SCHADENERSATZ WEGEN EINER INFEKTION MIT COVID-19
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Eingereicht von Lukas Kaltenböck 01605642 SCHADENERSATZ Angefertigt am Institut für WEGEN EINER Zivilrecht INFEKTION MIT Beurteilerin COVID-19 Univ.Prof.in Dr.in Mag.a Erika Wagner Mai 2021 Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister der Rechtswissenschaften im Diplomstudium Rechtswissenschaften JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich jku.at
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG Ich, Lukas Kaltenböck, erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Ort, Datum Unterschrift In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist. 2
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ................................................................................................................ 5 I. Einleitung .............................................................................................................................. 7 II. Schäden aufgrund einer Infektion mit Covid-19 .................................................................... 8 A. Schadensbegriff des ABGB .................................................................................................. 8 B. Schäden, die aufgrund einer Infektion mit Covid-19 entstehen ............................................. 9 1. Typische Symptome ............................................................................................................. 9 2. Dauerfolgen ........................................................................................................................ 11 III. Deliktischer Schadenersatz ................................................................................................ 13 A. Sozialadäquanz .................................................................................................................. 14 1. Sozialadäquanz bei einer Ansteckung mit dem Coronavirus? ............................................. 15 2. Handeln auf eigene Gefahr beim Coronavirus? .................................................................. 17 IV. Vertraglicher Schadenersatz wegen Nichteinhaltung von vertraglichen Nebenpflichten ...... 18 V. Schadenersatz wegen Schutzgesetzverletzung .................................................................. 19 A. Schutzgesetzverletzung ...................................................................................................... 19 1. Allgemeines zur Schutzgesetzverletzung ............................................................................ 19 2. Konkrete Qualifizierung als Schutzgesetz ........................................................................... 20 3. Subsumtion der rechtlichen Covid-19-Maßnahmen unter § 1311 ABGB ............................. 22 4. Strafbestimmungen des StGB als Schutzgesetze ............................................................... 30 VI. Kausalität des rechtswidrigen Verhaltens ........................................................................... 33 A. Conditio-sine-qua-non-Formel ............................................................................................ 33 1. Anscheinsbeweis ................................................................................................................ 34 3
VII. Rechtfertigungsgründe ....................................................................................................... 43 A. Einwilligung des Verletzten ................................................................................................. 43 VIII. Amtshaftungsansprüche ..................................................................................................... 45 A. Allgemeines zur Amtshaftung ............................................................................................. 45 1. Schäden, die nach dem AHG ersatzfähig sind .................................................................... 46 2. Weitere Voraussetzungen für die Haftung nach dem AHG ................................................. 46 B. Haftung für die Vorfälle in Ischgl ......................................................................................... 46 2. Amtshaftung wegen Bestellung von zu wenigen Impfstoffen? ............................................. 49 IX. Conclusio ............................................................................................................................ 49 Literaturverzeichnis .................................................................................................................... 51 4
Abkürzungsverzeichnis aA anderer Ansicht ABGB Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch AbsonderungsV Absonderungsverordnung ASVG Allgemeines Sozialversicherungsgesetz bspw beispielsweise bzw beziehungsweise B-VG Bundes-Verfassungsgesetz Covid-19-FondsG Covid-19-Fondsgesetz Covid-19-MG Covid-19-Maßnahmengesetz Covid-19-NV Covid-19-Notmaßnahmenverordnung EpiG Epidemiegesetz gem gemäß hA herrschende Ansicht hM herrschende(n) Meinung idR in der Regel Kap Kapitel LG Landesgericht lit litera mE meines Erachtens mM meiner Meinung MNS Mund-Nasen-Schutz mVa mit Verweis auf mwV mit weiteren Verweisen OGH Oberster Gerichtshof OLG Oberlandesgericht Rsp Rechtsprechung S Satz SeuchenG Seuchengesetz ua unter anderem üA überwiegender Ansicht vgl vergleiche Z Ziffer zB zum Beispiel 5
ZPO Zivilprozessordnung 6
I. Einleitung Die Corona-Krise überkam im März 2020 ganz Europa. Neben vielen gesundheitlichen, wirft sie aber natürlich auch rechtliche Fragen auf. In der folgenden Diplomarbeit sollen die Situation, rund um die Frage eines Schadenersatzes zwischen privaten Personen erörtert werden. Es könnte bspw bei Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Maßnahmen und einer Ansteckung mit dem Coronavirus einer anderen Person zu einer Schutzgesetzverletzung iSd § 1311 S 2 2. Fall ABGB gekommen sein. Neben den Schäden, die aufgrund einer Infektion mit dem Coronavirus entstehen, wird auch der Schutzzweckcharakter der Gesetze und Verordnungen, mit denen Maßnahmen, wie das verpflichtende Tragen eines MNS oder Abstandsregeln erlassen wurden, untersucht. Dazu muss eruiert werden, wie weit der Schutzzweck der jeweiligen Normen geht und welche Schäden daher überhaupt ersatzfähig sind. Ebenso ist zu erörtern, welche Möglichkeiten des Nachweises der Kausalität es gibt und ob hier auf beweiserleichternde Rechtsfiguren – wie etwa den Anscheinsbeweis – zurückzugreifen ist. Dies wird in der Praxis den schwierigsten Punkt darstellen, da das Virus sehr leicht übertragbar und dessen Weg nicht immer nachvollziehbar ist. Ein Schadenersatzanspruch wegen einer Ansteckung mit dem Coronavirus kann sich aber nicht nur aufgrund von Schutzgesetzverletzungen, sondern auch aus allgemeinen Schadenersatzvorschriften ergeben. Naheliegend ist, dass es bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zum Ausschluss der Rechtswidrigkeit kommen kann. Dies wird im Zuge der Sozialadäquanz und der Rechtfertigungsgründe in dieser Arbeit näher beleuchtet. Am Ende der Arbeit wird noch kurz auf mögliche Amtshaftungsansprüche – vor allem aufgrund der Vorkommnisse in Ischgl im Februar und März 2020 – eingegangen. 7
II. Schäden aufgrund einer Infektion mit Covid-19 A. Schadensbegriff des ABGB Nach der Diktion des ABGB ist nach § 1293 ABGB ein Schaden jeder Nachteil, welcher jemandem an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefügt worden ist. Dieser Schaden ist nach § 1293 S 2 ABGB in positiven Schaden und entgangenen Gewinn zu unterscheiden. Da das ABGB grundsätzlich das Primat der Naturalrestitution (vgl § 1323 ABGB) vorsieht, umfasst es Großteils den realen Schaden, welcher in der tatsächlichen negativen Veränderung der Vermögensgüter des Geschädigten liegt.1 Bei einer Ansteckung mit dem Coronavirus geht es um die Verletzung des absolut geschützten Rechtsgutes der körperlichen Gesundheit. Dies stellt hier den realen Schaden dar. (näher dazu in Kap B.). Der oben angesprochene positive Schaden umfasst einerseits den Vermögensschaden, andererseits den immateriellen Schaden2, welcher – wie eben angesprochen – primär bei einer Covid-Infektion vorliegen wird. Der positive Schaden soll bereits bei leichter Fahrlässigkeit ersetzt werden, der entgangene Gewinn jedoch erst bei grober.3 Da der positive Schaden mittlerweile aber sehr extensiv ausgelegt wird, hat die Unterscheidung zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit in den letzten Jahren an Bedeutung verloren.4 Um den Umfang dieser Diplomarbeit nicht zu strapazieren, wird hier nicht näher auf die Unterscheidung zwischen positiven Schaden und entgangen Gewinn eingegangen. Im Unterpunkt V. A. 3. c) wird dies noch einmal kurz behandelt, wenn die Ersatzfähigkeit von Verdienstentgängen aufgrund der Folgen einer Infektion mit Covid-19 diskutiert wird. 1 Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1293 Rz 4; Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1293 Rz 1ff; Karner in KBB5 § 1293 Rz 1f. 2 Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1293 Rz 10; Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1293 Rz 2. 3 Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1293 Rz 10; Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1293 Rz 12f; Karner in KBB5 § 1293 Rz 3ff. 4 Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1293 Rz 11¸ Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1293 Rz 8; Karner in KBB5 § 1293 Rz 17. 8
B. Schäden, die aufgrund einer Infektion mit Covid-19 entstehen 1. Typische Symptome Die typischen Symptome, die Erkrankte aufweisen, sind Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust.5 Dies stellt eine Verletzung des absolut geschützten Rechtsgutes der körperlichen Gesundheit dar. Wird jemand am Körper verletzt, so gebührt ihm nach § 1325 ABGB der Ersatz von Heilungskosten, der Verdienstentgang und ein angemessenes Schmerzengeld. § 1325 ABGB normiert also ausdrücklich den Ersatz von immateriellen Schäden.6 Der Ersatz der Heilungskosten ist dem Geschädigten grundsätzlich vorzuschießen.7 In den meisten Fällen wird dieser Anspruch aber bereits qua Legalzession gem § 332 ASVG auf den Sozialversicherungsträger übergegangen sein und ist in der Folge von diesem vom Schädiger zurückzuverlangen.8 Das in § 1325 ABGB angeführte Schmerzengeld soll den immateriellen Schaden der Schmerzempfindungen körperlicher und seelischer Art abgelten.9 Bei der Ermittlung des Schmerzengeldes sind vor allem die Dauer und Stärke der Schmerzen, sowie die Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes zu berücksichtigen.10 Der OGH betont einerseits, dass das Schmerzengeld nicht zu knapp bemessen werden sollte11, andererseits, dass die Bemessung im Rahmen einer Globalbemessung zu erfolgen hat und die Ermittlung des Schmerzengeldes nach Tagessätzen daher nicht zulässig sei.12 Jedoch hat sich in den Unterinstanzen in der Praxis ein sogenanntes Tagessatzsystem etabliert, indem medizinische Sachverständige die Schmerzperioden in leichte, mittlere und schwere Schmerzen unterteilen.13 Nach aktuellem Stand werden von den meisten OLG und LG in Österreich für leichte Schmerzen € 110, für mittlere Schmerzen € 220, und für starke Schmerzen € 330 pro 5 Robert Koch Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, abgerufen am 27.12.2020. 6 Riedler, ZR IV SchRBT GesSch5 Rz 2/17. 7 Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1325 Rz 14. 8 Wagner/Harrer in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1325 Rz 95ff. 9 Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1325 Rz 43. 10 Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1325 Rz 45 mvA Koziol, Haftpflichtrecht II3 S. 139. 11 OGH 2 Ob 105/09v, ZVR 2011/67 (Kathrein) = Zak 2010/196; OGH 2 Ob 242/09s; OGH 8 Ob 35/13z; vgl auch schon SZ 60/225. 12 Harrer/Wagner in Schwimmann/Kodek, ABGB4 § 1325 Rz 71f. 13 Harrer/Wagner in Schwimmann/Kodek, ABGB4 § 1325 Rz 72. 9
Tag zugesprochen.14 Das Schmerzengeld wird prinzipiell in einer einmaligen Abfindung abgegolten.15 Treten bei einer Infektion bloß leichte Symptome wie Husten, Fieber, Schnupfen oder der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinnes auf, so ist fraglich, ob hierfür bereits ein Anspruch auf Schmerzengeld besteht. In der deutschen Lehre sprechen sich Brand/Becker dafür aus, dass bereits solche Personen anspruchsberechtigt sein sollen, die keinerlei oder nur geringe Symptome aufweisen.16 Sie begründen dies damit, dass das Virus an sich hoch aggressiv und potenziell tödlich sei. 17 In der Judikatur des OGH finden sich zur Ersatzfähigkeit für das Verursachen von Husten oder Schnupfen keine einschlägigen Entscheidungen. Zwar hat der OGH18 für den Verlust des Geruchssinns und der Beeinträchtigung des Geschmackssinns bereits Schmerzengeld zugesprochen, jedoch handelte es sich in diesem Fall um Dauerfolgen. Bei einer Infektion mit dem Coronavirus leiden die Betroffenen idR nur für ein paar Tage an Geschmacks- und Geruchsverlust, wodurch mE hier der Zuspruch eines Schmerzengeldes auf jeden Fall nicht in Frage kommt. Anders könnte sich die Situation bei den unterschiedlichen Coronavirus-Mutationen darstellen, da diese noch leichter übertragbar sind.19 Es könnte sein, dass diese Mutationen zu einer noch höheren Sterblichkeit führen, genauere Erkenntnisse dazu gibt es zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit aber noch nicht.20. Anders fällt die Beurteilung natürlich aus, wenn der mit Covid-19-Infizierte an einer schweren Pneumonie leidet oder es durch ein Lungenversagen etwa zum Tod des Betroffenen kommt.21 Welche Komponenten für die Berechnung des Schmerzengeldes miteinzubeziehen sind und wie das Schmerzengeld berechnet wird, wurde bereits zuvor erörtert. Für das Erleiden einer Pneumonie ist jedenfalls die Abgeltung durch Schmerzengeld geboten.22 Stirbt jemand aufgrund einer Infektion mit dem Coronavirus, etwa weil seine Lunge versagt, so kann er selbst das 14 Hartl F., AnwBl 2020, 219. 15 Harrer/Wagner in Schwimmann/Kodek, ABGB4 § 1325 Rz 87; Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1325 Rz 49. 16 Brand/Becker, NJW 2020, 2665 Rz 3. 17 Brand/Becker, NJW 2020, 2665 Rz 3. 18 OGH 5.7.1989, 2 Ob 10/89; ZVR 1990/117. 19 Robert Koch Institut, Informationen zu neuen SARS-CoV-2-Virusvarianten, abgerufen am 17.1.2021. 20 Welt, Erhöhte Sterblichkeit? Neue Erkenntnisse zur britischen Mutation, abgerufen am 23.1.2021. 21 Robert Koch Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, abgerufen am 28.12.2020. 22 zB OGH 8 Ob 106/12i. 10
Schmerzengeld nicht mehr geltend machen. Dieser Anspruch geht dann – aufgrund der Universalsukzession – auf den Erben über, er ist also vererblich.23 Die Höhe dieses Anspruchs wird wohl je nach Einzelfall zu beurteilen sein, wobei hier die Schwere der Schmerzen und die Dauer, für die der Infizierte leiden musste, miteinzubeziehen sind. Auch müsste der Schädiger beim Tod eines Infizierten für jene Kosten, die aufgrund des Todes entstehen – wie etwa Begräbniskosten - nach § 1327 ABGB aufkommen. 2. Dauerfolgen Aufgrund der Neuartigkeit des Coronavirus sind noch nicht alle Langzeitfolgen bekannt. Bereits erkennbare Beispiele dafür können etwa Gedächtnis- oder Konzentrationsprobleme sein, die bei schon vor mehreren Monaten Erkrankten immer wieder auftauchen.24 Nicht nur das Gehirn, sondern auch die Lunge, das Herz- Kreislaufsystem, das Haut- und Gefäßsystem, das Nervensystem sowie Myokardschädigungen können Langzeitfolgen darstellen bzw von Langzeitfolgen betroffen sein.25 Sollte es zu solchen Dauerschäden kommen, wird die Höhe des Ersatzanspruches einzelfallspezifisch sein. Als Richtwert für die Höhe des Ersatzanspruches könnte bei dauerhaften Schädigungen der Lunge eine Entscheidung des OGH26, in der das sogenanntes ARDS-Syndrom27 Teil des Schadenersatzanspruches war, herangezogen werden. Diese Entscheidung könnte aus dem Grund einen ersten Anhaltspunkt für die Ermittlung der Höhe des Schadenersatzanspruches darstellen, da die soeben genannte Erkrankung ebenfalls mit den Langzeitfolgen des Coronavirus in der Lunge in Verbindung gebracht wird.28 23 Harrer/Wagner in Schwimmann/Kodek, ABGB4 § 1325 Rz 91. 24 Zeit Online, Corona-Langzeitfolgen, abgerufen am 28.12.2020. 25 Karl Landsteiner, Covid-19 – was bleibt? Überblick über mögliche Spätfolgen, abgerufen am 28.12.2020. 26 8 Ob 103/09v, ecolex 2010/42 (Friedl). 27 das ARDS (akutes Atemnotsyndrom) ist in vielen Fällen eine tödliche Krankheit. Bei dieser sammelt sich Flüssigkeit in der Lunge, wodurch die Sauerstoffversorgung im Körper beeinträchtigt wird. Es wird zwischen drei verschiedenen Schweregraden unterschieden: Schweres, moderates und mildes ARDS, wobei die Einteilung abhängig von der Schwere des Sauerstoffmangels ist und sich auch auf die Einstellung des Beatmungsgerätes bezieht (Lungeninformationsdienst, Akutes Lungenversagen (ARDS): Grundlagen, abgerufen am 28.12.2020). 28 Karl Landsteiner, Covid-19 – was bleibt? Überblick über mögliche Spätfolgen, abgerufen am 28.12.2020. 11
a) Prozessrechtliche Problematik bei der Geltendmachung von Langzeitschäden Ist noch kein Schaden eingetreten, so kann eine Zahlungsklage nicht geltend gemacht werden.29 Dem Geschädigten steht in diesem Fall aber die Möglichkeit zu, eine Feststellungsklage nach § 228 ZPO zu erheben. Voraussetzung für diese ist die Feststellungsfähigkeit des Rechtsverhältnisses sowie das rechtliche Interesse des Klägers an der alsbaldigen Feststellung.30 Das Fehlen einer dieser Prozessvoraussetzungen würde zur Zurückweisung der Klage mittels Beschlusses führen.31 Wird nun bei jemandem eine Infektion mit dem Coronavirus nachgewiesen und weist der Infizierte zu diesem Zeitpunkt bspw nur leichte Symptome auf, die mangels Schwere zu keinem Schadenersatzanspruch berechtigen, stellt sich die Frage, ob er eine Feststellungsklage auf eventuellen Ersatz von Langzeitschäden geltend machen kann. Ob zum Zeitpunkt der Feststellung bereits ein Schaden eingetreten sein muss, wird von der Rsp differenzierend ausgeführt.32 So wurde von der älteren Rsp verlangt, dass bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung ein Schaden vorliegen muss.33 Die aktuelle Rsp setzt den Maßstab nicht mehr so hoch an und bejaht den Schadenersatzanspruch für Dauerfolgen auch bereits dann, wenn ein Schaden ohne weiteres Zutun des Schädigers eintreten kann.34 Die oben angeführte Theorie wird mE in der Praxis auf eine Infektion mit Corona nur schwer umzusetzen sein. Man stelle sich nur vor, in einigen Jahren wird bekannt, dass jeder, der einmal an Corona erkrankt ist, mit Langzeitschäden, die zu einem Schadenersatzanspruch berechtigen würden, rechnen müsse. Es käme – natürlich unter der Voraussetzung des noch nicht verjährten Anspruches – zu einer Flut von Klagen, die zu einer Überlastung der Gerichte führen würde (vorausgesetzt natürlich, 29 Buchegger/Markowetz, ZPR,, 234; Holzhammer, ZPR², 178 f. 30 Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 228 Rz 2; Frauenberger-Pfeiler in Fasching/Konecny3 III/1 § 228 Rz 75 ff. 31 Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 228 Rz 3; Frauenberger-Pfeiler in Fasching/Konecny3 III/1 § 228 Rz 121. 32 Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 228 Rz 4; Frauenberger-Pfeiler in Fasching/Konecny3 III/1 § 228 Rz 125 f. 33 Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 228 Rz 5; Frauenberger-Pfeiler in Fasching/Konecny3 III/1 § 228 Rz 97 ff. 34 Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 228 Rz 5 mVa SZ 56/38, OGH 1 Ob 210/14k; EFSlg 55.030. 12
der Schädiger hat sich rechtswidrig verhalten und es kann die Kausalität (näher dazu unten in Kap C.) nachgewiesen werden). Praxisrelevanter ist die Frage bei Personen, die bereits zum Zeitpunkt der Klage einen nachweisbaren Schaden erlitten haben und zur Erhebung eines Schadenersatzanspruches berechtigt sind. Diese müssten im Zuge der Leistungsklage – um einer Verjährung des materiellen Anspruches vorzubeugen und einer etwaigen Unzulässigkeit einer abermaligen Klageerhebung aufgrund der Einmaligkeitswirkung zu entgehen35– ein Eventualbegehren auf Feststellung von zukünftigen Schäden nach § 228 ZPO stellen. III. Deliktischer Schadenersatz Die zentrale Rolle des Schadenersatzes kommt in Österreich den Vorschriften der §§ 1295 ff ABGB zu. Absolute Rechte – wie auch die körperliche Gesundheit - dürfen nicht verletzt werden.36 Es ist dem Gesetzgeber nicht möglich für alle rechtswidrigen 37 Verhaltensweisen Vorschriften zu finden. Dennoch ist jedermann dazu verpflichtet, sich gegenüber den Rechtsgütern eines anderen sorgfaltsmäßig zu verhalten.38 Die absolut geschützten Rechtsgüter sind daher von der Rechtsordnung eingehend geschützt.39 Wird also die Gesundheit von jemand anderem beeinträchtigt oder gar verletzt, so ist das Erfolgsunrecht der Verletzung dieses absolut geschützten Rechtsgutes verwirklicht.40 Es genügt hier auch schon die Gefährdung des Rechtsgutes.41 Es kann also festgestellt werden, dass eine Ansteckung mit dem Coronavirus jedenfalls das Erfolgsunrecht der Verletzung des absolut geschützten Rechtsgutes verwirklicht. Aufgrund der in Österreich vertretenen Verhaltensunrechtslehre braucht es neben dem eingetretenen Erfolg aber auch noch ein rechtswidriges Verhalten des Geschädigten.42 Das bedeutet, dass die Verwirklichung des Erfolges der Verletzung eines absolut 35 Buchegger/Markowetz, ZPR, 366f. 36 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 6. 37 Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1294 Rz 23. 38 Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1294 Rz 23. 39 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 6. 40 Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1294 Rz 7; Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 6. 41 Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1294 Rz 7; Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 11. 42 Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1294 Rz 13ff.; Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 6ff; Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1294 Rz 21ff. 13
geschützten Rechtgutes nicht sogleich auch ein rechtswidriges Verhalten des Geschädigten mit sich zieht.43 Es bedarf hierzu ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten des Schädigers.44 Dieses ergibt sich – wie oben bereits beschrieben – bei den absolut geschützten Rechtsgütern aus deren Existenz.45 In Bezug auf eine Ansteckung mit Covid-19 stellt sich die Frage, wo der Maßstab für ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten liegt. Diese Beurteilung ist einzelfallspezifisch.46 Es muss festgestellt werden, „wie sich ein maßgerechter Durchschnittsmensch in einer solchen konkreten Lage verhalten hätte.“47 Hier ist auch das Wissen des Täters miteinzubeziehen.48 Konkretisiert kann ein solcher Maßstab bspw durch behördliche Anordnungen werden (siehe hierzu aber Kapitel V. zur Schutzgesetzverletzung). Brand/Becker sehen beim Nachweis der Rechtswidrigkeit keine große Problematik: So soll jede positive Handlung, die unmittelbar eine Gesundheitsschädigung herbeigeführt hat, rechtswidrig sein. ME kann dies nicht pauschal abgegolten werden. Es ist wiederum einzelfallspezifisch zu beurteilen und auch die Sozialadäquanz innerhalb der Bevölkerung miteinzubeziehen. A. Sozialadäquanz Die Sozialadäquanz findet ihre Ursprünge darin, dass sich Handlungen „innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens bewegen und von ihr offensichtlich gestattet werden.“49 Koziol vertritt den Standpunkt, dass die Sozialadäquanz keine eigenständige Bedeutung habe.50 Dies begründet er damit, dass ein solches Verhalten von der Rechtsordnung nicht verboten wird und bestimmte Beeinträchtigungen von Rechtsgütern von der Gesellschaft hingenommen werden. Die Sozialadäquanz findet vor allem in der Sportausübung Anwendung: Wer bei einem Fußballspiel dem Gegenspieler mit gestrecktem Fuß „hineinrutscht“ verhält sich nicht rechtswidrig, da es von der Gesellschaft akzeptiert wird, dass bei Fußballspielen jemand anderer gefoult wird und 43 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 7. 44 Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1294 Rz 23. 45 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 8. 46 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1297 Rz 4. 47 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 4 mVa Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1297 Rz 2; Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1297 Rz 2. 48 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 5. 49 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 10. 50 Koziol, Haftpflichtrecht I4 Rz 4/37. 14
dadurch auch Verletzungen entstehen können. Solche Verletzungen seien 51 spieltypisch. Neben der Sozialadäquanz können die Teilnahme an Sportveranstaltungen und dadurch verursachte Verletzungen auch durch das „Handeln auf eigene Gefahr“ nicht rechtswidrig sein.52 Hier folgt die Rsp der Meinung von Koziol, dass zwischen „echtem Handeln auf eigene Gefahr“ und „unechtem Handeln auf eigene Gefahr“ zu unterscheiden ist.53 Von „echtem Handeln auf eigene Gefahr“ ist dann auszugehen, wenn dem Gefährder gegenüber solchen Personen, die die Gefahr kannten, keine Schutzpflichten auferlegt werden. Hingegen hat der Gefährder beim „unechten Handeln auf eigene Gefahr“ Schutzpflichten gegenüber demjenigen, der sich in die Gefahr begibt. Hier handelt der Gefährder rechtswidrig – seine Ersatzpflicht kann nur durch ein Mitverschulden des anderen nach § 1304 ABGB gemindert werden.54 Durch das „Handeln auf eigene Gefahr“ kann also die Rechtswidrigkeit des Handelns aufgehoben werden. Jedoch bedarf es natürlich einer Einzelfallprüfung, inwieweit Sorgfaltspflichten anderer (und damit deren Anspruch auf Schadenersatz) aufgehoben werden.55 1. Sozialadäquanz bei einer Ansteckung mit dem Coronavirus? Ob die Sozialadäquanz auch bei einer Ansteckung mit dem Coronavirus die Rechtswidrigkeit entfallen lassen kann, ist fraglich. Im Gegensatz zum Sport, wo es unzählige Beispiele für Sozialadäquanz gibt, findet man im medizinischen Bereich nur das Beispiel der Ansteckung mit Masern: Die absichtliche Ansteckung mit Masern wird als sozialinadäquat angesehen, da es sich bei den Masern nach heutigem Stand der Medizin um keine leichte Erkrankung handelt. Als Beispiele finden sich in der Literatur sogenannte „Masern-Partys“, bei denen gesunde Kinder mit akut an Masern erkrankten Kindern zusammengeführt werden, damit sich die gesunden Kinder ebenfalls mit den Masern anstecken. Ziel ist der Aufbau einer Immunität gegen diese Krankheit. 56 Aus der gesamten Rechtsordnung ergeben sich aber Vorschriften, die zu einem sorgfältigen Umgang mit ansteckenden Krankheiten auffordern und die Veranstaltung solcher „Masern-Partys“ als sozialinadäquat qualifizieren.57 51 OGH 30.11.2006, 3 Ob 81/06t. 52 Koziol, Haftpflichtrecht I4 Rz 4/37. 53 Wagner, in Schwimman/Kodek ABGB4 § 1294 Rz 10; Koziol, Haftpflichtrecht I4 Rz 4/38. 54 Koziol, Haftpflichtrecht I4 Rz 4/38. 55 Koziol, Haftpflichtrecht I4 Rz 4/8. 56 Cohen, RdM 2019/62, 91. 57 Cohen, RdM 2019/62, 94. 15
Im Zuge der Rechtfertigungsgründe (Kap VII.) wird noch näher auf die Problematik von sogenannten „Corona-Partys“ 58 eingegangen, doch kann bereits bei der Sozialadäquanz festgehalten werden, dass auch die Veranstaltung einer Corona-Party ohne jegliche Hygienevorschriften bzw vorheriger Testungen jedenfalls als sozialinadäquat angesehen werden kann, da es sich beim Coronavirus wahrscheinlich um eine noch höher ansteckende Krankheit als bei den Masern handelt. Anders könnte sich die Situation darstellen, wenn es sich um eine Ansteckung im öffentlichen Bereich oder am Arbeitsplatz handelt. Hierzu gibt es keine Beispiele in der bereits vorhandenen Literatur bzw Rsp. Es stellt sich folgende Frage: Denkt man an die dem Jahr 2021 vorangegangenen Winter und den damit verbundenen Grippewellen, so hat sich damals keiner Sorgen gemacht, sich mit dem Influenzavirus – welches unter Umständen auch tödlich enden kann59 – anzustecken bzw hat eine solche Ansteckung durch mangelnden Abstand und fehlendem MNS in Kauf genommen. Man ist trotz leichter Verkühlungssymptome in die Arbeit und auch Einkaufen gegangen. Jedoch lässt sich dieses Szenario – auch aufgrund der jüngsten Entwicklungen der verschiedenen Coronavirus-Mutationen – nicht auf das Coronavirus umlegen, da diese Krankheit viel ansteckender ist und die Gruppe der „Risikopatienten“ – für die das Virus leichter tödlich enden kann – noch größer ist. Es wird mE dennoch Situationen geben, in denen die Nichteinhaltung gewisser Maßnahmen – und die dadurch erhöhte Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus – als sozialadäquat angesehen werden kann. Ein Beispiel hierfür wäre das Anstellen an der Kasse in einem Supermarkt, wo es aufgrund der baulichen Anordnung der Kassen nicht möglich ist, den Abstand zu anderen einzuhalten. Hier bleibt dem Kunden keine andere Wahl als den vorgegebenen Mindestabstand zu unterschreiten. Ebenso wird es für denjenigen, der mittels öffentlicher Verkehrsmittel den Arbeitsweg bestreitet, oftmals unmöglich sein, genügend Abstand zu anderen Fahrgästen zu halten. Er verhält sich aber nicht rechtswidrig, da sein Verhalten als sozialadäquat angesehen werden kann. Fraglich ist, ob folgende Situation noch als sozialadäquat gewertet werden kann: Alle Personen, die sich in einem Raum versammeln, unterziehen sich am selben Tag noch einem Antigen-Schnelltest mittels Nasen-Rachen-Abstrichs oder Rachen-Abstrichs und 58 dies ist eine Party von mehreren Leuten, die trotz der Pandemie gemeinsam feiern und die Abstands- und Hygienemaßnahmen nicht einhalten. 59 Es sei festzuhalten, dass der Autor keinesfalls das Coronavirus als eine „stärkere Grippe“ ansieht. 16
halten sich anschließend während ihres Treffens nicht an die Hygienemaßnahmen wie Abstand halten oder das Tragen eines MNS. Die Möglichkeit einer Ansteckung ist hier beinahe ausgeschlossen, da man bei einem eben beschriebenen negativen Antigen- Schnelltest nur zu 0,01% akut infiziert ist, solange man nicht als sogenannte „K- 1- Person“ zählt.60 Eine „K-1-Person“ ist eine Person, die für einen bestimmten Zeitraum unter Nichteinhaltung des Mindestabstands und Nichteinhaltung anderer Hygienemaßnahmen Kontakt zu einer mit dem Coronavirus infizierten Person hatte und damit mit höherer Wahrscheinlichkeit als Überträger des Virus in Frage kommt. 61 Zwar ist das Verlangen und auch die Durchführung eines solchen Treffens sicherlich vom Grundrecht auf Privatleben geschützt, welches auch die sozialen Beziehungen untereinander mitumfasst62, jedoch liegt zweifelsohne ein Verstoß gegen geltende Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus vor. Das eben beschriebene Beispiel wird somit nicht als sozialadäquat einzustufen sein. 2. Handeln auf eigene Gefahr beim Coronavirus? Versucht man nun die Ansteckung mit dem Coronavirus unter das „Handeln auf eigene Gefahr zu subsumieren, so kann dies nur unter das „unechte Handeln auf eigene Gefahr“ geschehen. Es gibt keine Person, welcher aufgrund des Coronavirus keine Schutzpflichten auferlegt werden – die Maßnahmen betreffen alle Personen. Eine Subsumtion unter „echtes Handeln auf eigene Gefahr“ scheitert daher bereits an dieser Stelle. Geht man davon aus, dass es sich beim Coronavirus um „unechtes Handeln auf eigene Gefahr“ handelt, so wird den Geschädigten aber jedenfalls ein Mitverschulden nach § 1304 ABGB treffen, da er von der verpflichtenden gegenwärtigen Einhaltung der Hygienevorschriften wusste und ihm die Gefahr einer Ansteckung bei deren Nichteinhaltung bewusst sein musste. Der Grundtatbestand der Pflicht zur Einhaltung der objektiv gebotenen Sorgfalt gegenüber absolut geschützten Rechtsgütern bildet hier also nur eine Möglichkeit der 60 Robert Koch Institut, Corona-Schnelltest-Ergebnisse verstehen, abgerufen am 16.02.2021. 61 K-1-Personen (Kategorie I-Kontaktpersonen) sind solche mit Hoch-Risiko-Exposition. Diese werden vom Bundesministerium für Gesundheit wie folgt definiert: Personen, die kumulativ für 15 Minuten oder länger in einer Entfernung ≤2 Meter Kontakt von Angesicht zu Angesicht mit einem bestätigten Fall hatten (insbes. Haushaltskontakte) oder Personen, die sich im selben Raum (zB Klassenzimmer, Besprechungsraum, Räume einer Gesundheitseinrichtung) mit einem bestätigten Fall in einer Entfernung ≤ 2 Meter für 15 Minuten oder länger aufgehalten haben oder auch Personen, die bspw im Flugzeug oder anderen Langstreckentransportmitteln wie Reisebus oder Zug zB direkter Sitznachbar einen bestätigten Falles waren oder generell Personen, die unabhängig von der Entfernung mit hoher Wahrscheinlichkeit einer relevanten Konzentration von Aerosolen ausgesetzt waren. (Kontaktpersonennachverfolgung, abgerufen am 3.1.2021; österreich.gv.at, Allgemeine Informationen – Verdachtsfälle, Erkrankte und Kontaktpersonen abgerufen am 3.1.2021). 62 Hengstschläger/Leeb, Grundrechte3 Rz 12/2. 17
objektiven Sorgfaltswidrigkeit.63 In Bezug auf eine Ansteckung mit dem Coronavirus kommen hier vor allem die Schutzgesetzverletzung nach § 1311 S 2 2. Fall ABGB und auch Sorgfaltspflichten im Zuge eines Schuldverhältnisses, wie zB einem Vertrag zwischen Verkäufer und Käufer in Frage. IV. Vertraglicher Schadenersatz wegen Nichteinhaltung von vertraglichen Nebenpflichten Geht jemand ein Vertragsverhältnis ein, so führt dies zu Haupt- aber auch Nebenleistungspflichten.64 So hat etwa der Verkäufer dem Käufer aus dem Kaufvertrag die Sache im vertraglich bedungenen Zustand zu übergeben oder der Gastwirt dem Restaurantbesucher aus dem Bewirtungsvertrag eine einwandfreie Mahlzeit zu servieren (Hauptleistungspflichten). Diese Hauptleistungspflichten haben sich freilich durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus nicht verändert. Vielmehr sind es die Nebenleistungspflichten, die sich für einige Berufsgruppen verändert haben. So müssen gem § 5 Abs 3 Z 1 der 4. Covid-19-SchMV65 körpernahe Dienstleister wie zB Friseure und deren Kunden eine FFP2-Maske tragen und der Kunde darüber hinaus auch noch einen negativen Antigen-Schnelltest, der nicht älter als 48 Stunden oder einen PCR-Test66, der nicht älter als 72 Stunden sein darf, vorweisen, um die Dienstleistung zu erhalten. Aber auch Gastwirte müssen aufgrund der Covid-19- Öffnungsverordnung67 ab dem 19.5.2021 von ihren Gästen einen negativen Antigen- Schnelltest oder PCR-Test nach den eben beschriebenen Kriterien verlangen. Das Personal muss andauernd eine FFP2-Maske tragen. Darüber hinaus darf sich nur eine gewisse Anzahl von Personen an einem Tisch und im gesamten Gasthaus befinden. Hält sich also der Gastwirt oder der Friseur nicht an die vorgeschriebenen Maßnahmen, so könnte eine Schutzgesetzverletzung (siehe sogleich in Kap V.) vorliegen. Jedenfalls aber verstößt er gegen die Schutz- und Sorgfaltspflichten aus dem jeweiligen Vertrag und könnte, wenn sich ein Kunde oder Gast mangels vorgeschriebener Hygienevorschriften ansteckt, zu einer Haftung herangezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn ein Kunde oder Gast von einem anderen Kunden 63 Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1294 Rz 24. 64 Koziol, Haftpflichtrecht I3 Rz 4/40; Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1294 Rz 13. 65 BGBl. II Nr. 58/2021. 66 Molekularbiologischer Test. 67 BGBl. II Nr. 214/2021. 18
oder Gast angesteckt wird, da der Dienstleister Sorge zu tragen hat, dass die Kunden bzw Gäste nicht nur vor ihm, sondern auch vor anderen Personen im Raum geschützt sind. Da es sich um Schutz- und Sorgfaltspflichten handelt, liegt die Beweislast hierfür aber beim Geschädigten.68 Für den Nachweis der Kausalität und einer eventuellen Anwendung des Anscheinsbeweises siehe Kap. VII. V. Schadenersatz wegen Schutzgesetzverletzung Um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, wird vor allem das rechtliche Mittel der Verordnung herangezogen. Eine Verordnung ist eine von einer Verwaltungsbehörde erlassene, generelle und abstrakte Rechtsnorm mit Außenwirksamkeit69. Sie wird aufgrund ihrer Ausgestaltung auch als „Gesetz im materiellen Sinn“ bezeichnet.70 Als solche Verwaltungsbehörde kommen die Bundesregierung, insbesondere die einzelnen Minister, die als Organwalter der jeweiligen Ministerien tätig werden, in Frage.71 Die Verordnungen zur Eindämmung des Coronavirus werden und wurden vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz erlassen. Anfang März beinhalteten sie beispielsweise gesetzliche Regeln zur Sperr- und Aufsperrstunde im Gastgewerbe, Landeverbote für Flugzeuge aus bestimmten Ländern („Risikogebieten“), oder generelle Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19.72 Die zuletzt genannten Maßnahmen und auch solche, die in der Folge zur Eindämmung des Coronavirus mit ähnlichem Inhalt erlassen wurden, werden die Hauptproblematik in der folgenden Arbeit darstellen, da hiervon auch unmittelbar private Personen betroffen waren und sich daraus eventuelle Schadenersatzansprüche aufgrund von Verstößen dagegen ergeben könnten. A. Schutzgesetzverletzung 1. Allgemeines zur Schutzgesetzverletzung Neben den allgemeinen Vorschriften für die Geltendmachung eines Schadenersatzes nach § 1295 Abs 1 ABGB, kann sich die Haftung auch aus der Übertretung eines 68 Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1298 Rz 1; Wagner in Schwimmann/Kodek, ABGB4 § 1298 Rz 5. 69 Leitl-Staudinger, Einführung ins öffentliche Recht6, Rz 19/8. 70 Leitl-Staudinger, Einführung ins öffentliche Recht 6, Rz 19/7. 71 Leitl-Staudinger, Einführung ins öffentliche Recht 6, Rz 15/20, 16/20 ff. 72 BGBl. II 96/2020. 19
Schutzgesetzes nach § 1311 Satz 2 2. Fall ABGB ergeben. Dies ist ein Fall einer echten Haftungsbegründung. Wagner begründet die echte Haftungsbegründung damit, dass in § 1295 ABGB eine unmittelbare Schadensverursachung gefordert war.73 Im Gegensatz zu § 1295 Abs 1 ABGB, welcher für die Begründung der Rechtswidrigkeit eine konkrete Gefährdung des Rechtsgutes verlangt, bezieht sich das Rechtswidrigkeitsurteil und das Verschulden bei der Schutzgesetzverletzung auf den Verstoß gegen eine Verhaltenspflicht.74 In der Lehre wird über die Frage, ob sich die Rechtswidrigkeit des Verhaltens automatisch aus der Verletzung des Schutzgesetzes ergibt, kontrovers diskutiert.75 So vertritt bspw Koziol, dass bei einer Übertretung eines Schutzgesetzes automatisch ein rechtswidriges Verhalten anzunehmen ist.76 Im Gegensatz hierzu wird von den Vertretern der modernen Verhaltensunrechtslehre zwischen Erfolgsunrecht und Verhaltensunrecht unterschieden.77 Das Erfolgsunrecht verlangt einen schutzwidrigen Zustand, hingegen geht es beim Verhaltensunrecht um die Möglichkeit eine Verhaltenspflicht objektiv ex-ante zu erkennen und sich danach zu verhalten.78 Die Gesetze und Verordnungen zur Eindämmung des Coronavirus sehen objektiv betrachtet Verhaltenspflichten – wie etwa das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes in bestimmten Bereichen – vor, die von den Rechtsunterworfenen einzuhalten sind. 2. Konkrete Qualifizierung als Schutzgesetz Dass ein Gesetz ein Schutzgesetz iSd § 1311 Satz 2 2. Fall ABGB ist, kann nicht pauschal für jedes Gesetz behauptet werden. Für die Qualifizierung als Schutzgesetz bedarf es eines Individualschutzzwecks der Norm, den diese auch im Zivilrechtsweg zumindest mitbezwecken muss.79 Dies ist ein für Schutzgesetze vorgesehener weiterer Prüfungsschritt neben dem sachlichen und persönlichen Schutzumfang.80. Es soll dadurch ermittelt werden, ob von der festgestellten Norm überhaupt 73 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 328 f. 74 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 329. 75 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 329. 76 Koziol, Haftpflichtrecht II2, 108. 77 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 329 mwV. 78 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 329. 79 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 330. 80 Karollus, Schutzgesetzverletzung 338 ff. 20
individuelle Personen geschützt werden sollen, oder ob nur überindividuelle Rechtsgüter erfasst sein sollten.81 In der Lehre wird zwischen Schutzgesetzen im engeren Sinn und solchen im weiteren Sinn unterschieden.82 Nach der hM sind letztgenannte keine Schutzgesetze, da diese schädigungsbezogenen Verhaltenspflichten eine Rechtswidrigkeit nur nach § 1295 ABGB begründen.83 Schutzgesetze im engeren Sinn hingegen stellen auf einen der Schädigung vorgelagerten Bezugspunkt ab und lassen einen Rechtsgutsbezug außer Betracht.84 Im Gegensatz zur Lehre nimmt die Rsp eine nicht so intensive Differenzierung des Schutzgesetzes vor, was dazu führt, dass fast jeder öffentlich-rechtlichen Norm ein Individualgüterschutz unterstellt wird.85 a) Ermittlung des Individualschutzzwecks Wird nun ein Schutzgesetz im engeren Sinn aus einem anderen Regelungsbereich festgestellt, muss darüber hinaus noch eine sanktionsspezifische Prüfung erfolgen.86 Bei dieser ist zu untersuchen, ob bei Verwirklichung der verwaltungs- oder strafrechtlichen Risiken87 „auch eine Schadenersatzfolge eintreten soll“.88 Karollus verwendet hierfür den Begriff des „sanktionsspezifischen Schutzzwecks“.89 Zur Ermittlung des Individualschutzzwecks kommen mehrere Methoden in Frage. Die wohl wichtigste hierfür ist die teleologische Auslegung, bei der zu überprüfen ist, welche Schutzrichtung der Normgeber durch die Verhaltensanordnung geben wollte. Dadurch soll der Zweck des Gesetzes ermittelt werden. Karollus vertritt die Meinung, dass vor allem bei älteren Gesetzen der objektiv-teleologischen Auslegung Vorrang gegenüber des historischen Willens des Gesetzgebers zu geben ist. Dieser Schutzzweck kann sich vor allem durch spätere Gesetzgebungsakte in ähnlichen Sachbereichen ändern. Bei neueren Gesetzen sollen neben den Vorstellungen des jüngeren Gesetzgebers, auch die Zweckvorstellungen des historischen Gesetzgebers mitbedacht werden. Neben der teleologischen Interpretation sind aber zur Ermittlung des subjektiven und objektiven Zwecks der Norm auch noch die 81 Karollus, Schutzgesetzverletzung 341. 82 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 329. 83 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 329. 84 Karollus, Schutzgesetzverletzung 92 ff; Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 330. 85 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 332. 86 Karollus, Schutzgesetzverletzung 344. 87 zum Schutzgesetzcharakter der Normen des StGB siehe in diesem Kapitel 4. 88 Karollus, Schutzgesetzverletzung 344. 89 Karollus, Schutzgesetzverletzung 345. 21
Wortlautinterpretation und die systematische Wortstellung der primären 90 Verhaltensanordnung miteinzubeziehen. Der OGH hingegen nimmt primär eine Wortlautinterpretation vor.91 Dann ist der sanktionsspezifische Schutzzeck zu prüfen.92 Diese Prüfung hat bei jeder Norm einzeln zu erfolgen – eine pauschalisierte, abstrakte Begründungsformel, die die Normzweckermittlung verkürzt, ist nicht zweckmäßig.93 Die festgestellte Norm muss nicht eine Einzelperson oder bestimmte Personengruppe schützen, sondern den gerade Geschädigten in ihrem Schutzzweck erfassen.94 Für die Annahme eines Schutzzwecks bedarf es nicht zwingend eines ausdrücklich bezeichneten Schutzobjektes in der festgestellten Norm.95 Liegt aber ein solches Schutzobjekt vor, so stellt es ein wichtiges Indiz für einen diesbezüglichen Schutzzweck dar.96 3. Subsumtion der rechtlichen Covid-19-Maßnahmen unter § 1311 ABGB § 1311 Satz 2 2. Fall ABGB spricht von einem Verstoß gegen ein Gesetz. Unstrittig ist aber, dass auch Verordnungen, die Gesetze im materiellen Sinn darstellen, Schutzgesetze sein können.97 Die von der österreichischen Regierung erlassenen Verordnungen (Covid-19- Maßnahmenverordnung98, vormals Covid-19-Lockerungsverordnung99, Covid-19- Notmaßnahmenverordnung100) gehen auf das Covid-19-Maßnahmengesetz101 zurück, welches die gewichtigste Rolle für die österreichweiten „Lockdowns“ darstellt. Das Covid-19-MG sieht in den §§ 3 Abs 2, 4 Abs 2 und 5 Abs 2 eine Verordnungsermächtigung vor, die das Betreten und Befahren von Betriebsstätten und Arbeitsorten, das Benutzen von Verkehrsmitteln, Betreten und Befahren von bestimmten Orten sowie öffentlichen Orten in ihrer Gesamtheit beschränken bzw 90 Karollus, Schutzgesetzverletzung 344 ff. 91 Karollus, Schutzgesetzverletzung 368. 92 Karollus, Schutzgesetzverletzung 348. 93 Karollus, Schutzgesetzverletzung 349. 94 Karollus, Schutzgesetzverletzung 349. 95 Karollus, Schutzgesetzverletzung 353; aA Bistritzki, Voraussetzungen, 58 ff. 96 Karollus, Schutzgesetzverletzung 353. 97 Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1311 Rz 4; Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 337; Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB4 §1311 Rz 9; Karollus, Schutzgesetzverletzung 359. 98 Stammfassung BGBl. II Nr. 412/2020. 99 Stammfassung BGBl. II Nr. 197/2020. 100 Stammfassung BGBl. II Nr. 479/2020; 2. Covid-19-Not-MV, Stammfassung BGBl. II Nr. 598/2020. 101 BGBl. I Nr. 12/2020. 22
verbieten und Ausgangsregeln ermöglichen.102 Solche Verordnungen sind nach § 7 Abs 1 Covid-19-MG primär vom Bundesminister für Gesundheit zu erlassen. Wurde aber keine Verordnung nach § 7 Abs 1 Covid-19-MG erlassen, so sind auch die Landeshauptleute der jeweiligen Bundesländer nach § 7 Abs 2 Covid-19-MG berechtigt, Verordnungen nach dem Covid-19-MG zu erlassen. Eine ähnliche Regelung findet man auch in § 7 Abs 3 Covid-19-MG für die Bezirksverwaltungsbehörden. Zu beachten ist bei solchen Primärquellen deren deliktische „Fernwirkung“: Die verwaltungsrechtlichen Vorschriften dienen oft nur zur Erklärung, können aber gleichzeitig unmittelbare Voraussetzungen für die Ermittlung des Schutzzweckes sein.103 In der Folge ist nun zu untersuchen, ob die oben genannten Verordnungen Schutzgesetze iSd § 1311 S 2 2. Fall ABGB sind. Das Covid-19-MG hat seinen Ursprung in einem Initiativantrag.104 In den Materialien zu diesem Antrag findet sich im Wesentlichen ein Verweis auf das EpiG 1950, welches verschiedene Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von übertragbaren Krankheiten vorsieht.105 Das EpiG wird seit Anfang der „Corona-Krise“ als gesetzliche Grundlage für die Erlassung von Maßnahmen herangezogen. Da die Maßnahmen, die durch das EpiG möglich sind, nicht ausreichend zur Bekämpfung der Corona-Pandemie waren, wurde mit dem Covid-19-MG eine weitere gesetzliche Grundlage zur Erlassung von tiefgreifenderen Einschränkungen, geschaffen. Es war die Intention des Gesetzgebers jene Maßnahmen zu ermöglichen, die zur Verhinderung der Verbreitung des Coronavirus unbedingt notwendig sind.106 Die Materialien sprechen des Weiteren davon, dass sich die Maßnahmen auch an die Kunden von Waren- und Dienstleistungsbetrieben, deren Betreten durch Verordnung untersagt werden kann, richten.107 Da die Materialien des Covid-19-MG auf das EpiG verweisen, sind auch dessen Materialien, der Inhalt sowie die Frage, ob sich dessen Schutzzweck auch auf private 102 es sei darauf hingewiesen, dass das allgemeine Betretungsverbot von öffentlichen Orten, das aufgrund der Covid-19-MV BGBl 98/2020 ergangen ist vom VfGH am 14.7.2020 aufgrund eines Initiativantrags als gesetzwidrig aufgehoben wurde, da hierfür § 2 des Covid-19-MG keine hinreichende gesetzliche Grundlage darstelle (VfGH, V363/2020). Die danach ergangenen Verordnungen wurden an die Entscheidung des VfGH angepasst und (sollten) einer weiteren Kontrolle durch den VfGH standhalten. 103 Karollus, Schutzgesetzverletzung 355. 104 396/A XXVII. GP. 105 396/A XXVII. GP. 106 396/A XXVII. GP. 107 396/A XXVII. GP. 23
Personen beziehen soll, zu untersuchen. Es lässt sich nicht erheben, ob es die Intention des jeweiligen Gesetzgebers war, dass diese Gesetze auch einen Individualschutzzweck haben.108 Die Interpretation des EpiG wird in Unterpunkt a) und b) daher aufgrund dessen Novellierungen erfolgen und beschränkt sich in der Folge auf jene §§, die eventuelle Schadenersatzansprüche betreffen könnten bzw diese vorbeugen sollen. a) Schutzzweck der Verordnungen Aufgrund des Legalitätsprinzips dürfen Verordnungen nur aufgrund eines Gesetzes erlassen werden.109 Nach Karollus110 ist hier zu differenzieren: Wird per Verordnung eine Verhaltenspflicht festgelegt, so ist der Schutzzweck an sie zu knüpfen, wie dies bspw bei ortspolizeilichen Verordnungen der Fall ist.111 Konkretisiert hingegen eine Verordnung ein Gesetz nur, so stellt das Gesetz die interpretationsbedürftige Norm dar.112 Ebenso ist an die gesetzliche Grundlage anzuknüpfen, wenn die Verordnung nur dazu dient, eine gesetzliche Verhaltenspflicht in Kraft zu setzen.113 Die Verordnungen zur Eindämmung des Coronavirus dienen in den meisten Fällen der Konkretisierung der in den Gesetzen vorgesehenen Maßnahmen. Es ist daher mE für die Ermittlung des Schutzzweckes auf das jeweilige Gesetz abzustellen. In der Folge wird daher eine Interpretation einiger zentraler §§ des EpiG und des Covid-19- MG vorgenommen, denn diese wurden bzw werden zur Erlassung von Verordnungen als gesetzliche Grundlage herangezogen und legen Verhaltenspflichten fest. (1) Verbot des Betretens bestimmter Orte und Ausgangsbeschränkungen Bereits in seiner Stammfassung114 sieht das EpiG in § 15 Maßnahmen gegen das Zusammenströmen größerer Menschenmengen in der Weise vor, dass bspw die Abhaltung von Märkten, Festlichkeiten und anderen besonderen Veranstaltungen beim Auftreten bestimmter Krankheiten zu gewissen Zeiträumen und in bestimmten Gebieten verboten werden kann. 108 Materialien trotz eingehender Recherche nicht auffindbar. 109 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 337; Leitl-Staudinger, Einführung ins öffentliche Recht6 Rz 15/46 ff. 110 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 337 mVa Karollus, Schutzgesetzverletzung 96. 111 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 337 mVa Karollus, Schutzgesetzverletzung 96; Karollus, Schutzgesetzverletzung 368. 112 Karollus, Schutzgesetzverletzung 367. 113 Wagner, Gesetzliche Unterlassungsansprüche, 337 mVa Karollus, Schutzgesetzverletzung 96. 114 BGBl. I Nr. 186/1950. 24
Durch das Auftreten des Coronavirus wurde § 15 EpiG grundlegend abgeändert.115 So sieht nun § 15 Abs 2 EpiG vor, dass etwa Abstandsregeln (Z 1), eine Verpflichtung zum Tragen einer mechanischen Mund-Nasen-Schutzvorrichtung (Z 2), eine Beschränkung der Teilnehmerzahl (Z 3), Anforderungen an das Vorhandensein und die Nutzung von Sanitäreinrichtungen sowie Desinfektionsmitteln (Z 4) und ein Präventionskonzept zur Minimierung des Infektions- sowie des Ausbreitungsrisikos (Z 5) eingeführt werden können. Am relevantesten für eventuelle Schadenersatzansprüche sind wohl die Z 1 und 2, da diese auch unmittelbar jedem einzelnen Bürger Verhaltenspflichten auferlegen. Nähere Möglichkeiten zur Einschränkung sieht das Covid-19-MG vor. So sieht § 3 Abs 1 Covid-19-MG vor, dass das Betreten bestimmter Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen durch Verordnung geregelt werden kann. § 3 Abs 2 Covid-19-MG sieht sodann die Möglichkeit vor, bestimmte Betriebsstätten per Verordnung zu schließen. Eine ähnliche Regelung sieht § 4 Covid-19-MG für die Betretung von öffentlichen Orten vor. Die wohl am tiefsten in das private Leben einschneidende Maßnahme sieht aber § 5 Covid-19-MG durch Ausgangsregelungen vor. So kann per Verordnung gem § 5 Abs 2 leg cit festgelegt werden, dass der private Wohnbereich nur zur Befriedigung der allgemeinen Lebensbedürfnisse verlassen werden darf.116 ME sind § 5 Covid-19-MG iVm § 15 EpiG jene gesetzlichen Regelungen, die in Kombination mit den darauf basierenden Verordnungen am ehesten Regelungen enthalten, die einen Schutzzweckcharakter aufweisen. Jedenfalls entfalten das Tragen eines MNS in gewissen Räumlichkeiten sowie die Abstandsregeln und die Vorschrift, sich nur mit einer bestimmten Anzahl an Personen gleichzeitig treffen zu dürfen, einen Schutzweckcharakter, da diese Maßnahmen an jeden einzelnen Rechtsunterworfenen gerichtet sind. Vor allem im „harten Lockdown“ Anfang des Jahres 2021 wurden durch die 2. Covid-19-NV117 die Verhaltensregeln äußerst detailliert beschrieben. Es war die Intention des Gesetzgebers unter keinen Umständen zuzulassen, dass die Regelungen umgangen werden könnten. Adressat 115 396/A XXVII. GP. 116 Hierzu zählen nach § 5 Abs 2 Covid-19-MG: Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib, Leben und Eigentum (Z1), Betreuung von und Hilfeleistung für unterstützungsbedürftige Personen sowie Ausübung familiärer Rechte und Erfüllung familiärer Pflichten (Z 2), Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens (Z3), berufliche Zwecke, sofern dies erforderlich ist (Z 4), und Aufenthalt im Freien zur körperlichen und psychischen Erholung (Z 5). 117 BGBl. II Nr. 598/2020. 25
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