Rede von Ronja Jansen, Präsidentin JUSO Schweiz

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Fest der Solidarität 2021 im Arbeiterstrandbad Tennwil
Rede von Ronja Jansen, Präsidentin JUSO Schweiz

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Anwesende,

Vor rund 1.5 Jahren hat die Corona‐Pandemie unser Leben auf den Kopf gestellt. Ich kann
mich noch gut an dieses Gefühl erinnern, das erste Mal nicht richtig zu wissen was jetzt
kommt, die Ungewissheit.
Und ich kann mich vor allem daran erinnern, wie in dieser Zeit, in der ersten Welle, mit einer
fast besinnlichen Akzeptanz immer wieder darauf hingewiesen, dass wir nun alle im gleichen
Boot sitzen.
Wartend, aber dass uns das Virus immerhin ein bisschen gleicher macht, weil es keine
Hautfarben, keine Herkunft und keine Klassen kennt.

Immer schwang die leise Hoffnung mit, dass die ungewisse Bedrohung vielleicht so etwas
wie Solidarität und Zusammenhalt in unserer individualisierten Gesellschaft wecken könnte.

Heute ist davon nicht mehr viel übrig.
Die Gräben der Ungleichheit in unserer Gesellschaft sind tiefer als je zuvor.
Wir sind vielleicht alle im gleichen Sturm, doch wir sitzen nicht alle im gleichen Boot.
Das Virus konnte uns alle treffen. Aber es hat uns nicht alle gleichermassen getroffen, es
trifft uns nicht alle gleichermassen.
Das Virus mag zwar blind sein für menschengemachte Diskriminierungen, doch unsere
Gesellschaft, in der es sich ausgebreitet hat, ist es nicht.

Afroamerikanerinnen sind öfter an Corona verstorben, als weisse Amerikaner und
Amerikanerinnen.
Arme tragen ein höheres Risiko sich mit dem Virus anzustecken als Reiche. Weil ihre
Wohnungen enger sind und ihre Arbeitsstellen Weniger Schutz bieten.

Und wenn sich doch mal eine wohlhabende Person mit dem Virus angesteckt hat, dann war
ihr Risiko daran zu verenden, geringer als jenes von ärmeren Personen. Wegen schlechterer
Gesundheitsvorsorge und schlechteren Lebensbedingungen.

Auch die ökonomischen Folgen des Corona‐Sturms haben nicht die Besitzer*innen von
Jachten getroffen, sondern die Menschen, die sich schon seit Jahren nur mit Mühe über
Wasser halten können. Es sind Frauen und Menschen mit tiefen Einkommen, die in dieser
Krise als erstes ihre Arbeitsstellen verloren haben, deren Ersparnisse am stärksten
zusammengeschmolzen sind. Und es sind Menschen im Globalen Süden, die schon seit
Jahren am Existenzminimum kratzen und nun zu Millionen in die extreme Armut fallen.

Doch nicht alle stehen heute schlechter da als vor einem Jahr. Die Reichsten sind stärker und
mächtiger als je zuvor. Seit dem Ausbruch der Corona‐Pandemie sind die Vermögen der drei
reichsten Männer der Welt um über 200 Milliarden Dollar angestiegen, ein
Vermögenszuwachs, den es in diesem Ausmass noch nie gegeben hat.
Die Krise hat nicht nur zu weniger Wirtschaftsleistung geführt, sondern sie hat vor allem

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dazu geführt, dass der Kuchen der übrig geblieben ist, noch ungerechter verteilt wird.

Mit dem ungleichen Zugang zur Impfung wird sich das verschärfen. Hier bei uns in der
Schweiz inzwischen fast alle die wollen impfen lassen. Im globalen Süden, wird dieser
Zeitpunkt voraussichtlich erst 2024 erreicht.
Es würde anders gehen,
Wenn man wollte.
Aber die Profite der Reichsten zählen noch immer mehr als Menschenleben.
So wurden die Armen ärmer.
Die Reichen werden reicher.
Die ganz unten werden kränker.

Doch bei uns redet man von der Rückkehr der Normalität.
Auch wenn wir in der Schweiz frontal auf die nächste Welle zu rasen und es unzählige
weitere Opfer und Long‐Covid‐Fälle geben wird und zwar nicht nur bei denen die «selber
schuld sind» weil sie sich nicht impfen lassen.
Trotzdem: Die Rückkehr der Normalität.
Und ein kleines Stück weit stimmt das auch. Zumindest in der Schweiz.

Denn das neue an dieser Krise war nicht, das Menschen gewaltsam aus dem Leben gerissen
wurden, das Menschen verenden trotz Impfungen oder Medikamenten, die sie retten
könnten.
Neu war vor allem, dass das Virus nicht nur jene getroffen hat, die schon unten stehen.

Sondern auch privilegiertere Menschen, wie viele von uns hier in der Schweiz.
Das es sogar auch mal einen Boris Johnson, einen Trump, eine bekannte Schauspielerin
getroffen hat.
Das war neu.

Denn die Körper von denen, die unten stehen in der kapitalistischen Hackordnung, sind nicht
erst seit Corona unvorstellbarer Gewalt ausgesetzt.
Und es ist auch nicht neu, dass sich die Rechten weigern Patente aufzuheben um damit die
Profite der Pharma zu schützen.
Das kennen wir schon. Mehr als 2 Milliarden Menschen weltweit haben heute keinen Zugang
zu essentiellen Medikamenten.
Es ist auch nicht neu, hier in der Schweiz: Vor einigen Jahren habe ich in einem Altersheim
gearbeitet. Dort gab es eine Frau, deren Krankheit über Jahre von Medikamenten in Schach
gehalten wurde. Dann hat die Krankenkasse ihr die Finanzierung gestrichen und alles was wir
tun konnten, was ihre Familie tun konnte, war zuzusehen, wie die Krankheit sie Stück für
Stück eingenommen hat.

Es ist auch nicht neu, dass Menschen am Arbeitsplatz ihr Leben verlieren, weil
Sicherheitsmassnahmen halt Geld gekostet hätten. Das kennen wir nicht erst seit Corona.
Das kennen wir von den Arbeitern in Jeans‐Bleich‐Fabriken. Die durchschnittliche
Lebensdauer eines Fabrikarbeiters, der die giftigen Gase und Stäube ein bis zwei Jahre lang
einatmet, beträgt noch zehn weitere Jahre.

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Es ist nicht neu, dass Menschen lieber im Massengrab Mittelmeer versenkt werden, um
zukünftige Geflüchtete zu erziehen und Kosten zu sparen. Das gehört schon heute zum
traurigen Erbe unserer Welt.

Die geschunden Körper der Armen, Frauen, Geflüchtete sie alle erfahren seit Jahrzehnten
Gewalt.
Und es gehört zur Normalität.
Ist meistens keine Schlagzeile wert.

Gewalt erfahren die Körper der Bauarbeiter*innen, die gebeugt sind vom jahrelangen
herumschleppen.
Die Körper der Pfleger*innen die nicht mehr Mögen, weil sie schon so viele andere Körper
getragen haben.

In der Schweiz werden 40% der Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen zwischen 45 und 65
invalid.
70% der Pflegerinnen und Pfleger waren wegen ihrem Job schon mehr als ein Monat
krankgeschrieben.
Diese Liste könnte endlos weitergeführt werden.

Wer arm lebt, zahlt dafür mit seiner Gesundheit.
Wer arm lebt, stirbt früher.
In der Schweiz ganze 5 Jahre.
Und die Kluft wächst.
Wir hören immer wieder: Wir werden immer älter.
Aber nicht alle sind bei diesem “wir” dabei. Die Reichen werden immer älter, die Armer
immer kränker.
Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus waren vor dieser Krise tödlich und sind es noch
immer.

Was wir in den nächsten Monaten wollen ist deshalb nicht einfach eine Rückkehr zum Status
quo, vor dieser Krise. Denn für viel zu viele Menschen ist das keine Rückkehr in eine Welt der
Freiheit, der Gesundheit oder der Sicherheit.

In einer freien und sicheren Welt werden Menschen nicht gezwungen Jobs zu verrichten,
die sie kaputt machen.

Freiheit ist das Gegenteil der Gewalt, die schon vor dieser Krise allgegenwärtig war. Der
kapitalistischen Gewalt schon vor diesem Virus Körper zerstört hat.

Die Freiheit ist vielen Menschen nicht erst durch diese Krise abhanden gekommen oder
durch irgendeine Maskenpflicht. Sondern schon viel früher.
Weil Freiheit nicht einfach die Abwesenheit von Regeln ist.

Für Freiheit einzustehen heisst für soziale Sicherheit zu kämpfen, damit die Menschen sich
tatsächlich frei entfalten können.

Für die Gesundheit der Menschen einzustehen, heisst auch mit den Bauarbeiter*innen

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Pfleger*innen zu kämpfen für Anständige Arbeitsbedingungen.

Todesfälle zu vermeiden heisst auch das Patriarchat, Rassismus und den Kapitalismus zu
bekämpfen die zu so viel tödlicher Gewalt führen.

Wir verlangen mehr, als Schadensbegrenzung oder eine solidarische Aufarbeitung dieser
Krise.
Wir wollen eine Aufarbeitung der letzten Jahrzehnte. Keine Rückkehr zu irgendeinem
Zustand in der Vergangenheit, weder vor Corona, noch zu Zeitpunkt davor, an dem angeblich
alles besser war.
Wir wollen mehr.

Und eine Welt in der die Bedürfnisse der Menschen mehr zählen als die Profite der
Reichsten.

Eine Welt in der die Stimmen aller Menschen gleich viel zählen, unabhängig von ihrer
Sexualität, ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft oder dem Portemonnaie ihrer Eltern.

Eine Welt der die Demokratie nicht nur bis vor die Tore der Konzerne reicht, sondern in alle
Lebensbereiche umfasst.

Eine Welt in der Boden niemandem gehört, in der niemand 200 Mal so viel verdient wie
jemand anderes, in der es keine Milliardär*innen gibt und keine Grenzen, die Menschen
unterschiedliche Rechte zusprechen.
Eine Welt der Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Solidarität.

Für diese Welt kämpfen wir.

Ja, davon sind wir heute weit entfernt.
Aber was uns von dieser Welt entfernt ist nicht, dass die meisten Menschen diese
Vorstellung ablehnen.
Dass Menschen Freude haben, wenn andere leiden.
Oder es gerecht finden, wenn jemand 200‐mal so viel verdient wie eine andere Person.

Nein, was uns von dieser Welt trennt ist vor allem die selbsterfüllende Prophezeiung, dass
sich nichts ändern kann.

Die Hoffnungslosigkeit, die sich zeigt, wenn ich auf der Strasse Unterschriften sammle.
Dann treffe ich nie jemanden, der es toll findet, dass die Reichen immer reicher werden.
Dann treffe ich vor allem Menschen, die mir erklären, sie fänden das auch ungerecht.
Aber das könne man eh nicht ändern,
Es bringe nichts, wenn wir als kleine Schweiz etwas dagegen machen, damit ändern wir
nichts und schaden nur uns selber.
So funktioniere die Wirtschaft halt.
Oder noch schlimmer: Die in Bern machen eh was sie wollen und deswegen gingen sie schon
lange nicht mehr abstimmen.

Hoffnungslosigkeit, die sich Tag für Tag selber bestätigt.

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Wenn ich so auf der Strasse stehe, dann schiesst mir immer dasselbe durch den Kopf: Wenn
alle diese Menschen sich nur einmal zusammenschliessen würden.
Sich ein letztes Mal aufraffen würden und versuchten die Welt zu verändern, dann ja dann
wäre vieles möglich.
Eine Umfrage in Deutschland vor eineinhalb Jahren hat ergeben, dass gerade mal 12% der
Menschen glauben, dass ihnen dieses Wirtschaftssystem zugute kommt. Eine Mehrheit von
55% ist der Überzeugung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form ausgedient hat und
mehr schadet als hilft.
Was wir brauchen ist die Hoffnung, dass eine Alternative möglich ist.

Ja, was Linke von Rechten unterscheidet sind rassistische, sexistische und konservative
Einstellungen. Und Vorstellungen darüber, wie die Wirtschaft funktioniert oder nicht
funktioniert. Aber eben auch die simple Frage ob der Kuchen des guten Lebens überhaupt
für alle reichen würde.

Hoffnung ist für mich die DNA der Linken. Der Glaube, dass es für alle reichen kann.
Ein Überschuss der Hoffnung ist der stärkste Treiber linker Politik und Angst und
Hoffnungslosigkeit die stärksten Waffen der Rechten.
Das Gefühl der Alternativlosigkeit, das wir von klein auf eingeimpft bekommen.
Die schädliche Überzeugung, dass wir nur stark genug sind uns ein grösseres Stück des
Kuchens zu erkämpfen, wenn wir gegen unten treten, weil wir die Mächtigen eh nicht von
ihrem Thron stossen können.
Diese Überzeugung, die Menschen von anderen spaltet, die eigentlich zusammenstehen
sollten.
Sozialhilfebezüger*innen mit rotem Pass werden gegen Geflüchtete ausgespielt.
Die Einhaltung von Menschenrechten im globalen Süden gegen den Erhalt von
Arbeitsplätzen in der Schweiz.
Globale Steuergerechtigkeit gegen das Ausmass des Service Public.

Es ist unsere Aufgabe als Linke, bei diesem Spiel nicht mitzumachen.
Nicht mitzumachen, wenn behauptet wird wir müssten uns entscheiden, ob wir für
Feminismus kämpfen oder Klassenkampf führen.
Wenn behauptet wird wir sollten aufhören mit den Gendersternen, sonst würden wir die 2
Franken mehr Rente nicht erkämpfen können.
Wir wollen beides und mehr.
Wir müssen uns trauen genau das einzufordern.
Gerechtigkeit und Freiheit sind nicht teilbar, sonst sind sie nämlich nur das Recht des
stärkeren.
Wir kämpfen für Klimagerechtigkeit, Feminismus, gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit.
Weil’s richtig ist wenn wir Freiheit für alle verteidigen und weil alle diese Kämpfe zusammen
gehören.
Frauen sterben häufiger bei Umweltkatastrophen, die sich durch den Klimawandel mehren.
Es sind Frauen mit Migrationshintergrund, die die tiefsten Einkommen akzeptieren müssen.
Menschen im globalen Süden sind am stärksten von der Klimakatastrophe bedroht und
spüren ihre Auswirkungen schon heute am meisten.
Verschiedene Dimensionen der Diskriminierung lassen sich nicht einfach aufaddieren und es
die mehrfachdiskriminierten, deren Stimmen meist ungehört bleiben und jene, die im
Kapitalismus ganz unten stehen.

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Die wichtigste Währung in der Menschen für Diskriminierung zahlen ist Geld.
Frauen verdienen noch immer 108 Milliarden Franken weniger in diesem Land und sind öfter
von Armut betroffen.
Trans Menschen sind öfter Arbeitslos und haben tiefere Löhne.
Und Menschen im globalen Süden
Wer für Feminismus und gegen Rassismus kämpfen will kommt nicht darum herum den
Kapitalismus zu bekämpfen.
Der Kapitalismus sorgt dafür dass es ein Unten und oben gibt.

Und wir wollen nicht einfach eine Neuordnung der kapitalistischen Hackordnung.
Wir wollen nicht weniger Doppelbelastung durch Care‐ und Lohnarbeit für Schweizer Frauen
auf Kosten von Care‐Migrantinnen. Und wir wollen nicht tiefere Konsumpreise, durch noch
schlechtere Löhne im globalen Süden.
Keine neue Sortierung der kapitalistischen Hackordnung, sondern ihre Abschaffung.

Gerechtigkeit gibt’s ganz oder gar nicht. Wenn niemand mehr unten steht.
Und genau deshalb engagiere ich mich in der JUSO.

Um eine andere Welt zu schaffen müssen wir diese Welt zuerst mal denkbar machen, eine
Alternative aufzeigen.
Das gelingt nicht mit kleinen technokratischen Änderungen.
Das gelingt wenn wir Utopien sichtbar, spürbar machen.
Wie sollen Menschen Hoffnung haben auf eine Welt der Freiheit, wenn wir sie nicht
aufzeigen?

Also feiern wir, seien wir hoffnungsvoll und Kämpfen wir zum Trotz aller Verschlimmerungen
durch die Corona‐Pandemie für eine Welt jenseits des Status Quo.

Vielen Dank!

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