Shared Decision Making - Arzt und Patient entscheiden gemeinsam

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                                  Die Abteilung Daten, Demographie und Qualität (DDQ) erstellt Grundlagenpapiere basierend auf
                                  wissenschaftlicher Literatur zu verschiedenen Themen im Bereich Qualität, welche in der Schweizeri­
                                  schen Ärztezeitung veröffentlicht werden. Die FMH nimmt auf der Basis der erarbeiteten Grundlagen
                                  Stellung zum Thema und gelangt über das Papier «Die Meinung der FMH» mit ihrer Position an die
                                  Öffentlichkeit. Nachfolgend werden das Grundlagenpapier sowie die Meinung der FMH zum Thema
                                  «Shared Decision Making» präsentiert.

Grundlagenpapier der DDQ

Shared Decision Making – Arzt und Patient
entscheiden gemeinsam
Michelle Gerber,                 Zusammenfassung                                                   Shared Decision Making (SDM) oder partizipative
Esther Kraft,                      Shared Decision Making (SDM) ist ein Modell                     Entscheidungsfindung wird immer häufiger als idea-
Christoph Bosshard                 der Entscheidungsfindung im klinischen Kon­                     les Modell der Entscheidungsfindung im klinischen
                                   text, gemäss welchem Arzt1 und Patient aktiv                    Kontext gesehen. So hält der Zentralvorstand der
                                 ­Informationen austauschen, verschiedene Behand­                  FMH 2004 bei der Revision des Zivilgesetzbuches
                                  lungsoptionen abwägen und partnerschaftlich                      zum Erwachsenenschutz fest, dass Behandlungsent-
                                  eine Entscheidung fällen. Entscheidend für das                   scheide bei urteilsunfähigen Patienten grundsätz-
                                                                                                   lich im Konsens zwischen den Angehörigen und
                                  Gelingen von SDM ist, dass der Arzt während
*	Die Literatur findet sich                                                                       dem medizinischen Betreuungsteam gefällt werden
   unter www.saez.ch              der ganzen Konsultation eine Atmosphäre
   → Aktuelle Ausgabe oder
                                                                                                   sollen [1]*. SDM wird als einer der wichtigsten Para-
                                  schafft, in welcher sich Patienten frei äussern
   → Archiv → 2014 → 50.                                                                           digmenwechsel in der Medizin bezeichnet und häu-
                                  können. SDM wird in Situationen angewendet,
                                                                                                   fig als ein Indikator von guter medizinischer Quali-
                                  in welchen einmalige Entscheidungen in Abhän­
                                                                                                   tät bewertet [2–5]. Gemäss SDM-Modell treffen Arzt
                                  gigkeit der Präferenzen der Patienten getroffen
                                                                                                   und Patient gemeinsam die Entscheidung für eine
                                  werden, aber auch bei längerfristigen Interven­
                                                                                                   bestimmte Behandlung. In Abgrenzung zum vor-
                                  tionen zu Verhaltensänderungen. Dabei ist um­                    herrschenden Paternalismus in der Arzt-Patient-­
                                  stritten, ob SDM abgesehen von Notfällen im­                     Beziehung früherer Generationen ist eine weniger
                                  mer durchgeführt werden soll oder bloss dann,                    ­autoritäre und mehr patientenzentrierte Arztrolle
                                  wenn zwei gleichwertige Behandlungsoptionen                       gefragt, welche sich in Ansätzen des «Patient Cen­
                                  vorliegen.                                                        tered Care» und in verschiedenen patientenzentrier-
                                  Wenn sogenannte Entscheidungshilfen einge­                        ten Konzepten und Methoden wie beispielsweise Ge-
                                  setzt werden, erhöht SDM das Wissen der Pa­                       sundheitskompetenz, Patientenempowerment oder
                                  tienten über die Erkrankung, fördert deren ak­                    Motivational Interviewing zeigt. Diese Entwicklun-
                                  tiven Einbezug und hilft ihnen, Präferenzen zu                    gen zum stärkeren Einbezug von Patienten spiegeln
                                  ­reflektieren. Weiter gibt es Hinweise, dass mit                  sich in den aktuellen Diskussionen im Schweizer Ge-
                                   SDM unnötige Behandlungen verhindert wer­                        sundheitswesen. Der Bundesrat fordert im Bericht
                                   den können. Gemäss bisheriger Evidenz hat                        Gesundheit2020 zu seinen aktuellen gesundheits­
                                   SDM aber weder klar positive noch negative                       politischen Prioritäten, dass «die Patienten/-innen
1	
  Zur besseren Lesbarkeit wird     Auswirkungen auf Gesundheitszustand, Wohl­                       künftig eine vollwertige, gleichberechtigte und
  in der Regel die männliche       befinden und Zufriedenheit der Patienten. Ins­                   selbstbestimmte Rolle in der Beziehung zu den Ge-
  Form verwendet; Frauen sind                                                                       sundheitsfachpersonen erhalten» [6]. Im Kontrast zu
  immer mitgemeint.
                                   gesamt braucht es aber mehr und differenzierte
                                   Forschung zur Wirksamkeit von SDM.                               der genannten Forderungen nach mehr Patienten-
                                   Aus ethischen Gründen erscheint SDM sehr sinn­                   autonomie wird in der aktuellen gesundheitspoliti-
                                                                                                    schen Diskussion aber auch vor einer Ökonomisie-
                                   voll. Dennoch werden Patienten häufig nicht
                                                                                                    rung der Medizin und einem Verständnis der Patien-
Korrespondenz:
                                   wie von ihnen gewünscht in die Entscheidungs­
                                                                                                    ten als Kunden gewarnt [7].
FMH/DDQ                            findung miteinbezogen. Entscheidend für die
Elfenstrasse 18
                                                                                                        In der Schweiz [8] bestehen – im Vergleich zu
                                   Umsetzung in die Praxis sind die Einstellungen
CH-3000 Bern 15                                                                                     den USA [9] oder Deutschland, wo ein Förderschwer-
                                   und Kompetenzen der Ärzte in Bezug auf SDM.
Tel. 031 359 11 11                                                                                  punkt für Forschung zu SDM finanziert wird [10] –
Fax 031 359 11 12                  Hilfreich ist das Vorliegen von wirksamen Trai­
                                                                                                    kaum formale Initiativen zur Untersuchung, Ver-
ddq[at]fmh.ch                      ningsprogrammen und qualitativ hochwertigen
                                                                                                    breitung und Umsetzung von SDM. Neben ein paar
www.fmh.ch
                                   Entscheidungshilfen.                                             Studien zum Thema SDM, wie beispielsweise eine

                                 Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2014;95: 50     1883
DDQ                                                                                                                     FMH

       Bevölkerungsbefragung in Genf [11] oder eine Befra-               scheiden. Zum anderen wird zur Stärkung der Pa­
       gung von Assistenzärzten und ihren Weiterbildungs-                tientenautonomie gefordert, dass SDM immer durch-
       verantwortlichen [12], gibt es das Gesundheitscoa-                geführt wird, ausser wenn die Situation das nicht zu-
       ching [13] des Kollegiums für Hausarztmedizin                     lässt, z. B. wenn in einem Notfall schnell gehandelt
       (KHM), welches SDM miteinbezieht. In diesem Pro-                  werden muss.
       jekt unterstützen Ärzte ihre Patienten dabei,                         Loh und Simon [24] definieren SDM als «ein In-
       ihr Gesundheitsverhalten in einem selbstgewählten                 teraktionsprozess mit dem Ziel, unter gleichberech-
       konkreten Bereich zu optimieren (weitere Projekt-                 tigter aktiver Beteiligung von Patient und Arzt auf
       Beispiele siehe Cornuz et al. 2011 [8]). In der Schweiz           Basis geteilter Information zu einer gemeinsam ver-
       wird SDM auch in Informationsbroschüren themati-                  antworteten Übereinkunft zu kommen». SDM zeich-
       siert: die von der Non-Profit-Organisation Dialog                 net sich durch folgende Merkmale [3] aus:
       Ethik zur Arzt-Patient-Beziehung herausgegebene                   – Involviert sind mindestens zwei Beteiligte (ein
       Patientenbroschüre [14] und der Leitfaden der SAMW                    Arzt und ein Patient), häufig aber noch weitere
       zum Thema Kommunikation im medizinischen All-                         Personen wie z. B. Familie, Freunde und weitere
       tag [15]. An einigen Universitäten werden Medizin-                    Gesundheitsfachpersonen.
       studierenden Inhalte aus dem Bereich SDM vermit-                  – Beide Beteiligte nehmen aktiv am Prozess der
       telt und an Universitätskliniken Weiterbildungs-                      Entscheidungsfindung teil.
       kurse durchgeführt [8].                                           – Zwischen beiden Beteiligten findet ein Informa-
                                                                             tionsaustausch statt.
       Was ist Shared Decision Making?                                   – Beide Parteien wollen gemeinsam eine Behand-
       Der Begriff SDM wird unterschiedlich verwendet                        lungsentscheidung treffen.
       und unklar von verwandten Konzepten abgegrenzt
       [3, 16–18]. Dieser Abschnitt zeigt auf, was unter SDM               SDM unterscheidet sich von anderen theoretischen
       verstanden wird und wie sich SDM von anderen                        Modellen der klinischen Entscheidungsfindung (Ta-
       ­Modellen und Begriffen der Entscheidungsfindung                  belle 1) am meisten darin, dass Arzt und Patient in
        im klinischen Kontext unterscheidet.                             allen Phasen der Entscheidungsfindung (Informa­
             Die evidenzbasierte Medizin ist der Ausgang-                tionsaustausch, Abwägungsprozess und Treffen der
        punkt, um im klinischen Kontext Entscheidungen                   Entscheidung) gemeinsam beteiligt sind. Bei den
        zu treffen, wenn mindestens zwei Optionen (inkl.                 ­anderen drei Modellen verläuft der Informationsaus-
        der Möglichkeit des Abwartens) zur Auswahl stehen                 tausch einseitig. Im paternalistischen und im inter-
        [2]. Beispielsweise muss entschieden werden, ob bei               pretativen Modell wägt der Arzt alleine die Vor- und
        einer an Brustkrebs erkrankte Patientin eine Brust                Nachteile verschiedener Behandlungsmöglichkeiten
        entfernt wird (Mastektomie) oder eine brusterhal-                 ab und trifft anschliessend die Entscheidung. Im
        tende Operation durchgeführt wird. Häufig sind die                ­Informed Decision Modell führt der Patient diese
        zur Auswahl stehenden Behandlungsoptionen im                       Schritte alleine durch. Ein weiterer Unterschei-
        Prinzip gleichwertig (sogenannte «equipoise» [19])                 dungspunkt der Modelle bezieht sich auf die Arzt-
        mit verschiedenen Vor- und Nachteilen, die gegenei-                rolle und auf das Patientenbild. Gemäss dem SDM-
        nander abgewogen werden müssen, wie z. B. längere                  Modell sind Patient und Arzt gleichberechtigte, sich
        Lebensdauer gegenüber verminderter Lebensqua­                      ergänzende Partner in der Entscheidungsfindung.
        lität. Ausserdem sind die möglichen Auswirkungen                   Patienten bringen Informationen bezüglich ihres Le-
        einer Behandlung mit Unsicherheit behaftet und                     bensumfeldes, ihrer Werte, Bedürfnisse und Ängste
        die Evidenz für Behandlungsempfehlungen nicht in                   sowie ihr subjektives Wissen über ihre Gesundheit
        jedem Fall stark. Da es grosse Unterschiede in den                 und die Erkrankung in die Diskussion ein. Der Arzt
        Präferenzen, Bedürfnissen und Werten gibt und Pa­                  vermittelt fachliches Wissen und klinische Erfah-
        tienten über unterschiedliche Ressourcen im Umgang                 rung, aber auch ethische Werte, und trägt durch
        mit einer Erkrankung verfügen, können Ärztinnen                    eine objektive Distanz zur klinischen Problematik zu
        und Ärzte gemäss dem SDM-Modell diese Entschei-                    einer optimalen Entscheidungsfindung bei [24, 25].
        dung nur gemeinsam mit den Patienten tref­fen. Bei                 Aus Patientensicht ist eine der meistgenannten Bar-
        präferenzsensitiven Entscheidungen ist SDM daher                   rieren für SDM das Machtungleichgewicht zwischen
        besonders angebracht [3, 20–22]. Für die Umsetzung                 Arzt und Patient. Patienten möchten keine unange-
        von SDM ist eine Grundfrage, in welchen Entschei-                  nehmen Patienten sein und die beschäftigten Ärz-
        dungssituationen SDM durchgeführt werden soll                      tinnen und Ärzte nicht stören [27]. Für die Durch-
        und wie die Auswahl der den Patienten zur Diskus-                  führung von SDM ist deshalb nicht nur der Moment
        sion vorgelegten Behandlungsoptionen erfolgt [19,                  der Entscheidung wichtig, sondern auch die Atmo-
        20, 23]. Zum einen wird vorgeschlagen, dass SDM                    sphäre und Interaktion während der gesamten Kon-
        einzig angewandt wird, wenn gemäss medizinischer                   sultation. Diese ist geprägt durch folgende Faktoren:
        Evidenz zwei gleichwertige Optionen vorliegen, die                 Sensibilität für die Bedürfnisse der Patienten, Ein-
        keine Nachteile für die Bevölkerung haben und sich                 fühlungsvermögen, individualisierte Informationen,
        auch in Bezug auf die Kosten nur geringfügig unter-                Ermutigung von Patienten, sich aktiv zu beteiligen,

       Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2014;95: 50        1884
DDQ                                                                                                                                                              FMH

    Tabelle 1
    Modelle der Entscheidungsfindung im klinischen Kontext.1

                                 Paternalistisches Modell           Interpretatives Modell 2         Shared Decision Making               Informed Decision Modell
                                                                                                     Modell
    Arztrolle                    Beschützer, Wohltäter              Stellvertreter des Patienten     Partner                              Technischer Experte
    Informationsaustausch        Einseitig                          Einseitig                        Gegenseitig                          Einseitig
                                 Arzt → Patient                     Arzt → Patient (Wissen)          Arzt  Patient                       Arzt → Patient
                                                                    Patient → Arzt (Werte)
    Einbezug von Werten und      Präferenzen sind nicht             Arzt erfragt Präferenzen vom Arzt diskutiert Präferenzen mit          Patient kennt die eigenen
    Präferenzen des Patienten    relevant für eine objektive        Patienten und bezieht sie in dem Patienten.                           Präferenzen.
                                 Entscheidung.                      den Abwägungsprozess mit ein.
    Abwägungsprozess             Arzt alleine, evtl. gemeinsam mit anderen Fachpersonen.             Arzt und Patient gemeinsam,          Patient alleine, evtl. mit
                                                                                                     evtl. mit sozialem Umfeld und        sozialem Umfeld und anderen
                                                                                                     anderen Fachpersonen.                Fachpersonen.
    Entscheidung treffen         Arzt, Patient gibt Zustimmung                                       Arzt und Patient gemeinsam           Patient
    Ärztliche Aufgabe            Basierend auf Fachwissen und       Basierend auf Fachwissen,        Basierend auf Fachwissen und         Basierend auf Fachwissen und
                                 Erfahrung ist der Arzt ethisch     Erfahrung und den erfragten      Erfahrung informiert der Arzt        Erfahrung ist der Arzt ethisch
                                 verpflichtet, die objektiv beste   Werten des Patienten ist der     den Patienten über verschie­         verpflichtet, den Patienten
                                 Behandlung für den Patienten       Arzt ethisch verpflichtet, die   dene Behandlungsmöglich­             neutral und verständlich über
                                 zu wählen und sich dessen          optimale Behandlung für den      keiten und erfragt die Präferen­     verschiedene Behandlungs­
                                 Zustimmung zu holen.               Patienten zu wählen und sich     zen des Patienten.                   möglichkeiten zu informieren,
                                                                    dessen Zustimmung zu holen.      Der Arzt ist ethisch verpflichtet,   damit dieser unbeeinflusst
                                                                                                     den Patienten zu ermutigen, am       die beste Behandlung wählen
                                                                                                     Entscheidungsprozess teilzuneh-      kann.
                                                                                                     men, ihn dabei zu unterstützen
                                                                                                     und gemeinsam die optimale
                                                                                                     Behandlung zu wählen.
    Patientenbild                Patient kann aufgrund mangelndem Wissens,                           Patient kann gemeinsam mit           Patient kann selbstständig ent-
                                 mangelnder Objektivität und Einschränkungen durch die               dem Arzt entscheiden, wenn           scheiden, wenn ihm fehlendes
                                 Erkrankung keine optimale Entscheidung treffen.                     er dazu ermutigt und im Ent-         Wissen auf verständliche Weise
                                                                                                     scheidungsprozess begleitet          vermittelt wird.
                                                                                                     wird.

Basierend auf: [16, 23, 26].
	Diese vier Modelle werden häufig in der wissenschaftlichen Literatur genannt. Daneben sind weitere Modelle denkbar, z. B. ein Coaching-Modell, in welchem
1

  der Arzt gemeinsam mit den Patienten Informationen austauscht und den Abwägungsprozess durchführt, aber den Patienten anleitet, die Entscheidung selber
  zu treffen.
	Auch Professional-as-agent-Modell genannt.
2

                                     sowie Möglichkeiten für Patienten, ihren Gedanken                   Durchführung der Behandlung eingeholt [3, 23, 26].
                                     und Emotionen Ausdruck zu verleihen. So beteiligen                  Wichtig ist, dass Ärztinnen und Ärzte ihrer Aufklä-
                                     sich Patienten aktiver, äussern ihre Präferenzen und                rungspflicht, wie sie in den kantonalen Gesund-
                                     Werte, benennen eher Barrieren der Behandlungen                     heitsgesetzten verankert ist, korrekt nachkommen
                                     oder berichten von nicht eingehaltenen Behand-                      und dies bei Bedarf auch nachweisen können [32–
                                     lungsentscheidungen wie zum Beispiel unregelmäs­                    34]. Wenn sie unter diesen Bedingungen eine heikle
                                     sige Medikamenteneinnahmen. Eine gute Bezie-                        Behandlungsentscheidung treffen, in welcher die
                                     hung ist auch deshalb relevant, da die Konsultation                 Lebensqualität höher gewichtet wird als die Lebens-
                                     beim Arzt für sich bereits eine therapeutische Inter-               dauer, brauchen sie keine Haftpflichtansprüche oder
                                     vention ist [28–31].                                                Schadenersatzforderungen zu fürchten.
                                         Verwandt mit diesen Modellen der klinischen
                                     Entscheidungsfindung ist der Begriff «informed con-                 Prozess des Shared Decision Making
                                     sent» oder «informierte Zustimmung». Mit diesem                     Um die Umsetzung des SDM in der klinischen Praxis
                                     wird die rechtliche Autorisation von Patienten zur                  zu erleichtern, haben Charles et al. [16] und Elwyn
                                     Durchführung einer Behandlung bezeichnet, wel-                      et al. [25] Prozessmodelle entwickelt. Diese Modelle
                                     che an gewisse Bedingungen wie die Urteilsfähigkeit                 unterscheiden vier Phasen des SDM: Einführung, In-
                                     des Patienten und verständliche Aufklärung zu Risi-                 formationsaustausch, Abwägungsprozess, Entschei-
                                     ken und Chancen einer Behandlung geknüpft ist.                      dung.
                                     Der Arzt schlägt eine Behandlung vor und infor-
                                     miert über allfällige alternative Behandlungsmög-                   1. Einführung
                                     lichkeiten, aus welchen der Patient auswählen kann.                 In dieser Phase wird den Patienten vermittelt, was
                                     Dabei wird die Zustimmung des Patienten zur                         das medizinische Problem ist und welche Behand-

                                     Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2014;95: 50                   1885
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       lungsmöglichkeiten es gibt – inklusive der Mög­                   lungsschritte (z. B. regelmässige Medikamentenein-
       lichkeit abzuwarten und zu beobachten. Ausserdem                  nahme) erfolgreich durchzuführen. Viele Patienten
       erklärt der Arzt den Patienten, wie die Entschei-                 wollen die Meinung ihres sozialen Umfeldes in den
       dungsfindung abläuft und welche Rollen beide ha-                  Entscheidungsprozess miteinbeziehen und die Mei-
       ben. Dabei vermittelt er ihnen, dass die Entschei-                nung von weiteren beteiligten Ärzten und Gesund-
       dung gemeinsam getroffen wird, so dass er sich mit                heitsfachpersonen hören. Im Gegensatz zum Infor-
       der schwierigen Entscheidung nicht allein gelassen                med Decision Modell beschränkt sich die Rolle des
       fühlt [25, 35].                                                   Arztes nicht auf das neutrale Vermitteln von Fach-
                                                                         wissen. Der Arzt legt ebenfalls die eigene Sichtweise
       2. Informationsaustausch                                          zu den verschiedenen Optionen dar und kann Emp-
       In einer nächsten Phase informiert der Arzt über die              fehlungen geben. Dies bedeutet aber nicht, dass Ärz-
       Erkrankung, die Behandlungsoptionen, die dazuge-                  tinnen und Ärzte einfach versuchen, Patienten von
       hörigen Risiken und Nutzen in Bezug auf die Ge-                   ihrer bereits getroffenen Entscheidung zu überzeu-
       sundheit, das physische und psychische Wohlbefin-                 gen (vgl. Karnieli-Miller und Eisikovits [38]). Da zwi-
       den und die sozialen Lebensumstände der Patienten.                schen den Beteiligten ein Machtungleichgewicht
       Er bringt auf diese Weise medizinische Evidenz in                 besteht, muss für Patienten eine Atmosphäre ge-
                                                                         ­
       die klinische Konsultation mit ein und überprüft                  schaffen werden, in welcher sie sich sicher fühlen
       gleichzeitig, ob die Patienten alles richtig verstanden           und frei äussern können [16, 17, 25, 39].
       haben. Dabei werden Befürchtungen und subjektive
       Krankheitstheorien der Patienten sowie allfällige                 4. Behandlungsentscheidung fällen
       Vorschläge für weitere Optionen miteinbezogen.                    Viele Patienten brauchen Zeit, um sich die Entschei-
       ­Patienten bringen ausserdem ihr Wissen zu ihrer                  dung zu überlegen, weshalb Entscheidungen ver-
        Person in die Konsultation ein wie beispielsweise                schoben und Folgekonsultationen vereinbart werden.
        ihre Krankengeschichte, Lebenssituation und Werte                Gemäss dem SDM-Modell treffen Arzt und Pa­tient
        [16, 17, 21, 25]. Der Arzt unterstützt Patienten, sich           gemeinsam eine Entscheidung. Es kann aber vor-
        mittels Broschüren oder geeigneter Webseiten selbst              kommen, dass sich die Beteiligten trotz gemeinsamer
        Wissen anzueignen und dieses zu interpretieren [5].              Diskussion nicht einig werden. Wenn der Arzt die
        Zusätzlich werden in dieser Phase auch sogenannte                bevorzugte Behandlungsoption des Patienten nicht
        Decision Aids (Entscheidungshilfen) verwendet. Diese             umsetzen will, kann sich dieser an einen anderen
        Broschüren, Videos oder webbasierte Programme in-                Arzt wenden. Umgekehrt hat der Patient jederzeit
        formieren Patienten in standardisierter Weise über               das Recht, eine bestimmte Behandlungsoption abzu-
        die Erkrankung und die Behandlungsoptionen mit                   lehnen. Das zeigt, dass beide Beteiligte Einschränkun-
        den dazugehörigen Risiken, stellen Wahrscheinlich-               gen unterworfen sind und nicht eine Person alleine
        keiten verständlich dar und unterstützen Patienten,              entscheiden kann [16, 17, 25].
        ihre Präferenzen herauszufinden [35–37]. Auch wei-                    Die Entscheidungsfindung im klinischen Kon-
        tere Hilfsmittel wie graphische Darstellungen von                text ist ein dynamischer Prozess – die beschriebenen
        Wahrscheinlichkeiten oder von Optionen mit ihren                 Phasen gehen fliessend ineinander über. Innerhalb
        Vor- und Nachteilen (Option grids) können hilfreich              einer Konsultationsphase kann sich das Entschei-
        sein [21]. Diese verschiedenen Hilfsmittel dienen da­            dungsfindungsmodell (Tabelle 1) ändern oder Ele-
        zu, den Informationsaustausch (und Abwägungspro-                 mente verschiedener Modelle werden kombiniert.
        zess) systematisch und standardisiert durchzuführen              Beispielsweise beginnt ein Arzt eine Konsultation
        und fördern den aktiven Einbezug von Patienten. Sie              mit dem SDM-Modell, wechselt aber schliesslich zum
        sind aber kein zwingender Bestandteil eines SDM-                 Interpretativen Modell, wenn der Patient wünscht,
        Prozesses und ihr Einsatz garantiert noch keine Ent-             dass der Arzt die Behandlungsentscheidung für ihn
        scheidungsfindung gemäss dem SDM-Modell.                         trifft. Die Anwendung der verschiedenen Modelle
                                                                         der Entscheidungsfindung wird von der klinischen
       3. Abwägungsprozess                                               Situation und den Bedürfnissen des Patienten beein-
       Nach der gemeinsamen Informationsaustausch-                       flusst und erfordert deshalb Flexibilität [16].
       phase erfolgt ein Abwägungsprozess der verschiede-
       nen Vor- und Nachteile der zur Wahl stehenden Be-                 Anwendung in verschiedenen Fachbereichen
       handlungsoptionen. Dazu erfragt der Arzt die Erwar-               Die bekannteste Definition des SDM-Modells [3]
       tungen, Werte, Sorgen und Ideen der Patienten und                 wurde für den Kontext einer potenziell lebensbe-
       unterstützt sie darin, die eigenen Präferenzen her-               drohlichen Krankheit wie etwa eine Krebserkran-
       auszufinden und zu gewichten. Die Entscheidung                    kung entwickelt, für welche es mehrere Behand-
       für eine Behandlungsoption wird auch von der                      lungsalternativen mit verschiedenen möglichen,
       Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Auswirkun-                   mit Unsicherheit behafteten Folgen gibt (vgl. An-
       gen einer Behandlung und der Selbstwirksamkeitser-                wendung in der Onkologie: Politi et al. 2012 [40]).
       wartung der Patienten beeinflusst. Mit Letzterem ist              Das SDM-Modell wird auch in anderen Bereichen
       gemeint, ob sich Patienten zutrauen, nötige Behand-               an­gewendet, z. B. in der Intensivmedizin bei Ent-

       Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2014;95: 50        1886
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       scheidungen zu lebenserhaltenden Massnahmen                       Warum Shared Decision Making?
       [41], in der Rehabilitation [42] oder in der Psychiatrie          In der Einleitung wurde festgestellt, dass SDM als
       [43].                                                             ideales Modell der klinischen Entscheidungsfindung
             Das Modell von Charles et al. [3] aus dem Bereich           gilt. Im Folgenden sollen die Gründe für diese Posi-
       der Onkologie wurde für den Kontext der medizini-                 tion aufgeführt und mit wissenschaftlichen Ergeb-
       schen Grundversorgung [5] und der Behandlung                      nissen und Diskussionspunkten ergänzt werden.
       von chronisch kranken Patientinnen und Patienten
       [31] erweitert. Gemäss Murray und Kollegen [5]                    Bedürfnis der Patienten
       zeichnet sich die Konsultation in der Grundversor-                Patienten sind im Vergleich zu früher skeptischer ge-
       gung durch undifferenzierte Symptome und teil-                    genüber Ärztinnen und Ärzten und sind sich ihrer
       weise durch multiple Diagnosen und Probleme aus,                  Rechte als Patienten bewusster. Viele Patienten in-
       welche auch durch psychische und soziale Faktoren                 formieren sich über das Internet zu Gesundheitsthe-
       beeinflusst werden. Im Modell von Charles et al. [3]              men und verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten
       hingegen liegt eine klare Diagnose vor, welche bei-               und wollen demzufolge auch bei medizinischen Ent-
       den Parteien bekannt ist, bevor SDM angewendet                    scheidungen mitreden [20, 22]. Befragungen zeigen,
       wird. Für die Praxis der medizinischen Grundversor-               dass sich eine Mehrheit an medizinischen Entschei-
       gung ist es deshalb wichtig, dass SDM bereits zu Be-              dungen beteiligen möchte. Andererseits gibt es auch
       ginn der Konsultation bei der Auftragsklärung be-                 eine Minderheit, welche die Entscheidung lieber
       ginnt. Arzt und Patient müssen sich darauf einigen,               dem Arzt überlassen möchte [26, 45]. So gaben in
       welche Probleme besprochen werden, ob sie jetzt                   ­einer Bevölkerungsbefragung in Deutschland 57%
       oder zu einem späteren Zeitpunkt besprochen                        der Personen an, dass medizinische Entscheidungen
       ­werden und ob der Arzt überhaupt die richtige An-                 gemeinsam mit dem Arzt getroffen werden sollten,
        sprechperson ist. In der medizinischen Grundversor-               für weitere 17% sollten Patienten alleine entschei-
        gung müssen häufig mehrere Entscheidungen ge-                     den und nur 23 % meinten, der Arzt solle alleine ent-
        troffen werden, die aber weniger akute Auswirkun­                 scheiden [46]. Dabei hat die Präferenz für eine aktive
        gen auf die Patienten haben und laufend revidiert                 Beteiligung an Entscheidungen in den 2000er-Jah-
        werden können. Wichtig ist deshalb auch eine ge-                  ren zugenommen [45]. Der Wunsch nach einer Be-
        meinsame Evaluation von Entscheidungen.                           teiligung an medizinischen Entscheidungen hängt
             Im Gegensatz zu einer akuten Erkrankung wie im               vom Land respektive von der Kultur [47], der Patien-
        Modell von Charles et al. [3] ist bei der Behandlung              tengruppe [11, 20, 45, 46], der Befragungsmethode
        von chronisch kranken Patienten oder in der Ge-                   [22, 45] sowie der Frageformulierung und Definition
        sundheitsförderung und Prävention die Rolle des                   [45] ab. So möchten fast alle Patienten mehr Infor-
        Arztes weniger auf das Vermitteln von Expertenwis-                mationen zur Erkrankung und zu den Behandlungs-
        sen als auf die Umsetzung einer Entscheidung ausge-               möglichkeiten, aber nur ein Teil möchte sich an der
        richtet. Elwyn und Kollegen [19, 44] sprechen des-                Entscheidung beteiligen. An der Diagnosestellung
        halb von Interventionen zur Verhaltensänderung in                 und Festlegung der Behandlungsalternativen möchte
        Abgrenzung zu Interventionen zur Entscheidungs-                   sich dagegen kaum jemand beteiligen [20, 22, 26].
        unterstützung. Ein Beispiel für eine Behandlungs-                 Eine aktive Involvierung wird häufiger von Frauen,
        entscheidung zur Verhaltensänderung ist, ob ein                   Personen mit einem höheren Bildungsabschluss, aus
        an Diabetes erkrankter Patient regelmässig Medi­                  einer höheren sozioökonomischen Schicht, von In-
        kamente einnimmt oder seine Essgewohnheiten än-                   ländern und von jüngeren Personen gewünscht,
        dert. Da sich in diesen Interventionen die Konse-                 ­wobei soziodemographische Angaben im Einzelfall
        quenzen der getroffenen Entscheidung häufig erst                   keine zuverlässige Indikatoren für Partizipationsprä-
        längerfristig zeigen, macht dies die Umsetzung einer               ferenzen sind [11, 46]. Insgesamt werden nur rund
        Entscheidung zu einer Herausforderung. Deshalb ist                 60 % der Patienten ihren Wünschen entsprechend
        es besonders wichtig, dass die Selbstwirksamkeit der               in die Entscheidungsfindung einbezogen [4]; SDM
        Patienten zur Umsetzung von Behandlungsmass-                       wird in der Praxis eher selten angewandt [48]. Viele
        nahmen und die Unterstützung durch ihr soziales                    Ärztinnen und Ärzte unterschätzen vermutlich das
        Umfeld in die Entscheidung miteinbezogen werden                    Bedürfnis nach Informationen und Mitentscheidung:
        sowie die Patienten die Entscheidung mittragen                     Sie handeln häufig gemäss den von ihnen wahr­
        (siehe auch Motivational Interviewing [44]). Bei der               genommenen Erwartungen der Patienten anstatt die
        Behandlung chronisch kranker Patienten besteht                     Präferenzen direkt zu erfragen [22, 26, 49].
        häufig eine langfristige Beziehung zwischen Patient
        und Arzt, respektive Patient und weiteren wichtigen              Ethische Überlegungen
        Gesundheitsfachpersonen. Dies ist eine ideale Vor-               Indem die Autorisation von Patienten zur Durchfüh-
        aussetzung für eine der wichtigsten Grundlagen für               rung einer Behandlung (informed consent) ethisch
        SDM: eine Partnerschaft zwischen Arzt und Patient                und rechtlich als Patientenrecht etabliert ist, wird
        [5, 31, 42].                                                     auch ein Minimum an SDM nötig. Ausserdem erhal-
                                                                         ten Patienten durch SDM mehr Informationen, ihre

       Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2014;95: 50        1887
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                             Autonomie wird gestärkt und sie erhalten ein Gefühl               ebenfalls unklar und deuten höchstens auf einen
                             der Kontrolle über ihre Behandlung. Mit SDM wer-                  kleinen Effekt hin [37, 50, 51].
                             den die Patienten aber nicht mit der Entscheidung
                             alleine gelassen, sondern der Arzt ist verpflichtet,              Auswirkung auf das Gesundheitssystem
                             seine Expertise einzubringen und sie im Entschei-                 Nachgewiesen wurden regionale Unterschiede in der
                             dungsprozess zu begleiten. Aus einer ethischen Sicht-             Häufigkeiten von Behandlungen innerhalb eines
                             weise wird deshalb eine geteilte Entscheidung für                 ­Landes, die nicht durch die Krankheit oder die Präfe-
                             wünschenswert angesehen [3, 22].                                   renzen der Patienten erklärt werden können, son-
                                                                                                dern vermutlich durch sich unterscheidende lokale
                             Auswirkung auf die Gesundheit                                      ärztliche Meinungen [53]. Solche Unterschiede in
                             Es wird angenommen, dass SDM durch das systema-                    der Behandlung könnten durch den konsequenten
                             tische Abwägen aller Optionen die medizinische                     Einbezug der Präferenzen von Patienten durch SDM
                             Qualität erhöht, unnötige Behandlungen verhin-                     vermindert werden. Es gibt Hinweise, dass SDM un-
                             dert, bei Patienten mit chronischen Krankheiten für                nötige Behandlungen verhindert, welche keinen
                             sich genommen therapeutisch wirkt sowie die Ad­                    Nutzen oder beträchtliche Risiken und Nebenwir-
                             härenz (Compliance oder Therapietreue) erhöht und                  kungen mit sich bringen [21]. Durch den Einsatz
                             so positive Auswirkungen auf den Gesundheitszu-                    von Entscheidungshilfen werden häufiger konserva-
                             stand der Patienten hat [20, 35, 39, 50]. Andererseits             tive Behandlungen anstatt grössere Operationen ge-
                             ist durch SDM nicht ein allgemein besserer Gesund-                 wählt [37]. Nach einem Training von Hausärzten in
                             heitszustand zu erwarten. Patienten erreichen aber                 SDM setzten diese seltener Antibiotika für die Be-
                             eher die gewünschten Behandlungsergebnisse bzw.                    handlung von Patienten mit akuten respiratorischen
                             diejenigen Ergebnisse treten nicht ein, welche sie                 Infektionen ein [54].
                             vermeiden wollten [37]. In der Tat weisen Studien                      Häufig wird befürchtet, dass durch SDM die Kon-
                             keine klare Verbesserung des Gesundheitszustandes                  sultationszeit zunimmt und damit die Kosten für Ge-
                             und der allgemeinen Lebensqualität nach [37, 50–52].               sundheitsleistungen steigen. Mangelnde Zeit ist in
                             Tendenziell finden sich eher Effekte sowohl für Stu-               der Tat das von Ärzten am häufigsten genannte Hin-
                             dien mit chronisch kranken Patienten, in welchen                   dernis für die Umsetzung von SDM [16, 22, 49, 55]
                             eine längerfristig Arzt-Patient-Beziehung besteht, als             und wird auch von Patienten als Barriere für SDM
                             auch in Situationen, in welchen SDM während meh-                   wahrgenommen [27]. Zwei Cochrane Reviews [37,
                             reren Konsultationen stattfand und ein Training des                50] zeigen allerdings, dass die Konsultationen mit
                             Arztes in SDM durchgeführt wurde [51]. Gemäss der                  durchschnittlich nur drei Minuten mehr kaum län-
                             aktuellen Evidenz hat SDM also weder klar positive                 ger dauern. Dennoch sind eher positive Auswirkun-
                             noch negative Auswirkungen auf den Gesundheits-                    gen von SDM zu erwarten, wenn mehr Zeit für die
                             zustand. Gesicherte Aussagen zur Wirksamkeit von                   Konsultationen zur Verfügung steht [56].
                             SDM können allerdings nur mit Vorsicht gemacht                         Ob SDM zu einer Reduktion der Gesundheitskos-
                             werden. Denn es gibt nur eine geringe Anzahl von                   ten beitragen kann oder diese im Gegenteil weiter er-
                             qualitativ hochwertigen Studien und in diesen wer-                 höht, kann aufgrund kaum vorhandener Studien
                             den verschiedene Arten von SDM-Interventionen                      nicht beantwortet werden. Die wenigen Studien wei-
                             bei sehr unterschiedlichen Patientengruppen analy-                 sen darauf hin, dass SDM vermutlich keinen grossen
                             siert. Ausserdem fehlt in den Studien häufig eine                  Einfluss auf die Kosten hat [37].
                             Kontrolle der Qualität der Implementierung von
                             SDM.                                                              Schlussfolgerungen
                                                                                               SDM ist kein Wundermittel. Wenn sogenannte Ent-
 Aktuelle                    Auswirkung auf die Beteiligung                                    scheidungshilfen eingesetzt werden, erhöht es das
 Forumthemen                 und Zufriedenheit                                                 Wissen der Patienten über die Erkrankung, fördert
                             SDM erhöht nachweislich das Wissen der Patienten                  deren aktiven Einbezug und hilft ihnen, Präferenzen
 Diskutieren Sie mit!        über ihre Erkrankung, insbesondere wenn Entschei-                 zu reflektieren. Es gibt Hinweise, dass durch SDM un-
 Im Forum präsentieren wir   dungshilfen verwendet werden [37, 50, 51]. Wenn                   nötige Behandlungen verhindern werden können.
 regelmässig brisante        Entscheidungshilfen verwendet werden, sind sich die               SDM hat aber gemäss der aktuellen Evidenz weder
 Themen aus Politik, Öko­
                             Patienten über ihre eigenen Werte klarer und fühlen               klar positive noch negative Auswirkungen auf Ge-
 nomie und Wissen­
                             sich seltener unentschlossen. Mehr Arzt-­    Pa­
                                                                            tient-             sundheitszustand, Wohlbefinden und Zufriedenheit
 schaft, die das Schwei­
 zer Gesundheitswesen be­    Kommunikation über die Entscheidung findet statt,                 der Patienten und erhöht laut Studien die Konsulta-
 treffen. Bringen Sie Ihre   und die Patienten sind aktiver. Allerdings entschei-              tionszeit nicht wesentlich. Viele Fragen zu seiner
 Meinung ein oder kom­       den die Patienten in Studien zu Entscheidungshilfen               Wirksamkeit bleiben aber noch offen. Es gibt zwar
 mentieren Sie die Äusse­    häufiger alleine (Informed Decision Modell), während              sehr viele Studien zu Entscheidungshilfen, aber nur
 rungen Ihrer Kolleginnen    SDM nicht häufiger stattfindet [37]. Ob SDM wie ver-              wenige zu SDM. Dabei bleibt unklar, ob eine grössere
 und Kollegen. Das Forum
                             mutet die Adhärenz erhöhen kann, ist aufgrund der                 Wirksamkeit bei einer hohen Qualität der Imple-
 finden Sie unter:
 www.saez.ch/forum/          geringen Anzahl von Studien unklar [37, 50, 51]. In               mentierung oder für bestimmte Patientengruppen
                             Bezug auf die Zufriedenheit sind die Ergebnisse                   erreicht werden kann.

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                      Ob SDM umgesetzt wird, hängt auch von den                     ­ atientenpräferenzen in Guidelines explizit mit ver-
                                                                                    P
                  Einstellungen und Erwartungen der Ärztinnen und                   schiedenen Optionen verknüpft werden. Damit
                  Ärzte ab. Ein Wissensaustausch alleine reicht nicht               SDM überhaupt möglich ist, dürfen Ärztinnen und
                  aus, sondern es ist auch nötig, den Patienten zu einer            Ärzten nicht so enge Vorgaben gemacht werden,
                  Beteiligung zu ermutigen und eine gemeinsame Ent-                 dass diese unterschiedliche Patientenpräferenzen
                  scheidung treffen zu wollen. Eine Barriere für die                nicht mehr berücksichtigen können [2, 5].
                  Umsetzung von SDM kann die Angst der Ärzte vor                         Aus ethischen Gründen erscheint SDM ein sehr
                  möglichen Haftpflichtansprüchen oder Schaden­                     sinnvolles Modell der klinischen Entscheidungsfin-
                  ersatzforderungen sein, wenn ein Patient etwa die                 dung zu sein. Unumstritten ist das Modell bei präfe-
                  Lebensqualität höher gewichtet als die Lebensdauer.               renzsensitiven Entscheidungen, für welche mehrere,
                  Wichtig ist deshalb auch bei einer gemeinsamen                    aus ärztlicher Sicht gleichwertige Optionen vorhan-
                  Entscheidung, dass die Ärzte ihre Patienten nach-                 den sind. SDM ermöglicht die von vielen Patienten
                  weisbar korrekt aufklären. Fehlende Kompetenzen,                  gewünschte aktive Beteiligung, ohne dass die Patien-
                  Wissen und Vorbilder in Bezug auf SDM bezeichnen                  ten dabei allein gelassen und überfordert sind. Wich-
                  Ärzte häufig als weitere Hürde [49] – diese erwiesen              tig ist dabei, dass SDM flexibel gehandhabt wird, da
                  sich in einer Studie mit Ernährungsberatern gar als               sich die Bedürfnisse der Patienten mit der Zeit än-
                  die entscheidenden Faktoren [55]. Obwohl es zahl-                 dern können und sich von Patient zu Patient unter-
                  reiche SDM-Trainingsprogramme in verschiedenen                    scheiden. Wie stark Patienten in die Entscheidung
                  Ländern gibt, unter anderem auch der Schweiz [57],                einbezogen werden, sollte an deren Bedürfnis ange-
                  fehlen Forschungsergebnisse, welche Art von Trai-                 passt werden.
                  ningsprogrammen effektiv ist. Zuletzt ist auch das
                  Fehlen von evidenzbasierten und verständlichen In-                                                           .....
                                                                                                                               ...... -------
                                                                                       Interaktiver Artikel                    .... --------
                                                                                                                                      ------
                  formationen und Entscheidungshilfen von hoher                                                                       -------
                  Qualität in vielen Bereichen hinderlich [22, 27, 49].
                  Eine Übersicht über bestehende Entscheidungs­                        Wollen Sie diesen Artikel kommentieren? Nutzen
                                                                                       Sie dafür die Kommentarfunktion in der Online-
                  hilfen und Hinweise für die Beurteilung von deren
                                                                                       Version oder sehen Sie nach, was Ihre Kolleginnen
                  Qualität findet sich bei Lenz et al. 2012 [36] und                   und Kollegen bereits geschrieben haben:
                  Stacey et al. 2014 [37]. Hilfreich für die Umsetzung                 www.saez.ch/aktuelle-ausgabe/interaktive-beitraege/
                  von SDM ist ausserdem, wenn unterschiedliche

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                                                                                 Jetz t m auf
                                                                                         n
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                                                                                 www.fm

                  Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2014;95: 50              1889
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