PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL

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PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Christoph Oertli, ‹Sensing Bodies› (Detail), 2020 (Videostill),   Agenda-Partner
Kunsthaus Baselland, Courtesy the artist → S. 23                     des Monats

                                                                                   Kultur
                                                                                   im Raum Basel
                                                                                          Februar 2020 | Nr. 358
                                                                                                                   CHF 9.00 | EUR 8.20

                                                                                    ProgrammZeitung
                                                                                                                                         unabhängig & vielseitig seit 1987
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Für eine lebenswerte Stadt
    Dagmar Brunner

    Editorial.
      Wir alle kennen sie – und haben doch wenig Ahnung von
    ihrem Tun: die Menschen in ihren orange-blauen Überklei-
    dern, die unsern Dreck wegräumen. Oder wussten Sie, dass
    die Serra-Plastik auf dem Theaterplatz im Sommer mindes-
    tens einmal pro Woche gründlich geputzt werden muss,
    weil sie als Pissoir missbraucht wird? Oder wie man Vogel-
    kacke effizient beseitigt? Oder wie ein guter Krummbesen
    beschaffen sein soll? Das alles erfährt man im neuen Doku-
    mentarfilm von Roland Achini, ‹Wir machen eure Stadt
    sauber›. Darin folgt er Angestellten der Stadtreinigung bei
    ihrer anspruchsvollen und vielfältigen Arbeit, die ihnen
    neben Mühsal auch Genugtuung bereitet.
      Ihr gefalle es, die Strasse sauber zu machen und mit Män-
    nern zu arbeiten, sagt etwa eine selbstbewusste junge Frau,
    eine andere möchte besonders den Auswärtigen «ein gutes
    Bild von Basel vermitteln». Der «Besen-Guru» macht sein             erster Film; der ehemalige Chemiker war schon als Student
    Werkzeug «mit Herz», sein Kollege mag «die Abwechslung,             mit einer Kamera unterwegs. Als feinsinniger Beobachter
    den Menschenkontakt, das draussen Arbeiten», ein weiterer           des Alltags mit einem Faible für originelle Individuen und
    schwärmt von seinem «Traumjob, weil man dabei singen,               die Nischen der Gesellschaft porträtierte er in den letzten
    sich frei fühlen und für eine bessere Welt kämpfen» kann.           Jahren ‹Surprise›-Verkäufer, den Guerilla-Gärtner Maurice
    Und alle freuen sich über einen Gruss, einen Dank oder              Maggi, eine Kreativwerkstatt für Bedürftige, das Clara-
    ein Lob.                                                            Brocki, Flüchtlinge, Lebenskünstler usw. Er mag Herausfor-
      Als Roland Achini seine Filmidee bei der Stadtreinigung           derungen aller Art, lernt u. a. seit Langem Chinesisch, «weil
    im Tiefbauamt vorstellte, erfuhr er von allen Seiten grosse         es so schwierig ist». An seinem neuen Film hat er rund ein
    Hilfsbereitschaft. Er durfte verschiedene Teams kennen ler-         Jahr gearbeitet. Er lässt darin ausschliesslich die Dargestell-
    nen, rund 20 Personen interviewen, mit deren Einverständ-           ten selbst zu Wort kommen, macht sie sichtbar – und setzt
    nis filmen und sie bei ihrer Arbeit begleiten. Sei es frühmor-      ihnen damit ein kleines Denkmal.
    gens, bei Tag oder nachts, bei der Alltags-, Grün-, Glas- oder      Filmvorführung und DVD-Taufe von ‹Wir machen eure Stadt sauber.
    Papierabfuhr – die Müllberge sind immens, vor allem nach            Die Stadtreinigerinnen und Stadtreiniger von Basel› (48 Min.): Sa 8.2.,
                                                                        11 h und 12.15, Stadtkino Basel. Mit Apéro, Eintritt frei, Kollekte.
    Herbstmesse, Silvester oder Fasnacht (2019 ca. 405 Tonnen           DVD-Bezug via Roland Achini, www.cinemachini.ch
    Räppli u. a.). Zwanzig Millionen Franken kostet die Sauber-         Ein weiterer engagierter Dokumentarfilm aus Basel stammt von
    keit der Stadt Basel pro Jahr, und etwa 270 Angestellte sind        Edgar Hagen und wurde für den ‹Prix de Soleure› nominiert → S. 9.
    im Einsatz. Sicher ist, dass ihr Engagement die Stadt lebens-
                                                                        Filmstill aus ‹Wir machen eure Stadt sauber... ›
    werter macht.
      Roland Achini hat ohne Auftrag und auf eigene Kosten ge-
    dreht; Regie, Buch, Ton, Kamera, Musik, Montage und Pro-
    duktion stammen aus seiner Hand. Es ist ja auch nicht sein

     HAUSKULTUR
                                                     sollten, weil es brisante Fragen zum Themenbe-
                                                     reich Mensch und Maschine behandelt bzw. wie                          Inhalt
                                                     Computer unsere Arbeitsweise und das Men-
      db. Vor einem Jahr, am 25. Januar 2019 sind    schenbild verändern.                                                  Kultursplitter             5
    wir in unsere neuen Büros in der Alten Markt-      Last, but not least: Wer am 9. Februar ein Ja
    halle gezogen – und haben es noch keinen Tag     für die Revision der Antirassismus-Strafnorm                          Redaktion                  7
    bereut! Nette Büronachbarn, mehr Stauraum,       einlegt, greift damit nicht in die Meinungsfrei-
    viel Sonne, erträglicher Strassenlärm und na-    heit ein, sondern setzt ein klares Zeichen gegen                      Kulturszene               26
    türlich das kulinarische Angebot im Haus haben   Hass und Diskriminierung aufgrund der sexuel-
    rasch zum Wohlgefühl beigetragen.                len Orientierung und für eine offene, respekt-                        Agenda                    48
      Die Christoph Merian Stiftung, die auch das    volle Gesellschaft.                                                   Kurse                     73
    Basler Stadtbuch betreut, lädt zu einem Podium   Podium Stadtbuch lokal 2020 zu ‹Basler Medien
    über ‹Basler Medien im digitalen Umbruch› ein.   im digitalen Umbruch›: Fr 28.1., 18–20.30,                            Impressum                 73
    Ausserdem stellt unser Autor und Stadtbuch-      SRF-Auditorium, Meret Oppenheim Hochhaus,
    Redaktor Tilo Richter die Themen der Ausgabe     www.baslerstadtbuch.ch                                                Kunsträume                74
    2020 vor, zu der ich einen Artikel über den      Matthias Zehnder, ‹Die digitale Kränkung.
    Frauenstreik beitragen durfte.
                                                     Über die Ersetzbarkeit des Menschen›.                                 Museen                    76
                                                     Verlag NZZ Libro, 128 S., 5 Abb., gb., CHF 24
      Unser ehemaliger Autor, der umtriebige Pub-
    lizist und Technologieexperte Matthias Zehn-
                                                     Veranstaltungen zur Erweiterung der                                   Bars & Restaurants     78– 79
                                                     Antirassismus-Strafnorm: www.jazumschutz.ch,
    der hat ein neues Buch geschrieben, das auch     www.baselimgespraech.com,
    Technikmuffel verstehen können und lesen         www.gaybasel.org/events

3   Februar 2020   ProgrammZeitung
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
K
Männer begegnen Männern            2019/20

MO   14. Okt.   Alt, schön und attraktiv
MI   13. Nov.   Film ab! Wir Männer im Kino
MI   11. Dez.   Das Kind im Manne
MO   13. Jan.   Mut zum eigenen Weg
DI   11. Feb.   Ich und Sport
DO   19. März   Balance zwischen Arbeit,
                Familie, Partnerin und mir
Im Unternehmen Mitte Basel
jeweils 20.00 – 22.00 Uhr
www.baslermaennerpalaver.ch
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
KULTURSPLITTER
MONATSTIPPS DER MAGAZINE aus Aarau (AAKU), Bern (BKA), Luzern (041), Olten (AUSGEHEN),
St. Gallen (Saiten), Vaduz (KuL), Winterthur (Coucou) und Zug (ZugKultur)

Leidenschaftlicher                                             Bad Boy Dullin                       Dialektspiele                           ‹Milchmädchenrechnung›
Klangperfektionismus                                           Der in Bern lebende Komiker          Man kennt die beiden in der             Rhaban Straumann und Matthias
Ätna ist nicht nur der höchste                                 und Performer Johannes Dullin        ganzen Schweiz: Lorenz Häberli          Kunz zeigen ihre Erfolgsproduk-
noch aktive Vulkan Europas, so                                 hat den Nonsens im Blut              und Luc Oggier. Noch nie                tion in hochdeutscher Sprache.
nennt sich auch eines der wohl                                 und sticht heraus mit seinem         gehört? Dann vielleicht unter           Lustvoll wehren sich Ruedi &
kreativsten deutschen Musiker*-                                absurden und oft peinlich            ihren Musiker-Alter-Egos: Als           Heinz gegen Alltagstrott und
innenduos (Bild). Die zeitgenös-                               berührenden Humor. In seinem         Lo & Leduc komponierten sie den         Langeweile. Bestärkt durch das
sische Mélange aus zartem Pop,                                 dritten Solostück ‹Johannes          grössten Hit der Schweizer              Tageshoroskop verfolgt Heinz
jazzigen Beats und Electronica ist                             Dullin spielt den Teufel› begibt     Musikgeschichte (079...). Doch          einen heimlichen Plan. Nur wie
filigranste Handarbeit und bis ins                             sich der Stand-Up-Comedian in        neben Festivalbühnen treten die         kann er Ruedi dazu bewegen,
letzte Detail durchdacht. Inéz                                 die Rolle des verführerischen        beiden Wortakrobaten auch in            sich auf das, woran dieser
Schaefer erschafft mittels Piano                               Beelzebub und reisst die             Kleinkunstsälen auf und ver-            nicht glauben will, vorzubereiten?
sowie Synthie und Stimme                                       Mauern zwischen Comedy               schreiben sich ganz der Spoken-         Ruedi lässt sich nicht beein-
verträumte Klangwelten, die von                                und Hochkultur nieder.               Word-Kunst. Dabei zeigen die            drucken. Ständig ist er mit
dem Perkussionisten Demian                                     Mi 19. bis Sa 22.2., 20.30,          beiden Berner ihr aussergewöhn-         seinem Rollator auf Achse.
Kappenstein gleichsam unter-                                   Tojo Theater Reitschule, Bern,       liches Gespür für die Schweizer         ‹Milchmädchenrechnung› mündet
stützt als auch durchbrochen                                   www.tojo.ch                          Mundart mit klugem Witz und             in ein kabarettistisches, aber-
werden. Es brodelt – Ätna ist                                                                       viel Charme.                            witziges Roadmovie.
wieder aktiv.                                                                                       Do 13.2., 20 h, Häberli Oggier –        Di 28. und Mi 29.2., 20.15,
Do 27.2., 20 h, Royal, Baden,                                                                       Wörter wie wir, Kleintheater, Luzern,   Theaterstudio Olten,
www.royalbaden.ch                                                                                   www.kleintheater.ch                     www.theaterstudio.ch

                                                                                                                                                                                Bild: Chris Krebs Photography
                                       Foto: Tanja Dorendorf

St. Galler Alptraum                                            ‹Im weissen Rössl›                   Grössenwahnsinniger Tanz                Russischer Krimi
Josef Ka ist Portfoliomanager bei                              Die Operette Balzers spielt die      Seit 150 Jahren wird das Ballett        Mara ist ein Cello, und zwar
der Privatbank ‹Gallus und                                     1929/30 entstandene, erfolg-         Don Quixote rund um den                 eines von Stradivari. Name
Söhne›. An seinem 30. Geburts-                                 reichste Revueoperette der           Globus aufgeführt. Marcia               dropping? Warten Sie nur:
tag wird er zum Mitarbeiter des                                Zwanzigerjahre ‹Im weissen           Haydée, in der Tanzwelt so              Prokofjew, Mendelssohn und
Jahres gekürt, doch noch auf der                               Rössl› von Ralph Benatzky.           berühmt wie Quixote selbst,             Schostakowitsch. Plus Mara. All
Feier wird er verhaftet – von zwei                             Zu hören sind viele bekannte         interpretierte die mittels Grand        das am Abokonzert der Zuger
Witzfiguren. Warum gerade er?                                  Musiknummern wie: ‹Im weissen        jetés und Pas de deux erzählte          Sinfonietta. Christian Poltéra
Was hat das mit dem Gesetz zu                                  Rössl am Wolfgangsee› (Ralph         Romanze neu. Ihre Inszenierung          spielt das Konzert für Violoncello
tun? Der Prozess verwandelt Kas                                Benatzky), ‹Was kann der             mit der São Paulo Dance                 und Orchester Nr. 1 Es Dur
Leben in einen Alptraum, aus                                   Sigismund dafür, dass er so          Company begleitet vom Musik-            Op. 107 von Schostakowitsch.
dem er nicht erwachen kann …                                   schön ist?› (Robert Gilbert), ‹Im    kollegium Winterthur hüllt das          «In Zusammenhang mit der
Das Schauspiel von Anita                                       Salzkammergut, da kann man           Theater Winterthur gleich viermal       Sowjetunion wird dem Werk eine
Augustin nach dem Roman von                                    gut lustig sein› (Ralph Benatzky)    in Flair al estilo sudamericano.        vielzitierte und heiss diskutierte
Franz Kafka ist eine Uraufführung                              oder ‹Es muss was Wunderbares        Do 20.2. bis Sa 22. Don Quixote,        Doppelbödigkeit zugeordnet»,
in Koproduktion mit der Hoch-                                  sein› (Ralph Benatzky). Den          Premiere: Do 20.2., 19.30; Fr 21. und   schreibt der Veranstalter.
schule für Schauspielkunst Ernst                                                                    Sa 22.2., 19.30; So 23.2., 14.30,       Immerhin: Schostakowitsch habe
                                                               Zuschauer erwartet einen             Theater Winterthur, Theaterstrasse 6,
Busch Berlin.                                                  bunten, unterhaltsame Operet-        Eintritt: CHF 90/75/60,                 so mit Stalin abrechnen wollen.
Bis Do14. Mai, Der Prozess,                                    tenabend.                            www.theater.winterthur.ch               Klingt wie ein Krimi.
Grosses Haus, Theater St.Gallen,                                                                                                            Sa 29.2., Stradivari meets
                                                               Der gesamte Spielplan und
www.theatersg.ch
                                                               Ticketreservationen sind zu finden                                           Schostakowitsch, Lorzensaal Cham,
                                                               unter www.operette-balzers.li                                                www.zugersinfonietta.ch

5     Februar 2020   ProgrammZeitung
                                                                                                                                            Auf dem Bild: Zuger Sinfonietta
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
KONTROVERS
                                                                                             Clea Wanner

                                                                                             Retrospektive Lina Wertmüller.
                                                                                               Für viel Aufsehen sorgte 1975 die Tragikomö-
                                                                                             die ‹Pasqualino settebellezze›. Der kleine Macho
                                                                                             Pasqualino wird vor lauter Machthunger zum
                                                                                             Mörder, geht vom Irrenhaus an die Front und
                                                                                             landet schliesslich als Deserteur im KZ. Doch
                                                                                             anstatt die historischen Schrecken zu zeigen,
                                                                                             gipfelt die Lagersequenz in einem makaber-gro-
                                                                                             tesken Liebesakt mit der Kommandantin Hilde.
                                                                                             Die unmoralische Darstellung liess sich Lina
                                                                                             Wertmüller jedoch nicht zum Vorwurf machen.
                                                                                             «Wenn in der Liebe und im Krieg alles erlaubt
                                                                                             ist, ist auch im Kino alles erlaubt», so ihr Credo.
                                                                                             Die Unerschrockenheit zahlte sich aus: Der Film
                                                                                             bescherte ihr als erste Frau eine Oscar-Nominie-
                                                                                             rung für die beste Regie.
                                                                                               Ausgebildet an der Theaterakademie, kam sie
                                                                                             1963 als Regieassistentin bei Fellinis ‹8 ½› zum
                                                                                             Kino. Im selben Jahr drehte sie ihr Debüt ‹I basi-
                                                                                             lischi›, eine neorealistische Satire. Sie über-
     Progressive Beats aus Ghana                                                             raschte mit ihrem künstlerischen Eigensinn,
                                                                                             und als sie im Spaghetti-Western ‹Il mio corpo
    Clea Wanner                                                                              per un poker› eine Frau zur Revolverheldin
                                                                                             machte, die zwischen Freiheitsdrang und Un-
    Musikalischer Dokumentarfilm ‹Contradict›.                                               terwerfung oszillierend am Ende doch den Ge-
      2013 reiste das Regieduo Peter Guyer und Thomas Burkhalter nach Ghana.                 fühlen für einen Mann nachgibt, war klar:
    Accra war Startpunkt für ein Multimedia-Projekt über globale musikalische                Wertmüllers Filme sind witzig, temporeich,
    Trends. Was sie vorfanden, überstieg ihre Erwartungen: eine lebendige                    schrill und zugleich höchst ambivalent.
                                                                                               Den Durchbruch schaffte Wertmüller 1972 mit
    Musikszene, die mit progressiven Sounds und viel Humor gesellschaftliche
                                                                                             einer Tetralogie mit Giancarlo Giannini in der
    Entwicklungen sowie die eigene Musikkultur reflektiert. Das ursprüngliche                Hauptrolle. Während er den Macho aus dem
    Vorhaben wurde nicht realisiert, dafür ein Dokumentarfilm, der trotz seines              Süden spielt, tritt ihm Mariangela Melato als
    Fokus auf das Lokale eine Menge über globale Zukunftsaussichten erzählt.                 kühle Schöne aus dem Norden entgegen. Sol-
    ‹Africa is the future›! Das viel zitierte Statement des senegalesischen Musi-            che Gegensätze bestimmen ihr ganzes Werk:
    kers Youssou N’Dour wirft auch die Frage auf, wie eine solche Zukunft aus-               Mit lustvoller Masslosigkeit lässt sie Liebe und
    sehen soll.                                                                              Anarchie, Sex und Politik, Mafia und Kommu-
      Genau damit beschäftigen sich die Protagonisten von ‹Contradict›. Gemein-              nismus sowie Mann und Frau aufeinanderpral-
    sam mit sieben Musikerinnen und Musikern nimmt der Film uns mit auf                      len. In diesem grotesken Welttheater schlägt
    einen aufregenden Streifzug durch die Strassen der ghanaischen Haupt-                    das Komische so manchmal in Grausamkeit um
                                                                                             und wird gleichsam mit der sozialpolitischen
    stadt, ihre Hinterhöfe, Märkte, kleinen Musikstudios, Megakirchen und
                                                                                             (italienischen) Realität verbunden.
    Schrottplätze. Der junge Youtube-Star Adomaa appelliert in ihren souligen
                                                                                               Im vergangenen Oktober wurde die 91-jährige
    Liedern an das weibliche Selbstbewusstsein. Anstatt die Haut zu bleichen,                Filmemacherin mit dem Ehren-Oscar prämiert
    soll Frau mit Stolz ihr Melanin glänzen lassen. So die Lyrics der mutigen,               – der Auszeichnung möchte sie jedoch einen
    wenn manchmal auch etwas naiv wirkenden Sängerin. Im ähnlichen Duktus                    weiblichen Namen geben: Anna. Mit Fokus auf
    motivieren die Rapper Akan und Worlasi die Jugend zu mehr Selbstwert-                    die kontroversen Frauenfiguren in Wertmüllers
    gefühl. Sie sind wahre Selfmademen, drucken eigens ihre T-Shirts, produ-                 Œuvre zeigt nun das Stadtkino Basel ihre frü-
    zieren die Beats auf einer günstigen Software und fahren in die Aussen-                  hen Filme.
    quartiere, wo sie ihre Musikvideos den Teenagern zeigen.                                 Retrospektive Lina Wertmüller: ab Sa 1.2.,
    Polyphone Ästhetik.                                                                      Stadtkino Basel → S. 45

      Die Clips wurden speziell für den Film produziert und vermischen sich in
    raffinierten Übergängen mit dem dokumentarischen Bild und Ton. Erwäh-
    nenswert ist die reiche Klangkulisse, die vom erfahrenen Tonmeister Bal-
    thasar Jucker aufgezeichnet wurde. Ohne einer Erzählinstanz zu folgen,
    werden im aufwendigen Soundmix Stimmen aus Interviews, Megafons und
    aus dem Radio mit den Atmo-Aufnahmen der vibrierenden Stadt vermischt.
    Auf diese Weise entsteht ein audiovisuelles Geflecht, das nicht nur ver-
    schiedene Genres und Ästhetiken, sondern auch diverse, teilweise wider-
    sprüchliche Sichtweisen miteinander vereint.
      Mit Gegensätzen jongliert auch die Rap-Combo Fokn Bois. Die Rapper be-
    treiben mit viel Selbstironie einen unermüdlichen Kampf gegen die Probleme
    des Alltags. Mit provokant geistreichen Texten singen sie etwa gegen den
    religiösen Extremismus, der durch die rasante Zunahme der Freikirchen
    zum zentralen Bestandteil der Gesellschaft wurde. Doch statt über Miss-
    stände zu klagen, erklären sie sich in subversiv affirmativer Manier selbst
    zu heilsbringenden Priestern. Eine afrikanische Zukunft bedeutet mehr
    Klang, weniger Worte, so ihre Prophezeiung.
    ‹Contradict› läuft ab Do 30.1. in den Kultkinos.
                                                                Filmstill aus ‹Contradict›   Filmstill aus ‹Travolti da un insolito ...› (weiteres Bild → S. 47)

7   Februar 2020   ProgrammZeitung
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Perspektiven
                                                      des Unterwegs-Seins
                                                      Dagmar Brunner

                                                      Das Cinema Querfeld lädt zu                       einen Strassenjungen in Beirut, der seine
                                                      Einblicken in alle Welt ein.                      Eltern verklagt, weil sie ihm ein unwürdiges
                                                        Wer andere ungerecht behandelt, kommt           Leben in Armut zumuten; durch eine Be-
                                                      nicht immer ungeschoren davon. Das zei-           gegnung lernt er auch liebevolle Zuwen-
                                                      gen zwei ebenso kurzweilig-amüsante wie           dung kennen. ‹Tel Aviv on Fire› nimmt die
                                                      drastische Episoden aus dem Film ‹Rela-           Beziehungen zwischen Israel und Palästina
                                                      tos salvajes› des argentinischen Regisseurs       unter die Lupe und aufs Korn, und der Kurz-
                                                      Damián Szifron. In der einen bemerken             film ‹Phone Story› handelt von den Hoff-
                                                      Gäste eines Gratisflugs, dass sie alle einen      nungen zweier Liebesbedürftiger aus Kur-
 GLÜCK ZÜCHTEN                                        gemeinsamen Bekannten haben, der nun
                                                      die letzte Gelegenheit nutzt, ihr Fehlverhal-
                                                                                                        distan. ‹L’intrusa› spielt im mafiösen Milieu
                                                                                                        Italiens, ‹Amerika Square› beleuchtet die
Nicolas von Passavant                                 ten zu vergelten. In der andern geht ein ge-      Flüchtlingskrise in Griechenland, ‹King of
                                                      stresster Familienvater und Sprengmeister         the Belgians› schildert eine Roadmovie-
Jessica Hausners ‹Little Joe›.                        wegen einer Parkbusse unzimperlich und            Flucht durch den Balkan, und ‹Das Fräulein›
  Seit ihrem ersten bekannteren Film – ‹Lovely        präzis gegen die Bürokratie vor. Alle acht        erzählt von drei Frauen aus Ex-Jugosla-
Rita› (2001) über eine blutrünstige Teenagerin        Episoden des Films widmen sich genüsslich         wien, die in der Schweiz leben. Der von
– durchziehen die Filme der österreichischen          solchen Rachegedanken und -feldzügen, und         der Kinderjury ausgewählte Film ‹Bekas›
Regisseurin Jessica Hausner zwei Faktoren: Be-        weil sie z. T. so grotesk überzeichnet sind,      schliesslich folgt zwei verwaisten Brüdern
stimmendes Thema ist die Isolation ihrer oft
                                                      kann man getrost darüber lachen.                  auf der eigenwilligen Suche nach ihrem
weiblichen Hauptfiguren, ihren charakteristi-
schen Stil prägt die Arbeit mit kunstvoll ausge-
                                                        Zusammen Filme anschauen, dabei lachen,         Superhelden.
leuchteten und stets unterkühlten Interieurs. In      vielleicht auch weinen, reden, essen und            Das kulinarische Angebot wird von den
‹Hotel› (2004) war es eine einsame Bergwelt,          feiern ist das Ziel des jährlich stattfinden-     Mitwirkenden zubereitet und ist erneut
mit der Heldin als zerrüttete Hauswartin, in          den interkulturellen Filmfestivals Cinema         breit, etwa mit Spezialitäten aus Guinea,
‹Lourdes› (2009) wurde das kommerzialisierte          Querfeld. Es wird von diversen Vereinen           Bulgarien, Argentinien, Kurdistan, Bosnien
Pilgerwesen seziert, und in ‹Amour Fou› (2014)        und Privatpersonen, die sich für gemeinsa-        und Tibet. Ausserdem ist das Resto du Cœur
zeigte sie eine der morbideren Episoden der           me Aktivitäten von Menschen unterschied-          vor Ort – ein Beschäftigungsprogramm für
deutschen Literaturgeschichte: den Doppel-            licher Herkunft und Kultur engagieren,            Asylsuchende von Soup and Chill, dem
selbstmord von Heinrich von Kleist und Hen-           ehrenamtlich organisiert und wurde dafür          Treffpunkt für Menschen am Rand der Ge-
riette Vogel.
                                                      auch ausgezeichnet. Die Auswahl der Filme         sellschaft im Gundeli. Ein Brunch mit musi-
  ‹Little Joe› ist Hausners erster englischsprachi-
                                                      spiegelt Erfahrungen, Realitäten und Wün-         kalischem Intermezzo rundet das Festival
ger Film. Thematisch und stilistisch schliesst er
aber an das Vorangegangene an: Auch hier              sche der Mitwirkenden und lädt dazu ein,          ab, das heuer u. a. von der Christoph Merian
wurde ein merkwürdiger Handlungsort ge-               sich damit auseinanderzusetzen.                   Stiftung unterstützt wird.
wählt – ein Biotech-Unternehmen mit hoch-             Vielfältige Begegnungen.                          15. Cinema Querfeld: Fr 7. bis So 9.2.,
technisierten Laboren und Gewächshäusern,               Das Motto der 15. Festivalausgabe heisst        Gundeldingerfeld, Querfeld-Halle,
                                                                                                        Dornacherstr. 192, www.querfeld-basel.ch → S. 45
wie gehabt fabelhaft aufgenommen. Gezüchtet           ‹In Bewegung›. Zu sehen sind zehn neuere
wird darin eine Pflanze, deren Blütenstaub            Filme aus aller Welt, die sich aus vielfältiger
glücklich machen soll. Und erneut geht es um          Optik des Themas annehmen. Im libanesi-
Entfremdung: Alice, Erfinderin der Pflanze und        schen Film ‹Capernaum› etwa geht es um                                                Filmstill aus ‹Bekas›
alleinerziehende Mutter, kennt ihren Sohn
nicht mehr – immer abweisender und apathi-
scher verhält er sich ihr gegenüber. Bekommt
ihm die Glückspflanze, die sie ihm ins Zimmer
gestellt hat, vielleicht doch nicht so gut?
  Dass mit der Superpflanze etwas faul sein
könnte, ahnt man schon in den ersten Minuten,
wenn der Film die Gewächshäuser zu düster-
wabernden Elektroklängen vorführt. Und eben-
falls vermutet man früh, dass es Hausner mit
der Geschichte um gezüchtete Glücksblumen
auf eine Kritik an Gesellschaften abgesehen hat,
in denen sich viele Leute nur noch mit Rausch-
mitteln und Psychopharmaka durch den Alltag
retten.
  Der Stoff taugte nun gleichermassen für eine
Gesellschaftssatire, ein Coming-of-Age-Drama
und einen Horrorfilm. Für eine Satire zu spröde,
für ein Drama zu wenig an den Figuren interes-
siert und für einen Horrorfilm zu wenig
unheimlich, funktioniert er als Gedankenexpe-
riment aber jenseits von Gattungskonventio-
nen. Für ein Meisterwerk fehlt es ihm letztlich
an Suggestivkraft, nebst dem unbestrittenen
Schauwert regt ‹Little Joe› aber dennoch zu
Überlegungen an.
‹Little Joe› läuft derzeit in den Kultkinos.

                                                                                                                                                                    8
Filmstill aus ‹Little Joe›
                                                                                                                              ProgrammZeitung       Februar 2020
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Filmstillmontage aus ‹Wer sind wir?›

     Bereitschaft zum Mitgehen
    Bruno Rudolf von Rohr

                       Edgar Hagens Dokumentarfilm ‹Wer sind wir?›.                     rigen Weg. Das zeigt der für den ‹Prix de Soleure› nominierte
                         Auf den ersten, oberflächlichen Blick könnte der Film          Film auf eindrückliche Weise, indem er den Umgang der
                       ‹Wer sind wir?› von Edgar Hagen als ein Porträt über Men-        Eltern mit der Situation und all den scheinbar unmöglich zu
                       schen mit Behinderungen und ihr Umfeld verstanden wer-           überwindenden Hindernissen hautnah nachzeichnet.
                       den, ja gar als militanter Film für gesellschaftliche Integra-   Empathie und Politik.
                       tion der Betroffenen. Doch wenn man die künstlerischen             Doch auch die Gesellschaft ist gefordert. So wirft der Film
                       und gesellschaftspolitischen Intentionen des Basler Autors       die damit verbundenen gesellschaftspolitischen Fragen auf,
                       und die Grundsätze seines Schaffens zur Kenntnis nimmt,          die heute mit dem Stichwort ‹Inklusion› – für viele wegen
                       muss der Film einem tieferen Anspruch genügen. Es geht in        der ungenügend implementierten Lösungen ein Reizwort –
                       Hagens Filmen meist um fein getunte Beobachtungen bei            ihren Platz im gesellschaftlichen Diskurs gefunden haben.
                       Menschen an der Peripherie der Gesellschaft, die «über kei-      Auslöser dieser Entwicklung war die 2006 von der Uno ver-
                       ne oder nur eine reduzierte Sprache verfügen». Was muss          abschiedete und in der Schweiz 2014 in Kraft getretene
                       unternommen werden, um ihnen ihren Platz innerhalb der           ‹Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinde-
                       Gesellschaft zu sichern?                                         rungen›, auf die sich Edgar Hagen explizit bezieht.
                         Dazu braucht es gemäss dem Autor bei jedem von uns die           Dem Film gelingt es dank einer lichtschwangeren, ge-
                       Bereitschaft, auf gesellschaftlicher sowie auf persönlicher      schmeidigen und alerten Kameraführung (Aurelio Buch-
                       Ebene Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten zu                walder), eines den hohen Anforderungen des vielfältigen
                       verändern. Der Film zeigt uns einen Weg dahin, indem es          Materials gewachsenen Schnitts (Tania Stöcklin) und der
                       uns in ein Universum hineinversetzt, indem wir Teile von         hilfreich orientierenden Stimme aus dem Off (Stefan Kurt),
                       uns selber in den dargestellten Figuren entdecken können,        dem komplexen Stoff eine plastische, sinnliche Nähe und
                       wenn wir uns darauf einlassen.                                   damit einen empathischen Raum zu geben, ohne die gesell-
                       Schritt für Schritt.                                             schaftspolitischen Fragen aus den Augen zu verlieren. Der
                         Auf diese tief menschliche Konfrontation zielt der Film ab,    lange Abspann hilft, die eigene Rührung und den notwendi-
                       in dessen Fokus zwei junge Menschen mit Behinderung ste-         gen Willen zur Veränderung in einem ersten Schritt irgend-
                       hen: Helena (19) und Jonas (11). Ihre geistigen und körper-      wie ins Lot zu bringen.
                       lichen Behinderungen verunmöglichen beiden, ein autono-          ‹Wer sind wir?› läuft ab Do 30.1. in den Kultkinos.
                       mes Leben zu führen. Sie sind auf die Hilfe ihrer Eltern – die
                       alleinerziehende Mutter Veronika Kissling und das Ehepaar        Ausserdem: Basler Filmtreff zum Thema ‹Cut – Die Kunst der Montage›,
                                                                                        mit Filmeditor Claudio Cea: Mo 10.2., 18.30, Stadtkino Basel,
                       Axel und Stefanie Lankenau – und des gesellschaftlichen          www.balimage.ch
                       Umfelds angewiesen; bis zu dreizehn Personen kümmern
                                                                                        Talk mit Filmregisseur Wim Wenders und Christian Jungen:
                       sich rund um die Uhr um Jonas.                                   Di 11.2., 18.30, Fondation Beyeler → S. 29
                         All diesen Menschen wird eine grosse Bereitschaft zur ge-      Schweizer Filmjahrbuch ‹Cinema› Nr. 65 zum Thema Skandal.
                       forderten Transformation abverlangt, denn sie sind kon-          Schüren Verlag, Marburg, 2020. 216 S., Abb., kt., 25 Euro,
                                                                                        www.schueren-verlag.de
                       frontiert mit einer Situation, die sie eigentlich nicht woll-
                       ten, aber «sie gehen mit» – wie der Autor im Gespräch
                       unterstreicht – und meistern Schritt für Schritt den schwie-

9   Februar 2020   ProgrammZeitung
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Im Dienst von Jazz und                                                           mit jenen von Bassist Sisera und Tenorsaxer und Bassklari-
                                                                                 nettist Meier. Die neun Aufnahmen – neben vier Komposi-
Neuer Musik                                                                      tionen aus der Feder von Orellis und drei von Meier auch
                                                                                 zwei Fremdkompositionen –, zeigen auf eindrückliche Weise,
Ruedi Ankli                                                                      wie die vier Musiker ihre weit reichenden Erfahrungen im
                                                                                 Zeichen des Post-Bop auf einen gemeinsamen Nenner brin-
                Die neue Basler CD-Reihe ‹ezz-thetics›                           gen: Improvisationen voller Feuer und spritzender Fantasie.
                von Werner X. Uehlinger.                                         Marco von Orelli Quartett, ‹Lotus Crash›
                  Das 1974 in Basel gegründete Label Hat Hut Records von         Alex Hendriksen, Fabian Gisler, ‹The Song Is You›, www.hathut.com
                Werner X. Uehlinger stösst weltweit auf grosses Interesse        ‹ezz-thetics›-Neuerscheinungen:
                                                                                 1103 Sun Ra Arkestra, ‹Heliocentric Worlds 1 & 2›
                unter Fans von Jazz und Neuer Musik. Die noch lieferbaren        1104 Albert Ayler Trio 1964, ‹Prophecy›
                CDs der über 500 Editionen aus 45 Jahren sind beim belgi-        1012 Cat Hope & Erkki Veltheim, ‹Works For Travelled Pianos›
                schen Vertrieb Outhere erhältlich. 2019 hat Uehlinger mit
                über 80 Jahren einen weiteren Neustart gewagt und die            Ausserdem: Radio X Jazz Talk zu 30 Jahre Jazzfestival Basel:
                                                                                 Mi 18.3., 19.30, Buchhandlung Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2.
                Serie ‹ezz-thetics› lanciert, in der er auch Trouvaillen aus     Live mit Gästen und anschliessendem Apéro
                der Jazzgeschichte veröffentlicht, etwa Jimmy Giuffre 3,
                                                                                 Jazz im Schützenmattpark-Pavillon: ab Mi 26.2., jeden letzten Mittwoch
                ‹Graz Live 1961› oder John Coltrane Quartet, ‹Impressions        im Monat, 19 h Konzert, anschliessend Jamsession
                Graz 1962›, beides historisch wertvolle Live-Aufnahmen aus
                dem Archiv des ORF.
                  Unter der umsichtigen Regie von Bernhard ‹Benne› Vischer
                werden auch Schweizer Formationen berücksichtigt. Erschie-
                nen sind bereits fünf CDs, drei weitere sind für 2020 geplant.
                Mit Feuer und Fantasie.
                  Zwei bereits publizierte CDs sind repräsentativ für die Vi-
                talität der aktuellen Basler Jazzszene. Der Tenorsaxofonist
                Alex Hendriksen und der Kontrabassist Fabian Gisler wid-
                men sich auf ‹The Song Is You› in erster Linie den Komposi-
                tionen von Duke Ellingtons Alter Ego Billy Strayhorn. Es ist
                ein eher untypisches Projekt für das Repertoire von Uehlin-
                ger. Gerade damit aber beweist der Produzent, dass er nicht
                nur die Avantgarde im Blick hat. Diese zwei hervorragen-
                den, kreativen Interpreten musizieren in historischen Stil-
                richtungen und gewähren neue Einblicke. Ihr Album darf
                als Gegenbeispiel zu gewissen Produktionen gelten, die ger-
                ne als revolutionär oder innovativ gelten möchten, aber oft
                nur rhetorische Übungen sind. Uehlinger mag diese Kom-
                positionen aus der Tiefe der Jazzgeschichte übrigens sehr,
                gehören sie doch zu seiner musikalischen Sozialisierung in
                den «Schuljahren», in denen er zum Jazz fand.
                  Die zweite CD ist ‹Lotus Crash› mit Live-Aufnahmen des
                Quartetts von Marco von Orelli, Tommy Meier, Luca Sisera
                und Sheldon Suter. Trompeter von Orelli und Drummer
                Suter waren in den letzten Jahren oft gemeinsam im Feld
                des Creative Jazz aktiv – mit der CD ‹Big Bold Black Bone›
                auch für Hat Hut. Ihre Wege kreuzten sich aber auch schon

Herzrasen etc.                                  seine Wohnung verhökern will. Dazu zieht
                                                er einen alten Copain bei, doch beim War-
                                                                                                   einstigen Dominikanerkloster von Guebwil-
                                                                                                   ler ist der Jazz-Pianist Sébastien Troendlé
Peter Burri                                     ten auf den Käufer geraten sich die beiden,        aus Strassburg zu hören, der mit seinem
                                                die einander (und sich selbst) stets etwas         virtuosen Programm ‹Rag’n Boogie› jeweils
Grosses auf Elsässer Kleinbühnen.               vorgemacht haben, in die Haare.                    sein Publikum begeistert.
  Wer das französische Kino liebt, kennt ihn      In Frankreich touren selbst Stars wie              Letzter Tipp: In Hegenheim, gleich ennet
aus Filmen von Alain Resnais (‹On connaît       Arditti immer mal wieder durch die so-             der Grenze, zeigt das pfiffige Chanson-Duo
la chanson›, ‹Mon oncle d’Amérique›). Der       genannte Provinz – inklusive Westschweiz,          Edle Schnittchen (Sarah Ley und Sarah Zu-
charismatische Pierre Arditti, der schon in     wo ‹Compromis› in Saint-Maurice im Unter-          ber) aus Basel, was es in Sachen ‹Herzrasen›
unzähligen Kino- und Fernsehproduktionen        wallis Station macht. Die vielen lokalen           draufhat. Ein breites Angebot auf den Elsäs-
mitgewirkt hat, ist aber auch ein gefragter     Kulturzentren im Elsass verstehen sich aber        ser Kleinbühnen.
Bühnendarsteller. So verkörperte er 2018        auch als Plattform für einheimische Kräfte.        Edle Schnittchen, ‹Herzrasen›: Sa 8.2., 20 h,
den ‹Tartuffe› in Peter Steins Pariser Insze-   So treten im Rive Rhin von Village-Neuf die        Hegenheim, www.theatredelafabrik.com → S. 37
nierung. Nun gastiert er im Espace Dollfus      Brüder Julien und Olivier Lindecker (‹Les          Sébastien Troendlé, ‹Rag’n Boogie›: Mi 12.2.,
                                                                                                   Guebwiller, www.les-dominicains.com
et Noack (ED&N bzw. ‹Eden›), dem Kultur-        frangins Lindecker›) aus Hagenthal-le-Bas
                                                                                                   Pierre Arditti, ‹Compromis›: Mi 19.2., Sausheim,
haus von Sausheim bei Mulhouse. Im Stück        auf, die freilich über die Region hinaus be-
                                                                                                   www.eden-sausheim.com
‹Compromis› des bekannten Schriftstellers       kannt sind. Mit ihrer Hommage an Jacques
                                                                                                   Les frangins Lindecker, ‹Brel 2.0›: Sa 29.2.,
und Filmemachers Philippe Claudel gibt Ar-      Brel orchestrieren sie dessen Chansons mit         Village-Neuf, www.mairie-village-neuf.fr
ditti einen gescheiterten Schauspieler, der     zeitgenössischen Klangmitteln neu. Und im
                                                                                                                           ProgrammZeitung         Februar 2020   10
JURA CULTUREL
     Bruno Rudolf von Rohr

     Carimentran – Carnaval!
       Es war kein Zufall, dass unter dem Motto
     ‹Carnaval et plus encore› am letzten Winzerfest
     in Vevey die Kantone Basel-Stadt und Jura ei-
     nen gemeinsamen Auftritt hatten. Auch wenn
     die jurassische Tradition nicht die (inter)natio-
     nale Ausstrahlung der Basler Fasnacht besitzt,
     ist sie an vielen Orten des Kantons sehr leben-
     dig. ‹Carimentran› heisst der Freiberger Carna-
     val und meint, frei übersetzt, die fünf ‹fetten
     Tage› vor dem Eintritt in die Fastenzeit. Er wird
     hauptsächlich in Le Noirmont ausgiebig gefei-
     ert. Die Tradition wurde in den Archiven der
     Gemeinde 1571 erstmals erwähnt, aber vor allem
     in den Neunzigerjahren, dank intensiver Re-
     cherchen des in Le Noirmont ansässigen Basler
     Künstlers Jürg Gabele (1949–2017), in der heu-
     tigen Form zu neuem Leben erweckt.
       Vier Höhepunkte (neben 3 Umzügen) zeich-
     nen den Carnaval des Franches-Montagnes aus:
     In der Nacht des letzten Vollmonds vor den ‹fet-
                                                                               Ätherische Klänge wie
     ten› Tagen kommen die ‹Sauvages› (die Wilden)
     aus den Wäldern und machen Jagd auf die
                                                                               von Zauberhand
     Mädchen (‹les Baichattes›), die verkleidet in                             Thomas Meyer
     Gruppen zu erraten versuchen, wer sich hinter
     den mit Tannenzweigen getarnten ‹Sauvages›                                Carolina Eyck stellt das Theremin im Gare du Nord vor.
     versteckt. Die jungen Frauen provozieren sie                                Zwei metallische Antennen, die eine aufragend, die andere rundum gebo-
     dann mit dem Ruf ‹Connu› (erkannt) – doch                                 gen, verbunden durch einen Korpus. Und dazwischen die beiden Hände,
     wehe, sie werden von den Wilden ergriffen.
                                                                               die sich scheinbar frei in der Luft bewegen und dabei – oh Wunder – schwe-
     Dann sind ihre Gesichter bald schwarz be-
                                                                               bende Töne erzeugen. Dieses ‹Theremin› wirft so manche Vorstellung über
     schmiert, und sie landen im (mit lauwarmem
     Wasser präparierten) Dorfbrunnen.                                         den Haufen, den man von Musikinstrumenten hat: kein Lippendruck, kein
       Diesen nächtlichen Schattengestalten aus                                Bogen, keine Tastatur. Die Musik entsteht berührungslos wie aus dem
     dem Wald folgen dann etwas später, in der                                 Nichts – sie scheint von einem fernen Stern zu stammen.
     Nacht vom Fasnachtsmontag auf ‹mardi gras›                                  1920, also vor hundert Jahren, baute der Russe Lew Termen bzw. später
     (fetter Dienstag), die weissen Figuren, die ‹Bait-                        Leon Theremin (1896–1993) dieses frühe elektronische Instrument, das er
     chaiteurs› – baitchai ist ein dialektaler Ausdruck                        zunächst Ätherophon nannte. Dem Elektrotechniker, Physiker und Erfinder
     für Lärm von gesprungenen Glocken oder ka-                                schwebte dabei eine neue Kunstform vor. Und wie die ähnlichen, wenig
     puttem Geschirr –, die mit Trompeten und Pau-                             später entwickelten Ondes Martenot, die freilich zusätzlich über eine Tasta-
     ken durch die Strassen ziehen, um die Winter-
                                                                               tur verfügen, oder auch das Trautonium, kann das Theremin ungewöhn-
     geister in die hintersten Winkel der Wälder zu
                                                                               liche Klänge erzeugen: Glissandi über mehrere Oktaven, sanft an- und ab-
     verweisen.
       Am Dienstagmittag findet als dritter Höhe-                              schwellende Töne, Heullaute oder auch wunderbar singende Melodien.
     punkt ‹Le Grand Manger› statt, wie es sich für                            Eigentlich eröffneten sich damit ungeahnte Dimensionen, und mehrere
     den letzten Tag vor der Fastenzeit geziemt: ein                           Komponisten interessierten sich sogleich dafür. Dennoch blieb das There-
     gargantueskes Riesenchoucroute mit Wurst,                                 min ein Exot und wurde vor allem gern in der Film- und in der Popmusik
     Schinken, Speck und Wienerli wird 400 Gästen                              für aussergewöhnliche Stimmungen und ausserirdische Atmosphärik ein-
     serviert, die danach den Schnitzelbänken der                              gesetzt, irgendwo zwischen engelshaftem Kitsch und schrillem Schrecken.
     satirischen Revue ‹Le Poilies-Popotin› lauschen.                          Freihändig im Magnetfeld.
     Nach durchzechter Nacht finden schliesslich die                             Seit einigen Jahren sind jedoch etliche Theremin-Kundige unterwegs, die
     Festivitäten mit dem grossen Feuer, das den                               das Instrument von diesen Klischees befreien wollen. So die deutsch-sorbi-
     ‹Bonhomme Hiver› in Flammen aufgehen lässt,
                                                                               sche Musikerin Carolina Eyck aus Leipzig, die nun nach Basel kommt. Ihr
     ihr Ende.
                                                                               Vater, der elektronische Musik machte, schenkte der Siebenjährigen das
     Carimentran: Sa 8.2. (‹Sauvages›) und Fr 21. bis
     Di 25.2., Le Noirmont, www.carimentran.ch                                 Instrument, und bei der Grossnichte des Erfinders erhielt sie Unterricht.
                                                                               Längst ist sie eine international anerkannte Virtuosin. Sie spielt damit Klas-
                                                                               siker, improvisiert, bereichert das Repertoire auch selber mit Komposi-
                                                                               tionen und Bearbeitungen und regt Kollegen zu Stücken an. Fazil Say gab
                                                                               ihr einen Solopart in zwei seiner Sinfonien, ebenso der Finne Kalevi Aho in
                                                                               seinem Konzert.
                                                                                 Nun wird sie zusammen mit dem Genfer Ensemble Contrechamps u. a.
                                                                               eigene Stücke vorstellen, etwa ihre ‹Fantasias› für Theremin und Streich-
                                                                               quartett. Hierzu hat sie die Spielweise auf diesem Ur-Synthesizer erweitert,
                                                                               indem sie neuartige Handstellungen für unterschiedliche Tonleitern austüf-
                                                                               telte (sie hat ein Lehrbuch dafür geschrieben), und sie koppelt das There-
                                                                               min mit weiteren elektronischen Effektgeräten, mit Loops und mit dem
     Carnaval des Franches-Montagnes, Foto: zVg                                Computer, sodass sie die Klangfarbe zusätzlich verändern kann. Ausserdem
                                                                               singt sie dazu. Und so entsteht ein extraordinärer Sound: freihändig im
                                                          Carolina Eyck,       Magnetfeld.
                                                          Foto: Ananda Costa   Carolina Eyck, Ensemble Contrechamps: Mo 3.2., 20 h, Gare du Nord → S. 34

11   Februar 2020    ProgrammZeitung
Eine musikalische Entdeckung                                                                                GESANG & CO.
Christian Fluri                                                                                              Dagmar Brunner

Die Basler Madrigalisten führen Benno Ammanns                                                                Volksmusik und Lieder.
‹Missa Defensor Pacis› auf.                                                                                    Der kubanische Bassbariton Antoin Herrera-
  Er ist stets auf der Suche nach musikalischen Schätzen von zu Unrecht                                      Lopez Kessel (geb. 1987), Ensemblemitglied am
vergessenen Schweizer Komponisten: Raphael Immoos, Dirigent und                                              Theater Basel, der derzeit als Basilio in Rossinis
künstlerischer Leiter des professionellen Schweizer Vokalensembles Basler                                    ‹Il barbiere di Siviglia› und in Mozarts ‹Le Nozze
                                                                                                             di Figaro› als Titelheld zu erleben ist, lädt mit
Madrigalisten. Ein sensationeller Fund sei die Messe ‹Defensor Pacis› (Ver-
                                                                                                             Musikerfreunden zu einer ‹Noche Cubana› ein.
teidiger des Friedens) von 1947 des Innerschweizer Komponisten Benno
                                                                                                             Dabei gibt er Einblick in die Geschichte seiner
Ammann (1904–1982). Die Madrigalisten sind mit dem Chorwerk derzeit                                          Familie, die jüngst verfilmt und preisgekrönt
auf Tour.                                                                                                    wurde; die Regisseurin kommt nach Basel.
  Der aus Gersau stammende Ammann, der lange in Basel wirkte, war ein                                        Ergänzt wird das Programm mit kubanischen
Avantgardist. Er studierte Zwölfton- und Reihentechnik, besuchte in Darm-                                    Balladen, vorgetragen von Gitarre und Gesang,
stadt Kurse von Messiaen, Stockhausen, Boulez und Nono und schuf als                                         sowie Drinks. –
einer der ersten in der Schweiz Werke elektronischer Musik. Für einen                                          Musik und Gesang bestimmen auch die Pro-
solch radikalen Musikdenker habe es in der Innerschweiz keinen Platz ge-                                     duktion ‹Canzuns da Vender›. Die besten Zei-
geben, erklärt der aus Brunnen gebürtige Basler Chordirigent.                                                ten der fahrenden Händlerin Celestina (Justina
                                                                                                             Derungs) sind vorbei, und so nimmt sie jeden
Für den Vatikan komponiert.
                                                                                                             Job an. Zusammen mit der innovativen Volks-
  Nicht zu Ammanns avantgardistischen Werken gehört die 6- bis 12-stim-
                                                                                                             musikgruppe Fränzlis da Tschlin und Corin Cur-
mige Messe ‹Defensor Pacis›. Sie war ein Auftragswerk von Papst Pius XII.                                    schellas verkauft sie rätoromanische Kinderlie-
anlässlich der Heiligsprechung von Niklaus von Flüe (1417–1487) am 15. Mai                                   der aus allen Ecken des Kantons Graubünden
1947. Komponiert wurde die Messe für den Chor der Sixtinischen Kapelle,                                      und berichtet von Lust und Last als fahrende
der ganz der gregorianischen Cantus-Firmus-Technik verhaftet war, die seit                                   Musizierende. –
Palestrina als Dogma in der katholischen Kirchenmusik galt. «Ammann                                            Lustvoll gespielte Neue Schweizer Volksmusik
musste kompositorisch einen Spagat machen», erklärt Immoos. Damit sein                                       ist monatlich auch an der ‹Platanenhof-Stubete›
Werk römisch konform war, integrierte er gregorianische Passagen der Mu-                                     und im Rahmen der Reihe ‹Swiss Market Place›
sik des Klosters Einsiedeln, wo er Schüler gewesen war. «Er schrieb in line-                                 in der Markthalle zu hören. So tritt etwa Franz
arer Art, aber seine Musik klingt nicht nach Palestrina», sie sei eigenständig                               Hohler mit dem Basler Hornroh Modern Alp-
                                                                                                             horn Quartet auf, liest aus seinem Buch ‹Immer
mit einer Nähe zu Frank Martin. Er habe für die damalige Zeit überraschen-
                                                                                                             höher› vor und gewährt mit den Musikern eine
de Klänge geschaffen, doch damit war der Chor der Sixtinischen Kapelle                                       neue Sicht auf Klischees. –
völlig überfordert, und die Umstände der Aufführung waren desaströs.                                           Ein reichhaltiges Liedprogramm singt der viel-
Wohl auch deshalb geriet das Werk trotz seiner hohen Qualität in Ver-                                        köpfige Chor Basel, der aus diversen Jugendchö-
gessenheit. Glücklicherweise liegt eine sorgfältige Edition der Partitur von                                 ren an der Musik-Akademie herausgewachsen
Musik Hug vor, die dort auch tief im Archiv verschwunden war. In dieser                                      ist. Sein neues Konzert handelt von magischen
Urfassung ist ‹Defensor Pacis› nun erstmals wieder zu hören.                                                 Orten, Momenten und Wesen.
  Als Kontrast dazu setzt Immoos Chorwerke des romantischen Inner-                                           ‹Noche Cubana›: Mo 24.2., 19 h, Kleine Bühne,
schweizer Komponisten Joachim Raff (1822–1882), der u. a. Liszts Assistent                                   Theater Basel, www.theater-basel.ch

war. Auch hier stiess der Chordirigent auf einen Schatz – dank der Joachim-                                  ‹Chanzuns da Vender›: So 9.2., 14 h, Theater Palazzo,
                                                                                                             Liestal (ab 5 J.), www.palazzo.ch
Raff-Gesellschaft, die in Lachen ein Raff-Haus einrichtet. Als Uraufführung
                                                                                                             ‹Platanenhof-Stubete›: jeweils Mi 29.1., 19.2., 25.3.,
wird sein Messe-Fragment von 1869 mit Kyrie und Gloria für sechsstimmi-                                      19.30, Klybeckstr. 241, www.platanenhof-basel.ch
gen Chor erklingen, dies neben den zur selben Zeit entstandenen Pater nos-
                                                                                                             ‹Swiss Market Place›: Do 20.2., 20 h, Markthalle
ter und Ave Maria. Ammanns Messe und Raffs Chorstücke werden auch auf                                        Basel, Viadukstr. 10, www.altemarkthalle.ch
CD eingespielt.                                                                                              Chor Basel mit ‹Magisch ...›: Sa 8.2., 19 h, und
Basler Madrigalisten mit Chormusik von Benno Ammann und Joachim Raff:                                        So 9.2., 17 h, Leonhardskirche, www.chorbasel.ch
So 16.2., 16.30, Kloster Mariastein. Leitung Raphael Immoos

Joachim Raff 1822–1882, Raff-Archiv/Sammlung Marty                      Benno Ammann, 1946, Foto: Nachlass

                                                                                                                                     ProgrammZeitung      Februar 2020   12
setzt und interpretiert. Und natürlich inspiriert es bis heute
                                                                                         auch Kunstschaffende aller Gattungen und Couleur. Es gibt
                                                                                         Bibeln in jeder Ausstattung, für Gross und Klein, kunstvoll
                                                                                         illustriert oder in gerechter (nicht diskriminierender) Spra-
                                                                                         che, und immer geht es darin um die Botschaft von der
                                                                                         Liebe Gottes, die «Zuversicht im Leben und Sterben» geben
                                                                                         soll, wie es in meiner Ausgabe heisst.
                                                                                         Sprech- und Hör-Ereignis.
                                                                                           Das ökumenische Zentrum für Meditation und Seelsorge,
                                                                                         Offline, das seit 2017 auf dem Bruderholz die Titus Kirche
                                                                                         und die Kirche Bruder Klaus mit Veranstaltungen und litur-
                                                                                         gischen Feiern belebt, realisiert nun in Zusammenarbeit mit
                                                                                         vielen freiwillig und zum Teil namhaften Mitwirkenden ein
                                                                                         besonderes Projekt: eine Lesung der gesamten Bibel in elf
                                                                                         Tagen, begleitet von täglich drei Unterbrüchen mit Musik
                                                                                         und Stille. Denn die Bibel sei in erster Linie ein Sprech- und
                                                                                         Hör-Ereignis, meinte ein Forscher, und auch Kurt Marti
                                                                                         schätzte das Werk u. a. seiner Vielstimmigkeit wegen.
                                                                                           Zu den Lesungen sind alle (auch nur für kurze Zeit) will-
                                                                                         kommen, und wer will, kann selbst einen Abschnitt aus der
      Vielstimmiges Erleben                                                              eigenen oder einer aufliegenden Bibel vortragen, gerne
                                                                                         auch in der Muttersprache. Gelesen wird täglich in 20-mi-
     Dagmar Brunner                                                                      nütigen Abschnitten von 7 bis ca. 21 Uhr, mit Musik und
                                                                                         Stille jeweils um 9, 12 und 18 Uhr. Begleitend werden in
                        Zu einer Bibellesung mit Musik und Stille lädt                   einer Ausstellung Bibeln aus verschiedenen Epochen und in
                        das ökumenische Zentrum Offline ein.                             diversen Sprachen präsentiert. Ausserdem trägt das Forum
                          Meine ist klein, hat aber fast 1300 Dünndruckseiten, und       für Zeitfragen im Rahmen seiner Themenreihe ‹Faszination
                        ich konsultiere sie hin und wieder aus kulturgeschichtli-        Heilige Schrift› zwei Abendveranstaltungen bei.
                        chem Interesse. Sie gilt als wichtigste religiöse Textsamm-      ‹Die Bibel in 11 Tagen›, Lesung mit Musik und Stille:
                        lung des Christentums und ist das meistgedruckte und             So 2.2., 12 h bis Mi 12.2., 19 h, Titus Kirche, Im Tiefen Boden 75,
                                                                                         Tramstation Bruderholz, www.offline-basel.ch → S. 36
                        -übersetzte Werk der Welt: die Bibel. Der Begriff stammt         Ausstellung ‹Die Bibel – von gestern bis heute›: ebenda
                        aus dem Griechischen und bedeutet Bücher. Gemeint sind           Themenreihe ‹Faszination Heilige Schrift›: Do 6.2., 19 h, Titus Kirche,
                        damit das Alte und das Neue Testament, wobei das Alte            und Di 11.2., 19 h, Zwinglihaus, www.forumbasel.ch
                        rund zwei Drittel ausmacht. Während das erste – kurz
                        gesagt – die Geschichte des jüdischen Volks mit seinem           Ausserdem: Konzertreihe ‹Titus beflügelt›, Literarische Kammer-
                                                                                         konzerte: So 16.2., 17 h, Titus Kirche. Eine ‹Winter-Reise› mit Musik
                        Gott erzählt, handelt das zweite von Jesus und seiner An-        von Schubert und Text von Peter Härtling → S. 36
                        hängerschaft.
                                                                                         Konzertreihe ‹point d’orgue›: So 2.2., 17 h, Titus Kirche.
                          Wann genau die ersten Schriften entstanden sind, ist um-       Mit jüdischer/israelischer Orgelmusik und Musik für Kantor,
                        stritten, aber sicher ist, dass es seit der Antike vielfältige   Orgel und Gesangsensemble zur ‹Genesis›
                        Kritik dazu gibt. Das scheint dem ‹Buch der Bücher› freilich
                        nicht zu schaden, vielmehr wird es immer wieder neu über-                                                    Christian Sutter, Foto: Stefan Gawlick

      Klangkörper                                         Das aktuelle Saisonprogramm der Came-
                                                        rata variabile, ‹Resonant Bodies›, kreist um
                                                                                                              Vielfältigen Genuss bereiten auch die
                                                                                                            Boswiler Meisterkonzerte, die im Januar
     Dagmar Brunner                                     Klangkörper und die Resonanzen, die sie             mit ‹Feenliedern› starteten und mit Musik
                                                        beim Hören in uns auslösen. Im nächsten             aus allen Epochen sowie versierten Interpret-
     Musik aus allen Zeiten.                            Konzert stehen der Puls, der Atem und               Innen ein breites Publikum anzusprechen
       Einen musikalischen Dialog zwischen An-          das Essen im Zentrum, neben bekannten               vermögen. Natürlich wird auch der 250. Ge-
     tike und Barock führen zwei Ensembles mit          Stücken von Händel, Glinka, Martinů und            burtstag von Ludwig van Beethoven dort
     insgesamt zehn Musizierenden: Melpomen             anderen sind auch zwei Uraufführungen               ausgiebig gewürdigt.
     unter der Leitung von Conrad Steinmann             mit eigens gebauten Klangkörpern des                Melpomen und Concert Universel, ‹Chronos›:
     widmet sich seit über zwanzig Jahren der           Basler Musik- und Wortschöpfers Lukas               Fr 31.1., 19.30, Predigerkirche
     altgriechischen Musik und zählt u. a. die          Rohner zu erleben. –                                Camerata variabile, ‹Klangkörperlich›: Mi 19.2., 20 h,
                                                                                                            und ‹Katz & Muusig›: So 16.2., 11 h und 14.30
     Sopranistin und Lyraspielerin Arianna Savall         Im Gare des Enfants werden Kinder unter           Gare du Nord → S. 34
     zu seinen Mitgliedern. Le Concert Universel        dem Motto ‹Katz & Muusig› von einer Harfe-
                                                                                                            ‹Begegnung mit Musik›, Panflöte: So 9.2., 17 h,
     wurde 2017 von Juliette Roumailhac gegrün-         nistin und einer Klarinettistin auf leichte         Kleines Klingental → S. 33
     det und ist mit Barockmusik unterwegs. Nun         und humorvolle Weise in die Musikge-                Boswiler Meisterkonzerte: So 16.2. ff.,
     bieten sie unter dem Titel ‹Chronos› und           schichte eingeführt. Und die Reihe ‹Begeg-          www.kuenstlerhausboswil.ch
     nach einem einführenden Vortrag ein Kon-           nung mit Musik im Kleinen Klingental›               Ausserdem: Kammermusikreihe ‹Klanglichter›:
     zert mit zum Teil neu geschöpften Stücken,         bringt den Kindern in Konzert und Work-             Sa 15.2., 19.30, Obere Fabrik, Sissach. Mit Werken
                                                                                                            von Beethoven und Robert Schumann → S. 32
     in denen die in der jeweiligen Zeit üblichen       shop Corellis Musik für Panflöte näher; die
     Instrumente (Aulos, Lyra, Kithara, Tympanon        Erwachsenen geniessen zudem Stücke von
     und Dulcian, Cembalo, Violinen) sowie Ge-          Bartók, Mozart und Nigel Hess. –
     sangsstimmen aufeinandertreffen. –

13   Februar 2020   ProgrammZeitung
Blind Butcher, Foto: Ralph Kühne (links) und The Night Is Still Young, Foto: Eleni Kougionis

Sounds aus aller Welt
Benedikt Lachenmeier

Die Kaserne Basel bietet ein vielschichtiges                   Local Heroes.
Musikprogramm. Und wird heuer 40!                                Doch auch die neuen Werke der lokalen Musikszene er-
  Dass Musikfestivals die Kaserne bespielen, hat Tradition.    halten ihren Platz im Rossstall und in der Reithalle. Den
Den Anfang macht Mitte April das ‹BScene›. Das ehrenamt-       Auftakt macht die legendäre Band Les Reines Prochaines.
lich organisierte Clubfestival bringt während zwei Tagen       Mit ihrer restlos ausverkauften Revue ‹Let’s Sing, Arbeite-
eine geballte Ladung Musik. Neben lokalen, nationalen und      rin!› ist sie im Januar 2019 gestartet, hat im Spätsommer
internationalen Grössen gibt es jedes Jahr Newcomer zu         den Schweizer Musikpreis eingeheimst – und nebenbei an
entdecken. Zwei Wochen später gastiert das Jazzfestival        einem neuen Album geschraubt. Das Resultat heisst ‹Zu un-
Basel. Ob frisch aufkeimende Szene im Süden Londons            serer Verfassung›.
oder lokale Grösse: Die Bandbreite reicht vom vorwärts ge-       Ebenfalls fleissig waren die Basler Psychodelic-Rocker The
richteten Saxofonspiel eines Shabaka Hutchings bis hin zur     Night Is Still Young. Mit ‹She Wants Us To Leave› steht nach
Stimmakrobatik von Andreas Schaerer. Mit seinem Label          zwei Platten im Jahr 2018 nun bereits der nächste Long-
Czar of Crickets Productions feiert Zatrokrev-Frontmann        player für die Releaseparty bereit. Mit Patent Ochsner und
Fredy Rotter in der Kaserne das fünfte Czar-Fest. Welche       Jeans for Jesus stehen auch zwei Mundartbands auf der
Überraschungen es birgt, ist noch offen, sicher ist: Es wird   Bühne. Zum Saisonabschluss im Juni feiert die Kaserne ihr
metallisch, hart und laut.                                     40-jähriges Bestehen mit Tanz- und Theaterperformances
  Bereits das dritte Jahr in Folge widmet sich die Kaserne     sowie Bands – natürlich u. a. auch aus Südamerika.
der Fusion aus Pianoklängen und Elektronika. Der diesjäh-      Les Reines Prochaines: Fr 7.2., 20 h, Kaserne Basel → S. 38
rige Vertreter dieser Kombination heisst Lambert. Der deut-    Blind Butcher: Fr 14.2., 21 h
                                                               Step It Up x Dubmarine – Powered by Echolot Dub System,
sche Pianist und Komponist kreiert mit Songs von Apparat       Nucleus Roots: Fr 21.2., 23 h
oder Deichkind schillernde Klanggemälde. Lambert zitiert       Baye Magatte Band: Sa 22.2., 21 h
elektronische Tanzmusik genauso gerne wie Sixties-Gitar-       The Night Is Still Young: Fr 28.2., 20 h
                                                               Bren Sinatra: Sa 29.2., 22 h
renpop oder Jazz.
Latin Love.
  Ihrem Faible für lateinamerikanische Klänge frönt die                             Kleine Dramen
Kaserne weiterhin. Die monatliche Reihe ‹Nocturna Visión›                             db. In der Reihe Stückbox werden bisher unveröffentlichte
geht in die nächste Runde. «Ziel ist es, Acts zu buchen,                            Texte nach kurzer Probenzeit und mit möglichst wenig Aus-
welche die traditionellen Wurzeln aus Südamerika mit der                            stattung von Profis auf die Bühne gebracht, das gesprochene
Musik von heute verbinden», erklärt Luisa Bitterlin vom                             Wort und das Spiel stehen im Vordergrund. Die Stücke wer-
Programmteam das Konzept. Auch die Fasnacht schickt die                             den jeweils in Dornach und in Zürich gezeigt; im Text ‹Ich
Kaserne direkt in die Tropen. An der Morgestraich-Party                             muss Deutschland› von Catalin Dorian Florescu geht es um
versorgt Moonanga aus Toulouse das Publikum bis um vier                             eine absurde Begegnung zwischen einem Grenzsoldaten und
                                                                                    einem Flüchtling, in ‹Mimosa› von Esther Becker um eine Pilo-
Uhr früh mit Tropical Bass, Cumbia Digital und Elektro-
                                                                                    tin, die unerwartet herausgefordert wird. –
World.
                                                                                      Das Stück ‹Sodeli – ein kleiner Akt› von Händl Klaus handelt
  Experimentelle, wenn auch ruhigere Klänge bringt die                              mit feinem Humor und entwaffnend direkt von weiblicher
argentinische Singer-Songwriterin Juana Molina an ihrem                             Lust im Alter: von Frau Kögeli, die unverhohlen ihren Pfleger
Konzert ins Haus. In ihrer Heimat längst berühmt, ist die                           anmacht und einer liebevollen Erlösung, zu der das Schau-
Musikerin bei uns noch ein Geheimtipp. Das Kaserneteam                              spieler-Duo souverän beiträgt.
hat Molina auf ihrer internationalen Tour erwischt, um die                          Stückbox ‹Ich muss Deutschland›: Mi 29.1., Fr 31.1., Sa 1.2.,
‹Björk aus Südamerika› bei uns vorzustellen. Mit dem bel-                           und ‹Mimosa›: So 16.2., Mi 19.2. und Do 20.2.,
                                                                                    Neues Theater Dornach → S. 40
gischen Soulpop-Duo Yellow Straps und Psych-Pop-Star
Islandman aus der Türkei verrät Programmchef Sandro                                 ‹Sodeli – ein kleiner Akt›: Mi 5. / Do 6.2., 20 h,
                                                                                    Vorstadttheater Basel → S. 41
Bernasconi zwei weitere internationale Geheimtipps.
                                                                                                                                        ProgrammZeitung           Februar 2020   14
Pulsierender Totentanz
     Carmen Stocker

     Boris Nikitins spartenübergreifende Produktion
     ‹24 Bilder pro Sekunde›.
       2015 erkrankte Boris Nikitins Vater an ALS, einer Krankheit, bei der konti-
     nuierlich die Nerven und Muskeln versagen, bis der Körper nicht mehr in
     der Lage ist, sich zu bewegen. Nikitin stand seinem Vater, der 2016 starb, in
     den letzten Lebensmomenten bei. Mit dieser Erfahrung hat sich der Basler
     Regisseur und Autor 2019 in seinem einstündigen Soloabend ‹Versuch über
     das Sterben› intensiv auseinandergesetzt.
       Den Sterbeprozess seines Vaters nimmt er auch zum Ausgangspunkt seines
     aktuellen Projektes, das in Anlehnung an eine Aussage des französischen
     Regisseurs Jean Cocteau mit ‹24 Bilder pro Sekunde› betitelt ist. Das Stück
     thematisiert Sterblichkeit, Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Krankheit.
     Im Gegensatz zu seinem puristischen Solostück agieren nun sechs Tanzen-
     de und ein Klavierquartett vor einer überdimensionalen Projektionsfläche,                              MITTENDRIN
     auf der Live-Video-Aufnahmen des Bühnengeschehens vom Videokünstler
     Georg Lendorff zu sehen sind.                                                                          Dorothea Koelbing
     Überblendung von Musik und Tanz.
       «Zum ersten Mal mache ich ein Stück ohne Text, was eine grosse künst-                                Autobiografisches von
     lerische Herausforderung ist», sagt Nikitin, der die Choreografie in Zusam-                            Angela Winkler.
     menarbeit mit der israelischen Choreografin Lee Meir erarbeitet. Das Tanz-                               «Alle sieben Jahre sind wir umgezogen, haben
     ensemble setzt sich aus Mitgliedern unterschiedlicher Herkunft zusammen,                               alte verfallene Häuser aufgebaut, und kaum
                                                                                                            waren sie fertig, sind wir weitergezogen.
     die aus diversen Tanzrichtungen kommen. «Wir haben versucht, eine eigene
                                                                                                            Wigand, mein Mann, ist Bildhauer.» So gibt die
     Tanzsprache aus verschiedenen Zuständen von Körperlichkeit und Intimi-                                 Schauspielerin Angela Winkler, geboren 1944
     tät zu finden», so Nikitin.                                                                            in Templin, Einblick in ihr bewegtes Leben. Alle
       Ein Fokus des Stückes liegt auf der pulsierenden Musik des Zürcher Kla-                              Wetter, Natur und Draussensein sind ebenso
     vierquartetts Kukuruz, die sich wie ein roter Faden durch den Abend zieht.                             ihr Zuhause wie Theaterbühnen, Städte und
     Während das Publikumslicht noch an ist, wärmt sich das Tanzensemble auf                                Hotels, Reisen und die Familie. Ihre vier Kinder
     der Bühne auf, die Musizierenden stimmen ihre Instrumente und spielen –                                Luca, Tammo, Nele und Lasse sind in Italien,
     einem Medley ähnelnd – bekannte Musikstücke an, die sie dann wieder ab-                                Deutschland, Spanien und Frankreich zur Welt
     brechen. Der Zuschauerraum verdunkelt sich und das Quartett spielt ein                                 gekommen.
     extrovertiertes Stück, eine Zusammenstellung aus der Filmmusik zu ‹Der                                   Man sieht Winkler mit den Händen in der
                                                                                                            Erde, mal Kräuter, mal Blumenzwiebeln pflan-
     weisse Hai› und Stravinskys ‹Le sacre du printemps›, das Nikitin in einer
                                                                                                            zend. Schutzhandschuhe braucht sie weder
     kürzeren Fassung bereits 2016 in seinem ‹Hamlet› verwendet hat. In der an-
                                                                                                            zum Putzen noch zum Gärtnern. Sie nimmt uns
     schliessenden sich steigernden, repetitiven Minimal Music ‹Gay Guerrilla›                              mit an die Elbe bei Hamburg zur Ernte der
     von Julius Eastman stossen die Musizierenden an ihre physischen Grenzen.                               «Apfelplage», an den Schiffbauerdamm in Ber-
     Nikitin kreiert einen sehr sinnlichen und visuellen Abend, an dem das Mu-                              lin, in das Haus in der Auvergne, wo sie mit
     sikalische zuweilen körperlich und das Körperliche musikalisch wird.                                   der Familie fünf Jahre ohne Theater lebte. Den
     Boris Nikitin/Kukuruz Quartett ‹24 Bilder pro Sekunde›: Do 20.2., 20 h (Premiere),                     Iphigenie-Monolog lernt sie beim Unkraut jä-
     bis So 23.2, Kaserne Basel → S. 38 (ferner u. a. an den Wiener Festwochen)                             ten. In der Bretagne füllt sie 80 Gläser Honig ab
     Buch ‹Versuch über das Sterben›, Verlag Edition Frida, Chur, 2020 (in Vorbereitung)                    und malt auf die Etiketten Blumenmotive. Ihre
                                                                                                            Berliner Stadtwohnung liegt mitten im dicht be-
                                                                                                            siedelten Quartier Neukölln.
                                                                                                              Seit über 50 Jahren spielt Winkler Theater,
                                                                                                            z. B. mit den Regisseuren Peter Zadeck, Robert
                                                                                                            Wilson und dem für sie wichtigsten, Klaus Mi-
                                                                                                            chael Grüber. Die Filme ‹Die verlorene Ehre der
                                                                                                            Katharina Blum› und ‹Die Blechtrommel› mach-
                                                                                                            ten sie bekannt, doch ihr Herz gehört Bühnen-
                                                                                                            figuren, etwa Martha (‹Arsen und Spitzenhäub-
                                                                                                            chen›), Iphigenie und Hamlet. Was beim Lesen
                                                                                                            bezaubert: Die Unbefangenheit und Direktheit,
                                                                                                            mit der Angela Winkler auf das Leben in seiner
                                                                                                            ganzen Fülle zugeht. Bewegend ist es, wie sie
                                                                                                            sich mit dem Downsyndrom ihrer Tochter Nele
                                                                                                            vertraut macht und heute sagt: «All das Unge-
                                                                                                            stüme, Unbefangene, Freie, das ich damals in
                                                                                                            dem Film ‹Jagdszenen aus Niederbayern› hatte,
                                                                                                            sehe ich bei meiner Tochter Nele, wie sie und
                                                                                                            ihre KollegInnen am ‹RambaZamba› Theater
                                                                                                            spielen.»
                                                                                                              Am Ende des letzten Kapitels ‹Wir werden
                                                                                                            weiter machen› geht sie zur Probe im Deutschen
                                                                                                            Theater in Berlin – ein klares Ja zu Theater und
                                                                                                            Leben. Das Buch hat sie ihrer Familie gewidmet.
                                                                                                            Angela Winkler (mit Brigitte Landes), ‹Mein blaues
                                                                                                            Zimmer – Autobiographische Skizzen›, Verlag
                                                                                                            Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2019. 229 S.,
                                                             ‹24 Bilder pro Sekunde›, Foto: Boris Nikitin   35 Fotos, gb., CHF 31.90 (auch als eBook lieferbar)

15   Februar 2020   ProgrammZeitung
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