PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN

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PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Menschen, Häuser, Orte, Daten

         ProgrammZeitung
                                                                                        CHF 8.00 | EUR 6.50

                                                                              Mai 2014 | Nr. 295
                                       Kultur   im Raum Basel
Filmstill aus ‹Something Must Break›
Cover: 4. Bildrausch-Filmfest u S. 5
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Bücher-Netzwerke
dagm a r bru n n e r

   Editorial. 2012 wurde die Kulturvermittlerin Bettina
Spoerri zur neuen Leiterin der Solothurner Literaturtage
gewählt. Sie führte die 35. Ausgabe 2013 erfolgreich durch,
trat aber bald danach zurück, weil sie die Strukturen als
einengend und unprofessionell empfand und übernahm die
Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg.
Die Solothurner Literaturtage blieben indes in Frauenhand.
Die Gesamtleitung der 36. Ausgabe liegt bei Reina Gehrig,
die bereits in zahlreichen Kulturbetrieben tätig war (u.a. im
Basler Gare du Nord) und in der Geschäftsführung mit Beat
Mazenauer und Franco Supino sowie der Programmkom-                                                              Abb. aus Hugh Raffles/Judith Schalansky (Hg.),
mission von versierten Fachleuten unterstützt wird. In kur-                                                     Insektopädie, Verlag Matthes & Seitz, Berlin.
                                                                                                                380 S., 80 Abb., CHF 47.90
zer Zeit mussten neue Strukturen und ein attraktives Pro-
gramm erarbeitet werden, was scheinbar gelungen ist; der
traditionelle ‹Dichtertreff› im Mittelland ist reich bestückt:        gen und eigenwilligen wie präzisen und sensiblen Beobach-
70 Autorinnen und Autoren, darunter ein Dutzend auswär-               terin menschlicher Befindlichkeiten und der Gegenwart.
tige wie Aris Fioretos aus Schweden, Claire Keegan aus Ir-            Ihre Bücher sind Gesamtkunstwerke, vereinen gutgeschrie-
land, Katja Petrowskaja aus Berlin bzw. der Ukraine und               benen, originellen Inhalt mit sorgfältig konzipierter, kon-
Gerhard Rühm aus Österreich sowie heimische aus allen                 genialer Form, verlieren dadurch jeden Warencharakter
Landesteilen werden aus neuen Werken lesen. Preisträger,              und bereiten nachhaltig Freude (etwa ihr ‹Atlas der abgele-
Übersetzerinnen und VerfasserInnen von Jugendliteraur                 genen Inseln›). Was unzeitgemäss erscheint, hat Erfolg,
sind ebenfalls vor Ort, und die Begleitveranstaltungen sind           Schalanskys Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und
vielfältig: Hommage an Hermann Burger, Gesprächsrun-                  übersetzt. Nun kommt die Vielseitige, für die das Buch u.a.
den, Schreibwerkstatt, Live-Hörspiel, Konzerte, Filme, Aus-           «ein trostspendendes Medium» ist, im Rahmen ihrer Preis-
stellung, Zukunftsatelier, Fussballmatch und Preisverlei-             Lesereise auch nach Basel. Wer Bücher liebt, wird den
hung. Dies alles dient nur dem einen Ziel: dem Buch, der              Abend ebenso geniessen wie die Auffahrtstage in Solo-
Literatur, den Schreibenden Plattformen und Vernetzungs-              thurn.
möglichkeiten zu bieten.                                              36. Solothurner Literaturtage: Fr 30.5. bis So 1.6., div. Orte,
Das will auch das Netzwerk der Literaturhäuser, dem elf               www.literatur.ch
Einrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz              Ausserdem: 28. Salon du Livre: Mi 30.4. bis So 4.5., Genf,
angehören, darunter das Literaturhaus Basel. Ein wichtiges            www.salondulivre.ch, 31. Foire du livre: Fr 9. bis So 11.5., Saint-Louis,
                                                                      www.foirelivre.com
Projekt dieses Vereins ist (seit 2002) die jährliche Vergabe
eines ‹Preises der Literaturhäuser›. Er wurde heuer der               Judith Schalansky: Mi 14.5., 19 h, Literaturhaus Basel.
                                                                      Laudatio: Alexander Honold
ostdeutschen Buchgestalterin, Autorin und Herausgeberin
Judith Schalansky (geb. 1980) verliehen, einer ebenso klu-

            Hauskultur                             sechs Qualitätsgrundsätze einzuhalten und sind
                                                   durch einen blauen Aufkleber gekennzeichnet.
db. An einer Tagung, die vom SKM – Studienzen-     Abgesehen davon, dass auch die ProgrammZei-
trum Kulturmanagement lanciert wurde, wollen       tung z.T. an diesen Orten verkauft wird, schlies-
teils prominente Kulturschaffende und -interes-    sen wir uns der sinnvollen Devise gerne an:
sierte über Herausforderungen, Trends und          ‹Denk weiter – kauf näher: Buy local›!
‹Strategien für die Kulturszene Schweiz› nach-     Die Auswirkungen der Mindestlohninitiative
denken und diskutieren. Auf die hoffentlich        (18.5.) auf Kulturhäuser hat bereits unser Part-             Inhalt
wegweisenden Erkenntnisse werden wir ggf. zu       ner-Kulturmagazin 041 in Luzern untersucht.
                                                                                                                Redaktion                                                   3
einem späteren Zeitpunkt eingehen.                 Fazit: Die meisten Betriebe kämen bei einer An-
Über ihre Zukunft haben sich auch die unabhän-     nahme kaum darum herum, Stellen und Ange-                    Kulturszene                                               24
gigen, persönlich geführten Basler Geschäfte       bote abzubauen. Viele Kulturschaffende seien
                                                                                                                Agenda                                                    53
Gedanken gemacht, die sich zum Netzwerk ‹buy-      froh, «mindestens Lohn zu haben», frotzelte ein
local.ch› zusammengeschlossen haben. Die Initi-    Kollege …                                                    Kurse                                                     91
ative, die es auch in Deutschland gibt, ging von   Strategie-Tagung: Di 13.5., Gare du Nord                     Impressum                                                 91
zwei Buchhändlerinnen aus (Isabelle Hof, Gan-      Anmeldung: www.skm-kulturmanagement.ch
zoni, Basel, und Maya Itin, Rapunzel, Liestal)     Aktionswochen: Di 6. bis Sa 17.5., www.buy-local.ch          Ausstellungen & Museen                              92 | 93
und strebt durchaus einen landesweiten Ver-        Kultur-Mindestlöhne: www.null41.ch (Februar)                 Essen & Trinken                                           94
bund an. Mit dem Label werden die Vorzüge die-
ser Kleinbetriebe betont. Sie verpflichten sich,                                                                Kultursplitter                                            95
                                                                                                                                              Mai 2014 |   ProgrammZeitung | 3
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CONCERTS AURORE BASEL
 Sonntag, 25. Mai 2014, 17 Uhr
       Wildt’sches Haus,
     Petersplatz 13, Basel

      Johannes
       Brahms
C. Coin, H. Mätzener, J.-J. Dünki
    www.concertsaurore.ch

   Stadt- und Naturführungen

 Basel natürlich
     2014
   Das Jahresprogramm ist
        erhältlich bei:
    Basel Tourismus, Zolli,
 wägwyser GGG Sternengasse,
     Naturhistor. Museum
       Ökostadt Basel
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Abenteuer des Sehens
i ng o s ta r z

                                                                                                                                                         Filmstill aus
                                                                                                                                                         ‹Das grosse
                                                                                                                                                         Museum›

    Das Filmfest ‹Bildrausch› präsentiert                         Bildern berauschen lassen. Dabei ist es oft die Stille, sind
    visuelle Leckerbissen.                                        es die ruhigen Einstellungen, die einen in den Bann zie-
Manche werden sich an Gustav Deutschs ‹Shirley. Visions of        hen. In Athanasios Karanikolas Film ‹Sto spiti / At home›
Reality› erinnern, den letztjährigen Eröffnungsfilm von ‹Bild­    wird keine griechische Tragödie erzählt, eher gleicht das
rausch›. Er durchmass in hinreissender Weise Bildräume            Geschehen einem Abgesang. Die im Zuge der Finanzkrise
des amerikanischen Malers Edward Hopper. Auch in die-             erodierenden gesellschaftlichen Bande werden am Beispiel
sem Jahr steht ein österreichischer Film am Anfang und            der Haushälterin Nadja vorgeführt, die einer Familie der
wiederum mit Referenz zur bildenden Kunst: ‹Das grosse            griechischen Oberschicht nahesteht. Ihre schwere Krank-
Museum›, ein Dokumentarfilm von Johannes Holzhausen,              heit und finanzielle Probleme des Hausherrn führen zur
eröffnet einen faszinierenden Blick in den Betrieb des            Kündigung. Die emotionale Bindung Nadjas zur Familie
Kunsthistorischen Museums in Wien. Man schaut hinter              aber bleibt, was der Film eindringlich vor Augen führt.
die Kulissen, folgt wissenschaftlichen und technischen Mit­       In einer träumerischen Logik, die an Werke von Fellini
arbeiterInnen auf ihrem Weg durch das Haus, wird auf-             und Kusturica erinnert, kann man sich in Alejandro Jodo-
merksam auf den Balanceakt einer Institution zwischen             rowskys ‹La Danza de la Realidad / The Dance of Reality›
Gedächtnisort und Kulturdienstleister.                            verlieren. Der Film verbindet die Autobiografie des Film-
Als Nicole Reinhard und Beat Schneider vor drei Jahren            regisseurs mit mythologischen und poetischen Bildern, die
‹Bildrausch› ins Leben riefen, fragte man sich, ob ein weite-     zum Bekenntnis eines Bildermachers verschmelzen. «Die
res Filmfestival vonnöten sei. Die Antwort lieferte das Pro-      Geschichte meines Lebens ist gekennzeichnet durch ein
gramm: Eine erlesene Auswahl filmkünstlerischer Werke             ständiges Bemühen darum, die Vorstellungskraft und deren
und vielfältige Begegnungen mit Filmschaffenden liessen           Grenzen zu erweitern.» ‹Bildrausch› wird fraglos die Imagi­
das Cineasten-Herz höher schlagen. Angeregt durch die             nation seiner Gäste beflügeln und in der Festivallounge im
Viennale, das Wiener Filmfestival, hat das Kuratorenduo           Werkstattraum der Kunsthalle für Gesprächsstoff sorgen.
ein ‹Festival der Festivals› geschaffen, wo staunenswerte         4. ‹Bildrausch›-Filmfest: Mi 28.5. bis So 1.6., Stadtkino Basel und Kultkino
und herausfordernde Filme einen ebenso intimen wie idea-          Atelier, www.bildrausch-basel.ch
len Aufführungsort finden.
Im internationalen Wettbewerb ‹Cutting Edge› werden 14                                                             Besondere Filme
Filme gezeigt. Ein Schwerpunkt widmet sich dem däni-                                   db. Das Neue Kino Basel präsentiert im Mai eine Auswahl neuerer
schen Filmregisseur Nils Malmros, der mit seinem jüngsten                              Filme von und mit Indigenen aus Nordamerika. Alle wurden am
Film ‹Sorg Og Glæde / Sorrow and Joy› auch am Wettbe-                                  American Indian Film Festival ausgezeichnet und erzählen von
werb teilnimmt. Ferner gibt es in Zusammenarbeit mit den                               Tradition und Gegenwart der indianischen Bevölkerung. –
Basler Medienwissenschaften ein ‹Wahrnehmungslabor 3D›                                 Die LiebhaberInnen von Gay-Filmen kommen an verschiedenen
zu sieben Filmwerken sowie ein Kurzfilmprogramm mit fünf                               Festivals im In- und nahen Ausland auf ihre Kosten. Am grössten
Filmen. Als Specials sind Edgar Reitz’ ‹Die andere Heimat                              schwullesbischen Filmanlass der Schweiz, ‹Pink Apple›, werden
– Chronik einer Sehnsucht› und Frederick Wisemans ‹At                                  über 80 Filme aus aller Welt gezeigt, begleitet von Podien und
Berkeley› zu sehen. Diskussionen und eine Preisvergabe                                 Vorträgen.
runden den Anlass ab.                                                                  Indian Films: jeden Do/Fr, Neues Kino Basel, www.neueskinobasel.ch
    Im Sog der Bilder. Das Basler Filmfest ist vor allem eines:                        Gay-Filme in Zürich, Frauenfeld und Freiburg i.Br.: www.pinkapple.ch,
ein Abenteuer des Sehens. In wenigen Tagen kann man sich                               www.schwule-filmwoche.de, www.freiburger-lesbenfilmtage.de
von avancierten Ästhetiken mit ihrer Fülle an betörenden                               Weitere Filmfestivals: www.visionsdureel.ch, www.videoex.ch

                                                                                                                                         Mai 2014 |   ProgrammZeitung | 5
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Der besessene Kunstverbesserer
                                                           a l f r e d s c h l i e nge r

          Junges Driften
              a l f r e d s c h l i e nge r
               ‹Left Foot Right Foot›.
Das Thema ist nicht neu, und doch findet es in
diesem Schweizer Spielfilm einen ganz eigenen
Ton. ‹Left Foot Right Foot› von Germinal Roaux
zeigt das orientierungslose Dahintreiben eines
jungen, kaum der Adoleszenz entwachsenen
Paares. Vincent (Nahuel Perez Biscayart) ist pas-
sionierter Skater, was seinen flirrenden Zustand
schön untermalt. In den Gelegenheitsjobs hält es
ihn nicht lange. Eigentlich sucht er nur Arbeit,
weil er lästige Schulden am Hals hat. Hinge-
bungsvoll sorgt er jedoch für seinen autistischen
Bruder Mika (Dimitri Stapfer). Freundin Marie
(Agathe Schlencker) lässt sich als Hostess in einem
                                                           Filmstill aus
Club anwerben und driftet halb neugierig, halb             ‹Die Kunst der         ‹Die Kunst der Fälschung› zeigt, wie’s gemacht wird.
widerständig in prostitutive Bereiche ab. Wie              Fälschung›         Gleich zwei Geschichten erzählt dieser Dokumentarfilm: von einem geris-
seine Hauptfiguren erklärt auch der Film nicht                                senen Fälscher, der ausgewiesene Kunstfachleute während Jahrzehnten
viel, er tastet sich gekonnt lakonisch hinein in                              hinters Licht führt, und, nicht minder spannend, von den Gesetzen eines
diese Rutsch- und Schwebepartien ungesicher-                                  gierigen Kunstmarkts, der den Hals nicht voll genug kriegen kann.
ter Existenzen.                                                               Regisseur Arne Birkenstock ist es offenbar gelungen, zum überführten
Was diesen jungen Film zudem auszeichnet, ist                                 deutschen Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi (geb. 1951) ein Vertrauens-
seine kunstvolle, aber nicht gekünstelte Mach-                                verhältnis aufzubauen, das diesen frisch von der Leber weg erzählen und
art. Die Schwarzweissbilder sind von stimmiger                                zeigen lässt, wie er bei seinen Fälschungen grosser Meister vorgegangen
Schönheit und Tristesse. Immer mal wieder                                     ist. Oder ist es einfach der Narzissmus eines begabten Nachahmers, der
schaut die Kamera auf die Füsse der Menschen                                  immer auch darunter gelitten hat, dass seine Bilder zwar in allen mög­
und schweift ab in den Himmel, folgt dem hin-                                 lichen Museen hängen, aber niemand weiss, dass er sie gemalt hat? Beltrac-
reissenden Flug von Vogelschwärmen. In dieser                                 chi gibt sich jedenfalls unglaublich entspannt, changiert kokett zwischen
Spannung lassen sich Marie und Vincent durchs                                 Understatement und Grössenwahn und sonnt sich im Interesse an seiner
Leben treiben. Der Film versteckt nicht, dass er                              Begabung – und seiner kriminellen Energie.
Vorbilder hat. So erinnert er an das Skater-Drama                             Malen sei für ihn, meint er beiläufig, «wie Zähneputzen, nichts Heiliges».
‹Paranoid Park› von Gus Van Sant, an ‹Oh Boy›                                 Und natürlich könne er alles nachahmen, auch Leonardo, auch Rembrandt,
von Jan-Ole Gerster oder an ‹What’s Eating Gil-                               manches werde unter seinem Pinsel gar besser als im Original. Rund 300
bert Grape› von Lasse Hallström, in dem der junge                             Werke von 80 Künstlern hat Beltracchi im Verlauf von 40 Jahren gefälscht.
Leonardo DiCaprio als behinderter Bruder von                                  «Ich hätte 2000 Bilder malen können, und der Markt hätte es aufgenom-
Johnny Depp seine erste Paraderolle ablieferte.                               men», sagt er.
Bei der jüngsten Verleihung der Schweizer Film-                                   Echter Staub. Zwei Möglichkeiten zur Fälschung gibt es grundsätzlich:
preise wurde ‹Left Foot Right Foot› für die beste                             Man kopiert ein reales Bild, das verschollen ist, oder man erfindet ein neues,
Kamera und für die beste Nebenrolle (Dimitri                                  imaginäres, das aber gut in die Lücke eines Gesamtwerks hineinpasst.
Stapfer als Autist) ausgezeichnet. Hochverdient.                              Beltracchi war in beidem ein Meister. Er legte Spuren, erfand Geschich-
Der Film läuft ab 15.5. in einem der Kultkinos u S. 50   Filmstill aus        ten, erklärte den verstorbenen Grossvater seiner Frau zu einem heimlichen
                                                         ‹Left Foot           Kunstsammler, aus dessen Fundus er immer wieder neue Fundstücke auf-
                                                         Right Foot›
                                                                              tauchen liess.
                                                                              Das Fälschen aber beginnt gar nicht beim Malen. Sondern bei der richtigen
                                                                              Unterlage, bei zeitechten Rahmen. Die stöbert Beltracchi auf Flohmärkten
                                                                              auf, schabt die Farbe ab und trägt sein neu-altes Bild auf. Zum Schluss wird
                                                                              wieder der richtige alte Staub unter den Bilderrahmen gemischt. Der Teufel
                                                                              steckt im Detail. Mit seinen Fälschungen von Max Ernst, Heinrich Campen-
                                                                              donk oder Max Pechstein erwirtschaftete sich Beltracchi Abermillionen,
                                                                              führte ein High Life zwischen Côte d’Azur, Karibik und Süddeutschland.
                                                                              Und weil im Kunstmarkt das Interesse am Finanziellen alles überwiegt,
                                                                              gibt es in diesem System auch niemanden, der möchte, dass ein Bild als
                                                                              gefälscht erkannt wird. Denn alle profitieren von der ‹Echtheit›, auch die
                                                                              ExpertInnen mit ihren hohen Honoraren.
                                                                              Der Film läuft ab Anfang Mai in einem der Kultkinos.

6 | ProgrammZeitung | Mai 2014
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Innigkeit statt Perfektion
a l f r e d s c h l i e nge r

   Bruno Molls ‹Schubert und ich› spürt dem individuellen Wesen
   der Musik nach.
Da fasziniert zuerst einmal die unglaublich entspannte Herangehensweise.
Die gleichzeitig die höchste Intensität, den tieferen Gehalt im Forschungs-
gegenstand aufzuspüren sucht. Der vielseitige Schweizer Dokumentarfil-
mer Bruno Moll (‹Pizza Bethlehem›, ‹Brain Concert›) begleitet diesmal den
Musiker und Komponisten Marino Formenti, der genug hat von der Perfek-
tion der Konzertsäle, vom Stimmenfetischismus im professionellen Musik-
betrieb. Er will raus aus der Kunstecke und sucht deshalb Laien ohne ge-
sangliche Vorbildung, die bereit sind, mit ihm Franz Schuberts Lieder auf
ihre Gegenwärtigkeit hin abzuklopfen. Funktionieren diese wehmütigen
Gesänge noch als Geschichten von heute?
Formenti packt sein E-Piano ein und reist nach Wien. Hier findet er den
Ökonomen Johann, die Multimediakünstlerin Julia, den Biophysiker Vedran,
den Studenten Ahmed, den Musikjournalisten Heinz und übt mit ihnen in
sanftem Ringen verschiedene Schubertlieder ein. «Wie viel Zeit haben wir?»,
fragt der Ökonom. «Fünf Monate, fünf Jahre, was du willst», antwortet der
                                                                                                              Zersetzte Liebe
                                                                                                                  a l f r e d s c h l i e nge r
Musiker.
   Ermutigung zur Kreativität. Es sind zerbrechliche Stimmen, die sich                                            Nahost-Drama ‹Omar›.
da in ihren Privaträumen an dieses Projekt wagen. Keine hätte wohl eine                              Mit seinem differenzierten Spielfilm ‹Paradise
Chance bei gängigen Castingshows. Aber genau darin liegt der Reiz. In der                            Now› über zwei palästinensische Selbstmord­
tastenden Annäherung, in der unangestrengten Ausweitung der Möglich-                                 attentäter sorgte der Regisseur und Drehbuch­
keiten, im Verinnerlichen des ganz persönlichen Ausdrucks. Und sehr bei-                             autor Hany Abu-Assad 2006 weltweit für Auf­
läufig werden auch grosse Fragen angeschnitten, von Glaube und Moral,                                sehen, gewann den Golden Globe für den besten
Sexualität und Einsamkeit, Führung und Gehenlassen.                                                  fremdsprachigen Film und wurde in derselben
Bruno Molls und Marino Formentis ‹Schubert und ich› ist mehr als eine                                Kategorie auch für den Oscar nominiert. Jetzt
Ermutigung zur künstlerischen Kreativität für jeden Menschen. Der Film                               legt er mit ‹Omar› ein weiteres Werk vor, das im
nimmt uns mit in die Intimität dieser Probenprozesse. «Wenn ich blödeln                              Konfliktbereich zwischen Palästina und Israel
dürfte, würd’s mir leichter fallen», meint die Multimediakünstlerin. Sie                             spielt. In Cannes wurde es bereits mit einem
darf natürlich. Man erlebt den Kampf mit Grenzen, das Aufbrechen ver-                                Sonderpreis der Jury ausgezeichnet und ist
schütteter Teile der eigenen Biografie. Und nicht zuletzt die stille Grösse                          erneut für den Oscar nominiert.
von Schuberts Liedern im nichtperfekten Vortrag. Je inniger, umso ge-                                ‹Omar› erzählt eine Freundes- und Liebesge-
schlossener sind die Augen. Man übt in engen Küchen, in weiten Salons, in                            schichte unter den Bedingungen der Besatzung in
der Badewanne. Und oft haben die Übenden ihren Schubert einfach im                                   der Westbank. Omar, Tarek und Amjad, die sich
Ohr, in der Bibliothek, in der U-Bahn, auf dem Laufband im Fitnesscenter.           Filmstills aus   seit Kindsbeinen kennen, sind in einer Wider-
                                                                                    ‹Omar› (oben),
Es ist das Gegenteil einer Trivialisierung. Wer singt, wird diesen Film sehen       ‹Schubert        standsgruppe organisiert. Bei einem Anschlag auf
wollen. Andere könnten zum Singen finden. Und zu Schuberts Wehmut.                  und ich›         einen Armeeposten töten sie einen israelischen
                                                                                    (links Marino    Soldaten. Omar wird verhaftet und soll im Ge-
Der Film läuft ab So 11.5. im Rahmen des Basler Musikprojekts ‹reinhören› u S. 11
                                                                                    Formenti)
                                                                                                     fängnis zu einem Kollaborateur mit den Israelis
                                                                                                     umfunktioniert werden.
                                                                                                     Als Omar überraschend freikommt, hält man ihn
                                                                                                     für einen Verräter. Auch Nadia, Tareks Schwes-
                                                                                                     ter, die er liebt und heiraten will, kann ihm nicht
                                                                                                     mehr trauen. Es kommt zu einem verstörenden
                                                                                                     Showdown, in dem die eng geknüpften Bezie-
                                                                                                     hungen von Vertrauen, Freundschaft und Liebe
                                                                                                     aufs Schmerzlichste zersetzt werden. Wie schon
                                                                                                     in ‹Paradise Now› verherrlicht Abu-Assad keines-
                                                                                                     wegs die Gewalt. Er zeigt vielmehr, wie sie ent-
                                                                                                     steht und wohin sie führt. Und alles in einem
                                                                                                     sehr begrenzten, authentisch wirkenden Setting
                                                                                                     von ganz wenigen Personen. Bemängeln kann
                                                                                                     man allerdings, dass die brutalen Folterverhöre
                                                                                                     mit ihrem Licht- und Schattenspiel arg ästheti-
                                                                                                     sierend wirken.
                                                                                                     Der Film läuft ab 29.5. in einem der Kultkinos u S. 50

                                                                                                                                  Mai 2014 |   ProgrammZeitung | 7
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Neuentdeckter Tastensinn
s t e fa n f r a nz e n

    Die Konzertreihe ‹Piano Di Primo al Primo Piano› in Allschwil.
Im Jazz ist es zentrales Instrument und gerade deshalb stetigem Wandel
                                                                                                                         Grenzgänge
unterworfen. Nach Tastenvirtuosen wie Thelonious Monk, Oscar Peterson                                                      dagm a r bru n n e r
oder Bill Evans versuchen auch heutige InterpretInnen, das Piano von kon-                                                   Jazz, Tango & mehr.
ventionellen Vokabeln zu befreien. Vor allem im neuen europäischen Jazz                                     Seine Autobiografie von 2002 trägt den befremd-
wird mit Verbindungen zu Rock, Pop und Klassik experimentiert. Solch                                        lichen Titel ‹Als weisser Neger geboren›. George
spannende Grenzüberschreitungen lassen sich während einer sommer­                                           Gruntz, Jahrgang 1932, spielte mit afroamerika-
lichen Konzertreihe hautnah in stimmungsvollem Ambiente verfolgen.                                          nischen Kollegen, als deren Diskriminierung
Eingeladen hat das Organisationsteam um Béa Boenzli etwa den finni-                                         noch ‹normal› war. Der Basler trat schon mit 16
schen Giganten Iiro Rantala, der schon wiederholt beim Jazzfestival Basel                                   als Jazzpianist auf, wurde mit 31 Berufsmusiker,
zu hören war. Von seinem Soloauftritt kann man erwarten, dass er die Ver-                                   spielte mit den Besten seines Fachs und kannte
knüpfungen von Bach-Interpretationen, urwüchsiger Rockmotorik und                                           zahlreiche Grössen des internationalen Kultur-
melodischen Lyrizismen noch intensiver herausmeisselt als im Ensemble.                                      betriebs, etwa Rolf Liebermann, Allen Ginsberg,
Rantala erneuert die Pianosprache einerseits mit Zitaten aus der klassi-                                    Robert Wilson. Vielseitig und neugierig, verband
schen Sphäre, die er auf seine Spielweise überträgt. Doch er hat auch keine                                 er Klassik, Jazz und Volksmusik aus aller Welt,
Berührungsängste vor der Ära des Swing und Bebop, zugleich zaubert er                                       komponierte für Orchester, Theater, Ballett und
auch mal einen Hendrix aus dem Hut. Das Resultat nennt er ganz selbst­                                      Film. Mit seiner 1972 gegründeten Concert Jazz
bewusst ‹My History Of Jazz›.                                                                               Band tourte er jährlich um den Globus und blieb
    4 Solos und 1 Duo. Das Spiel von Stefan Rusconi als ‹sophisticated› zu                                  auch nach seiner Krebserkrankung kreativ und
bezeichnen, ist durchaus gerechtfertigt, trifft den Kern der Sache aber nur                                 aktiv. Wenige Monate nach seinem 80. Geburts-
halb. Sonst vor allem mit seinem Trio unterwegs, hat der Zürcher für seinen                                 tag starb er im Januar 2013. Die Pläne für ein
Solo-Act das vielsagende Thema ‹Randspiele› kreiert und interpretiert eigene                                Programm mit der Basel Sinfonietta konnte er
Stücke und Lieder in einer Sphäre zwischen zugänglichem Pop-Appeal und                                      nicht mehr verwirklichen; das Orchester spielt
Avantgarde. Rusconis Universum scheint keine Grenzen zu kennen: Der                                         nun ein Konzert, das sein vielfältiges Schaffen
musikalische Freigeist erkundet die Innenwelt seines Flügels, ist neugie-                                   zum Ausdruck bringen will. –
rig auf Fernöstliches, Psychedelisches und Minimal Music, kann aber auch                                    Eine Hommage ist auch das Konzert der Gruppe
souligen Groove und Ohrwurm-Pop spielen.                                                                    Musique des Lumières. Und zwar an den grossen
Schliesslich der Schwede Martin Tingvall: Auch er hat sich aus seinem Trio                                  argentinischen Schriftsteller Julio Cortazar, der
herausgelöst, um solo seine Tugenden zu präsentieren. Und die bestehen                                      vor 100 Jahren geboren wurde und vor 30 Jahren
aus einem lyrischen Anschlag, der die Melancholie und Einsamkeit der                                        starb (auf einer seiner Kurzgeschichten basiert
skandinavischen Weite verkündet, aber auch klare, sonnige Stimmungen                                        z.B. Antonionis Film ‹Blow up›). Er lebte ab 1951
‹En ny Dag› verströmt. Tingvall orientiert sich dabei bewusst nicht an der                                  in Frankreich und war auch linkspolitisch aktiv.
amerikanischen Jazztradition, sondern knüpft wie sein Kollege Rantala an                                    Das Orchester ehrt seinen Landsmann mit eige-
den Ton abendländischer Komponisten von Bach bis Grieg an.                                                  nen Kompositionen, die unter der Leitung von
Umrankt werden die Auftritte dieser drei Stars von zwei Entdeckungen:                                       Facundo Agudin uraufgeführt werden und auch
Einmal gibt sich Fabian M. Mueller, neues ‹enfant terrible› des Schweizer                                   auf CD erhältlich sind. Im Anschluss an das
Pianojazz mit seinem Programm ‹Klingende Schatten› die Ehre, und zum                                        Konzert ist Tangotanz angesagt. –
Auftakt holen Lutz Gerlach und Ulrike Mai mit ‹Musica Mare› die Ostsee                                      Mit «waghalsiger Musik zwischen den Genres
ans Rheinknie.                                                                            Piano di Primo    und abseits des Mainstreams» feiert das Festival
‹Piano Di Primo al Primo Piano›, Untere Kirchgasse 4, Allschwil, www.piano-di-primo.ch:   al Primo Piano,   Taktlos in Zürich seinen 30. Geburtstag. Zu erle-
Gerlach/Mai: 10.5., Rantala: 7.6., Rusconi: 21.6., Müller: 19.7., Tingvall: 6.9.          Foto: Heiner      ben sind u.a. das Sun Ra Arkestra unter Marshall
                                                                                          Grieder
                                                                                                            Allen (die damit auch den 100. Geburtstag der
                                                                                                            exzentrischen Jazzlegende Sun Ra würdigen),
                                                                                                            das Barry Guy New Orchestra, Silvie Courvoisier
                                                                                                            & Mark Feldman, Charlotte Hug & Stefano Pas-
                                                                                                            tor, Musik aus Indien und Äthiopien usw.
                                                                                                            ‹A Tribute To George Gruntz›, Basel Sinfonietta und
                                                                                                            NDR Bigband, Leitung Jörg Achim Keller:
                                                                                                            So 18.5., 19 h, Stadtcasino u S. 42, sowie
                                                                                                            Sa 17.5., 19.30 h, KKL, Luzern
                                                                                                            Musique des Lumières, ‹Nuevo Tango Nuevo II›:
                                                                                                            Fr 2.5., 20 h, Gare du Nord u S. 39
                                                                                                            (Werke von Marcelo Nisinman, Julio Viera, Pablo Ortiz)
                                                                                                            30. Taktlos-Festival: Do 22. bis So 25.5., Rote Fabrik,
                                                                                                            Zürich, www.taktlos.com

8 | ProgrammZeitung | Mai 2014
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Klangfarben der Welt
s t e fa n f r a nz e n

    Mit Musik aus Mali, dem Libanon und Portugal
    klingt das Jazzfestival Basel aus.
Die bewährte Partnerschaft zwischen Kaserne und Offbeat
sorgt traditionsgemäss vor allem in der zweiten Hälfte des
Jazzfestivals für aufregende Weltmusikabende. In diesem
Jahr ist das nicht anders. Den Auftakt macht der Sohn einer
Legende: Auch wenn es die Übersetzung seines Namens
nicht vermuten liesse, ist er der Sprössling des grossen,
2006 verstorbenen Ali Farka Touré und führt den Wüsten-
blues seines Vaters mit neuen Mitteln ins 21. Jahrhundert.
Vieux Farka Touré fusionierte die ruppigen Fünftonskalen
vom Ufer des Niger mit Hardrock, Reggae, Dub und Blues-
rock, spielte mit John Scofield, Derek Trucks und Ivan
Neville. Trotz aller elektrischer Begeisterung bekennt er
jedoch: «Bei allem, was ich tue, liegt die Quelle in der Musik
meines Vaters. Es ist unmöglich, dass ich diese Tradition
vergesse.»
Sein neues Werk ‹Mon Pays› (‹Mein Land›) ist wieder eine
ganz akustische Sache geworden, denn eingedenk des poli-
tischen Konflikts verbeugt sich Vieux musikalisch vor sei-
ner Heimat Mali. «Ich konnte nicht einfach wieder ein
Rock’n’Roll-Album machen», erklärt der Musiker aus dem
Volk der Songhai. «Es ging mir darum, die Aufmerksamkeit
der Leute für meine Heimat zu bekommen, für die Vielfalt
unserer Kultur.» In seinem neuen Programm stimmt er des-
halb Lieder aus allen Traditionen der Völker Malis an, mit
Akustikgitarre, Spiesslaute, Kora, Kalebasse und vereinzel-
ten Pianophrasen.
    Orientalisches Erbe. Zu einem Star sog. Weltmusik ist
in den letzten Jahren auch der junge Ibrahim Maalouf aus
dem Libanon aufgestiegen. Er ist ein Zauberer der orienta-
lischen Trompete, und sein musikalischer Horizont spannt
sich weit. Zunächst tat er sich auf seinem Instrument als
Wunderkind der klassischen Musik hervor, wurde Meister-                                                                                    Vieux Farka
schüler von Maurice André. Doch der Vater, der eine Trom-        Geschichten zu erzählen. «Ich war immer eine sehr nach innen              Touré (oben),
pete entwickelt hat, die mit vier Ventilen die Mikrotöne         gewandte Person», bekennt sie im Interview, «und viel-                    Ana Moura,
                                                                                                                                           Fotos: zVg
der arabischen Skalen wiedergeben kann, machte ihn im            leicht hat mich deshalb der Fado so gefangen genommen,
Pariser Exil auch von klein auf vertraut mit dem Erbe der        denn er ist mysteriös, sinnlich und sehr direkt».
Heimat. «Ich habe das Privileg, mit einem Instrument, das        Ana Moura reichert ihr Repertoire mit innovativen Ansät-
per se okzidental ist, orientalische Musik zu spielen», erläu-   zen an, für die sie auch Songwriter und Sänger aus anderen
tert Maalouf. Aus den verschiedenen Lebenslinien schöpft         Genres ins Studio lädt. Ihr Credo: «Meine Arrangements
er seine individuelle musikalische Sprache.                      und die Intros der Stücke sind neuartig gestaltet. Nur so
Er experimentierte schon visionär mit Fanfaren vom               macht es Sinn, Lieder aufzunehmen, die schon tausendmal
Balkan, mit brasilianischem Trommel- und kubanischem             eingespielt worden sind. Dabei achte ich auch darauf, dass
Salsaorchester, lässt Heavy Metal und Michael Jackson            ich Texte verwende, die etwas mit der heutigen Zeit zu tun
antönen. Doch sein Meisterwerk ‹Wind› ist eine klare Ver-        haben. Natürlich wechseln Gefühle nicht von Generation
pflichtung gegenüber dem Cool Jazz seines grössten Idols         zu Generation. Die Art, wie wir damit umgehen, schon!»
Miles Davis. Maalouf ist einer der wenigen seiner Genera­        Diese Einstellung hat ihr sogar die Türen zur New Yorker
tion, die Jazzimprovisation, das Rüstzeug eines abendlän-        Carnegie Hall geöffnet und zu Duetten mit den Rolling
dischen Konservatoriums und die Farben der Welt zu einer         Stones und Prince. Mit ihrem geschmeidigen, kräftigen Alt
neuen Sprache vereinigen können, ohne dass der Spagat            voll geheimnisvoller, dunkler Schattierungen lässt diese
künstlich klingt.                                                portugiesische Diva niemanden kalt.
    Farbiger Fado. Fürs grosse Finale des Jazzfestivals ist      Vieux Farka Touré & Trio: Fr 2.5., 20 h, Kaserne Basel
eine herausragende Fadista unserer Tage angekündigt: Ana         Ibrahim Maalouf & Band: Sa 3.5., 20 h, Kaserne Basel
Moura zählt neben Mariza und Carminho zu den jüngeren,           Ana Moura & Grupo: Sa 10.5., 20.30, Foyer Theater Basel
                                                                 Programm: www.offbeat-concert.ch u S. 37
international bekannten Stimmen Lissabons, und sie weiss
in dem alten, zuweilen ritualisierten Genre durchaus neue
                                                                                                                           Mai 2014 |   ProgrammZeitung | 9
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Vielstimmiges von nah und fern
a l f r e d z i lt e n e r

                                                                                                                                                   Young People’s
    Das Jugendchor Festival bietet mit internationaler           dem Opernhaus in Tallin angeschlossen ist, wo einzelne                            Chorus of New
    Besetzung über 40 Konzerte.                                  Mitglieder auch solistisch auftreten.                                             York City,
18 hochkarätige Kinder- und Jugendchöre mit insgesamt            Das Festivalprogramm ist wie immer umfangreich und                                Foto: YPC

rund 800 Mitwirkenden treten im Hauptprogramm des                bezieht auch die Schweizer Nachbarschaft zwischen Rhein-
9. Europäischen Jugendchor Festivals im Raum Basel auf.          felden und Mariastein mit ein. Neben Konzerten zu allen
Sie stammen aus Weissrussland und den USA, aus Irland            Tageszeiten gibt es Anlässe zum Mitsingen, einen Sing-
und Island, aus Spanien und Israel – und natürlich aus der       match zwischen drei Chören und das Familienkonzert
Region. Dazu kommen in den Rahmenanlässen weitere                ‹Gruselgroove und Gänsehaut› mit dem Sinfonieorchester
einheimische Formationen. Als Auswahlkriterien nennt             Basel und regionalen Chören. Am Samstag-Nachmittag
Festivalleiterin Kathrin Renggli die künstlerische Qualität,     geht das Festival auf die Strasse: Auf sechs Bühnen in der
die Bühnenpräsenz und die Breite des Repertoires, das            Innenstadt sind dann alle Formationen zu hören. Unter-
auch Musik aus der eigenen Kultur umfassen soll – schliess-      stützt wird der Anlass u.a. von den Basler Kantonen, der
lich will das Festival möglichst vielfältig sein. Als Beispiel   CMS und erstmals vom Bundesamt für Kultur.
erwähnt sie den Hitziger Appenzeller Chor: Dessen Mix aus        9. Europäisches Jugendchor Festival: Mi 28.5. bis So 1.6., www.ejcf.ch
traditioneller Volksmusik, Rap und Pop finde man sonst
nirgends.
                                                                                                                 Stimmen & Bilder
Ein Schwerpunkt gilt in diesem Jahr «singenden Jungs». Es
                                                                                      db. Eine ganz besondere Aufführung von Händels Oratorium
werde immer schwieriger, erklärt Renggli, Buben und
                                                                                      ‹Messiah› ist im Münster zu erleben. Der Laien-Chor Cantabile
junge Männer für das Chorsingen zu begeistern. Es sei aber
                                                                                      aus Pratteln, der immer wieder ungewöhnliche Projekte realisiert
nicht so, dass sie nicht gern sängen: «Im Fussballstadion
                                                                                      und heuer sein 20-jähriges Bestehen feiert, singt unter der Lei-
tun sie es ja auch.» Aber das Angebot traditioneller Knaben-
                                                                                      tung seines Gründers Bernhard Dittmann das dreiteilige Werk
chöre decke nicht alle Bedürfnisse. Vier unterschiedliche
                                                                                      von 1741. Dazu wurde von Erich Busslinger eine Bild- und Licht-
Formationen, darunter die Knabenkantorei Basel, treten
                                                                                      choreografie entwickelt, die aus der christlichen Tradition sowie
am Festival auf, und bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion
                                                                                      Gegenwartsbezügen schöpft und sich mit dem Librettotext und
diskutieren deren Leiter Strategien zur Problemlösung.
                                                                                      der Musik zu einer visuell-akustischen Meditation verdichtet.
    Knabenchöre im Fokus. Die Spannweite zeigt Renggli an
                                                                                      Die Bildkomposition wurde in Kooperation mit verschiedenen
zwei Beispielen. The Choristers of Jesus College Cambridge
                                                                                      Museen (Unterlinden Colmar, Pinakothek München und Kunst-
ist ein konventioneller Chor in der kirchlichen Tradition.
                                                                                      museum Basel) erarbeitet.
Francisco Nunez vom Young People’s Chorus of New York
                                                                                      Cantabile Chor und Cappriccio Orchester Basel mit ‹Messias›:
City hingegen lässt Boys und Girls teilweise unterschied­
                                                                                      Sa 17./So 18.5., 19.30, Basler Münster (mit Bildern), sowie Fr 23./Sa 24.5.,
liches Repertoire singen und gibt den Burschen dabei Ge-                              19.30, Christkath. Kirche St. Martin, Rheinfelden (ohne Bilder) u S. 40
legenheit, sich auch körperlich auszutoben, z.B. im virilen,                          Ausserdem: Gesangstraditionen aus aller Welt versammeln sich
von Liedern begleiteten Gum Boot Dance. Eine besondere                                am 6. Klangfestival ‹Naturstimmen› im Toggenburg: Mi 28.5. bis Mo 9.6.,
Stellung hat der Estonian National Opera Boys’ Choir, der                             www.klangwelt.ch

10 | ProgrammZeitung | Mai 2014
Einfach in Ruhe zuhören ...
a l f r e d z i lt e n e r

    Das Projekt ‹reinhören› sorgt für Musikgenuss.
Als Gegenmodell zu exzessiver ‹Event-Kultur› verstehen die Mitglieder des
                                                                                                                             Ton & Text
Vereins Pro Münsterplatz ihr Projekt ‹reinhören›. Eine Reihe ungewöhn­                                                      dagm a r bru n n e r
licher Konzerte soll dem Publikum Konzentration und Entschleunigung                                                        Kreative Verbindungen.
ermöglichen. Die Anregung dazu stammt aus Berlin, wo der Pianist Marino                                      Das Sinfonieorchester Basel verknüpft in seiner
Formenti drei Wochen in einem eigens aufgebauten japanischen Haus täg-                                       Reihe ‹Schwarz auf Weiss›, die es mit der Papier-
lich zwölf Stunden lang spielte, für alle, die frei kommen und gehen und im                                  mühle veranstaltet, Musik und Literatur (Kon-
Sitzen oder Liegen zuhören konnten. Ein ähnliches Haus will nun auch auf                                     zept Christian Sutter). Der letzte Anlass der Sai-
dem Münsterplatz zu akustischen Erlebnissen einladen. Studierende des                                        son ist dem Thema ‹Unterwegs / On The Road›
Instituts für Innenarchitektur und Szenografie der HGK haben dafür eine                                      gewidmet. Die Texte stammen von zwei ameri-
Kombination ineinander verschränkter Kuben entworfen, die sich perfekt                                       kanischen Autoren der Beat Generation, Jack
zwischen die Bäume einfügt. Gespielt wird täglich acht Stunden; wie in                                       Kerouac und Allen Ginsberg, vom US-Lyriker
Berlin ist der Zugang frei und unentgeltlich.                                                                Walt Whitman sowie vom deutschen Dichter
Das Programm ist vielseitig. Die ersten fünf Tage wird Formenti solo bestrei-                                Wilhelm Müller, dessen ‹Winterreise› von Schu-
ten, danach sind ganz unterschiedliche KünstlerInnen, vor allem aus der                                      bert vertont wurde. Dazu erklingt denn auch
Region, zu erleben. Viele haben sich um einen Auftritt beworben, weil das                                    Schuberts kurz vor seinem Tod komponiertes,
Langzeitformat sie interessierte. Das Spektrum reicht dabei von traditionel-                                 traumhaft-wehmütiges Streichquintett C-Dur,
ler Volksmusik bis zu Improvisationen, die das Publikum mitgestalten kann.                                   D 956, das von Sehnsucht und rastlosem, unste-
Die Geräusche von aussen werden dabei zu einem Teil des Konzerts. Einen                                      tem Dasein erzählt. –
Schritt weiter geht das Vokalensemble Thélème; die Singenden agieren hin-                                    Dem Unbehagen an der aktuellen Finanz- und
ter drei Bildschirmen, die live das Geschehen im Aussenraum zeigen.                                          Wirtschaftskrise verleihen vier Komponierende
    Klang-Erkundungen. Etliche Mitwirkende kombinieren Musik und Wort,                                       und drei Schreibende mit ihren Mitteln Aus-
etwa die Gruppe Matterhorn Produktionen, die Schubert-Lieder über das                                        druck. Ausgehend von Medienmeldungen der
Wandern mit Aussagen von Asylsuchenden (s. S. 15) verbindet. Verspielter                                     letzten Monate kommentieren Ruth Schweikert,
ist der Abend mit den ‹Exercices de style› von Raymond Queneau, der eine                                     Jürgen Theobaldy und Guy Krneta (Texte) sowie
Alltagsbegebenheit zum Ausgangpunkt nimmt für eine amüsante Reise                                            Alex Buess, Thomas Lauck, Daniel Ott und Rico
durch den Reichtum der Sprache in 99 Variationen. Desirée Meiser liest auf                                   Gubler (Musik) das Zeitgeschehen; es spielt das
Französisch und in deutscher Übersetzung; musikalische Improvisationen                                       Basler Ensemble Kontur. –
und visuelle Umsetzung ergänzen den Text.                                                                    Zu einem ‹Kriminalkonzert› laden das Kriminal-
Zum genauen Hinhören will Jean-Jacques Dünki mit Musik für vier sehr                                         klangensemble und der Sprecher Thomas Doug-
unterschiedliche Tasteninstrumente verführen: Flügel, Cembalo, Clavi-                                        las ein. Zum Einsatz kommen Profis an Posaune
chord und Celesta. Am Schluss wird der Pavillon in ein grosses Instrument                                    und Schlagzeug sowie ein versiertes Zitherquar-
verwandelt, mit Klangobjekten und im Raum gespannten Saiten, mit denen                                       tett. Sie gestalten Graham Greenes Roman ‹Der
die Gäste ihre eigene Musik erzeugen können. Workshops mit Schulen                                           dritte Mann›, den Orson Welles verfilmt hat,
beschliessen den Anlass.                                                                                     nach einer Komposition von Georg Haider und
                                                                                             ‹reinhören›,
‹reinhören›: So 11. bis Di 27.5., täglich 14–22 h, Münsterplatz u S. 41                      Schnittbilder   unter der Regie von Klaus Brömmelmeier. –
Mehr zu Marino Formenti in Bruno Molls Film ‹Schubert und ich› u S. 7                        der Architek-   Tierbeschreibungen einer holländischen Kinder-
So 11.5., 11 h (mit Marino Formenti), Di 13.5., 18 h, und So 18.5., 11 h, Kultkino Atelier   ten Adrian      buchautorin liegen dem musikpädagogischen
                                                                                             Beerli und
Mehr zu Matterhorn Produktionen u S. 15                                                      Stefan Waser,   Theaterprojekt ‹Faultier, Yak & Kakerlak› zu-
                                                                                             FHNW HGK        grunde. Junge SchülerInnen der Schola Canto-
                                                                                                             rum Basiliensis (SCB) präsentieren mit ihren In-
                                                                                                             strumenten eine komponierte und improvisierte
                                                                                                             Collage aus Tier-/Naturlauten und -geschichten.
                                                                                                             Die von einem Studenten der SCB geschriebenen
                                                                                                             Musikstücke sind einfach gehalten, sodass alle
                                                                                                             mitmachen können, und werden szenisch er-
                                                                                                             gänzt; Regie führt Sibylle Burkart.
                                                                                                             Schwarz auf Weiss, ‹Unterwegs / On The Road›:
                                                                                                             Sa 17.5., 17 h (engl.), So 18.5., 17 h (dt.), Papiermühle
                                                                                                             (siehe zum Thema auch u S. 15, 16)
                                                                                                             Kommentare zur Zeit: Mi 28.5., 20 h, Gare du Nord u S. 39
                                                                                                             sowie Di 10.6., 19.30, Palazzo, Liestal
                                                                                                             Kriminalkonzert ‹Der dritte Mann›: Fr 16. und Sa 17.5.,
                                                                                                             20 h, Ackermannshof, sowie So 18.5., 17.30,
                                                                                                             Theater Palazzo, Liestal u S. 43
                                                                                                             ‹Faultier, Yak & Kakerlak›: Fr 9. bis So 11.5.,
                                                                                                             Vorstadttheater u S. 34

                                                                                                                                           Mai 2014 |   ProgrammZeitung | 11
Ein neues Festival für Freiburg
m ic h a e l b a a s

                          Das Tanz- und das frühere Theaterfestival                      Improvisation als roter Faden. ‹Still Current›, die erste
                          spannen zusammen.                                          Tanzproduktion, stammt von Russel Maliphant, was eine
                      Freiburg meldet sich zurück auf der Festival-Landkarte für     Körpersprache verspricht, die vom Ballett über zeitgenös-
                      performative Künste. ‹Tanz und Theater Internationales         sischen Tanz bis zur Kampfkunst reicht. Die Improvisation
                      Festival Freiburg› nennt sich das Format und ersetzt nicht     als ein roter Faden des Festivals steht dann im Mittelpunkt
                      nur das seit 1986 bestehende Tanzfestival im E-Werk; viel-     einer Performance, die der Geiger Harald Kimmig mit
                      mehr holt es das 2006 eingemottete Theaterfestival aus         vier Tänzern, darunter Michael Schumacher und Michael
                      besagter Kiste, bindet unter dem Motto ‹gemeinsam sind         Shapira, und drei Musikern realisiert.
                      wir stärker› sowohl das Stadttheater wie auch das Theater      Das lokale Spektrum repräsentieren ‹For Love›, ein Stück,
                      im Marienbad ein. Die Leitung teilt sich ein Dreierteam, be-   das die Pop-Ikone Courtney Love als Projektionsfläche
                      stehend aus Wolfgang Graf, bis dato Leiter des Tanzfesti-      nutzt, sowie ‹Zwischenfälle›, von Stephan Weiland insze-
                      vals und langjährig fürs Kulturbüro Riehen tätig, Hubertus     nierte Szenen von Daniil Charms, die das Eigenleben von
                      Fehrenbacher vom Theater im Marienbad und Laila Koller         Dingen und Menschen vorführen. Das Freiburger Theater
                      vom E-Werk. Das Budget liegt bei rund 260’000 Euro, von        wartet mit ‹Isabella’s Room› auf, der schon auf vielen Festi-
                      denen die Stadt 135’000 und das Land 65’000 als Zuschuss       vals gezeigten und bejubelten Produktion der belgischen
                      beisteuern.                                                    Needcompany von 2004; Jan Lauwers Stück um die blinde
                      Los geht’s mit ‹Schubladen› vom Berliner Theaterkollektiv      Isabella entwickelt aus einer Sammlung musealer Objekte
                      She She Pop. Das Stück, das wie auch andere bereits in         eine Gedankenreise durchs 20. Jahrhundert und kreuzt
                      Basel zu sehen war, konfrontiert ein Frauen-Trio, das in der   dafür Installation, Tanz und Theater.
                      alten Bundesrepublik aufgewachsen ist, mit drei in der DDR         Belgien im Fokus. Überhaupt besetzt das kleine, sprach-
Ultima Vez,           sozialisierten Kolleginnen: Knapp 25 Jahre nach dem Mauer­     lich geteilte Belgien eine Hauptrolle des Festivals, haben
‹What The
                      fall transferiert es den gesellschaftlichen Einigungsprozess   doch auch die Theaterstücke ‹Jacobsnase› und ‹Kopbeest›
Body Does Not
Remember›,            ins Zwischenmenschliche, inszeniert Wiedervereinigung in       belgische Wurzeln; Ersteres erzählt von einem Mann, der
Foto: Danny           den ‹Schubladen› der Beziehungsarbeit.                         einen besonderen Geruchssinn entwickelt, das Zweite blickt
Willems
                                                                                     in die Abgründe der Seele. Eine weitere grosse Tanzpro-
                                                                                     duktion hat ebenfalls einen belgischen Background: Vim
                                                                                     Vandekeybus’ Company Ultima Vez zeigt zum Abschluss in
                                                                                     neuer Besetzung das bereits 1987 entstandene, körperbe-
                                                                                     tonte ‹What The Body Does Not Remember›, ein Markstein
                                                                                     choreografischen Theaters.
                                                                                     Dazwischen finden sich weitere ‹Must-Sees› – das Gastspiel
                                                                                     der Tänzerin Louise Lecavalier, die Mercan Dedes elektro-
                                                                                     nische Sufi-Musik im Duo ‹O Blue› in Bewegungsbilder über­
                                                                                     setzt, oder die Produktion ‹Two Room Apartment› aus Israel,
                                                                                     auch sie ein Höhepunkt des Tanztheaters, in dem Bedin-
                                                                                     gungen des Lebens erforscht werden. Freiburg hat damit
                                                                                     wieder ein respektables Festival, und die Premiere soll nur
                                                                                     der erste Schritt sein: Das Organisationsteam definiert sein
                                                                                     Projekt jedenfalls als Prozess. «Da ist noch Entwicklungs-
                                                                                     potenzial», sagt Wolfgang Graf – und das gilt auch fürs Budget.
                                                                                     Tanz und Theater Internationales Festival: Mi 30.4. bis Sa 17.5.,
                                                                                     Freiburg i.Br., www.tanzundtheaterfestival.de

                                                                                     Mehr Tanz und Artistik:
                                                                                     Welttanztag: Di 29.4., www.tanzbuero-basel.ch (15 Jahre Tanzbüro Basel)
                                                                                     14. Steps, Migros Kulturprozent: bis Sa 17.5., div. Orte, www.steps.ch
                                                                                     Vorstellungen in Basel (28.4., 8.5., 11.5.) und Lörrach (2.5., 14.5.)
                                                                                     8. ‹miniMIR›: Mo 12./Di 13.5., Kaserne Basel u S. 36
                                                                                     Ein Tanzstück mit 60 Basler PrimarschülerInnen
                                                                                     Cinevox Junior Company, ‹Cinderella›: Fr 23.5., 20 h, Scala, www.artco.ch
                                                                                     Zeitgenössisches Ballett von jungen Talenten aus aller Welt
                                                                                     9. Das Tanzfest: Fr 2. bis So 4.5., div. Orte, www.dastanzfest.ch
                                                                                     Tanz für alle und überall in 21 Städten und Gemeinden (nicht in Basel)
                                                                                     6. Young Stage: Sa 17. bis Di 20.5., Basel, www.young-stage.com
                                                                                     Circus Festival mit 31 ArtistInnen aus 16 Nationen
                                                                                     Circus Monti in der Region Basel, www.circus-monti.ch
                                                                                     Frick: 6./7.5., Arlesheim: 9. bis 11.5., Rheinfelden: 13./14.5.

12 | ProgrammZeitung | Mai 2014
Urbane Räume
erzählen
i ng o s ta r z

   Das Cathy Sharp Dance Ensemble erkundet Birsfelden.
Tanz ist eine Raumkunst. Er fügt sich Architekturen und
Plätzen ein, schafft sich selber Raum und verleiht seinen
Handlungsorten Bedeutung. Da dies keineswegs nur in
Kulturhäusern so ist, drängt es den Tanz gegenwärtig ver-
mehrt in den urbanen Raum. Das Cathy Sharp Dance En-
semble lädt mit seiner letzten grossen Neuproduktion zu
einer Ortsbesichtigung ein. In Birsfelden, wo das Ensemble
während 16 Jahren regelmässig im Roxy auftrat, wird das
Publikum nun aus dem Theater hinaus und zu verschiede-
nen Stationen im Stadtraum geführt. Das Projekt ‹Transit
Birsfelden› verführt zu einem Blickwechsel und überhaupt
zu einer genaueren Betrachtung des Ortes. Man kann dabei
womöglich ein bisher unbekanntes Terrain entdecken. Mit
kurzen Choreografien an ungewöhnlichen Plätzen werden
urbane Räume erzählt.
Der tänzerische Parcours wird von Cathy Sharp und Jochen
Heckmann in Szene gesetzt. Der deutsche Choreograf
begann seine Karriere als Tänzer, bevor er 1995 in Zürich
das Ensemble Looping gründete. Von 1999 bis 2007 war er
Ballettdirektor am Theater Augsburg, im letzten Jahr wurde
er künstlerischer Leiter an der Höheren Fachschule für
zeitgenössischen und urbanen Bühnentanz in Zürich. Sharp
und Heckmann legen eine Fährte durch Birsfelden, die das
Publikum zu Fuss und per Bus zurücklegt. Dabei fangen die
                                                                                                                                                                     ‹Transit
Tanzinterventionen unterschiedliche Raumatmosphären ein.                Tanz-Parcours bringt nicht nur das Publikum in die Stadt,                                    Birsfelden›,
In der Alten Turnhalle werden physische Energien frei­                  sondern auch das Theater zu den Leuten. Für das Cathy                                        Foto: Peter
gesetzt, die Erinnerungen an einstige Sportstunden wach                 Sharp Dance Ensemble bietet sich so in besonderer Weise                                      Schnetz

werden lassen. In der Katholischen Kirche erlebt man Ges-               die Möglichkeit, sich von seinen Fans zu verabschieden.
ten des Glaubens. Im Kraftwerk stehen menschliche Körper                Das 1991 gegründete Kollektiv prägte mehr als zwei Jahr-
einem Maschinenraum gegenüber und machen das Nicht-                     zehnte die Basler Tanzszene. Ende dieses Jahres wird es
menschliche des Ortes erfahrbar. Innen- und Aussenräume                 aufgelöst. Zuvor kann man dem Ruf nach Birsfelden folgen
verbinden sich auf dem Weg durch die Gemeinde zu einer                  und im Herbst noch die Wiederaufnahme einer kleineren
tänzerischen Spur.                                                      Produktion in Basel erleben.
   Stadt erfahren. Das Projekt ‹Transit Birsfelden› fügt sich           ‹Transit Birsfelden›: Fr 2. bis So 11.5., 19 h, Start im Roxy, Birsfelden u S. 33, 37
nahtlos in die laufenden Aktivitäten des Roxy ein, die sich
insbesondere für den lokalen Stadtraum interessieren. Der

                  Backlist                             nen Papagei› («Allgeliebter Vogel Du, / Gingest
                                                       auch zur ewigen Ruh») und auch einige Zeilen
                                                                                                                     für ihre Anliegen setzt sie sich auch ganz prak-
                                                                                                                     tisch ein. Bloss mit dem Dichten bleibt es schwie-
            a dr i a n p ort m a n n                   über die Poesie: «Wie, fragt ihr, wie? / Wer                  rig: Kempner kämpft mit den Reimen und ver-
             Schlesischer Schwan.                      macht dich frei? / Es ist die die, / Die Poesei!»             greift sich im Ton, der tiefe Ernst kontrastiert mit
Der Frühling hat poetisch Getriebene immer             Kempner schreibt aber nicht nur über Schnitt-                 holprigen Versen, und das Pathos wird von schie-
wieder zu Höchstleistungen angespornt. Das ist         lauch und Papageien. «Jedesmal, wenn frohe                    fen Bildern konterkariert. Das alles trägt Kemp-
auch bei Friederike Kempner nicht anders. Ganz         Stunden / Mir im Herzen stattgefunden, / Haben                ner, dem ‹schlesischen Schwan›, den Ruf eines
besonders mag ich dieses Gedicht: «Wenn der            sich mir vorgestellt / Auch die Leiden dieser                 Genies der unfreiwilligen Komik ein. Aber es
holde Frühling lenzt / Und man sich mit Veilchen       Welt.» Diese Leiden sind ein wiederkehrendes                  macht sie auch schnell zu einer Art Kultautorin,
kränzt / Wenn man sich mit festem Mut / Schnitt-       Thema ihrer Gedichte. ‹Gegen die Vivisektion                  deren Gedichte vielfältig parodiert werden – mit
lauch in das Rührei tut / Kreisen durch des Men-       der Hunde› ist eines überschrieben, ‹Gegen die                dem Resultat, dass bis heute nicht immer klar ist,
schen Säfte / Neue ungeahnte Kräfte – / Jegliche       Einzelhaft› ein anderes, sie reimt für die Rechte             welche Zeilen nun von ihr stammen und welche
Verstopfung weicht, / Alle Herzen werden leicht,       der Frauen und für eine Arbeiter-Sozialversiche-              nicht. Das schöne Frühlingsgedicht etwa hat
/ Und das meine fragt sich still: / ‹Ob mich dies      rung, gegen den Antisemitismus und vor allem,                 möglicherweise ein anderer geschrieben. Das
Jahr einer will?›»                                     aus Angst, lebendig begraben zu werden, für die               wäre dann allerdings schade.
Das ist ziemlich erheiternd, finde ich, und blättere   Einrichtung von Leichenhäusern.                               Friederike Kempner, ‹Gedichte›, Leipzig 1873
mit festem Mut weiter. Ich lese ein Gedicht ‹Auf       Das Herz hat die deutsch-jüdische Dichterin aus               ‹Backlist› stellt besondere Bücher aus allen Zeiten vor.
meinen am 15. November 1890 dahingegange-              Schlesien zweifellos auf dem rechten Fleck, und

                                                                                                                                                    Mai 2014 |   ProgrammZeitung | 13
Stotternder Störfall
                                                                        i ng o s ta r z

     Ein Glücksmoment                                                       Das Theater Basel zeigt das erste Stück von Melinda Nadj Abonji.
                                                                        Die Prosa von Melinda Nadj Abonji ähnelt Partituren. Auch mit ihrem ers-
                     i ng o s ta r z                                    ten Theaterstück ‹Schildkrötensoldat› legt die Autorin einen mehrstimmi-
             Volksbühne ‹mittendrin›.                                   gen Text vor. Er handelt vom jungen Roma Zoltán, der als vermeintlich
Wir alle kennen die Momente, in denen man                               naiver Idiot seiner Umgebung auf die Nerven geht. Seine eigene, reiche
zufällig mit Fremden ins Gespräch kommt und                             Sprach- und Bildwelt, die er nur stotternd zum Ausdruck bringen kann,
sich unmittelbar Nähe einstellt. Oft geschieht es                       wird von den Mitmenschen verkannt. Seine Sprache kleidet ihn wie der
unterwegs, etwa während einer Zugfahrt. Orte                            Panzer die Schildkröte. Sie bedeutet Schutz für ihn und vermittelt wie sein
des Transits sind vielfach temporäre Kreuzungs-                         Verhalten nach aussen etwas Fremdes. Der Gesellschaft erscheint der junge
punkte menschlicher Schicksale.                                         Mann als Störfall. Erst im Militär gelingt es Zoltán, mit einem übergewich-
Im neuen Stück der Volksbühne Basel, einer                              tigen Kameraden Freundschaft zu schliessen. Da finden zwei Aussenseiter
Koproduktion mit dem Roxy, treffen an einem                             zusammen. Als der Freund während einer Übung stirbt, steht Zoltán wie-
Imbiss-Stand fünf Männer aufeinander. Die                               der allein in der Welt. Ein Krankenhausaufenthalt bringt schliesslich an
Schauspieler Nadim Jarrar, Robert Baranowski                            den Tag, dass er an Epilepsie leidet.
und Orhan Müstak sowie die Musiker Arjin Haki                           «Bereits als Mädchen hat mich die Tatsache irritiert, dass Männer im Mili-
und Delchad Ahmad sind allesamt Söhne einer                             tär ‹verschwinden›, dass sie da ein Leben führen, zu dem die Frauen keiner-
Gesellschaft, in der um Identität und gesell-                           lei Zugang haben. Schreibenderweise befasse ich mich nun also mit dieser
schaftliche Werte gerungen werden muss. Ihre                            terra incognita», bemerkt Melinda Nadj Abonji.
Rollen verweisen auf existenzielle Wendepunkte                              Facetten des Fremdseins. Neben diesem Aspekt behandelt die Autorin
und stimmen in ihrer künstlerischen Prägung                             einmal mehr das Fremdsein, die Frage, was einen fremd macht. Ihr Experi­
überein. Als Schauspieler, Maler, Schriftsteller                        mentierfeld ist die Sprache, in der sich die Geschichte von Zoltán entfaltet.
und Musiker kommen sie miteinander ins Ge-                              Der innere Reichtum ihrer Figur kommt in einer Spracharbeit zum Aus-
spräch und begegnen sich zu einem Zeitpunkt                             druck, die von Musikalität und Klang bestimmt ist. «Ich höre dem Text zu»,
ohne feste Bleibe und sichere Zukunft. In der                           sagte die Autorin einmal in einem Interview. Mit Patrick Gusset hat sie in
unausgesprochenen Solidarität der Fünf entsteht                         Basel einen Regisseur zur Seite, mit dem sie sich intensiv und produktiv
für einen glücklichen Moment eine Gemein-                               über Aspekte des Theaters und des Fremdseins austauschen konnte.
schaft, entfaltet sich beinahe zeitlos im Kleinen                       ‹Schildkrötensoldat› beschliesst den Reigen der diesjährigen Uraufführun-
eine ganze Welt. Was die zufällig aneinander                            gen im Rahmen des Förderprogramms ‹Stück Labor›. Am Konzert Theater
Geratenen verbindet, ist eine Treue zu sich                             Bern hatte im Februar Philipp Löhles ‹Wir sind keine Barbaren!› Premiere,
selbst, ein Annehmen der eigenen Geschichte.                            worin die Grundwerte einer Gemeinschaft durch das Auftauchen eines
Darin gleichen sie dem mythischen Sisyphos,                             Fremden aus dem Lot geraten. Das Luzerner Theater brachte im März das
wie Albert Camus ihn aufgefasst hat.                                    Stück ‹My only friend, the end› von Martina Clavadetscher heraus, das vom
‹Mittendrin. Ein Abend mit 5 Söhnen› ist die                            Alleinsein in der Gemeinschaft erzählt. In allen drei Stücken werden also
2. Produktion der Volksbühne Basel. Das 2012                            Facetten des Fremdseins verhandelt, sei es zugeschrieben oder selbst ge-
gegründete Kollektiv hat im vergangenen Jahr
                                                        ‹Mittendrin.
                                                                        wählt. Da die Aufführungen in Bern und Luzern noch im Spielplan sind,
mit ‹Selam Habibi›, einer berührenden Version           Ein Abend mit   steht kleinen Ausflügen nichts im Wege.
von Romeo und Julia, seine Arbeit aufgenom-             5 Söhnen›,      ‹Schildkrötensoldat›: ab Fr 16.5., 20 h (Premiere), Theater Basel u S. 32
                                                        Foto: Anina
men. Die kulturelle Vielfalt der Mitwirkenden
                                                        Jendreyko
entzündete ein leidenschaftliches Spiel, das in
Basel und Berlin für Begeisterung sorgte. Der
Umstand, dass wir in einer Welt der Migrations­
bewegungen leben, bildete den Background.
Bei der Geschichte vom Imbiss als Kreuzungs-
punkt einander ähnlicher Menschen verhält es
sich nicht anders. Die Regisseurin Anina Jen­
dreyko blickt zielgenau auf die heutige Gesell-
schaft, in der Identität eine zentrale Frage dar-
stellt. Ihr Stück bringt einen grossen Hunger
nach Leben zum Ausdruck, der unser immer
noch ‹nationales› Gesellschaftssystem kaum zu
stillen vermag. Die Volksbühne Basel begibt sich
auf eine Spurensuche entlang der Bruchlinien
einer Welt, die nur in ihrer Vielfalt an Identitäten
verstanden werden kann.
‹Mittendrin. Ein Abend mit 5 Söhnen›:
Do 28.5. bis Sa 7.6., 20 h, Alte Markthalle, Steinen-
torberg 20, www.volksbuehne-basel.ch

14 | ProgrammZeitung | Mai 2014
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