Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres Kritische Überlegungen aus exegetischer und hermen eutischer Sicht
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres Kritische Überlegungen aus exegetischer und hermeneuti- scher Sicht Oda Wischmeyer Sola scriptura – wieweit ist diese lutherische Devise eine Maxime unseres wis- senschaftlichen Tuns? Wieweit leitet sie die exegetische Arbeit inspirierend und fördernd? Wieweit schränkt sie unser wissenschaftliches Fragen ein, bindet sie uns an normierende Gesetze der Textinterpretation? Für uns deutschsprachige neutestamentliche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, soweit unsere Arbeit größtenteils im institutionellen Zusammenhang staatlicher Universitäten und evangelischer Fakultäten oder Fachbereiche stattfindet, gehört das lutheri- sche sola scriptura in den Bereich der dogmatischen Schriftlehre. Als solche ist sie keine methodische Maxime unseres wissenschaftlichen Tuns, nämlich der Exegese des zweiten Teils der christlichen Bibel unter den Fragestellungen zeit- genössischer Textinterpretation, sondern eine Stimme aus der Vergangenheit, Teil unseres theologischen Erbes. Sich zum lutherischen sola scriptura zu äußern, gehört nicht zu unseren primären Themen. Und doch ist auch die neutestamentliche Exegese nicht von der Frage ent- bunden, wie das sola scriptura unser Textverstehen beeinflusst, behindert oder entwickelt. Auch geht von derart zugespitzten und geschliffenen Devisen ein hoher Reiz aus, eine Herausforderung, das eigene wissenschaftliche Selbstver- ständnis an der Devise zu messen oder von ihr messen zu lassen. Peter Sloterdijk hat diese Herausforderung gespürt und in einem ausführlichen Essay versucht, die Devise im Sinne einer divinatorisch arbeitenden Variante der intellectual his-
230 Oda Wischmeyer tory zu interpretieren1 – ein Versuch, der nach meinem Verständnis gescheitert ist. Ohne eine gewisse Lutherkenntnis und ohne eine Vorstellung von der Bibel und von Bibelexegese muss auch die intellektuell anspruchsvollste Deutung ihren Gegenstand verfehlen. Aber Sloterdijks Versuch mahnt nicht nur zur Vor- sicht bei historischen Linienziehungen und großflächigen Deutungen, sondern regt eher gerade dazu an, selbst eine Stellungnahme zu versuchen. Nicht eine verfehlte Deutung ist problematisch: Über sie kann man streiten. Problematisch wäre eine exegetische Verweigerung des Tones: „Das ist nicht mein Gebiet. Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr Dazu äußere ich mich nicht“. Jeder Exeget und jede Exegetin kann sich durch das sola scriptura herausgefordert fühlen und mit sich selbst zu Rate gehen, ob und wie sich eine exegetische Reaktion formulieren lasse. Hier regiert das – hoffentlich nicht gänzlich uninformierte – Subjekt. Und man könnte sagen: endlich einmal, nachdem das Subjekt normalerweise bei der exegetischen Arbeit zurücktritt. 1. L uthers sola scriptura Exegeten denken historisch, und so fange ich nicht bei Sloterdijk an, denn ohne einen historischen Einstieg scheint mir jede Überlegung zum Thema in der Luft zu hängen. Die reformatorische Devise sola sciptura hat ihren historischen Ort in der theologisch, kirchen- und reichspolitisch zentralen Debatte um die regieren- den Normen der christlichen Lehre und ihrer institutionellen und individuellen Implikationen um 1520.2 Es ging um die Gestalt der römischen Kirche, um Got- tesdienst- und Sakramentsverständnis und um das Heil und die Frömmigkeit des einzelnen Christen, nicht um eine inneruniversitäre bibelhermeneutische Diskussion oder gar um die exegetische Frage nach der angemessenen Über- setzung von dikaiosynē theou.3 Die Funktion von sola scriptura war in diesem Zusammenhang die einer grundsätzlichen Kampfdevise, die das Problem der formalen Autorität, auf die sich theologische und kirchenpolitische Sätze beru- fen konnten, klären sollte. Der Streitpunkt zwischen Luther und seinen Gegnern war nicht die Stellung der Schrift als solcher, sondern die Frage danach, wer sie autoritativ auslegen könne. Genau hier greift Luthers sola scriptura: im Sinne der scriptura sui ipsius interpres ist die Schrift ihre eigene Autorisierungsgröße. 1 P. Sloterdijk, Glaube, die Hölle des Zweifels, in: NZZ Samstag 1. Oktober 2016. Interna- tionale Ausgabe, 27–30. 2 Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systema- tischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 204–213 (systematisch). 3 Dazu einführend Lohse, Luthers Theologie, 97–110. Vgl. WA 54, 185 f. (Lateinische Schrif- ten, Vorrede).
Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 231 Prof. Dr. Oda Wischmeyer war von 1993–2009 Profes- sorin für Neues Testament an der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg. 2015 Ehrendoktor der Universität Lund. Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr Wie aber sah diese autorisierte Selbstauslegung der Schrift praktisch aus? Aus- legung geschieht immer durch Ausleger. Luther machte theologisch die Schrift zu ihrer eigenen Auslegerin, praktisch war es die Exegese, die diese Rolle ein- nahm, und zwar seine Exegese, und das impliziert: er als Exeget. Seine Exegese hatte die Voraussetzungen für die Devise sola scriptura und für ihre Wirkung geschaffen und war die Basis seiner kämpferisch vertretenen Position. Das sola scriptura eröffnete Luther den theologischen und praktischen Spielraum, eigene Autorität jenseits des kirchlichen oder päpstlichen Lehramtes auszuüben, denn er war „Doktor der Heiligen Schrift“ und zutiefst von seiner exegetischen und hermeneutischen Kompetenz – sit venia verbo – überzeugt. In der „Schrift“ war er nach seinem Urteil jedem überlegen, sei es der Papst, seien es die „Romanis- ten“, sei es Erasmus. Und es ist nicht zufällig, dass seine Gegner ihn nicht aus der Schrift widerlegten. Luther errichtete sich also eine eigene theologisch-autoritative Basis: die Kenntnis und das hermeneutisch angemessene Verständnis der Bibel beider Testamente, das auf gründlichstem exegetischem Bibelstudium beruhte. Die- ser Ansatz sollte im Lauf der Geschichte der protestantischen Theologie und speziell der Bibelhermeneutik ebenso zu immer größerer Freiheit als auch zu neuen autoritativen theologischen Verengungen führen. Denn die Schrift eröff- nete nicht eine, sondern viele Auslegungsmöglichkeiten. Anselm Schubert weist darauf hin, dass „gerade die von der Reformation erhobene Forderung nach der Schrift als alleiniger Norm des Glaubens … erstmals die Widersprüchlichkeit der verschiedenen biblischen Texte, Traditionen und Theologien deutlich“ machte.4 Dass Luther diese Unterschiede gesehen und furchtlos benannt hat, machen seine Vorreden zu den biblischen Büchern ebenso deutlich wie seine Äuße- rungen über einzelne biblische Bücher in seinen Tischgesprächen und seine 4 A. Schubert, Humanismus und Reformation: Einführung, in: O. Wischmeyer (Hg.), Hand- buch der Bibelhermeneutiken (HBH), Berlin / Boston 2016, 273–275, hier: 275.
232 Oda Wischmeyer Behandlung bestimmter alttestamentlicher und neutestamentlicher Schriften.5 Er konnte die Unterschiede der biblischen Bücher benennen, weil er die Bibel insgesamt als Christuszeugnis verstand und die einzelnen Texte weder harmo- nisieren noch alle gleich schätzen musste. Er hielt seine Bibelhermeneutik, die auf dem Verständnis der Schrift als Christuszeugnis – „was Christum treibet“ oder: solus Christus – und als Evangelium beruhte und mit Glauben beantwor- tet werden sollte – sola gratia und sola fide –, für evident. Zugleich musste er erleben, dass sowohl von altgläubiger als auch von reformatorischer Seite sehr Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr andere hermeneutische Entwürfe vorgelegt wurden. Eine allgemeine christliche Verständigung auf „das Evangelium“ fand nicht statt.6 In den reformatorischen Kirchentümern sollte es mehr als 250 Jahre dauern, bis sich eine selbstverantwortete Bibelexegese und Bibelhermeneutik unabhän- gig von den kirchlichen Bekenntnisständen an den Universitäten entwickeln konnte. Gewisse kirchliche, konfessionstheologische und allgemeintheologi- sche Vorbehalte gegenüber bestimmten exegetischen und hermeneutischen Positionen sind auch nach 200 Jahren kritischer Exegese im Bereich univer- sitärer Bibelwissenschaften nicht gänzlich verschwunden, was nicht per se negativ bewertet werden sollte, sind doch die Bibelwissenschaften mit den Kirchen in ihrem Gegenstand und auch in der Bekenntniszugehörigkeit ihrer Vertreter konfessionell verbunden, ohne gebunden zu sein. Hermeneutische Vielfalt und theologischer Rückbezug auf kirchliche Institutionen sind legitime Aspekte theologischer Verantwortung, wie gerade die aktuellen Debatten um angewandte bzw. kontextuelle Hermeneutiken deutlich machen.7 2. S ola Scriptura aus heutiger Perspektive Ich wechsle jetzt die Perspektive und lese die Devise nicht historisch-verstehend, sondern im „Literalsinn“, wobei allerdings erneute Rückgriffe auf historische Fragestellungen unvermeidbar sind. Allein aus der „Schrift“ über die christliche Botschaft, ihre Wahrheit und ihre theoretische, d. h. theologische und welt- deutende, und praktische, d. h. kirchenrechtliche und ethische, Gestalt belehrt zu werden, wie Luthers Devise zu insinuieren scheint, ist auf den ersten Blick – 5 H. Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1550), Göt- tingen 31989. 6 Vgl. die Beiträge zu bibelhermeneutischen Entwürfen in der Reformation und Nachrefor- mation in: Wischmeyer, Handbuch, 273–488. 7 Vgl. A. de Zwiep, Bible Hermeneutics from 1950 to the Present: Trends and Developments, in: HBH 933–1008. Vgl. weiter das Dokument des Lutherischen Weltbundes zur Bibel: Die Bibel im Leben der lutherischen Gemeinschaft. Ein Studiendokument zur lutherischen Hermeneutik, Genf 2016.
Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 233 eben ohne historische Kontextualisierung – als Programm ebenso heldenhaft- minimalistisch wie naiv-unrealistisch und damit letzten Endes gefährlich, auf jeden Fall ahistorisch. Wo bleiben die „Väter“, modern gewendet: die Rezep- tionsgeschichte, wo bleibt der Erfahrungsschatz der Geschichte – katholisch gewendet: der Kirche? Wo bleiben die Menschen? Wo bleibt die Veränderung? Wo bleiben die ewig wechselnden Kontexte? Die jeweiligen neuen Notwendig- keiten? Wo bleiben Vermittlung und Applikation? Wo bleibt die Liebe? Wo das Verstehen? Und am wichtigsten: weshalb überhaupt „allein“? Das Adverb trans- Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr portiert Ausschlüsse und verbaut Alternativen, Erfahrungen, Vielfalt, multiple Zugänge, Diskussion. „Allein“ ist rechthaberisch, tyrannisch. Hier wird nicht Inklusion geübt, sondern Exklusion exerziert. Sicherheit und Einfachheit wird vorgetäuscht, wo doch gerade Offenheit und viel Sensibilität für das Komplexe und den Wandel notwendig sind. Spüren wir hier den Terror des Monotheismus oder den Hochmut falschen Heldentums, das das Martyrium geradezu heraus- fordert? Oder die Unfreiheit eines „So steht es geschrieben“? Unter Umständen eines Fundamentalismus? All das wurde und wird behauptet. Und wenn wir die ethisierende Kritik aus- blenden und nur von dem wissenschaftlichen Umgang mit Texten her denken, wird die Kontextfigur noch wichtiger: kein Text ohne Kontexte, Prätexte und Intertext und Rezeption.8 Wollen wir so exegetisch arbeiten, ohne Kontexte9, unter der Devise sola scriptura? Und wo ist die Grenze zum Biblizismus? Auch von der Kirchengeschichte her ist die lutherische Devise bekanntermaßen frag- würdig, ist doch der neutestamentliche Kanon selbst ein Ergebnis der Akzeptanz in den Gemeinden und in einem mindestens teilweise zu rekonstruierenden historischen Prozess zustande gekommen, an dessen Ende eine kirchliche Ent- scheidung stand. Diese Flut unterschiedlicher und nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantwortender Fragen lässt sich in einer exegetisch-theologiegeschicht- lichen Frage methodisch auf den Punkt bringen: Ist das „allein“ eine spezifische Denkform Luthers, der seiner Übersetzung von Röm 3,28: 8 Vgl. O. Wischmeyer, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion. Was die neutestamentliche Wissenschaft gegenwärtig hermeneutisch leisten kann, in: E.-M. Be- cker / St. Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungspro- zesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin / Boston 2012, 623–678. 9 Zur theologischen Dimension des Kontextbegriffs vgl. W. Härle, Dogmatik, Berlin / Bos- ton 42012, 168–194.
234 Oda Wischmeyer Logizometha gar dikaiousthai pistei anthrōpon chōris ergōn nomou. ein „allein“ hinzufügte, wohl wissend, dass Paulus nicht exklusiv monon pistei formuliert hatte, und sich dafür mit einer langen Ausführung über die deutsche Sprache verteidigen musste? Vielleicht hätte zur Verteidigung seiner Überset- zung sachlich einfach der Hinweis auf Jak 2,24 gereicht, wo der Verfasser des Briefes die Position des Paulus zuspitzt, ohne sie zu verzerren: ex ergōn dikaioutai anthrōpos kai ouk ek pisteōs monon. Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr Hier haben wir das „allein“ – und ironischerweise ist es ausgerechnet der Jako- busbriefautor, der als antiker Leser die Übersetzung Luthers rechtfertigt. Dass Luther das paulinische implizite „Allein“ in pistei in sola fide explizit machte, ist an diesem Punkt also sicher nicht Ausdruck einer Obsession, sondern Ergebnis eines hervorragenden Sprachgefühls und verstehender Exegese. Insoweit ist die „Allein“-Denkfigur Luthers verstehende Antwort auf Paulus. Das „allein“ fehlt übrigens in der Confessio Augustana10, ist aber dann in der Konkordienformel festgeschrieben.11 Wenn man allerdings das sola fide beiseitelässt und exegetisch fragt, ob das Neue Testament die Devise „allein durch die Schrift“ kennt, läuft man ins Leere. Die „Schrift“, die Septuaginta, wird überall zitiert, ist aber zugleich durch Chris- tus überboten. In den Evangelien ist Jesus nicht nur der bessere Schriftkenner12, sondern auch der vollmächtige Verkünder einer „besseren Gerechtigkeit“, die in den Antithesen der Bergpredigt auch als „neue Tora“ qualifiziert werden kann. Paulus stellt klar, dass nach dem Kommen Christi die Schrift neu gelesen werden muss und der Geist die entscheidende hermeneutische Größe ist (2Kor 3).13 Eine Vorstellung von „der Schrift allein“ ist nicht neutestamentlich. Die „Schrift“ ist da und wird seit dem Kommen Jesu neu interpretiert. Wollte ich geistreich pointieren, könnte ich durchaus sagen: Die „Schrift“ selbst steht nicht für das sola scriptura. Überhaupt spielt die Bezeichnung „allein, einzig“ als theologisches Argument keine bedeutende Rolle im Neuen Testament. Selbst monos-Qualifizierungen Gottes sind im Neuen Testament erstaunlich selten.14 Die alleinige Position 10 CA 4. Vgl. G. Ebeling, „Sola scriptura“ und das Problem der Tradition, in: ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen 21966, 91–143. 11 Formula Concordiae Epitome 1 (BEKL 41958, 767). 12 L. Scornaienchi, Der umstrittene Jesus und seine Apologie. Die Streitgespräche im Mar- kusevangelium (NTOA / StNTU 110). 13 Vgl. dazu O. Wischmeyer, Paulus als Hermeneut der graphe, in: M. Witte/J. C. Gertz (Hg.), Hermenutik des Alten Testaments (VWGTh 47), Leipzig 2017. 14 Mt 4,10; Joh 5,44; 17,3; Röm 16,27; 1Tim 1,17; Jud 25.
Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 235 Gottes wird mit dem klassischen heis aus Deuteronomium ausgedrückt. Es geht nicht um den Gegensatz: „allein“ oder „mit anderen / oder allen zusammen“ im Sinne der Monotheismus-, Polytheismusdebatte, sondern um das Bekenntnis Israels: „Einer ist Gott“. Als Neutestamentlerin kann ich dem sola scriptura daher nicht zu viel abgewinnen. Stattdessen wäre das solus Christus entscheidend, und zwar in einer erheblichen Spannung zu sola scriptura: Einerseits ist die Schrift nach der Überzeugung der neutestamentlichen Schriftsteller Zeuge Christi, auf der anderen Seite wird die Schrift aber erst von Christus her verständlich. Hier Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr wird deutlich, in welch anderer religiöser Erfahrungswelt und theologischem Begründungskontext, nämlich einer in Lehrsätze gefassten, autoritativ fest- geschriebenen Interpretation der „Schrift“, Luthers Devise ihren Sinn entfaltet. Sola scriptura im Neuen Testament zu suchen, würde nur Sinn ergeben, wenn wir nach einer biblizistischen Dogmatik suchen wollten. Treffen wir also bei dem „allein“ Luthers doch auf einen gewissen Rigorismus des Arguments?15 So behauptet Peter Sloterdijk vehement. Nun ist Sloterdijk mit Sicherheit kein Kenner der Bibelwissenschaften16, aber er hat doch einen scharfen Blick für die Unbedingtheit von Luthers „allein“: Einhundert Jahre vor Descartes hatte Luther sein fundamentum inconcussum in der Treue zur Schrift gefunden. Für ihn war das Cogito des Rezipienten in Kraft getreten: „Ich lese, also bin ich.“17 Die wittenbergische Religion will in erster Linie Wehrlosigkeit vor dem geschriebenen Wort sein. Was Geschichte gemacht hat, ist Luthers Skriptua- lismus. Die bedingungslose Kapitulation vor der Schrift soll von da an Glaube heißen. Das Motto sola fide ist mit dem Prinzip sola scriptura gleichlautend. Glauben und Lesen sollen ein und dasselbe werden. Die weltgeschichtliche Wirkung des Mönchs von Wittenberg liegt in seiner Überzeugung, er selbst, das demütige Mönchlein, habe gewisse Abschnitte des Evangeliums eindringlicher gelesen, als eine tausendjährige Väterliteratur es vermochte.18 Sicher ist, dass Sloterdijk das Martialische in dem „allein“ spürt. Das sola scrip- tura ist in der Tat Luthers persönliche Waffe im Kampf gegen die kirchlichen Autoritäten. So suggestiv Sloterdijks Rede vom Skriptualismus aber ist, so unbe- 15 Dass Luther allgemein zu einer vorher nicht gekannten thematischen theologischen Zen- trierung neigt, betont Lohse in bezug auf die Rechtfertigung: „Es war das erste Mal in der gesamten Theologie- und Dogmengeschichte, daß sich für einen Theologen die ent- scheidende Wahrheit des christlichen Glaubens in solcher Weise auf einen bestimmten Artikel konzentrierte“ (Luthers Theologie, 275). Den Hinweis auf Lohses Interpretation verdanke ich Ulrich Körtner, Wien. 16 Sloterdijk, Glaube. Was er über das Neue Testament sagt, ist an Naivität und Uninfor- miertheit nicht leicht zu übertreffen (29). 17 A. a. O., 28. 18 A. a. O., 29.
236 Oda Wischmeyer friedigend bleibt doch die große geistesgeschichtliche Analyse. Sein letzter Satz impliziert schon, dass seine Interpretation des sola scriptura kaum mehr ist als eine geistreiche Kritik, die an den wichtigen Implikationen der Devise gerade vorbeigeht. Denn Luther ist in seinem intensiven Schriftstudium eben nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist – um mit Paulus zu reden – begegnet, dem Evangelium von Jesus Christus, nicht einem heiligen und unfehlbaren Lehrtext. Der Text ist nur Aufbewahrungsort des Wortes.19 In den Tischreden lesen wir, ihm habe „der heilige Geist die Schrift offenbart“, Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr bezogen auf die Interpretation von Gottes Gerechtigkeit als Barmherzigkeit und Gnade.20 Gerhard Gloege hat die Zusammenhänge vor dem Hintergrund der unterschiedlichen spätmittelalterlichen Positionen zur Bibel als nova lex – der Positionen der Ockhamisten, der Konziliaristen, des Marsilius von Padua, Wi- clifs, der Waldenser u. a. – prägnant skizziert: Luther habe den spätmittelalterli- chen Biblizimus, in dem die Bibel – „sola scriptura“ – moralisch-juristisches For- malprinzip [bleibt], das die Grundvoraussetzung kath(olischer) Gesetzlichkeit festigt, indem es deren konkrete Ausformung angreift“, in dreifacher Hinsicht überwunden: „a) Indem er fundamental doctrina als Verkündigung versteht, wird ihm das „Lehr- und Lesebuch“ (legibile) zum „Predigt-, Höre- und Streit- buch“ (doctrinale, audibile, pugnax WATR 2,2185). b) Indem er kategorial Gesetz und Evangelium unterscheidet, qualifiziert er die B(ibel) zur Schrift, dh zur Ge- stalt der durch Töten lebendig machenden Gottesrede, die jede Programmatik ausschließt. c) Indem er existentiell die Schrift streng auf Begegnung (experi- antia, conscientia) bezieht, werden die „Leseworte“ des Geschichtsbuches zu „lauter Lebeworten“ (WA 31,1,67). An die Stelle von ratio, lex, speculatio tritt der mit dem Evangelium identische Christus.“21 Luthers Devise sola scriptura war also nicht seine „Erfindung“, sondern wurde von ihm neu interpretiert. Es geht Luther gerade nicht um Biblizismus oder gar Skriptualismus, sondern um die Gewinnung der Botschaft von Christus aus der Bibel beider Testamente. Und damit sind wir plötzlich ganz nahe bei dem paulinischen Schriftverständnis, und ich muss die Meinung, von neutestamentlicher Seite könne man mit dem sola scriptura nicht viel anfangen, revidieren. Mit dem „allein“, so ist auf Sloterdijk zu antworten, schließt Luther die Bibel nicht zu, indem er die „bedingungs- lose Kapitulation vor der Schrift“ propagiert22 – hier muss man doch nach der Bedeutung der Metapher fragen: Sind die Weltkriege die richtigen Metaphern- 19 Das betont A. Beutel, Erfahrene Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum Dei scriptum bei Luther, in: ders., Protestantische Konkretionen, Tübingen 1998, 66–103. 20 WATR 3,3232c. 21 G. Gloege, Art. Bibel III. Dogmatisch, in: RGG3 Bd. 1, 1957, 1141–1147, 1143 f. Vgl. auch die ausgewogene Darstellung bei Lohse, Luthers Theologie, 22–54. 22 Sloterdijk, NZZ S. 30.
Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 237 spender? –, sondern öffnet sie für eine Lektüre ohne vorherige Sinnfeststellung. Das ist das Entscheidende an dem sola. Dies Bild würde noch konturierter, wenn es im Zusammenhang der spät- mittelalterlichen Debatte um die Vorordnung „der biblischen Norm im Ver- hältnis zur kirchlichen Tradition“ im Einzelnen ausgearbeitet würde.23 Bevor ich mich aber weiter in der unübersichtlichen und hoch kontroversen Welt der Lutherdeutungen und ihrer spätmittelalterlichen Hintergründe verliere, fasse ich für mich als Exegetin kurz zusammen: Luther arbeitete daran, durch die Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr verschiedenen kirchenrechtlich und ekklesiologisch geprägten Modelle von Bibelhermeneutik24 hindurch zu eigener Lektüre und eigener Bibelhermeneutik zu gelangen – von ihm selbst biographisch als grammatische Einsicht in die Genitivverbindung dikaiosynē theou gedeutet25, dogmatisch als neues Modell des Schriftverständnisses aus der Pneumatologie und der sog. Selbstsuffizienz der Schrift entwickelt und bibelwissenschaftlich in seinen Kommentaren und Predigten, vor allem aber in seiner Bibelübersetzung und in den Vorreden zu den einzelnen biblischen Büchern ausgearbeitet. Was jenseits aller Kontroversen um eine angemessene aktuelle Lutherinterpretation und um die anschließende Fra- ge nach dem Schicksal des lutherischen „Schriftprinzips“ bestehen bleibt, ist Lu- thers Bibelzentriertheit, seine umfassende Bibelkenntnis, seine Liebe zur Bibel, seine Bibelübersetzung, die von Melanchthon besonders gelobt wurde26, seine nie erlahmende Dynamik in der Bibelauslegung und seine Zuversicht, in der Bi- bel die Botschaft des Evangeliums zu finden. All das sind Verhaltensweisen, die auch protestantische Exegeten und Exegetinnen des 21. Jahrhunderts antreiben können, für die die Institution eines kirchlichen Lehramtes ebenso vergangen sind27 wie die politisch-kirchenrechtlich-religiösen Rahmenbedingungen, gegen die Luther seine Devise entwickelte. 23 Th. Kaufmann, Luthers Bibelhermeneutik anhand seiner Vorrede auf das Neue Testament und De servo arbitrio, in: Wischmeyer, Handbuch, 312–322, hier: 315. 24 Dazu H. Schüssler, Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter (VIEG 86), Mainz 1977. 25 Dazu einführend Lohse, Luthers Theologie, 97–110, bes. 104–107. Besonders wichtig sind zwei Sätze aus dem Selbstzeugnis von 1545: „bis ich auf den Zusammenhang der Worte achtete“. Hier geht es um Grammatik und Syntax sowie engeren Kontext. Und: „indem ich vor Durst brannte zu wissen, was der hl. Paulus wollte“ (Lat. Text WA 54, 185 f.). Hier wird exemplarisch deutlich, wie Luther die Bibel studiert: mit „offenem“ Ergebnis und mit existentiellem Interesse. Das ist der Motor seiner Bibelstudien. 26 Melanchthon spricht von Luthers „Übersetzung des Alten und Neuen Testaments, die von solcher Klarheit ist, dass die deutsche Übersetzung als Kommentar dienen kann“ (nach H. Scheible, Melanchthon. Vermittler der Reformation, München 2016, 178). 27 Vgl. aber noch die komplexe Stellungnahme der VELKD-Synode in Flensburg zur Entmy- thologisierung Bultmanns. Zur Stellungnahme und ihrer Nachgeschichte vgl. G. Bauer,
238 Oda Wischmeyer 3. „ Die Schrift“ und die Exegese Damit sind wir bei der Exegese, bei unserer eigenen Tätigkeit und zugleich dem zweiten Aspekt von sola scriptura, nämlich der „Schrift“. Es geht bei sola scriptura ja nicht nur um das umstrittene sola, sondern vor allem um scriptura. Was erklären wir und worauf beziehen wir uns, wenn wir das Neue Testament im Rahmen der wissenschaftlichen Disziplin „Neutestamentliche Wissenschaft“ interpretieren? Sicher sind wir nicht der „Schrift“ im Sinne Luthers verpflichtet, Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr sondern dem Kanon der neutestamentlichen Texte einerseits und der hebräi- schen und griechischen Bibel Israels andererseits, der Menge frühjüdischer und frühchristlicher Texte ebenso wie der frühkaiserzeitlichen ethischen und philosophischen Literatur. Aber die Zentrierung auf die Schriften des neutes- tamentlichen Kanons ist jedenfalls der deutschsprachigen Exegese doch weit- gehend erhalten geblieben, und hier liegt ihre gesamttheologische Relevanz. Die Evangelien und die Paulusbriefe stellen auch dann oder vielleicht gerade dann eine bleibende theologische – d. h. inhaltliche – Herausforderung dar, wenn wir sie im Vergleich mit Cicero oder frühkaiserzeitlichen Autoren wie Plutarch oder Seneca lesen. Und der „Schriftcharakter“ im Sinne fundierender oder eminenter Texte gehört zur Rezeptionsgeschichte der neutestamentlichen Texte. Wie sehr die Exegese doch innerlich dem theologischen scriptura-Kon- zept verbunden bleibt, hat der plötzlich aufflammende heftige Streit um die Stellung des sog. Alten Testaments im Gesamtzusammenhang der christlichen zweiteiligen Bibel gezeigt. Die Debatte wurde von der systematischen Theologie angestoßen, aber die exegetischen Fachvertreter haben sich ebenfalls zu Wort gemeldet, und zwar nicht nur mit historischen, sondern auch mit systematisch gemeinten Beiträgen.28 Wir können mit dem Selbstanspruch des Paulus streiten, aber gerade die Exegese bringt uns dazu, ihn ernstzunehmen, ohne ihn als normativ voraus- zusetzen. Textauslegung ist dann normativ, wenn der auszulegende Text als Ge- setzestext verstanden wird, der als solcher der Diskussion entzogen ist. Solche Auslegung dient der Anwendung. Unsere Exegese arbeitet nicht mit dem Norm- Auslegungsmodell: Sie versteht sich nicht als Auslegung biblischer Gesetzes- texte für die kirchliche und individuelle Praxis, sondern als rekonstruierendes, kritisches und verstehendes Gespräch mit den Texten. Das gilt auch für feminis- tische, postkoloniale und vergleichbare Exegesen. Diese Exegese lässt sich zwar ihren Bezugs- und Anwendungshorizont von gegenwärtigen Lebenswelten vor- geben und schränkt ihre Reichweite damit ein, ohne dass die Texte selbst aber Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945–1989) (AKZ.B 53), Göttingen 2012. 28 M. Witte/J. C. Gertz (Hg.), Hermeneutik des Alten Testaments.
Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 239 normative Funktion hätten. Im Gegenteil: sie werden selbst eher kritisch an- hand ethischer Kriterien befragt, können andererseits aber auch diese Kriterien unterstützen. Jedenfalls versteht die gegenwärtige protestantische Exegese die neutestamentlichen Texte nicht als normativ, sondern als historische Quellen und als Dokumente der „Religion der ersten Christen“ (G. Theißen). Sie arbeitet historisch-kritisch, d. h. sie sucht unabhängig von der christlichen Überlieferung und Glaubenslehre nach dem historischen setting, dem sprachlich korrekten Verstehen und der Autorenintention in erzählenden und argumentierenden Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr und belehrenden Texten des Neuen Testaments. Darüber hinaus haben sich viele weitere Zugänge eröffnet. Einige haben ihrerseits den Weg zur Methode gefunden. Wieweit die Begegnung mit den Texten zu Verständnis, zu Vertrauen und letztlich auch zur Identifikation mit bestimmten Aussagen, zu Zustimmung, zum Glauben, führt, ist in jedem methodischen Paradigma den Exegeten und Exegetinnen überlassen. Neben das klassische Modell Anselms von Canterbury von „Glauben und Verstehen“, das Rudolf Bultmann noch einmal unter ganz anderen hermeneutischen Voraussetzungen beschwor – Konrad Hammann for- muliert zurecht: „Für ihn fielen das Verstehen der in den neutestamentlichen Texten zur Sprache kommenden Wahrheit des christlichen Glaubens und das (neue) Sich-selbst-Verstehen-Können des glaubenden Menschen letztlich zu- sammen“29 –, ist seit dem 19. Jahrhundert das inverse Modell von „Verstehen und Glauben“ getreten, ohne dass die Konsequenz Bultmanns noch zwingend wäre. Das Verstehen kann zu Zustimmung führen, aber auch zu Widerspruch, zu Distanzierung und Kritik oder zu bloßer Analyse. Das ist nicht die Freiheit, die Luther meinte30, aber doch die Freiheit, die sich im Rahmen der protestan- tischen Bibelwissenschaft entwickelte.31 Ich kehre noch einmal zu Sloterdijk zurück. Er schreibt, wie schon zitiert: 29 K. Hammann, Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie (1941), in: Wischmey- er, Handbuch, 905–919, hier: 915 f. Die Nähe zum reformatorischen Schriftverständnis ist nicht zu übersehen. Vgl. das testimonium spiritus sancti internum Calvins (Inst I,7): „Das „sola scriptura“ hat seinen Grund … darin, daß der Autor des Wortes, das mich von außen erreicht, mit dem Autor meines Glaubens, der dieses Wort annimmt, identisch ist“ (Ch. Link, Art. Testimonium spiritus sancti internum, in: RGG4 8, 2005, 178). 30 Vgl. B. Hägglund, Evidentia sacrae scripturae. Bemerkungen zum „Schriftprinzip“ bei Lu- ther, in: Vierhundertfünfzig Jahre lutherische Reformation 1517–1967. Festschrift F. Lau, hg. von H. Junghans, I. Ludolphy, K. Meier, Berlin / Göttingen 1967, 60–96. 31 Diese „Befreiungsgeschichte“ der protestantischen Bibelhermeneutik fand in ständiger Auseinandersetzung mit der evangelischen Kirche statt, wie beispielhaft D. F. Strauß zeigt. Vgl. W. Zager, David Friedrich Strauß. Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835), in: Wischmeyer, Handbuch, 803–818.
240 Oda Wischmeyer Die weltgeschichtliche Wirkung des Mönchs von Wittenberg liegt in seiner Überzeu- gung, er selbst, das demütige Mönchlein, habe gewisse Abschnitte des Evangeliums eindringlicher gelesen, als eine tausendjährige Väterliteratur es vermochte. Dieser Satz, nicht die gefällige Phrase vom Skriptualismus, enthält den eigent- lichen Sprengsatz in Sloterdijks Beitrag und impliziert eine hermeneutische Einsicht in den Umgang des Bibelprofessors Luther mit der Schrift, die abschlie- ßend expliziert werden soll. Luther hat in der Tat – nicht gewisse Abschnitte Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr des Evangeliums, sondern – die ganze Bibel eindringlicher gelesen als seine exegetischen Vorgänger. Kurz gefasst: er hat die Bibel ganz in den Mittelpunkt seiner Theologie gestellt, indem er durch die Texte hindurch Christus als Gegen- stand der Schrift bestimmt und den Geist als hermeneutischen Schlüssel zum richtigen Verständnis der Schrift benennt. Dies Verstehen erfolgt nicht durch mystische Versenkung oder spirituelle Lektüre, so sehr Luther Beides kennt und schätzt, sondern durch die Anwendung der Sprachkenntnisse des Hebräischen, Griechischen, Lateinischen und Deutschen, sprich mittels Grammatik und Se- mantik, sowie der Rhetorik. Verstehen erfolgt nicht durch Versenkung, sondern durch Übersetzung. Die Vorreden zum Neuen Testament sind das beste Beispiel dafür. Viel miss- verstanden und wenig gewürdigt ist seine Vorrede zum Jakobusbrief.32 Die Metapher von der strohernen Epistel hat alles Interesse auf sich gezogen und bis in jüngste Zeit öfter exegetisches Missfallen erregt. Dabei sollte gerade diese Vorrede als das verstanden werden, was sie ist: freie Exegese aus philologischer Genialität ebenso wie aus der Freiheit, die aus der sola scriptura-Devise erwuchs. Der Verfasser – so Luther – sei ein guter, aber beschränkter Mann gewesen: Aber dieser Jakobus tut nicht mehr, als daß er treibt zu dem Gesetz und seinen Wer- ken, und wirft so unordentlich eins ins andere, daß mich dünket, es sei irgendein guter, frommer Mann gewesen, der etliche Sprüche von der Apostel Jüngern gefasset und also auf das Papier geworfen hat, oder ist vielleicht aus seiner Predigt von einem andern geschrieben. Ein Vergleich mit dem Dibeliuskommentar zum Jakobusbrief einerseits und den Vorgängerkommentaren von Huther und Beyschlag33 zeigt, wie unglaublich modern Luthers Verständnis des Briefes war, wie weit die historische Exegese des 19. Jahrhunderts, die sich – anders als Luther! – zugleich an die dogmatische Vorgabe von der Einheit der Schrift gebunden fühlte, hinter der freien theo- 32 Bornkamm, Vorreden, 215 33 Vgl. O. Wischmeyer, Die Kommentierung des Jakobusbriefs, in: E.-M. Becker/F. W. Horn/ D.-A. Koch (Hg.), Der Kritisch-exegetische Kommentar in seiner Geschichte, Göttingen, 2018.
Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 241 logischen Exegese Luthers zurückstand, und wirft ein scharfes Licht auf Luthers Interpretationsfähigkeiten jenseits des Gegensatzes von historischer und theo- logischer Exegese. Seine Exegese ist das Ergebnis seiner hermeneutischen Regel, die Schrift sei per sese certissima, facillissima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans34. Und das heißt eben nicht: Buchstabenglaube. Denn dann hätte Luther glauben müssen, der Jakobusbrief stamme von dem Bruder des Herrn, wie es emphatisch Willibald Beyschlag tat: Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr Nach alledem steht allerdings nichts im Wege, sich der von Herder getheilten, von der modernen Kritik als ‚kindlich’ verspotteten Freude hinzugeben, dass wir einen eigenhändigen Brief eines leiblichen Bruders Jesu in unserm Kanon haben.35 Bei der Devise: sacra scriptura sui ipsius interpres denkt man als Hermeneutiker eben auch nicht an Skriptualismus, sondern an die antike Regel: Homerum ex Homero interpretari, die schon die antiochenische Exegese leitete. Luther las die Bibel ohne ekklesiologisches Vorverständnis. Er wollte die Bibel aus ihren Texten heraus verstehen, nicht eine Lehre in den Texten bestätigt finden. Damit setzte er die Dynamik des Fragens in Gang, die uns heute noch antreibt. Wir arbeiten heute mit anderen Methoden als Luther. Aber die Regel, die Schrift interpretiere sich selbst, gibt im Grundsatz einer nicht-autoritativ vorgeprägten Auslegung freie Bahn. Luther wählte die christologische Deutung. Wir sind frei, unsere Deutungshorizonte zu wählen. 4. D er Exeget Luther und wir So viel zu sola scriptura aus exegetischer Sicht. Wie steht es mit der bibelherme- neutischen Perspektive? Die claritas scripturae scheint ihre eigenen Probleme zu haben. Wenn die Schrift klar ist, kann sie von jedermann gelesen werden, und nicht nur eine kirchlich-lehramtliche Interpretation, sondern auch jede Exegese ist überflüssig – so könnte man schlussfolgern. Sollten Exegeten es nicht lieber mit Erasmus halten, für den Vieles in der Schrift dunkel ist?36 Erasmus als geis- tiger Erbe des Hieronymus – gern versetzt man sich als Exeget in das „Gehäuse des Hieronymus“, wie Dürer und andere Meister es imaginieren – gibt jedenfalls 34 Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum. 1520, WA 7, 97. 35 W. Beyschlag, Der Brief des Jakobus (KEK), Göttingen 61897, 40. Vgl. O. Wischmeyer, Die Kommentierung des Jakobusbriefs. 36 Einführung: S. Seidel Menchi, Desiderius Erasmus von Rotterdam. Bibelhermeneutik, in: Wischmeyer, Handbuch, 285–296.
242 Oda Wischmeyer den kirchlichen Autoritäten und den Professoren der Bibelwissenschaft viel Raum für ihre Arbeit. Nun war aber Luther seit 1512 bis zu seinem Tod 1546 selbst Professor der lectura in biblia der Universität Wittenberg37 und hat einen erheblichen Teil seiner Lebensarbeit gerade dieser Bibelexegese gewidmet. Die Annahme, die claritas scripturae mache die Bibelprofessuren überflüssig, ist töricht. Claritas scripturae gehört vielmehr direkt zu Luthers Hermeneutik von der Schrift, die von niemandem „regiert“ wird38, sondern sich selbst auslegt und zugleich wohl wert ist, dass man ein Leben lang an ihr arbeitet. Wir Exegetinnen Open Access Download von der Narr Francke Attempto Verlag eLibrary am 15.12.2021 um 14:31 Uhr und Exegeten befinden uns an diesem Punkt in Luthers Nachfolge. Sola scriptura skriptualistisch verstanden würde in biblizistischen Fundamen- talismus führen, wie er den sog. monotheistischen Religionen und damit auch christlichen Strömungen nicht fremd ist. Luthers sola scriptura hat dagegen in die Freiheit des Exegeten und der Exegetin – die bei Luther nicht im Blick war – geführt, die ihren textauslegenden Fähigkeiten folgen und ihre Exegese selbst verantworten. Hier wurde der Weg freigemacht zu wissenschaftlicher Bibelexegese, ohne dass ich vergessen wollte, dass Luther ihn nicht voraus- gesehen und in dieser Weise auch nicht gewollt hat, dass er sehr lang war und bis in die Gegenwart kontrovers ist. Als Exegetin im Jahre 2016 bin ich weniger an der ekklesiologisch-schrifttheologisch gerichteten sola scriptura-Devise in- teressiert, so fundamental sie für unsere neutestamentliche Wissenschaft im Gesamtrahmen der Evangelischen Theologie bleibt, sondern an der genialen Bibelauslegung Martin Luthers, der Doktor der heiligen Schrift war und dessen grundsätzliches Vertrauen in die Bedeutung der Bibel Movens unserer exegeti- schen Arbeit im Kontext evangelischer Theologie bleibt. 37 U. Köpf, Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: I. Dingel / G. Wartenberg (Hg.), Die theologische Fakultät Wittenberg 1502–1602 (LStRLO 5), Leipzig 2002, 71–86. 38 Dazu Lohse, Luthers Theologie, 211–213.
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