Rede anlässlich der Gedenkfeier im Hotel Seerose in Meisterschwanden am Samstag, 15.12.12
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Rede anlässlich der Gedenkfeier im Hotel Seerose in Meisterschwanden am Samstag, 15.12.12 Liebe Freunde von Raphael Zuerst einmal möchten Gabriela und ich uns herzlich bedanken, dass Sie alle so zahlreich gekommen sind, um Raphael die ihm gebührende Ehre zu erweisen, und dass ich ein paar persönliche Worte an Sie alle richten kann. Für unsere Trauerarbeit ist dies ein wichtiger Teil. Unser besonderer Dank gilt Ihnen, lieber Dominic Roth, da Sie mich als erster bald nach dem Unfall persönlich angerufen haben, und wir zusammen am Telefon weinen konnten über den Tod von Raphael. Unter Tränen haben Sie mir etwas mitgeteilt, was ich nie mehr vergessen werde; Sie sagten: „Raffi war der friedlichste Mensch, den ich je kennen gelernt habe.“ Ich glaube, dass Sie damit konzis die Substanz von Raphael zum Ausdruck gebracht haben. In seiner 2008 erschienenen Autobiografie schildert Gitarren-Gott Slash, wie er die komplette Auflösung, den Zerfall seiner Familie als 12-jähriger erlebt hat: „Kein Mensch ist darauf gefasst, dass man ihm plötzlich den Boden unter den Füssen wegzieht; lebensverändernde Ereignisse kündigen sich normalerweise nicht an. Instinkt und Intuition mögen uns helfen, das eine oder andere Warnsignal zu erkennen, gegen das Gefühl der Entwurzelung, das uns befällt, wenn das Schicksal plötzlich unsere Welt auf den Kopf stellt, wappnen sie uns nicht. Du fühlst dich auf den Kopf gestellt wie eine Schneekugel und findest dich wieder in einem Sturm aus Ratlosigkeit, Traurigkeit, Frustration und Zorn. Es dauert Jahre bis sich der emotionale Staub gelegt hat; bis dahin tust du dein Bestes, in dem Sturm wenigstens die Hand vor Augen zu sehen.“ Der Tod von Raphael hat uns unvermittelt an den Rand des Abgrunds geführt, wir blicken auf einmal in eine Leere, der gefürchtete und gefährliche horror vacui springt uns an, jene Angst und jene Abscheu vor diesem Vakuum, das der Tod von Raphael erzeugt. Es ist schwer, dieses abgrundtiefe Nichts auszuhalten. Friedrich Nietzsche hat in seiner „Morgenröte“ einmal notiert: „Wer zu lange in den Abgrund blickt, wird selber Abgrund.“ Die Wucht dieser Leere, die Raphael hinterlässt ist so beängstigend, dass vielleicht nur noch die Hoffnungen auf Gott, Paradies, Wiedergeburt, Engel, Jenseits, Nirvana und dergleichen religiöser Glauben uns über diesen Abgrund hinweghelfen können. Gabriela und mir hat das nicht geholfen, in keiner Weise. Panik hatte uns erfasst, unser Leben schwebte in Gefahr, die schicksalsschwere Türe zum Hades stand für uns weit, weit offen. Und dann ist etwas Merkwürdiges passiert. Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass Raphael und ich einen Film besonders gern uns angesehen haben: der letzte Samurai mit Tom Cruise und Ken Watanabe. Als der letzte Samuraifürst auf dem Schlachtfeld den Heldentod stirbt, bringt Tom Cruise, der als amerikanischer Söldner an der Seite des Fürsten gekämpft und überlebt hat, dessen Schwert ehrerbietig dem japanischen Kaiser. Erregt springt der Kaiser auf, nähert sich und fragt: „Ihr wart bei ihm, als er starb; wie ist er gestorben?“ Cruise Seite 1
antwortet:“Ja, ich war bei ihm als er starb; aber lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie er gelebt hat“. Und genau das passiert Gabriela und mir: je mehr wir durch seine Freunde über das erfahren, was sie mit ihm erlebt haben, wie sie ihn erlebt haben und was er ihnen gegeben hat, lässt uns nach und nach den Blick seinem Leben insgesamt zuwenden. Mit Staunen, Rührung, Respekt und Stolz hören wir diese Berichte. Wir lernen Raphael von einer anderen Seite kennen, die uns verborgen war, die aber ganz zu ihm gehört. Viele haben uns in Briefen und Gesprächen, mit Fotos und Videos viel und ausführlich über Raphael berichtet, dafür sind wir sehr dankbar. Raphaels Klasse W2C der Alten Kantonsschule Aarau hat uns mit einem umfassenden Fotoband und einem liebevollen Textband aus ihrem Leben mit Raphael ein wertvolles Andenken geschenkt haben. So hören wir von seiner Liebenswürdigkeit, seinem sonnigen Gemüt, seiner Offenheit, seinem Lachen, seinem Mut machen, er versprühte wahre Lebensfreude, war Vorbild, ein wichtiger Mann in jemandes Leben…, präzis zusammengefasst in einem Brief an uns einer offensichtlich neuen, sich anbahnenden Liebe: „Er lebte sein Leben genau so, wie er es wollte. Dafür habe ich ihn bewundert.“ Wenn Sie erlaubt, würde ich Ihnen gerne einige markante Erlebnisse schildern, die wir mit Raphael hatten: Als Raphael 3 Jahre alt war, waren wir in Mallorca in den Badeferien. Er konnte damals noch nicht schwimmen und meine Frau achtete immer genau darauf, dass er nur mit Schwimmflügeli ins Bassin ging. Raphael hatte sich mit zwei Zwillingsmädchen angefreundet, die 5 Jahre alt waren und schon schwimmen konnten, und mit denen er spielte. Ich lag völlig entspannt in meinem Liegestuhl in der Nähe des Bassins, war vertieft in Thomas Manns „Felix Krull“, als ein fürchterlicher Schrei von Gabriela mich aufschreckte, sie mich förmlich aus dem Liegestuhl riss und entsetzt auf das Bassin zeigte; nun glaubte ich schon, Raphael sei am Ertrinken. Ich stürzte zielstrebig vorwärts zum Bassin und sah: Raphael friedlich und ruhig, natürlich ohne Schwimmflügeli, den Zwillingsmädchen hinterher paddeln; er hatte einfach vergessen, dass er nicht schwimmen konnte. Von da an waren für ihn diese lästigen Flügeli kein Thema mehr. In diesen Ferien zeigte sich das erste Mal eine Leidenschaft von ihm, die er nie mehr abgelegt hat: in die Höhe steigen. Als 3-jähriger wollte er dann auch unbedingt auf das Dreimeterbrett und hinunterspringen. Ich musste am gleichen Nachmittag mit ihm sicher ein Dutzend Mal zusammen, Hand in Hand, springen; dann fand er, er wolle das nun alleine weiter machen. Und so war das dann auch. Es gibt wunderbare Photos, die sein Freund Loris kürzlich erst von ihm gemacht hat: Er sitzt auf dem Dachgiebel des Hauses der Eltern von Loris und spielt entrückt Gitarre. Wie wir hören, war das ein Ort, den er viel und gerne aufsuchte. In der Höhe war ihm die Leichtigkeit des Seins wohl am stärksten zugänglich. Sein erstes grosses Gitarrenidol war Eric Clapton. Aus diesem Grund flogen wir zu dessen Albert Hall Konzert nach London. Er war damals etwa 10 Jahre alt und wollte unbedingt zu der berühmten Denmark Street, wo es beidseitig der Strasse ausschliesslich Gitarrenshops gibt. Ich musste mit Raphael 2 Tage lang alle dortigen Geschäfte besuchen, er spielte in jedem mehrere Gitarren, zum Genusse der anwesenden Kenner, bis er sich dann für seine erste Seite 2
schwarz gelackte schöne Fendergitarre entschloss, die wir kauften. Damals wurde mir durch seine entschlossene Zielstrebigkeit und erstaunliche Hartnäckigkeit bewusst, dass dies sein Lebensentwurf werden wird. Von da an haben wir Raphael als einen Menschen ernst genommen, der auch selber entscheiden will. Hierfür haben wir den sonntäglichen Brunch zu einer Familienkonferenz à la Thomas Gordon entwickelt: Alle Wünsche, Absichten, Ziele, Probleme, anstehende Entscheidungen etc. wurde so gemeinsam Pro und Contra besprochen, und Raphael hat dann immer selber entschieden. Gabriela und ich gingen damals davon aus, dass er nach dem Bezirksschulabschluss nach Amerika gehen würde, um die Gitarrenkunst zu perfektionieren. Aus diesem Grund haben wir in den Sommerferien vor der 4. Bez. Amerika mit ihm bereist: New York, Las Vegas, Los Angeles, San Franzisco, Miami und Chicago. Sein Urteil: Er wollte unbedingt in L.A. heimisch werden und am berühmten Musicians Institut Rock-Gitarre studieren. Und das ist so gekommen: Raphael wollte das berühmte, grosse Guitar Center Hollywood am Sunset Boulevard mit seinem RockWalk besuchen, wo viele der ganz grossen Guitarristen, so natürlich auch Slash, sich in den Steinplatten am Boden vor dem Center mit Handabdruck und Unterschrift verewigt haben. Wie gewohnt spielte Raphael auf mehreren Fender und Gibson, ziemlich laut und rockig, so dass nach kurzer Zeit sich mehrere Zuhörer um ihn gruppierten und anerkennend mit wippten. Nach etwa anderthalb Stunden kam plötzlich ein älterer Herr mit langen grauen Haaren, Typ 68er, auf uns zugesteuert, ich befürchtete schon Unannehmlichkeiten, und klopfte Raphael freundlich auf die Schulter und sagte, er solle doch mit ihm kommen. Und dann standen wir plötzlich in einem Aufnahmestudio mit ausgewählten Gitarren für Studiomusiker. Einen Nachmittag lang spielte Raphael in fachkundiger Diskussion mit diesem 68er. Dieser war von dessen Spiel offensichtlich so beeindruckt, dass er uns für die weitere Ausbildung von Raphael zum professionellen Gitarristen direkt das Musicians Institut in L. A. empfahl. Den Studiengang mit modularem Aufbau und einem universitären Masterabschluss haben wir dann zusammen studiert. Raphael war restlos begeistert. Gabriela hat dann bereits Pläne entwickelt, wie ein Umzug nach L.A. von ihr und Raphael von statten gehen könnte. Ich hätte mich dann alleine daheim um unser Institut gekümmert. In diesem Sommer 2010 hat Raphael seine Berufung in jene Worte gegossen, die er als sein Markenzeichen im Facebook plazierte: My guitar is not a thing It is an extension of myself It is who I am Aber Raphael überraschte uns dann im folgenden Frühling mit dem Entscheid, dass er vorher lieber die WMS besuchen und anschliessend erst mit dem Studium in L.A. beginnen wolle. Befragt nach seinen Gründen hierfür, erklärte er uns, dass es aus seiner Sicht vernünftig sei, einen Berufsabschluss zu haben, bevor er sich in die doch harte, auch ungewisse Branche eines Rock-Gitarristen begebe. Uns wurde klar, dass Raphael bei aller musischen Leidenschaft, nie die Bodenhaftung der Vernunft verloren hat. Seite 3
Eine besondere Vorliebe verband ihn mit Gabriela. Er hat mit ihr sorgfältig und fachkundig über Kleidung, Schmuck und Haartracht diskutiert und immer selber entschieden. Selbst die Farbenwahl war oft Thema von hitzigen Diskussionen. Mit Staunen verfolgte ich diese ernste Angelegenheit des bis ins Detail wichtigen ästhetischen Ausdrucks. Dies zeigte uns seine umfassende künstlerische Sensibilität. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich etwas langatmig geworden sein sollte, aber ich wollte Ihnen zeigen, dass Raphael in seinem persönlichen Lebensentwurf ganz bestimmte, ihn bestimmende Anlagen hatte: Seine Friedfertigkeit, sein Wagemut, sein Höhebedürfnis, seine entschlossene Zielstrebigkeit, seine Hartnäckigkeit, seine Entscheidungsfreude, seine vernünftige Bodenhaftung, seine künstlerische Sensibilität. Der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant hat einmal etwas pessimistisch geäussert: Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt, erwarten wir nicht zu viel von ihm. Da wir jetzt immer besser sehen und verstehen, wer Raphael war, erlaube ich mir festzuhalten: Er war aus ziemlich geradem Holz geschnitzt. Meine 86-jährige Mutter, seine Grossmutter, die noch im 2. Weltkrieg als österreichische Sanitätsschwester Dienst geleistet hatte, meint sogar, dass Raphael für sie der Menschentyp der Zukunft sei: Friedlich, aber entschlossen seinen Traum lebend. So darf ich wohl sagen: Ecce homo; siehe, welch ein Mensch. Zum Schluss möchte ich mich direkt an die Freunde wenden, die während des Unfalls bei Raphael waren. Ich kann nur vermuten, wie schrecklich das für Sie alle war, Raphael sterben zu sehen. Wir wünschen Ihnen von Herzen, dass es Ihnen bald gelingt, dieses Trauma nach und nach zu verarbeiten. Sollten sich bei Ihnen in irgendeiner Weise Schulgefühle einschleichen, was Sie hätten tun können oder müssen, damit dieses schreckliche Unglück nie passiert wäre, so sind meine Frau und ich der klaren Meinung, dass Sie in keiner Weise eine Schuld trifft, ganz bestimmt nicht. Soweit wir nun Raphael ganzheitlicher besser sehen, war der Waggonaufstieg seine persönliche Entscheidung, auch wenn sie falsch war. Grübeln Sie nicht darüber nach, sondern wenden Sie sich seinem Leben zu, das er mit Ihnen geführt hat. Wenn jemand eine Mitschuld an diesem Unfall trägt, so bin ich das: Raphael und ich haben uns in unseren Männergesprächen oft über die Gefahren im Alltag unterhalten: so über Motorradfahren, Alkohol, Drogen, Aids und ungewollte Schwangerschaften, über Schlägertypen, das künstlerische Umfeld u.v.m. Tragischerweise habe ich es versäumt, ihn über die Gefahr des hochenergetischen Lichtbogens aufzuklären. Wir sind uns bewusst, dass gerade auch die Klasse von Raphael in ihrer Gesamtheit und das zugehörige Team von Herrn Schneeberger die Abwesenheit von Raphael leidvoll erfahren müssen. Wir wünschen Ihnen allen, dass Sie gemeinsam einen Weg finden können, um Ihre Studienabschlüsse ungefährdet und erfolgreich zu bestehen. Liebe Freunde: Raphael ist abwesend, das ist unendlich traurig; sein Leben aber war für uns alle in der einen oder anderen Weise bereichernd, das ist unendlich wichtig. Gabriela und ich nehmen uns von nun an das Leben unseres geliebten Sohnes Raphael als lebendiges Vorbild, denn mit seiner Abwesenheit ist unser altes Leben mit ihm vergangen. Wir müssen nun ein neues finden. Sein Vermächtnis ist: Seien wir friedfertig und leidenschaftlich. Seite 4
Schliessen möchte ich mit den liebevollen Worten seines Schulfreundes Julian: „Was ich mir für dich wünsche: • Glück in deinem weiteren Leben • Mut, dass du alles überstehen kannst • Spass, wie du es auch bei uns hattest • Neue gute Freunde • Viel Liebe“ Ja, liebster Raphael, für deine Mama und mich bist du die ganz grosse Liebe unseres Lebens. Gabriela & Armin Abt, Eltern Seite 5
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