehende Tanzfestival im E-Werk; viel- einer Performance, die der Geiger Harald Kimmig mit mehr holt es das 2006 eingemottete Theaterfestival aus vier Tänzern, darunter Michael Schumacher und Michael besagter Kiste, bindet unter dem Motto ‹gemeinsam sind Shapira, und drei Musikern realisiert. wir stärker› sowohl das Stadttheater wie auch das Theater Das lokale Spektrum repräsentieren ‹For Love›, ein Stück, im Marienbad ein. Die Leitung teilt sich ein Dreierteam, be- das die Pop-Ikone Courtney Love als Projektionsfläche stehend aus Wolfgang Graf, bis dato Leiter des Tanzfesti- nutzt, sowie ‹Zwischenfälle›, von Stephan Weiland insze- vals und langjährig fürs Kulturbüro Riehen tätig, Hubertus nierte Szenen von Daniil Charms, die das Eigenleben von Fehrenbacher vom Theater im Marienbad und Laila Koller Dingen und Menschen vorführen. Das Freiburger Theater vom E-Werk. Das Budget liegt bei rund 260’000 Euro, von wartet mit ‹Isabella’s Room› auf, der schon auf vielen Festi- denen die Stadt 135’000 und das Land 65’000 als Zuschuss vals gezeigten und bejubelten Produktion der belgischen beisteuern. Needcompany von 2004; Jan Lauwers Stück um die blinde Los geht’s mit ‹Schubladen› vom Berliner Theaterkollektiv Isabella entwickelt aus einer Sammlung musealer Objekte She She Pop. Das Stück, das wie auch andere bereits in eine Gedankenreise durchs 20. Jahrhundert und kreuzt Basel zu sehen war, konfrontiert ein Frauen-Trio, das in der dafür Installation, Tanz und Theater. alten Bundesrepublik aufgewachsen ist, mit drei in der DDR Belgien im Fokus. Überhaupt besetzt das kleine, sprach- Ultima Vez, sozialisierten Kolleginnen: Knapp 25 Jahre nach dem Mauer lich geteilte Belgien eine Hauptrolle des Festivals, haben ‹What The fall transferiert es den gesellschaftlichen Einigungsprozess doch auch die Theaterstücke ‹Jacobsnase› und ‹Kopbeest› Body Does Not Remember›, ins Zwischenmenschliche, inszeniert Wiedervereinigung in belgische Wurzeln; Ersteres erzählt von einem Mann, der Foto: Danny den ‹Schubladen› der Beziehungsarbeit. einen besonderen Geruchssinn entwickelt, das Zweite blickt Willems in die Abgründe der Seele. Eine weitere grosse Tanzpro- duktion hat ebenfalls einen belgischen Background: Vim Vandekeybus’ Company Ultima Vez zeigt zum Abschluss in neuer Besetzung das bereits 1987 entstandene, körperbe- tonte ‹What The Body Does Not Remember›, ein Markstein choreografischen Theaters. Dazwischen finden sich weitere ‹Must-Sees› – das Gastspiel der Tänzerin Louise Lecavalier, die Mercan Dedes elektro- nische Sufi-Musik im Duo ‹O Blue› in Bewegungsbilder über setzt, oder die Produktion ‹Two Room Apartment› aus Israel, auch sie ein Höhepunkt des Tanztheaters, in dem Bedin- gungen des Lebens erforscht werden. Freiburg hat damit wieder ein respektables Festival, und die Premiere soll nur der erste Schritt sein: Das Organisationsteam definiert sein Projekt jedenfalls als Prozess. «Da ist noch Entwicklungs- potenzial», sagt Wolfgang Graf – und das gilt auch fürs Budget. Tanz und Theater Internationales Festival: Mi 30.4. bis Sa 17.5., Freiburg i.Br., www.tanzundtheaterfestival.de Mehr Tanz und Artistik: Welttanztag: Di 29.4., www.tanzbuero-basel.ch (15 Jahre Tanzbüro Basel) 14. Steps, Migros Kulturprozent: bis Sa 17.5., div. Orte, www.steps.ch Vorstellungen in Basel (28.4., 8.5., 11.5.) und Lörrach (2.5., 14.5.) 8. ‹miniMIR›: Mo 12./Di 13.5., Kaserne Basel u S. 36 Ein Tanzstück mit 60 Basler PrimarschülerInnen Cinevox Junior Company, ‹Cinderella›: Fr 23.5., 20 h, Scala, www.artco.ch Zeitgenössisches Ballett von jungen Talenten aus aller Welt 9. Das Tanzfest: Fr 2. bis So 4.5., div. Orte, www.dastanzfest.ch Tanz für alle und überall in 21 Städten und Gemeinden (nicht in Basel) 6. Young Stage: Sa 17. bis Di 20.5., Basel, www.young-stage.com Circus Festival mit 31 ArtistInnen aus 16 Nationen Circus Monti in der Region Basel, www.circus-monti.ch Frick: 6./7.5., Arlesheim: 9. bis 11.5., Rheinfelden: 13./14.5. 12 | ProgrammZeitung | Mai 2014
Urbane Räume erzählen i ng o s ta r z Das Cathy Sharp Dance Ensemble erkundet Birsfelden. Tanz ist eine Raumkunst. Er fügt sich Architekturen und Plätzen ein, schafft sich selber Raum und verleiht seinen Handlungsorten Bedeutung. Da dies keineswegs nur in Kulturhäusern so ist, drängt es den Tanz gegenwärtig ver- mehrt in den urbanen Raum. Das Cathy Sharp Dance En- semble lädt mit seiner letzten grossen Neuproduktion zu einer Ortsbesichtigung ein. In Birsfelden, wo das Ensemble während 16 Jahren regelmässig im Roxy auftrat, wird das Publikum nun aus dem Theater hinaus und zu verschiede- nen Stationen im Stadtraum geführt. Das Projekt ‹Transit Birsfelden› verführt zu einem Blickwechsel und überhaupt zu einer genaueren Betrachtung des Ortes. Man kann dabei womöglich ein bisher unbekanntes Terrain entdecken. Mit kurzen Choreografien an ungewöhnlichen Plätzen werden urbane Räume erzählt. Der tänzerische Parcours wird von Cathy Sharp und Jochen Heckmann in Szene gesetzt. Der deutsche Choreograf begann seine Karriere als Tänzer, bevor er 1995 in Zürich das Ensemble Looping gründete. Von 1999 bis 2007 war er Ballettdirektor am Theater Augsburg, im letzten Jahr wurde er künstlerischer Leiter an der Höheren Fachschule für zeitgenössischen und urbanen Bühnentanz in Zürich. Sharp und Heckmann legen eine Fährte durch Birsfelden, die das Publikum zu Fuss und per Bus zurücklegt. Dabei fangen die ‹Transit Tanzinterventionen unterschiedliche Raumatmosphären ein. Tanz-Parcours bringt nicht nur das Publikum in die Stadt, Birsfelden›, In der Alten Turnhalle werden physische Energien frei sondern auch das Theater zu den Leuten. Für das Cathy Foto: Peter gesetzt, die Erinnerungen an einstige Sportstunden wach Sharp Dance Ensemble bietet sich so in besonderer Weise Schnetz werden lassen. In der Katholischen Kirche erlebt man Ges- die Möglichkeit, sich von seinen Fans zu verabschieden. ten des Glaubens. Im Kraftwerk stehen menschliche Körper Das 1991 gegründete Kollektiv prägte mehr als zwei Jahr- einem Maschinenraum gegenüber und machen das Nicht- zehnte die Basler Tanzszene. Ende dieses Jahres wird es menschliche des Ortes erfahrbar. Innen- und Aussenräume aufgelöst. Zuvor kann man dem Ruf nach Birsfelden folgen verbinden sich auf dem Weg durch die Gemeinde zu einer und im Herbst noch die Wiederaufnahme einer kleineren tänzerischen Spur. Produktion in Basel erleben. Stadt erfahren. Das Projekt ‹Transit Birsfelden› fügt sich ‹Transit Birsfelden›: Fr 2. bis So 11.5., 19 h, Start im Roxy, Birsfelden u S. 33, 37 nahtlos in die laufenden Aktivitäten des Roxy ein, die sich insbesondere für den lokalen Stadtraum interessieren. Der Backlist nen Papagei› («Allgeliebter Vogel Du, / Gingest auch zur ewigen Ruh») und auch einige Zeilen für ihre Anliegen setzt sie sich auch ganz prak- tisch ein. Bloss mit dem Dichten bleibt es schwie- a dr i a n p ort m a n n über die Poesie: «Wie, fragt ihr, wie? / Wer rig: Kempner kämpft mit den Reimen und ver- Schlesischer Schwan. macht dich frei? / Es ist die die, / Die Poesei!» greift sich im Ton, der tiefe Ernst kontrastiert mit Der Frühling hat poetisch Getriebene immer Kempner schreibt aber nicht nur über Schnitt- holprigen Versen, und das Pathos wird von schie- wieder zu Höchstleistungen angespornt. Das ist lauch und Papageien. «Jedesmal, wenn frohe fen Bildern konterkariert. Das alles trägt Kemp- auch bei Friederike Kempner nicht anders. Ganz Stunden / Mir im Herzen stattgefunden, / Haben ner, dem ‹schlesischen Schwan›, den Ruf eines besonders mag ich dieses Gedicht: «Wenn der sich mir vorgestellt / Auch die Leiden dieser Genies der unfreiwilligen Komik ein. Aber es holde Frühling lenzt / Und man sich mit Veilchen Welt.» Diese Leiden sind ein wiederkehrendes macht sie auch schnell zu einer Art Kultautorin, kränzt / Wenn man sich mit festem Mut / Schnitt- Thema ihrer Gedichte. ‹Gegen die Vivisektion deren Gedichte vielfältig parodiert werden – mit lauch in das Rührei tut / Kreisen durch des Men- der Hunde› ist eines überschrieben, ‹Gegen die dem Resultat, dass bis heute nicht immer klar ist, schen Säfte / Neue ungeahnte Kräfte – / Jegliche Einzelhaft› ein anderes, sie reimt für die Rechte welche Zeilen nun von ihr stammen und welche Verstopfung weicht, / Alle Herzen werden leicht, der Frauen und für eine Arbeiter-Sozialversiche- nicht. Das schöne Frühlingsgedicht etwa hat / Und das meine fragt sich still: / ‹Ob mich dies rung, gegen den Antisemitismus und vor allem, möglicherweise ein anderer geschrieben. Das Jahr einer will?›» aus Angst, lebendig begraben zu werden, für die wäre dann allerdings schade. Das ist ziemlich erheiternd, finde ich, und blättere Einrichtung von Leichenhäusern. Friederike Kempner, ‹Gedichte›, Leipzig 1873 mit festem Mut weiter. Ich lese ein Gedicht ‹Auf Das Herz hat die deutsch-jüdische Dichterin aus ‹Backlist› stellt besondere Bücher aus allen Zeiten vor. meinen am 15. November 1890 dahingegange- Schlesien zweifellos auf dem rechten Fleck, und Mai 2014 | ProgrammZeitung | 13
Stotternder Störfall i ng o s ta r z Ein Glücksmoment Das Theater Basel zeigt das erste Stück von Melinda Nadj Abonji. Die Prosa von Melinda Nadj Abonji ähnelt Partituren. Auch mit ihrem ers- i ng o s ta r z ten Theaterstück ‹Schildkrötensoldat› legt die Autorin einen mehrstimmi- Volksbühne ‹mittendrin›. gen Text vor. Er handelt vom jungen Roma Zoltán, der als vermeintlich Wir alle kennen die Momente, in denen man naiver Idiot seiner Umgebung auf die Nerven geht. Seine eigene, reiche zufällig mit Fremden ins Gespräch kommt und Sprach- und Bildwelt, die er nur stotternd zum Ausdruck bringen kann, sich unmittelbar Nähe einstellt. Oft geschieht es wird von den Mitmenschen verkannt. Seine Sprache kleidet ihn wie der unterwegs, etwa während einer Zugfahrt. Orte Panzer die Schildkröte. Sie bedeutet Schutz für ihn und vermittelt wie sein des Transits sind vielfach temporäre Kreuzungs- Verhalten nach aussen etwas Fremdes. Der Gesellschaft erscheint der junge punkte menschlicher Schicksale. Mann als Störfall. Erst im Militär gelingt es Zoltán, mit einem übergewich- Im neuen Stück der Volksbühne Basel, einer tigen Kameraden Freundschaft zu schliessen. Da finden zwei Aussenseiter Koproduktion mit dem Roxy, treffen an einem zusammen. Als der Freund während einer Übung stirbt, steht Zoltán wie- Imbiss-Stand fünf Männer aufeinander. Die der allein in der Welt. Ein Krankenhausaufenthalt bringt schliesslich an Schauspieler Nadim Jarrar, Robert Baranowski den Tag, dass er an Epilepsie leidet. und Orhan Müstak sowie die Musiker Arjin Haki «Bereits als Mädchen hat mich die Tatsache irritiert, dass Männer im Mili- und Delchad Ahmad sind allesamt Söhne einer tär ‹verschwinden›, dass sie da ein Leben führen, zu dem die Frauen keiner- Gesellschaft, in der um Identität und gesell- lei Zugang haben. Schreibenderweise befasse ich mich nun also mit dieser schaftliche Werte gerungen werden muss. Ihre terra incognita», bemerkt Melinda Nadj Abonji. Rollen verweisen auf existenzielle Wendepunkte Facetten des Fremdseins. Neben diesem Aspekt behandelt die Autorin und stimmen in ihrer künstlerischen Prägung einmal mehr das Fremdsein, die Frage, was einen fremd macht. Ihr Experi überein. Als Schauspieler, Maler, Schriftsteller mentierfeld ist die Sprache, in der sich die Geschichte von Zoltán entfaltet. und Musiker kommen sie miteinander ins Ge- Der innere Reichtum ihrer Figur kommt in einer Spracharbeit zum Aus- spräch und begegnen sich zu einem Zeitpunkt druck, die von Musikalität und Klang bestimmt ist. «Ich höre dem Text zu», ohne feste Bleibe und sichere Zukunft. In der sagte die Autorin einmal in einem Interview. Mit Patrick Gusset hat sie in unausgesprochenen Solidarität der Fünf entsteht Basel einen Regisseur zur Seite, mit dem sie sich intensiv und produktiv für einen glücklichen Moment eine Gemein- über Aspekte des Theaters und des Fremdseins austauschen konnte. schaft, entfaltet sich beinahe zeitlos im Kleinen ‹Schildkrötensoldat› beschliesst den Reigen der diesjährigen Uraufführun- eine ganze Welt. Was die zufällig aneinander gen im Rahmen des Förderprogramms ‹Stück Labor›. Am Konzert Theater Geratenen verbindet, ist eine Treue zu sich Bern hatte im Februar Philipp Löhles ‹Wir sind keine Barbaren!› Premiere, selbst, ein Annehmen der eigenen Geschichte. worin die Grundwerte einer Gemeinschaft durch das Auftauchen eines Darin gleichen sie dem mythischen Sisyphos, Fremden aus dem Lot geraten. Das Luzerner Theater brachte im März das wie Albert Camus ihn aufgefasst hat. Stück ‹My only friend, the end› von Martina Clavadetscher heraus, das vom ‹Mittendrin. Ein Abend mit 5 Söhnen› ist die Alleinsein in der Gemeinschaft erzählt. In allen drei Stücken werden also 2. Produktion der Volksbühne Basel. Das 2012 Facetten des Fremdseins verhandelt, sei es zugeschrieben oder selbst ge- gegründete Kollektiv hat im vergangenen Jahr ‹Mittendrin. wählt. Da die Aufführungen in Bern und Luzern noch im Spielplan sind, mit ‹Selam Habibi›, einer berührenden Version Ein Abend mit steht kleinen Ausflügen nichts im Wege. von Romeo und Julia, seine Arbeit aufgenom- 5 Söhnen›, ‹Schildkrötensoldat›: ab Fr 16.5., 20 h (Premiere), Theater Basel u S. 32 Foto: Anina men. Die kulturelle Vielfalt der Mitwirkenden Jendreyko entzündete ein leidenschaftliches Spiel, das in Basel und Berlin für Begeisterung sorgte. Der Umstand, dass wir in einer Welt der Migrations bewegungen leben, bildete den Background. Bei der Geschichte vom Imbiss als Kreuzungs- punkt einander ähnlicher Menschen verhält es sich nicht anders. Die Regisseurin Anina Jen dreyko blickt zielgenau auf die heutige Gesell- schaft, in der Identität eine zentrale Frage dar- stellt. Ihr Stück bringt einen grossen Hunger nach Leben zum Ausdruck, der unser immer noch ‹nationales› Gesellschaftssystem kaum zu stillen vermag. Die Volksbühne Basel begibt sich auf eine Spurensuche entlang der Bruchlinien einer Welt, die nur in ihrer Vielfalt an Identitäten verstanden werden kann. ‹Mittendrin. Ein Abend mit 5 Söhnen›: Do 28.5. bis Sa 7.6., 20 h, Alte Markthalle, Steinen- torberg 20, www.volksbuehne-basel.ch 14 | ProgrammZeitung | Mai 2014
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