PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
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Christoph Oertli, ‹Sensing Bodies› (Detail), 2020 (Videostill), Agenda-Partner Kunsthaus Baselland, Courtesy the artist → S. 23 des Monats Kultur im Raum Basel Februar 2020 | Nr. 358 CHF 9.00 | EUR 8.20 ProgrammZeitung unabhängig & vielseitig seit 1987
Für eine lebenswerte Stadt Dagmar Brunner Editorial. Wir alle kennen sie – und haben doch wenig Ahnung von ihrem Tun: die Menschen in ihren orange-blauen Überklei- dern, die unsern Dreck wegräumen. Oder wussten Sie, dass die Serra-Plastik auf dem Theaterplatz im Sommer mindes- tens einmal pro Woche gründlich geputzt werden muss, weil sie als Pissoir missbraucht wird? Oder wie man Vogel- kacke effizient beseitigt? Oder wie ein guter Krummbesen beschaffen sein soll? Das alles erfährt man im neuen Doku- mentarfilm von Roland Achini, ‹Wir machen eure Stadt sauber›. Darin folgt er Angestellten der Stadtreinigung bei ihrer anspruchsvollen und vielfältigen Arbeit, die ihnen neben Mühsal auch Genugtuung bereitet. Ihr gefalle es, die Strasse sauber zu machen und mit Män- nern zu arbeiten, sagt etwa eine selbstbewusste junge Frau, eine andere möchte besonders den Auswärtigen «ein gutes Bild von Basel vermitteln». Der «Besen-Guru» macht sein erster Film; der ehemalige Chemiker war schon als Student Werkzeug «mit Herz», sein Kollege mag «die Abwechslung, mit einer Kamera unterwegs. Als feinsinniger Beobachter den Menschenkontakt, das draussen Arbeiten», ein weiterer des Alltags mit einem Faible für originelle Individuen und schwärmt von seinem «Traumjob, weil man dabei singen, die Nischen der Gesellschaft porträtierte er in den letzten sich frei fühlen und für eine bessere Welt kämpfen» kann. Jahren ‹Surprise›-Verkäufer, den Guerilla-Gärtner Maurice Und alle freuen sich über einen Gruss, einen Dank oder Maggi, eine Kreativwerkstatt für Bedürftige, das Clara- ein Lob. Brocki, Flüchtlinge, Lebenskünstler usw. Er mag Herausfor- Als Roland Achini seine Filmidee bei der Stadtreinigung derungen aller Art, lernt u. a. seit Langem Chinesisch, «weil im Tiefbauamt vorstellte, erfuhr er von allen Seiten grosse es so schwierig ist». An seinem neuen Film hat er rund ein Hilfsbereitschaft. Er durfte verschiedene Teams kennen ler- Jahr gearbeitet. Er lässt darin ausschliesslich die Dargestell- nen, rund 20 Personen interviewen, mit deren Einverständ- ten selbst zu Wort kommen, macht sie sichtbar – und setzt nis filmen und sie bei ihrer Arbeit begleiten. Sei es frühmor- ihnen damit ein kleines Denkmal. gens, bei Tag oder nachts, bei der Alltags-, Grün-, Glas- oder Filmvorführung und DVD-Taufe von ‹Wir machen eure Stadt sauber. Papierabfuhr – die Müllberge sind immens, vor allem nach Die Stadtreinigerinnen und Stadtreiniger von Basel› (48 Min.): Sa 8.2., 11 h und 12.15, Stadtkino Basel. Mit Apéro, Eintritt frei, Kollekte. Herbstmesse, Silvester oder Fasnacht (2019 ca. 405 Tonnen DVD-Bezug via Roland Achini, www.cinemachini.ch Räppli u. a.). Zwanzig Millionen Franken kostet die Sauber- Ein weiterer engagierter Dokumentarfilm aus Basel stammt von keit der Stadt Basel pro Jahr, und etwa 270 Angestellte sind Edgar Hagen und wurde für den ‹Prix de Soleure› nominiert → S. 9. im Einsatz. Sicher ist, dass ihr Engagement die Stadt lebens- Filmstill aus ‹Wir machen eure Stadt sauber... › werter macht. Roland Achini hat ohne Auftrag und auf eigene Kosten ge- dreht; Regie, Buch, Ton, Kamera, Musik, Montage und Pro- duktion stammen aus seiner Hand. Es ist ja auch nicht sein HAUSKULTUR sollten, weil es brisante Fragen zum Themenbe- reich Mensch und Maschine behandelt bzw. wie Inhalt Computer unsere Arbeitsweise und das Men- db. Vor einem Jahr, am 25. Januar 2019 sind schenbild verändern. Kultursplitter 5 wir in unsere neuen Büros in der Alten Markt- Last, but not least: Wer am 9. Februar ein Ja halle gezogen – und haben es noch keinen Tag für die Revision der Antirassismus-Strafnorm Redaktion 7 bereut! Nette Büronachbarn, mehr Stauraum, einlegt, greift damit nicht in die Meinungsfrei- viel Sonne, erträglicher Strassenlärm und na- heit ein, sondern setzt ein klares Zeichen gegen Kulturszene 26 türlich das kulinarische Angebot im Haus haben Hass und Diskriminierung aufgrund der sexuel- rasch zum Wohlgefühl beigetragen. len Orientierung und für eine offene, respekt- Agenda 48 Die Christoph Merian Stiftung, die auch das volle Gesellschaft. Kurse 73 Basler Stadtbuch betreut, lädt zu einem Podium Podium Stadtbuch lokal 2020 zu ‹Basler Medien über ‹Basler Medien im digitalen Umbruch› ein. im digitalen Umbruch›: Fr 28.1., 18–20.30, Impressum 73 Ausserdem stellt unser Autor und Stadtbuch- SRF-Auditorium, Meret Oppenheim Hochhaus, Redaktor Tilo Richter die Themen der Ausgabe www.baslerstadtbuch.ch Kunsträume 74 2020 vor, zu der ich einen Artikel über den Matthias Zehnder, ‹Die digitale Kränkung. Frauenstreik beitragen durfte. Über die Ersetzbarkeit des Menschen›. Museen 76 Verlag NZZ Libro, 128 S., 5 Abb., gb., CHF 24 Unser ehemaliger Autor, der umtriebige Pub- lizist und Technologieexperte Matthias Zehn- Veranstaltungen zur Erweiterung der Bars & Restaurants 78– 79 Antirassismus-Strafnorm: www.jazumschutz.ch, der hat ein neues Buch geschrieben, das auch www.baselimgespraech.com, Technikmuffel verstehen können und lesen www.gaybasel.org/events 3 Februar 2020 ProgrammZeitung
K Männer begegnen Männern 2019/20 MO 14. Okt. Alt, schön und attraktiv MI 13. Nov. Film ab! Wir Männer im Kino MI 11. Dez. Das Kind im Manne MO 13. Jan. Mut zum eigenen Weg DI 11. Feb. Ich und Sport DO 19. März Balance zwischen Arbeit, Familie, Partnerin und mir Im Unternehmen Mitte Basel jeweils 20.00 – 22.00 Uhr www.baslermaennerpalaver.ch
KULTURSPLITTER MONATSTIPPS DER MAGAZINE aus Aarau (AAKU), Bern (BKA), Luzern (041), Olten (AUSGEHEN), St. Gallen (Saiten), Vaduz (KuL), Winterthur (Coucou) und Zug (ZugKultur) Leidenschaftlicher Bad Boy Dullin Dialektspiele ‹Milchmädchenrechnung› Klangperfektionismus Der in Bern lebende Komiker Man kennt die beiden in der Rhaban Straumann und Matthias Ätna ist nicht nur der höchste und Performer Johannes Dullin ganzen Schweiz: Lorenz Häberli Kunz zeigen ihre Erfolgsproduk- noch aktive Vulkan Europas, so hat den Nonsens im Blut und Luc Oggier. Noch nie tion in hochdeutscher Sprache. nennt sich auch eines der wohl und sticht heraus mit seinem gehört? Dann vielleicht unter Lustvoll wehren sich Ruedi & kreativsten deutschen Musiker*- absurden und oft peinlich ihren Musiker-Alter-Egos: Als Heinz gegen Alltagstrott und innenduos (Bild). Die zeitgenös- berührenden Humor. In seinem Lo & Leduc komponierten sie den Langeweile. Bestärkt durch das sische Mélange aus zartem Pop, dritten Solostück ‹Johannes grössten Hit der Schweizer Tageshoroskop verfolgt Heinz jazzigen Beats und Electronica ist Dullin spielt den Teufel› begibt Musikgeschichte (079...). Doch einen heimlichen Plan. Nur wie filigranste Handarbeit und bis ins sich der Stand-Up-Comedian in neben Festivalbühnen treten die kann er Ruedi dazu bewegen, letzte Detail durchdacht. Inéz die Rolle des verführerischen beiden Wortakrobaten auch in sich auf das, woran dieser Schaefer erschafft mittels Piano Beelzebub und reisst die Kleinkunstsälen auf und ver- nicht glauben will, vorzubereiten? sowie Synthie und Stimme Mauern zwischen Comedy schreiben sich ganz der Spoken- Ruedi lässt sich nicht beein- verträumte Klangwelten, die von und Hochkultur nieder. Word-Kunst. Dabei zeigen die drucken. Ständig ist er mit dem Perkussionisten Demian Mi 19. bis Sa 22.2., 20.30, beiden Berner ihr aussergewöhn- seinem Rollator auf Achse. Kappenstein gleichsam unter- Tojo Theater Reitschule, Bern, liches Gespür für die Schweizer ‹Milchmädchenrechnung› mündet stützt als auch durchbrochen www.tojo.ch Mundart mit klugem Witz und in ein kabarettistisches, aber- werden. Es brodelt – Ätna ist viel Charme. witziges Roadmovie. wieder aktiv. Do 13.2., 20 h, Häberli Oggier – Di 28. und Mi 29.2., 20.15, Do 27.2., 20 h, Royal, Baden, Wörter wie wir, Kleintheater, Luzern, Theaterstudio Olten, www.royalbaden.ch www.kleintheater.ch www.theaterstudio.ch Bild: Chris Krebs Photography Foto: Tanja Dorendorf St. Galler Alptraum ‹Im weissen Rössl› Grössenwahnsinniger Tanz Russischer Krimi Josef Ka ist Portfoliomanager bei Die Operette Balzers spielt die Seit 150 Jahren wird das Ballett Mara ist ein Cello, und zwar der Privatbank ‹Gallus und 1929/30 entstandene, erfolg- Don Quixote rund um den eines von Stradivari. Name Söhne›. An seinem 30. Geburts- reichste Revueoperette der Globus aufgeführt. Marcia dropping? Warten Sie nur: tag wird er zum Mitarbeiter des Zwanzigerjahre ‹Im weissen Haydée, in der Tanzwelt so Prokofjew, Mendelssohn und Jahres gekürt, doch noch auf der Rössl› von Ralph Benatzky. berühmt wie Quixote selbst, Schostakowitsch. Plus Mara. All Feier wird er verhaftet – von zwei Zu hören sind viele bekannte interpretierte die mittels Grand das am Abokonzert der Zuger Witzfiguren. Warum gerade er? Musiknummern wie: ‹Im weissen jetés und Pas de deux erzählte Sinfonietta. Christian Poltéra Was hat das mit dem Gesetz zu Rössl am Wolfgangsee› (Ralph Romanze neu. Ihre Inszenierung spielt das Konzert für Violoncello tun? Der Prozess verwandelt Kas Benatzky), ‹Was kann der mit der São Paulo Dance und Orchester Nr. 1 Es Dur Leben in einen Alptraum, aus Sigismund dafür, dass er so Company begleitet vom Musik- Op. 107 von Schostakowitsch. dem er nicht erwachen kann … schön ist?› (Robert Gilbert), ‹Im kollegium Winterthur hüllt das «In Zusammenhang mit der Das Schauspiel von Anita Salzkammergut, da kann man Theater Winterthur gleich viermal Sowjetunion wird dem Werk eine Augustin nach dem Roman von gut lustig sein› (Ralph Benatzky) in Flair al estilo sudamericano. vielzitierte und heiss diskutierte Franz Kafka ist eine Uraufführung oder ‹Es muss was Wunderbares Do 20.2. bis Sa 22. Don Quixote, Doppelbödigkeit zugeordnet», in Koproduktion mit der Hoch- sein› (Ralph Benatzky). Den Premiere: Do 20.2., 19.30; Fr 21. und schreibt der Veranstalter. schule für Schauspielkunst Ernst Sa 22.2., 19.30; So 23.2., 14.30, Immerhin: Schostakowitsch habe Zuschauer erwartet einen Theater Winterthur, Theaterstrasse 6, Busch Berlin. bunten, unterhaltsame Operet- Eintritt: CHF 90/75/60, so mit Stalin abrechnen wollen. Bis Do14. Mai, Der Prozess, tenabend. www.theater.winterthur.ch Klingt wie ein Krimi. Grosses Haus, Theater St.Gallen, Sa 29.2., Stradivari meets Der gesamte Spielplan und www.theatersg.ch Ticketreservationen sind zu finden Schostakowitsch, Lorzensaal Cham, unter www.operette-balzers.li www.zugersinfonietta.ch 5 Februar 2020 ProgrammZeitung Auf dem Bild: Zuger Sinfonietta
KONTROVERS Clea Wanner Retrospektive Lina Wertmüller. Für viel Aufsehen sorgte 1975 die Tragikomö- die ‹Pasqualino settebellezze›. Der kleine Macho Pasqualino wird vor lauter Machthunger zum Mörder, geht vom Irrenhaus an die Front und landet schliesslich als Deserteur im KZ. Doch anstatt die historischen Schrecken zu zeigen, gipfelt die Lagersequenz in einem makaber-gro- tesken Liebesakt mit der Kommandantin Hilde. Die unmoralische Darstellung liess sich Lina Wertmüller jedoch nicht zum Vorwurf machen. «Wenn in der Liebe und im Krieg alles erlaubt ist, ist auch im Kino alles erlaubt», so ihr Credo. Die Unerschrockenheit zahlte sich aus: Der Film bescherte ihr als erste Frau eine Oscar-Nominie- rung für die beste Regie. Ausgebildet an der Theaterakademie, kam sie 1963 als Regieassistentin bei Fellinis ‹8 ½› zum Kino. Im selben Jahr drehte sie ihr Debüt ‹I basi- lischi›, eine neorealistische Satire. Sie über- Progressive Beats aus Ghana raschte mit ihrem künstlerischen Eigensinn, und als sie im Spaghetti-Western ‹Il mio corpo Clea Wanner per un poker› eine Frau zur Revolverheldin machte, die zwischen Freiheitsdrang und Un- Musikalischer Dokumentarfilm ‹Contradict›. terwerfung oszillierend am Ende doch den Ge- 2013 reiste das Regieduo Peter Guyer und Thomas Burkhalter nach Ghana. fühlen für einen Mann nachgibt, war klar: Accra war Startpunkt für ein Multimedia-Projekt über globale musikalische Wertmüllers Filme sind witzig, temporeich, Trends. Was sie vorfanden, überstieg ihre Erwartungen: eine lebendige schrill und zugleich höchst ambivalent. Den Durchbruch schaffte Wertmüller 1972 mit Musikszene, die mit progressiven Sounds und viel Humor gesellschaftliche einer Tetralogie mit Giancarlo Giannini in der Entwicklungen sowie die eigene Musikkultur reflektiert. Das ursprüngliche Hauptrolle. Während er den Macho aus dem Vorhaben wurde nicht realisiert, dafür ein Dokumentarfilm, der trotz seines Süden spielt, tritt ihm Mariangela Melato als Fokus auf das Lokale eine Menge über globale Zukunftsaussichten erzählt. kühle Schöne aus dem Norden entgegen. Sol- ‹Africa is the future›! Das viel zitierte Statement des senegalesischen Musi- che Gegensätze bestimmen ihr ganzes Werk: kers Youssou N’Dour wirft auch die Frage auf, wie eine solche Zukunft aus- Mit lustvoller Masslosigkeit lässt sie Liebe und sehen soll. Anarchie, Sex und Politik, Mafia und Kommu- Genau damit beschäftigen sich die Protagonisten von ‹Contradict›. Gemein- nismus sowie Mann und Frau aufeinanderpral- sam mit sieben Musikerinnen und Musikern nimmt der Film uns mit auf len. In diesem grotesken Welttheater schlägt einen aufregenden Streifzug durch die Strassen der ghanaischen Haupt- das Komische so manchmal in Grausamkeit um und wird gleichsam mit der sozialpolitischen stadt, ihre Hinterhöfe, Märkte, kleinen Musikstudios, Megakirchen und (italienischen) Realität verbunden. Schrottplätze. Der junge Youtube-Star Adomaa appelliert in ihren souligen Im vergangenen Oktober wurde die 91-jährige Liedern an das weibliche Selbstbewusstsein. Anstatt die Haut zu bleichen, Filmemacherin mit dem Ehren-Oscar prämiert soll Frau mit Stolz ihr Melanin glänzen lassen. So die Lyrics der mutigen, – der Auszeichnung möchte sie jedoch einen wenn manchmal auch etwas naiv wirkenden Sängerin. Im ähnlichen Duktus weiblichen Namen geben: Anna. Mit Fokus auf motivieren die Rapper Akan und Worlasi die Jugend zu mehr Selbstwert- die kontroversen Frauenfiguren in Wertmüllers gefühl. Sie sind wahre Selfmademen, drucken eigens ihre T-Shirts, produ- Œuvre zeigt nun das Stadtkino Basel ihre frü- zieren die Beats auf einer günstigen Software und fahren in die Aussen- hen Filme. quartiere, wo sie ihre Musikvideos den Teenagern zeigen. Retrospektive Lina Wertmüller: ab Sa 1.2., Polyphone Ästhetik. Stadtkino Basel → S. 45 Die Clips wurden speziell für den Film produziert und vermischen sich in raffinierten Übergängen mit dem dokumentarischen Bild und Ton. Erwäh- nenswert ist die reiche Klangkulisse, die vom erfahrenen Tonmeister Bal- thasar Jucker aufgezeichnet wurde. Ohne einer Erzählinstanz zu folgen, werden im aufwendigen Soundmix Stimmen aus Interviews, Megafons und aus dem Radio mit den Atmo-Aufnahmen der vibrierenden Stadt vermischt. Auf diese Weise entsteht ein audiovisuelles Geflecht, das nicht nur ver- schiedene Genres und Ästhetiken, sondern auch diverse, teilweise wider- sprüchliche Sichtweisen miteinander vereint. Mit Gegensätzen jongliert auch die Rap-Combo Fokn Bois. Die Rapper be- treiben mit viel Selbstironie einen unermüdlichen Kampf gegen die Probleme des Alltags. Mit provokant geistreichen Texten singen sie etwa gegen den religiösen Extremismus, der durch die rasante Zunahme der Freikirchen zum zentralen Bestandteil der Gesellschaft wurde. Doch statt über Miss- stände zu klagen, erklären sie sich in subversiv affirmativer Manier selbst zu heilsbringenden Priestern. Eine afrikanische Zukunft bedeutet mehr Klang, weniger Worte, so ihre Prophezeiung. ‹Contradict› läuft ab Do 30.1. in den Kultkinos. Filmstill aus ‹Contradict› Filmstill aus ‹Travolti da un insolito ...› (weiteres Bild → S. 47) 7 Februar 2020 ProgrammZeitung
Perspektiven des Unterwegs-Seins Dagmar Brunner Das Cinema Querfeld lädt zu einen Strassenjungen in Beirut, der seine Einblicken in alle Welt ein. Eltern verklagt, weil sie ihm ein unwürdiges Wer andere ungerecht behandelt, kommt Leben in Armut zumuten; durch eine Be- nicht immer ungeschoren davon. Das zei- gegnung lernt er auch liebevolle Zuwen- gen zwei ebenso kurzweilig-amüsante wie dung kennen. ‹Tel Aviv on Fire› nimmt die drastische Episoden aus dem Film ‹Rela- Beziehungen zwischen Israel und Palästina tos salvajes› des argentinischen Regisseurs unter die Lupe und aufs Korn, und der Kurz- Damián Szifron. In der einen bemerken film ‹Phone Story› handelt von den Hoff- Gäste eines Gratisflugs, dass sie alle einen nungen zweier Liebesbedürftiger aus Kur- GLÜCK ZÜCHTEN gemeinsamen Bekannten haben, der nun die letzte Gelegenheit nutzt, ihr Fehlverhal- distan. ‹L’intrusa› spielt im mafiösen Milieu Italiens, ‹Amerika Square› beleuchtet die Nicolas von Passavant ten zu vergelten. In der andern geht ein ge- Flüchtlingskrise in Griechenland, ‹King of stresster Familienvater und Sprengmeister the Belgians› schildert eine Roadmovie- Jessica Hausners ‹Little Joe›. wegen einer Parkbusse unzimperlich und Flucht durch den Balkan, und ‹Das Fräulein› Seit ihrem ersten bekannteren Film – ‹Lovely präzis gegen die Bürokratie vor. Alle acht erzählt von drei Frauen aus Ex-Jugosla- Rita› (2001) über eine blutrünstige Teenagerin Episoden des Films widmen sich genüsslich wien, die in der Schweiz leben. Der von – durchziehen die Filme der österreichischen solchen Rachegedanken und -feldzügen, und der Kinderjury ausgewählte Film ‹Bekas› Regisseurin Jessica Hausner zwei Faktoren: Be- weil sie z. T. so grotesk überzeichnet sind, schliesslich folgt zwei verwaisten Brüdern stimmendes Thema ist die Isolation ihrer oft kann man getrost darüber lachen. auf der eigenwilligen Suche nach ihrem weiblichen Hauptfiguren, ihren charakteristi- schen Stil prägt die Arbeit mit kunstvoll ausge- Zusammen Filme anschauen, dabei lachen, Superhelden. leuchteten und stets unterkühlten Interieurs. In vielleicht auch weinen, reden, essen und Das kulinarische Angebot wird von den ‹Hotel› (2004) war es eine einsame Bergwelt, feiern ist das Ziel des jährlich stattfinden- Mitwirkenden zubereitet und ist erneut mit der Heldin als zerrüttete Hauswartin, in den interkulturellen Filmfestivals Cinema breit, etwa mit Spezialitäten aus Guinea, ‹Lourdes› (2009) wurde das kommerzialisierte Querfeld. Es wird von diversen Vereinen Bulgarien, Argentinien, Kurdistan, Bosnien Pilgerwesen seziert, und in ‹Amour Fou› (2014) und Privatpersonen, die sich für gemeinsa- und Tibet. Ausserdem ist das Resto du Cœur zeigte sie eine der morbideren Episoden der me Aktivitäten von Menschen unterschied- vor Ort – ein Beschäftigungsprogramm für deutschen Literaturgeschichte: den Doppel- licher Herkunft und Kultur engagieren, Asylsuchende von Soup and Chill, dem selbstmord von Heinrich von Kleist und Hen- ehrenamtlich organisiert und wurde dafür Treffpunkt für Menschen am Rand der Ge- riette Vogel. auch ausgezeichnet. Die Auswahl der Filme sellschaft im Gundeli. Ein Brunch mit musi- ‹Little Joe› ist Hausners erster englischsprachi- spiegelt Erfahrungen, Realitäten und Wün- kalischem Intermezzo rundet das Festival ger Film. Thematisch und stilistisch schliesst er aber an das Vorangegangene an: Auch hier sche der Mitwirkenden und lädt dazu ein, ab, das heuer u. a. von der Christoph Merian wurde ein merkwürdiger Handlungsort ge- sich damit auseinanderzusetzen. Stiftung unterstützt wird. wählt – ein Biotech-Unternehmen mit hoch- Vielfältige Begegnungen. 15. Cinema Querfeld: Fr 7. bis So 9.2., technisierten Laboren und Gewächshäusern, Das Motto der 15. Festivalausgabe heisst Gundeldingerfeld, Querfeld-Halle, Dornacherstr. 192, www.querfeld-basel.ch → S. 45 wie gehabt fabelhaft aufgenommen. Gezüchtet ‹In Bewegung›. Zu sehen sind zehn neuere wird darin eine Pflanze, deren Blütenstaub Filme aus aller Welt, die sich aus vielfältiger glücklich machen soll. Und erneut geht es um Optik des Themas annehmen. Im libanesi- Entfremdung: Alice, Erfinderin der Pflanze und schen Film ‹Capernaum› etwa geht es um Filmstill aus ‹Bekas› alleinerziehende Mutter, kennt ihren Sohn nicht mehr – immer abweisender und apathi- scher verhält er sich ihr gegenüber. Bekommt ihm die Glückspflanze, die sie ihm ins Zimmer gestellt hat, vielleicht doch nicht so gut? Dass mit der Superpflanze etwas faul sein könnte, ahnt man schon in den ersten Minuten, wenn der Film die Gewächshäuser zu düster- wabernden Elektroklängen vorführt. Und eben- falls vermutet man früh, dass es Hausner mit der Geschichte um gezüchtete Glücksblumen auf eine Kritik an Gesellschaften abgesehen hat, in denen sich viele Leute nur noch mit Rausch- mitteln und Psychopharmaka durch den Alltag retten. Der Stoff taugte nun gleichermassen für eine Gesellschaftssatire, ein Coming-of-Age-Drama und einen Horrorfilm. Für eine Satire zu spröde, für ein Drama zu wenig an den Figuren interes- siert und für einen Horrorfilm zu wenig unheimlich, funktioniert er als Gedankenexpe- riment aber jenseits von Gattungskonventio- nen. Für ein Meisterwerk fehlt es ihm letztlich an Suggestivkraft, nebst dem unbestrittenen Schauwert regt ‹Little Joe› aber dennoch zu Überlegungen an. ‹Little Joe› läuft derzeit in den Kultkinos. 8 Filmstill aus ‹Little Joe› ProgrammZeitung Februar 2020
Filmstillmontage aus ‹Wer sind wir?› Bereitschaft zum Mitgehen Bruno Rudolf von Rohr Edgar Hagens Dokumentarfilm ‹Wer sind wir?›. rigen Weg. Das zeigt der für den ‹Prix de Soleure› nominierte Auf den ersten, oberflächlichen Blick könnte der Film Film auf eindrückliche Weise, indem er den Umgang der ‹Wer sind wir?› von Edgar Hagen als ein Porträt über Men- Eltern mit der Situation und all den scheinbar unmöglich zu schen mit Behinderungen und ihr Umfeld verstanden wer- überwindenden Hindernissen hautnah nachzeichnet. den, ja gar als militanter Film für gesellschaftliche Integra- Empathie und Politik. tion der Betroffenen. Doch wenn man die künstlerischen Doch auch die Gesellschaft ist gefordert. So wirft der Film und gesellschaftspolitischen Intentionen des Basler Autors die damit verbundenen gesellschaftspolitischen Fragen auf, und die Grundsätze seines Schaffens zur Kenntnis nimmt, die heute mit dem Stichwort ‹Inklusion› – für viele wegen muss der Film einem tieferen Anspruch genügen. Es geht in der ungenügend implementierten Lösungen ein Reizwort – Hagens Filmen meist um fein getunte Beobachtungen bei ihren Platz im gesellschaftlichen Diskurs gefunden haben. Menschen an der Peripherie der Gesellschaft, die «über kei- Auslöser dieser Entwicklung war die 2006 von der Uno ver- ne oder nur eine reduzierte Sprache verfügen». Was muss abschiedete und in der Schweiz 2014 in Kraft getretene unternommen werden, um ihnen ihren Platz innerhalb der ‹Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinde- Gesellschaft zu sichern? rungen›, auf die sich Edgar Hagen explizit bezieht. Dazu braucht es gemäss dem Autor bei jedem von uns die Dem Film gelingt es dank einer lichtschwangeren, ge- Bereitschaft, auf gesellschaftlicher sowie auf persönlicher schmeidigen und alerten Kameraführung (Aurelio Buch- Ebene Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten zu walder), eines den hohen Anforderungen des vielfältigen verändern. Der Film zeigt uns einen Weg dahin, indem es Materials gewachsenen Schnitts (Tania Stöcklin) und der uns in ein Universum hineinversetzt, indem wir Teile von hilfreich orientierenden Stimme aus dem Off (Stefan Kurt), uns selber in den dargestellten Figuren entdecken können, dem komplexen Stoff eine plastische, sinnliche Nähe und wenn wir uns darauf einlassen. damit einen empathischen Raum zu geben, ohne die gesell- Schritt für Schritt. schaftspolitischen Fragen aus den Augen zu verlieren. Der Auf diese tief menschliche Konfrontation zielt der Film ab, lange Abspann hilft, die eigene Rührung und den notwendi- in dessen Fokus zwei junge Menschen mit Behinderung ste- gen Willen zur Veränderung in einem ersten Schritt irgend- hen: Helena (19) und Jonas (11). Ihre geistigen und körper- wie ins Lot zu bringen. lichen Behinderungen verunmöglichen beiden, ein autono- ‹Wer sind wir?› läuft ab Do 30.1. in den Kultkinos. mes Leben zu führen. Sie sind auf die Hilfe ihrer Eltern – die alleinerziehende Mutter Veronika Kissling und das Ehepaar Ausserdem: Basler Filmtreff zum Thema ‹Cut – Die Kunst der Montage›, mit Filmeditor Claudio Cea: Mo 10.2., 18.30, Stadtkino Basel, Axel und Stefanie Lankenau – und des gesellschaftlichen www.balimage.ch Umfelds angewiesen; bis zu dreizehn Personen kümmern Talk mit Filmregisseur Wim Wenders und Christian Jungen: sich rund um die Uhr um Jonas. Di 11.2., 18.30, Fondation Beyeler → S. 29 All diesen Menschen wird eine grosse Bereitschaft zur ge- Schweizer Filmjahrbuch ‹Cinema› Nr. 65 zum Thema Skandal. forderten Transformation abverlangt, denn sie sind kon- Schüren Verlag, Marburg, 2020. 216 S., Abb., kt., 25 Euro, www.schueren-verlag.de frontiert mit einer Situation, die sie eigentlich nicht woll- ten, aber «sie gehen mit» – wie der Autor im Gespräch unterstreicht – und meistern Schritt für Schritt den schwie- 9 Februar 2020 ProgrammZeitung
Im Dienst von Jazz und mit jenen von Bassist Sisera und Tenorsaxer und Bassklari- nettist Meier. Die neun Aufnahmen – neben vier Komposi- Neuer Musik tionen aus der Feder von Orellis und drei von Meier auch zwei Fremdkompositionen –, zeigen auf eindrückliche Weise, Ruedi Ankli wie die vier Musiker ihre weit reichenden Erfahrungen im Zeichen des Post-Bop auf einen gemeinsamen Nenner brin- Die neue Basler CD-Reihe ‹ezz-thetics› gen: Improvisationen voller Feuer und spritzender Fantasie. von Werner X. Uehlinger. Marco von Orelli Quartett, ‹Lotus Crash› Das 1974 in Basel gegründete Label Hat Hut Records von Alex Hendriksen, Fabian Gisler, ‹The Song Is You›, www.hathut.com Werner X. Uehlinger stösst weltweit auf grosses Interesse ‹ezz-thetics›-Neuerscheinungen: 1103 Sun Ra Arkestra, ‹Heliocentric Worlds 1 & 2› unter Fans von Jazz und Neuer Musik. Die noch lieferbaren 1104 Albert Ayler Trio 1964, ‹Prophecy› CDs der über 500 Editionen aus 45 Jahren sind beim belgi- 1012 Cat Hope & Erkki Veltheim, ‹Works For Travelled Pianos› schen Vertrieb Outhere erhältlich. 2019 hat Uehlinger mit über 80 Jahren einen weiteren Neustart gewagt und die Ausserdem: Radio X Jazz Talk zu 30 Jahre Jazzfestival Basel: Mi 18.3., 19.30, Buchhandlung Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2. Serie ‹ezz-thetics› lanciert, in der er auch Trouvaillen aus Live mit Gästen und anschliessendem Apéro der Jazzgeschichte veröffentlicht, etwa Jimmy Giuffre 3, Jazz im Schützenmattpark-Pavillon: ab Mi 26.2., jeden letzten Mittwoch ‹Graz Live 1961› oder John Coltrane Quartet, ‹Impressions im Monat, 19 h Konzert, anschliessend Jamsession Graz 1962›, beides historisch wertvolle Live-Aufnahmen aus dem Archiv des ORF. Unter der umsichtigen Regie von Bernhard ‹Benne› Vischer werden auch Schweizer Formationen berücksichtigt. Erschie- nen sind bereits fünf CDs, drei weitere sind für 2020 geplant. Mit Feuer und Fantasie. Zwei bereits publizierte CDs sind repräsentativ für die Vi- talität der aktuellen Basler Jazzszene. Der Tenorsaxofonist Alex Hendriksen und der Kontrabassist Fabian Gisler wid- men sich auf ‹The Song Is You› in erster Linie den Komposi- tionen von Duke Ellingtons Alter Ego Billy Strayhorn. Es ist ein eher untypisches Projekt für das Repertoire von Uehlin- ger. Gerade damit aber beweist der Produzent, dass er nicht nur die Avantgarde im Blick hat. Diese zwei hervorragen- den, kreativen Interpreten musizieren in historischen Stil- richtungen und gewähren neue Einblicke. Ihr Album darf als Gegenbeispiel zu gewissen Produktionen gelten, die ger- ne als revolutionär oder innovativ gelten möchten, aber oft nur rhetorische Übungen sind. Uehlinger mag diese Kom- positionen aus der Tiefe der Jazzgeschichte übrigens sehr, gehören sie doch zu seiner musikalischen Sozialisierung in den «Schuljahren», in denen er zum Jazz fand. Die zweite CD ist ‹Lotus Crash› mit Live-Aufnahmen des Quartetts von Marco von Orelli, Tommy Meier, Luca Sisera und Sheldon Suter. Trompeter von Orelli und Drummer Suter waren in den letzten Jahren oft gemeinsam im Feld des Creative Jazz aktiv – mit der CD ‹Big Bold Black Bone› auch für Hat Hut. Ihre Wege kreuzten sich aber auch schon Herzrasen etc. seine Wohnung verhökern will. Dazu zieht er einen alten Copain bei, doch beim War- einstigen Dominikanerkloster von Guebwil- ler ist der Jazz-Pianist Sébastien Troendlé Peter Burri ten auf den Käufer geraten sich die beiden, aus Strassburg zu hören, der mit seinem die einander (und sich selbst) stets etwas virtuosen Programm ‹Rag’n Boogie› jeweils Grosses auf Elsässer Kleinbühnen. vorgemacht haben, in die Haare. sein Publikum begeistert. Wer das französische Kino liebt, kennt ihn In Frankreich touren selbst Stars wie Letzter Tipp: In Hegenheim, gleich ennet aus Filmen von Alain Resnais (‹On connaît Arditti immer mal wieder durch die so- der Grenze, zeigt das pfiffige Chanson-Duo la chanson›, ‹Mon oncle d’Amérique›). Der genannte Provinz – inklusive Westschweiz, Edle Schnittchen (Sarah Ley und Sarah Zu- charismatische Pierre Arditti, der schon in wo ‹Compromis› in Saint-Maurice im Unter- ber) aus Basel, was es in Sachen ‹Herzrasen› unzähligen Kino- und Fernsehproduktionen wallis Station macht. Die vielen lokalen draufhat. Ein breites Angebot auf den Elsäs- mitgewirkt hat, ist aber auch ein gefragter Kulturzentren im Elsass verstehen sich aber ser Kleinbühnen. Bühnendarsteller. So verkörperte er 2018 auch als Plattform für einheimische Kräfte. Edle Schnittchen, ‹Herzrasen›: Sa 8.2., 20 h, den ‹Tartuffe› in Peter Steins Pariser Insze- So treten im Rive Rhin von Village-Neuf die Hegenheim, www.theatredelafabrik.com → S. 37 nierung. Nun gastiert er im Espace Dollfus Brüder Julien und Olivier Lindecker (‹Les Sébastien Troendlé, ‹Rag’n Boogie›: Mi 12.2., Guebwiller, www.les-dominicains.com et Noack (ED&N bzw. ‹Eden›), dem Kultur- frangins Lindecker›) aus Hagenthal-le-Bas Pierre Arditti, ‹Compromis›: Mi 19.2., Sausheim, haus von Sausheim bei Mulhouse. Im Stück auf, die freilich über die Region hinaus be- www.eden-sausheim.com ‹Compromis› des bekannten Schriftstellers kannt sind. Mit ihrer Hommage an Jacques Les frangins Lindecker, ‹Brel 2.0›: Sa 29.2., und Filmemachers Philippe Claudel gibt Ar- Brel orchestrieren sie dessen Chansons mit Village-Neuf, www.mairie-village-neuf.fr ditti einen gescheiterten Schauspieler, der zeitgenössischen Klangmitteln neu. Und im ProgrammZeitung Februar 2020 10
JURA CULTUREL Bruno Rudolf von Rohr Carimentran – Carnaval! Es war kein Zufall, dass unter dem Motto ‹Carnaval et plus encore› am letzten Winzerfest in Vevey die Kantone Basel-Stadt und Jura ei- nen gemeinsamen Auftritt hatten. Auch wenn die jurassische Tradition nicht die (inter)natio- nale Ausstrahlung der Basler Fasnacht besitzt, ist sie an vielen Orten des Kantons sehr leben- dig. ‹Carimentran› heisst der Freiberger Carna- val und meint, frei übersetzt, die fünf ‹fetten Tage› vor dem Eintritt in die Fastenzeit. Er wird hauptsächlich in Le Noirmont ausgiebig gefei- ert. Die Tradition wurde in den Archiven der Gemeinde 1571 erstmals erwähnt, aber vor allem in den Neunzigerjahren, dank intensiver Re- cherchen des in Le Noirmont ansässigen Basler Künstlers Jürg Gabele (1949–2017), in der heu- tigen Form zu neuem Leben erweckt. Vier Höhepunkte (neben 3 Umzügen) zeich- nen den Carnaval des Franches-Montagnes aus: In der Nacht des letzten Vollmonds vor den ‹fet- Ätherische Klänge wie ten› Tagen kommen die ‹Sauvages› (die Wilden) aus den Wäldern und machen Jagd auf die von Zauberhand Mädchen (‹les Baichattes›), die verkleidet in Thomas Meyer Gruppen zu erraten versuchen, wer sich hinter den mit Tannenzweigen getarnten ‹Sauvages› Carolina Eyck stellt das Theremin im Gare du Nord vor. versteckt. Die jungen Frauen provozieren sie Zwei metallische Antennen, die eine aufragend, die andere rundum gebo- dann mit dem Ruf ‹Connu› (erkannt) – doch gen, verbunden durch einen Korpus. Und dazwischen die beiden Hände, wehe, sie werden von den Wilden ergriffen. die sich scheinbar frei in der Luft bewegen und dabei – oh Wunder – schwe- Dann sind ihre Gesichter bald schwarz be- bende Töne erzeugen. Dieses ‹Theremin› wirft so manche Vorstellung über schmiert, und sie landen im (mit lauwarmem Wasser präparierten) Dorfbrunnen. den Haufen, den man von Musikinstrumenten hat: kein Lippendruck, kein Diesen nächtlichen Schattengestalten aus Bogen, keine Tastatur. Die Musik entsteht berührungslos wie aus dem dem Wald folgen dann etwas später, in der Nichts – sie scheint von einem fernen Stern zu stammen. Nacht vom Fasnachtsmontag auf ‹mardi gras› 1920, also vor hundert Jahren, baute der Russe Lew Termen bzw. später (fetter Dienstag), die weissen Figuren, die ‹Bait- Leon Theremin (1896–1993) dieses frühe elektronische Instrument, das er chaiteurs› – baitchai ist ein dialektaler Ausdruck zunächst Ätherophon nannte. Dem Elektrotechniker, Physiker und Erfinder für Lärm von gesprungenen Glocken oder ka- schwebte dabei eine neue Kunstform vor. Und wie die ähnlichen, wenig puttem Geschirr –, die mit Trompeten und Pau- später entwickelten Ondes Martenot, die freilich zusätzlich über eine Tasta- ken durch die Strassen ziehen, um die Winter- tur verfügen, oder auch das Trautonium, kann das Theremin ungewöhn- geister in die hintersten Winkel der Wälder zu liche Klänge erzeugen: Glissandi über mehrere Oktaven, sanft an- und ab- verweisen. Am Dienstagmittag findet als dritter Höhe- schwellende Töne, Heullaute oder auch wunderbar singende Melodien. punkt ‹Le Grand Manger› statt, wie es sich für Eigentlich eröffneten sich damit ungeahnte Dimensionen, und mehrere den letzten Tag vor der Fastenzeit geziemt: ein Komponisten interessierten sich sogleich dafür. Dennoch blieb das There- gargantueskes Riesenchoucroute mit Wurst, min ein Exot und wurde vor allem gern in der Film- und in der Popmusik Schinken, Speck und Wienerli wird 400 Gästen für aussergewöhnliche Stimmungen und ausserirdische Atmosphärik ein- serviert, die danach den Schnitzelbänken der gesetzt, irgendwo zwischen engelshaftem Kitsch und schrillem Schrecken. satirischen Revue ‹Le Poilies-Popotin› lauschen. Freihändig im Magnetfeld. Nach durchzechter Nacht finden schliesslich die Seit einigen Jahren sind jedoch etliche Theremin-Kundige unterwegs, die Festivitäten mit dem grossen Feuer, das den das Instrument von diesen Klischees befreien wollen. So die deutsch-sorbi- ‹Bonhomme Hiver› in Flammen aufgehen lässt, sche Musikerin Carolina Eyck aus Leipzig, die nun nach Basel kommt. Ihr ihr Ende. Vater, der elektronische Musik machte, schenkte der Siebenjährigen das Carimentran: Sa 8.2. (‹Sauvages›) und Fr 21. bis Di 25.2., Le Noirmont, www.carimentran.ch Instrument, und bei der Grossnichte des Erfinders erhielt sie Unterricht. Längst ist sie eine international anerkannte Virtuosin. Sie spielt damit Klas- siker, improvisiert, bereichert das Repertoire auch selber mit Komposi- tionen und Bearbeitungen und regt Kollegen zu Stücken an. Fazil Say gab ihr einen Solopart in zwei seiner Sinfonien, ebenso der Finne Kalevi Aho in seinem Konzert. Nun wird sie zusammen mit dem Genfer Ensemble Contrechamps u. a. eigene Stücke vorstellen, etwa ihre ‹Fantasias› für Theremin und Streich- quartett. Hierzu hat sie die Spielweise auf diesem Ur-Synthesizer erweitert, indem sie neuartige Handstellungen für unterschiedliche Tonleitern austüf- telte (sie hat ein Lehrbuch dafür geschrieben), und sie koppelt das There- min mit weiteren elektronischen Effektgeräten, mit Loops und mit dem Carnaval des Franches-Montagnes, Foto: zVg Computer, sodass sie die Klangfarbe zusätzlich verändern kann. Ausserdem singt sie dazu. Und so entsteht ein extraordinärer Sound: freihändig im Carolina Eyck, Magnetfeld. Foto: Ananda Costa Carolina Eyck, Ensemble Contrechamps: Mo 3.2., 20 h, Gare du Nord → S. 34 11 Februar 2020 ProgrammZeitung
Eine musikalische Entdeckung GESANG & CO. Christian Fluri Dagmar Brunner Die Basler Madrigalisten führen Benno Ammanns Volksmusik und Lieder. ‹Missa Defensor Pacis› auf. Der kubanische Bassbariton Antoin Herrera- Er ist stets auf der Suche nach musikalischen Schätzen von zu Unrecht Lopez Kessel (geb. 1987), Ensemblemitglied am vergessenen Schweizer Komponisten: Raphael Immoos, Dirigent und Theater Basel, der derzeit als Basilio in Rossinis künstlerischer Leiter des professionellen Schweizer Vokalensembles Basler ‹Il barbiere di Siviglia› und in Mozarts ‹Le Nozze di Figaro› als Titelheld zu erleben ist, lädt mit Madrigalisten. Ein sensationeller Fund sei die Messe ‹Defensor Pacis› (Ver- Musikerfreunden zu einer ‹Noche Cubana› ein. teidiger des Friedens) von 1947 des Innerschweizer Komponisten Benno Dabei gibt er Einblick in die Geschichte seiner Ammann (1904–1982). Die Madrigalisten sind mit dem Chorwerk derzeit Familie, die jüngst verfilmt und preisgekrönt auf Tour. wurde; die Regisseurin kommt nach Basel. Der aus Gersau stammende Ammann, der lange in Basel wirkte, war ein Ergänzt wird das Programm mit kubanischen Avantgardist. Er studierte Zwölfton- und Reihentechnik, besuchte in Darm- Balladen, vorgetragen von Gitarre und Gesang, stadt Kurse von Messiaen, Stockhausen, Boulez und Nono und schuf als sowie Drinks. – einer der ersten in der Schweiz Werke elektronischer Musik. Für einen Musik und Gesang bestimmen auch die Pro- solch radikalen Musikdenker habe es in der Innerschweiz keinen Platz ge- duktion ‹Canzuns da Vender›. Die besten Zei- geben, erklärt der aus Brunnen gebürtige Basler Chordirigent. ten der fahrenden Händlerin Celestina (Justina Derungs) sind vorbei, und so nimmt sie jeden Für den Vatikan komponiert. Job an. Zusammen mit der innovativen Volks- Nicht zu Ammanns avantgardistischen Werken gehört die 6- bis 12-stim- musikgruppe Fränzlis da Tschlin und Corin Cur- mige Messe ‹Defensor Pacis›. Sie war ein Auftragswerk von Papst Pius XII. schellas verkauft sie rätoromanische Kinderlie- anlässlich der Heiligsprechung von Niklaus von Flüe (1417–1487) am 15. Mai der aus allen Ecken des Kantons Graubünden 1947. Komponiert wurde die Messe für den Chor der Sixtinischen Kapelle, und berichtet von Lust und Last als fahrende der ganz der gregorianischen Cantus-Firmus-Technik verhaftet war, die seit Musizierende. – Palestrina als Dogma in der katholischen Kirchenmusik galt. «Ammann Lustvoll gespielte Neue Schweizer Volksmusik musste kompositorisch einen Spagat machen», erklärt Immoos. Damit sein ist monatlich auch an der ‹Platanenhof-Stubete› Werk römisch konform war, integrierte er gregorianische Passagen der Mu- und im Rahmen der Reihe ‹Swiss Market Place› sik des Klosters Einsiedeln, wo er Schüler gewesen war. «Er schrieb in line- in der Markthalle zu hören. So tritt etwa Franz arer Art, aber seine Musik klingt nicht nach Palestrina», sie sei eigenständig Hohler mit dem Basler Hornroh Modern Alp- horn Quartet auf, liest aus seinem Buch ‹Immer mit einer Nähe zu Frank Martin. Er habe für die damalige Zeit überraschen- höher› vor und gewährt mit den Musikern eine de Klänge geschaffen, doch damit war der Chor der Sixtinischen Kapelle neue Sicht auf Klischees. – völlig überfordert, und die Umstände der Aufführung waren desaströs. Ein reichhaltiges Liedprogramm singt der viel- Wohl auch deshalb geriet das Werk trotz seiner hohen Qualität in Ver- köpfige Chor Basel, der aus diversen Jugendchö- gessenheit. Glücklicherweise liegt eine sorgfältige Edition der Partitur von ren an der Musik-Akademie herausgewachsen Musik Hug vor, die dort auch tief im Archiv verschwunden war. In dieser ist. Sein neues Konzert handelt von magischen Urfassung ist ‹Defensor Pacis› nun erstmals wieder zu hören. Orten, Momenten und Wesen. Als Kontrast dazu setzt Immoos Chorwerke des romantischen Inner- ‹Noche Cubana›: Mo 24.2., 19 h, Kleine Bühne, schweizer Komponisten Joachim Raff (1822–1882), der u. a. Liszts Assistent Theater Basel, www.theater-basel.ch war. Auch hier stiess der Chordirigent auf einen Schatz – dank der Joachim- ‹Chanzuns da Vender›: So 9.2., 14 h, Theater Palazzo, Liestal (ab 5 J.), www.palazzo.ch Raff-Gesellschaft, die in Lachen ein Raff-Haus einrichtet. Als Uraufführung ‹Platanenhof-Stubete›: jeweils Mi 29.1., 19.2., 25.3., wird sein Messe-Fragment von 1869 mit Kyrie und Gloria für sechsstimmi- 19.30, Klybeckstr. 241, www.platanenhof-basel.ch gen Chor erklingen, dies neben den zur selben Zeit entstandenen Pater nos- ‹Swiss Market Place›: Do 20.2., 20 h, Markthalle ter und Ave Maria. Ammanns Messe und Raffs Chorstücke werden auch auf Basel, Viadukstr. 10, www.altemarkthalle.ch CD eingespielt. Chor Basel mit ‹Magisch ...›: Sa 8.2., 19 h, und Basler Madrigalisten mit Chormusik von Benno Ammann und Joachim Raff: So 9.2., 17 h, Leonhardskirche, www.chorbasel.ch So 16.2., 16.30, Kloster Mariastein. Leitung Raphael Immoos Joachim Raff 1822–1882, Raff-Archiv/Sammlung Marty Benno Ammann, 1946, Foto: Nachlass ProgrammZeitung Februar 2020 12
setzt und interpretiert. Und natürlich inspiriert es bis heute auch Kunstschaffende aller Gattungen und Couleur. Es gibt Bibeln in jeder Ausstattung, für Gross und Klein, kunstvoll illustriert oder in gerechter (nicht diskriminierender) Spra- che, und immer geht es darin um die Botschaft von der Liebe Gottes, die «Zuversicht im Leben und Sterben» geben soll, wie es in meiner Ausgabe heisst. Sprech- und Hör-Ereignis. Das ökumenische Zentrum für Meditation und Seelsorge, Offline, das seit 2017 auf dem Bruderholz die Titus Kirche und die Kirche Bruder Klaus mit Veranstaltungen und litur- gischen Feiern belebt, realisiert nun in Zusammenarbeit mit vielen freiwillig und zum Teil namhaften Mitwirkenden ein besonderes Projekt: eine Lesung der gesamten Bibel in elf Tagen, begleitet von täglich drei Unterbrüchen mit Musik und Stille. Denn die Bibel sei in erster Linie ein Sprech- und Hör-Ereignis, meinte ein Forscher, und auch Kurt Marti schätzte das Werk u. a. seiner Vielstimmigkeit wegen. Zu den Lesungen sind alle (auch nur für kurze Zeit) will- kommen, und wer will, kann selbst einen Abschnitt aus der Vielstimmiges Erleben eigenen oder einer aufliegenden Bibel vortragen, gerne auch in der Muttersprache. Gelesen wird täglich in 20-mi- Dagmar Brunner nütigen Abschnitten von 7 bis ca. 21 Uhr, mit Musik und Stille jeweils um 9, 12 und 18 Uhr. Begleitend werden in Zu einer Bibellesung mit Musik und Stille lädt einer Ausstellung Bibeln aus verschiedenen Epochen und in das ökumenische Zentrum Offline ein. diversen Sprachen präsentiert. Ausserdem trägt das Forum Meine ist klein, hat aber fast 1300 Dünndruckseiten, und für Zeitfragen im Rahmen seiner Themenreihe ‹Faszination ich konsultiere sie hin und wieder aus kulturgeschichtli- Heilige Schrift› zwei Abendveranstaltungen bei. chem Interesse. Sie gilt als wichtigste religiöse Textsamm- ‹Die Bibel in 11 Tagen›, Lesung mit Musik und Stille: lung des Christentums und ist das meistgedruckte und So 2.2., 12 h bis Mi 12.2., 19 h, Titus Kirche, Im Tiefen Boden 75, Tramstation Bruderholz, www.offline-basel.ch → S. 36 -übersetzte Werk der Welt: die Bibel. Der Begriff stammt Ausstellung ‹Die Bibel – von gestern bis heute›: ebenda aus dem Griechischen und bedeutet Bücher. Gemeint sind Themenreihe ‹Faszination Heilige Schrift›: Do 6.2., 19 h, Titus Kirche, damit das Alte und das Neue Testament, wobei das Alte und Di 11.2., 19 h, Zwinglihaus, www.forumbasel.ch rund zwei Drittel ausmacht. Während das erste – kurz gesagt – die Geschichte des jüdischen Volks mit seinem Ausserdem: Konzertreihe ‹Titus beflügelt›, Literarische Kammer- konzerte: So 16.2., 17 h, Titus Kirche. Eine ‹Winter-Reise› mit Musik Gott erzählt, handelt das zweite von Jesus und seiner An- von Schubert und Text von Peter Härtling → S. 36 hängerschaft. Konzertreihe ‹point d’orgue›: So 2.2., 17 h, Titus Kirche. Wann genau die ersten Schriften entstanden sind, ist um- Mit jüdischer/israelischer Orgelmusik und Musik für Kantor, stritten, aber sicher ist, dass es seit der Antike vielfältige Orgel und Gesangsensemble zur ‹Genesis› Kritik dazu gibt. Das scheint dem ‹Buch der Bücher› freilich nicht zu schaden, vielmehr wird es immer wieder neu über- Christian Sutter, Foto: Stefan Gawlick Klangkörper Das aktuelle Saisonprogramm der Came- rata variabile, ‹Resonant Bodies›, kreist um Vielfältigen Genuss bereiten auch die Boswiler Meisterkonzerte, die im Januar Dagmar Brunner Klangkörper und die Resonanzen, die sie mit ‹Feenliedern› starteten und mit Musik beim Hören in uns auslösen. Im nächsten aus allen Epochen sowie versierten Interpret- Musik aus allen Zeiten. Konzert stehen der Puls, der Atem und Innen ein breites Publikum anzusprechen Einen musikalischen Dialog zwischen An- das Essen im Zentrum, neben bekannten vermögen. Natürlich wird auch der 250. Ge- tike und Barock führen zwei Ensembles mit Stücken von Händel, Glinka, Martinů und burtstag von Ludwig van Beethoven dort insgesamt zehn Musizierenden: Melpomen anderen sind auch zwei Uraufführungen ausgiebig gewürdigt. unter der Leitung von Conrad Steinmann mit eigens gebauten Klangkörpern des Melpomen und Concert Universel, ‹Chronos›: widmet sich seit über zwanzig Jahren der Basler Musik- und Wortschöpfers Lukas Fr 31.1., 19.30, Predigerkirche altgriechischen Musik und zählt u. a. die Rohner zu erleben. – Camerata variabile, ‹Klangkörperlich›: Mi 19.2., 20 h, und ‹Katz & Muusig›: So 16.2., 11 h und 14.30 Sopranistin und Lyraspielerin Arianna Savall Im Gare des Enfants werden Kinder unter Gare du Nord → S. 34 zu seinen Mitgliedern. Le Concert Universel dem Motto ‹Katz & Muusig› von einer Harfe- ‹Begegnung mit Musik›, Panflöte: So 9.2., 17 h, wurde 2017 von Juliette Roumailhac gegrün- nistin und einer Klarinettistin auf leichte Kleines Klingental → S. 33 det und ist mit Barockmusik unterwegs. Nun und humorvolle Weise in die Musikge- Boswiler Meisterkonzerte: So 16.2. ff., bieten sie unter dem Titel ‹Chronos› und schichte eingeführt. Und die Reihe ‹Begeg- www.kuenstlerhausboswil.ch nach einem einführenden Vortrag ein Kon- nung mit Musik im Kleinen Klingental› Ausserdem: Kammermusikreihe ‹Klanglichter›: zert mit zum Teil neu geschöpften Stücken, bringt den Kindern in Konzert und Work- Sa 15.2., 19.30, Obere Fabrik, Sissach. Mit Werken von Beethoven und Robert Schumann → S. 32 in denen die in der jeweiligen Zeit üblichen shop Corellis Musik für Panflöte näher; die Instrumente (Aulos, Lyra, Kithara, Tympanon Erwachsenen geniessen zudem Stücke von und Dulcian, Cembalo, Violinen) sowie Ge- Bartók, Mozart und Nigel Hess. – sangsstimmen aufeinandertreffen. – 13 Februar 2020 ProgrammZeitung
Blind Butcher, Foto: Ralph Kühne (links) und The Night Is Still Young, Foto: Eleni Kougionis Sounds aus aller Welt Benedikt Lachenmeier Die Kaserne Basel bietet ein vielschichtiges Local Heroes. Musikprogramm. Und wird heuer 40! Doch auch die neuen Werke der lokalen Musikszene er- Dass Musikfestivals die Kaserne bespielen, hat Tradition. halten ihren Platz im Rossstall und in der Reithalle. Den Den Anfang macht Mitte April das ‹BScene›. Das ehrenamt- Auftakt macht die legendäre Band Les Reines Prochaines. lich organisierte Clubfestival bringt während zwei Tagen Mit ihrer restlos ausverkauften Revue ‹Let’s Sing, Arbeite- eine geballte Ladung Musik. Neben lokalen, nationalen und rin!› ist sie im Januar 2019 gestartet, hat im Spätsommer internationalen Grössen gibt es jedes Jahr Newcomer zu den Schweizer Musikpreis eingeheimst – und nebenbei an entdecken. Zwei Wochen später gastiert das Jazzfestival einem neuen Album geschraubt. Das Resultat heisst ‹Zu un- Basel. Ob frisch aufkeimende Szene im Süden Londons serer Verfassung›. oder lokale Grösse: Die Bandbreite reicht vom vorwärts ge- Ebenfalls fleissig waren die Basler Psychodelic-Rocker The richteten Saxofonspiel eines Shabaka Hutchings bis hin zur Night Is Still Young. Mit ‹She Wants Us To Leave› steht nach Stimmakrobatik von Andreas Schaerer. Mit seinem Label zwei Platten im Jahr 2018 nun bereits der nächste Long- Czar of Crickets Productions feiert Zatrokrev-Frontmann player für die Releaseparty bereit. Mit Patent Ochsner und Fredy Rotter in der Kaserne das fünfte Czar-Fest. Welche Jeans for Jesus stehen auch zwei Mundartbands auf der Überraschungen es birgt, ist noch offen, sicher ist: Es wird Bühne. Zum Saisonabschluss im Juni feiert die Kaserne ihr metallisch, hart und laut. 40-jähriges Bestehen mit Tanz- und Theaterperformances Bereits das dritte Jahr in Folge widmet sich die Kaserne sowie Bands – natürlich u. a. auch aus Südamerika. der Fusion aus Pianoklängen und Elektronika. Der diesjäh- Les Reines Prochaines: Fr 7.2., 20 h, Kaserne Basel → S. 38 rige Vertreter dieser Kombination heisst Lambert. Der deut- Blind Butcher: Fr 14.2., 21 h Step It Up x Dubmarine – Powered by Echolot Dub System, sche Pianist und Komponist kreiert mit Songs von Apparat Nucleus Roots: Fr 21.2., 23 h oder Deichkind schillernde Klanggemälde. Lambert zitiert Baye Magatte Band: Sa 22.2., 21 h elektronische Tanzmusik genauso gerne wie Sixties-Gitar- The Night Is Still Young: Fr 28.2., 20 h Bren Sinatra: Sa 29.2., 22 h renpop oder Jazz. Latin Love. Ihrem Faible für lateinamerikanische Klänge frönt die Kleine Dramen Kaserne weiterhin. Die monatliche Reihe ‹Nocturna Visión› db. In der Reihe Stückbox werden bisher unveröffentlichte geht in die nächste Runde. «Ziel ist es, Acts zu buchen, Texte nach kurzer Probenzeit und mit möglichst wenig Aus- welche die traditionellen Wurzeln aus Südamerika mit der stattung von Profis auf die Bühne gebracht, das gesprochene Musik von heute verbinden», erklärt Luisa Bitterlin vom Wort und das Spiel stehen im Vordergrund. Die Stücke wer- Programmteam das Konzept. Auch die Fasnacht schickt die den jeweils in Dornach und in Zürich gezeigt; im Text ‹Ich Kaserne direkt in die Tropen. An der Morgestraich-Party muss Deutschland› von Catalin Dorian Florescu geht es um versorgt Moonanga aus Toulouse das Publikum bis um vier eine absurde Begegnung zwischen einem Grenzsoldaten und einem Flüchtling, in ‹Mimosa› von Esther Becker um eine Pilo- Uhr früh mit Tropical Bass, Cumbia Digital und Elektro- tin, die unerwartet herausgefordert wird. – World. Das Stück ‹Sodeli – ein kleiner Akt› von Händl Klaus handelt Experimentelle, wenn auch ruhigere Klänge bringt die mit feinem Humor und entwaffnend direkt von weiblicher argentinische Singer-Songwriterin Juana Molina an ihrem Lust im Alter: von Frau Kögeli, die unverhohlen ihren Pfleger Konzert ins Haus. In ihrer Heimat längst berühmt, ist die anmacht und einer liebevollen Erlösung, zu der das Schau- Musikerin bei uns noch ein Geheimtipp. Das Kaserneteam spieler-Duo souverän beiträgt. hat Molina auf ihrer internationalen Tour erwischt, um die Stückbox ‹Ich muss Deutschland›: Mi 29.1., Fr 31.1., Sa 1.2., ‹Björk aus Südamerika› bei uns vorzustellen. Mit dem bel- und ‹Mimosa›: So 16.2., Mi 19.2. und Do 20.2., Neues Theater Dornach → S. 40 gischen Soulpop-Duo Yellow Straps und Psych-Pop-Star Islandman aus der Türkei verrät Programmchef Sandro ‹Sodeli – ein kleiner Akt›: Mi 5. / Do 6.2., 20 h, Vorstadttheater Basel → S. 41 Bernasconi zwei weitere internationale Geheimtipps. ProgrammZeitung Februar 2020 14
Pulsierender Totentanz Carmen Stocker Boris Nikitins spartenübergreifende Produktion ‹24 Bilder pro Sekunde›. 2015 erkrankte Boris Nikitins Vater an ALS, einer Krankheit, bei der konti- nuierlich die Nerven und Muskeln versagen, bis der Körper nicht mehr in der Lage ist, sich zu bewegen. Nikitin stand seinem Vater, der 2016 starb, in den letzten Lebensmomenten bei. Mit dieser Erfahrung hat sich der Basler Regisseur und Autor 2019 in seinem einstündigen Soloabend ‹Versuch über das Sterben› intensiv auseinandergesetzt. Den Sterbeprozess seines Vaters nimmt er auch zum Ausgangspunkt seines aktuellen Projektes, das in Anlehnung an eine Aussage des französischen Regisseurs Jean Cocteau mit ‹24 Bilder pro Sekunde› betitelt ist. Das Stück thematisiert Sterblichkeit, Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Krankheit. Im Gegensatz zu seinem puristischen Solostück agieren nun sechs Tanzen- de und ein Klavierquartett vor einer überdimensionalen Projektionsfläche, MITTENDRIN auf der Live-Video-Aufnahmen des Bühnengeschehens vom Videokünstler Georg Lendorff zu sehen sind. Dorothea Koelbing Überblendung von Musik und Tanz. «Zum ersten Mal mache ich ein Stück ohne Text, was eine grosse künst- Autobiografisches von lerische Herausforderung ist», sagt Nikitin, der die Choreografie in Zusam- Angela Winkler. menarbeit mit der israelischen Choreografin Lee Meir erarbeitet. Das Tanz- «Alle sieben Jahre sind wir umgezogen, haben ensemble setzt sich aus Mitgliedern unterschiedlicher Herkunft zusammen, alte verfallene Häuser aufgebaut, und kaum waren sie fertig, sind wir weitergezogen. die aus diversen Tanzrichtungen kommen. «Wir haben versucht, eine eigene Wigand, mein Mann, ist Bildhauer.» So gibt die Tanzsprache aus verschiedenen Zuständen von Körperlichkeit und Intimi- Schauspielerin Angela Winkler, geboren 1944 tät zu finden», so Nikitin. in Templin, Einblick in ihr bewegtes Leben. Alle Ein Fokus des Stückes liegt auf der pulsierenden Musik des Zürcher Kla- Wetter, Natur und Draussensein sind ebenso vierquartetts Kukuruz, die sich wie ein roter Faden durch den Abend zieht. ihr Zuhause wie Theaterbühnen, Städte und Während das Publikumslicht noch an ist, wärmt sich das Tanzensemble auf Hotels, Reisen und die Familie. Ihre vier Kinder der Bühne auf, die Musizierenden stimmen ihre Instrumente und spielen – Luca, Tammo, Nele und Lasse sind in Italien, einem Medley ähnelnd – bekannte Musikstücke an, die sie dann wieder ab- Deutschland, Spanien und Frankreich zur Welt brechen. Der Zuschauerraum verdunkelt sich und das Quartett spielt ein gekommen. extrovertiertes Stück, eine Zusammenstellung aus der Filmmusik zu ‹Der Man sieht Winkler mit den Händen in der Erde, mal Kräuter, mal Blumenzwiebeln pflan- weisse Hai› und Stravinskys ‹Le sacre du printemps›, das Nikitin in einer zend. Schutzhandschuhe braucht sie weder kürzeren Fassung bereits 2016 in seinem ‹Hamlet› verwendet hat. In der an- zum Putzen noch zum Gärtnern. Sie nimmt uns schliessenden sich steigernden, repetitiven Minimal Music ‹Gay Guerrilla› mit an die Elbe bei Hamburg zur Ernte der von Julius Eastman stossen die Musizierenden an ihre physischen Grenzen. «Apfelplage», an den Schiffbauerdamm in Ber- Nikitin kreiert einen sehr sinnlichen und visuellen Abend, an dem das Mu- lin, in das Haus in der Auvergne, wo sie mit sikalische zuweilen körperlich und das Körperliche musikalisch wird. der Familie fünf Jahre ohne Theater lebte. Den Boris Nikitin/Kukuruz Quartett ‹24 Bilder pro Sekunde›: Do 20.2., 20 h (Premiere), Iphigenie-Monolog lernt sie beim Unkraut jä- bis So 23.2, Kaserne Basel → S. 38 (ferner u. a. an den Wiener Festwochen) ten. In der Bretagne füllt sie 80 Gläser Honig ab Buch ‹Versuch über das Sterben›, Verlag Edition Frida, Chur, 2020 (in Vorbereitung) und malt auf die Etiketten Blumenmotive. Ihre Berliner Stadtwohnung liegt mitten im dicht be- siedelten Quartier Neukölln. Seit über 50 Jahren spielt Winkler Theater, z. B. mit den Regisseuren Peter Zadeck, Robert Wilson und dem für sie wichtigsten, Klaus Mi- chael Grüber. Die Filme ‹Die verlorene Ehre der Katharina Blum› und ‹Die Blechtrommel› mach- ten sie bekannt, doch ihr Herz gehört Bühnen- figuren, etwa Martha (‹Arsen und Spitzenhäub- chen›), Iphigenie und Hamlet. Was beim Lesen bezaubert: Die Unbefangenheit und Direktheit, mit der Angela Winkler auf das Leben in seiner ganzen Fülle zugeht. Bewegend ist es, wie sie sich mit dem Downsyndrom ihrer Tochter Nele vertraut macht und heute sagt: «All das Unge- stüme, Unbefangene, Freie, das ich damals in dem Film ‹Jagdszenen aus Niederbayern› hatte, sehe ich bei meiner Tochter Nele, wie sie und ihre KollegInnen am ‹RambaZamba› Theater spielen.» Am Ende des letzten Kapitels ‹Wir werden weiter machen› geht sie zur Probe im Deutschen Theater in Berlin – ein klares Ja zu Theater und Leben. Das Buch hat sie ihrer Familie gewidmet. Angela Winkler (mit Brigitte Landes), ‹Mein blaues Zimmer – Autobiographische Skizzen›, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2019. 229 S., ‹24 Bilder pro Sekunde›, Foto: Boris Nikitin 35 Fotos, gb., CHF 31.90 (auch als eBook lieferbar) 15 Februar 2020 ProgrammZeitung
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