Autismus-Spektrum-Störungen - autismus deutsche schweiz hilft, vermittelt und verbindet

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Autismus-Spektrum-Störungen

                                   hilft,
                               vermittelt und
                                 verbindet

           autismus                 deutsche schweiz
           Verein für Angehörige, Betroffene und Fachleute
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Der Umgang mit
   Autismus-Spektrum-                Autismus-Spektrum-
                                                                         Autismus-Spektrum-
        Störungen                    Störungen erkennen
                                                                              Störungen

Autismus-Spektrum-                Die Diagnose           Seite 14   Mögliche Hilfe
Störungen (ASS) und                                                  und ­Behandlungs-
die dafür typischen                                                  ansätze	            Seite 20
                                  Autismus-Spektrum-
Symptome              Seite 61
                                  Störungen zeigen sich
                                  sehr unterschiedlich   Seite 16   Was können
Formen des Autismus-­                                                Angehörige oder
Spektrums           Seite 81                                        das Umfeld tun?     Seite 22

Die andere Seite                                                     Als Betroffene/r
des Autismus          Seite 11                                      brauche ich…        Seite 24
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«Autismus ist Segen UND Fluch.
Ich bemerke wunderschöne Dinge,
wie den Krabbelkäfer im Gras,
aber nicht, dass die Wiese, auf der das
Gras wächst, ein Fussballfeld ist.»
                 Andreas, Jugendlicher mit Autismus

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Autismus-Spektrum-
Störungen

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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
und die dafür typischen Symptome

Der Begriff «Autismus» kommt aus dem Griechischen und bedeutet «sehr auf sich be-       Menschen mit einer Störung aus dem
zogen sein». Von Leo Kanner und Hans Asperger wurde der Begriff erstmals für Kinder     Autismus-Spektrum
                                                                                        ­                      nehmen      ihre   Um-
mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung verwendet. Autistische ­Störungen können   welt anders wahr (autistische Wahrneh-
sich ganz unterschiedlich zeigen. Heute spricht man von Autismus-Spektrum-Störungen     mung). Sie können sich nur mit M
                                                                                                                       ­ ühe in
(ASS).                                                                                  andere Menschen einfühlen und adäquat
                                                                                        mit i­hnen kommunizieren. Sie können die
                                                                                        ­Stimmung ihres Gegenübers aus dessen Ge-
                                                                                        sicht schlecht erkennen. Kontakte werden
                                                                                        eher vermieden. Gerne befassen sie sich mit
                                                                                        einem ­
                                                                                              Spezialgebiet. Sie haben Schwierig-
                                                                                        keiten, sich auf Neues einzustellen und den
                                                                                        Wunsch, Alltags­
                                                                                                       abläufe immer gleich zu
                                                    «Manche Geräusche                   gestalten (Rituale). Oft orientieren sie sich
                                                    schmerzen meine                     an Details und haben Mühe, eine Situation
                                                    Ohren so, wie wenn                  ganzheitlich zu erfassen. In vielen Fällen sind
                                                    der Bohrer beim Zahn-               die Betroffenen in ihren Bewegungen eher
                                                    arzt einen Nerv trifft.»            ungeschickt.
                                                                   Temple Grandin      Über- oder Unterempfindlichkeiten auf
                                                                                        Licht, Gerüche, Geräusche oder Berührun­

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gen sind häufig. Sie zeigen sich z. B. als    dern sich in ihrer Ausprägung im Laufe der
Fas­zination für Licht oder glänzende Ober-   Entwicklung.
flächen, als Angstreaktionen bei speziellen
Geräuschen, als Vorliebe für intensive Kör-   Allgemein gilt:
perkontakte oder als auffälliges Beriechen    Die Ursachen von Autismus-Spektrum-Stö-
                                                                                             Bis etwa 1980 wurden nur
oder Ertasten von Ober­flächen und Gegen-     rungen sind bis heute nicht vollständig        schwer betroffene Kinder mit
ständen. Diese Über- oder Unterempfind-       geklärt. Bei der Entstehung spielen mit        frühkindlichem Autismus als
lichkeiten (die autistische Wahrnehmung)      ­Sicherheit mehrere Faktoren eine Rolle. Ge-
                                                                                             ­«autistisch» diagnostiziert.
führen dazu, dass Kinder oder Erwachsene      netische Einflüsse und biologische Abläufe
aus dem Autismus-­
                 Spektrum grosse Pro-         vor, während und nach der Geburt können        Mit dem K
                                                                                                     ­ onzept der Autismus-
bleme haben, ihre Umwelt als sinnvolles       die Entwicklung des Gehirns beeinträchti-      Spektrum-­Störun­gen wurde
Ganzes zu verstehen. Das Erreichen von        gen und die Autismus-Spektrum-Störung
                                                                                             die D
                                                                                                 ­ iagnose h
                                                                                                           ­ äufiger gestellt.
Lernerfolgen wird dadurch erschwert.          auslösen. Sie entsteht nicht durch Erzie-
Diese autistischen Merkmale können sehr       hungsfehler oder familiäre Konflikte. Mit
                                                                                             ­Neuere Unter­suchungen ­zeigen,
ausgeprägt sein, was die Entwicklung eines    gezielter Förderung und Unterstützung          dass ca. 1% der Schweizer
Kindes massgeblich behindert. Die Merk-       können Menschen mit Autismus ihre Fä-          ­Bevölkerung von einer
male treten meistens bereits in den ersten    higkeiten entwickeln und dadurch besser in
                                                                                             ­Autismus-Spektrum-Störung
drei Lebensjahren auf.                        die Gesellschaft integriert werden.
Sind die Merkmale weniger deutlich er-                                                       betroffen ist (Knaben oder
kennbar, fallen sie dem Umfeld der Betrof-                                                   Männer häufiger als Mädchen
fenen oder auch der Person selbst oft erst
                                                                                             und Frauen).
später auf. Die dann gestellte Diagnose ist
auch unter dem Namen Asperger-Syndrom
bekannt. Die Symptome sind von Person
zu Person sehr unterschiedlich und verän-

                                                                                                                                 7
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Formen des Autismus-Spektrums

Frühkindlicher Autismus                              Formen der Kontaktaufnahme, fehlen-
                                                                                                Atypischer Autismus
                                                     des Verständnis für Abläufe innerhalb
Die vom amerikanischen Kinderpsychia-                von Gruppen.                               Sind bei Kindern mit einer autistischen
ter Leo Kanner 1943 beschriebenen Kin-                                                          Störung die Symptome nicht in allen drei
der erhielten die Diagnose frühkindlicher          • 	
                                                     Eingeschränkte, repetitive und stereo-
                                                                                                genannten Bereichen vorhanden, sind sie
­Autismus. Man kennt deshalb auch den                type Verhaltensmuster, Interessen und
                                                                                                erst später deutlich geworden oder nicht
Namen Kanner-Autismus. Kanners Be-                   ­Aktivitäten:
                                                                                                sehr ausgeprägt, spricht man von atypi-
schreibung und Definition hat lange das              z. B. Drehen an Rädern von Spielzeug­
                                                                                                schem Autismus.
Bild des frühkindlichen Autismus geprägt.            autos, Aufreihen von Gegenständen,
                                                     auffällige Hand- oder Körperbewegun­       Bei Kindern mit frühkindlichem oder aty-
Bei den betroffenen Kindern sind Auffällig-                                                     pischem Autismus ist auch der allgemeine
                                                     gen, Festhalten an Gewohnheiten, M
                                                                                      ­ ühe
keiten in drei Bereichen vorhanden:                                                             Entwicklungsstand und ihr Funktionsni-
                                                     mit Programmänderungen.
• 	In der Sprache und der Kommunikation:                                                      veau im Alltag von grosser Bedeutung.
                                                   Erste Hinweise sind oft ab einem Alter von
    z. B. verspätete oder fehlende Sprach-                                                      Man unterscheidet deshalb «high» und
                                                   12 Monaten vorhanden. Mit 2–21/2 Jahren
    entwicklung oder Verlust von vorhan-                                                        «low» functioning Autismus, die Grenze
                                                   kann in der Regel eine zuverlässige Diag-
    dener Sprache, häufiges Wiederholen                                                         liegt bei einem IQ von etwa 70.
                                                   nose gestellt werden. Kinder mit frühkind-
    von Wörtern oder Sätzen.
                                                   lichem Autismus zeigen oft einen allge-
• 	Auffälligkeiten der sozialen Interaktionen:   meinen Entwicklungsrückstand.
    z.B. Besonderheiten im Blickkontakt,
    Mimik und Gestik, wenig Interesse an
    ­
    anderen Personen oder ungeschickte

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Autismus-Spektrum-Störungen - autismus deutsche schweiz hilft, vermittelt und verbindet
Asperger-Syndrom                          • 	Beeinträchtigung des sozialen Verhaltens:   Daneben gibt es häufig Schwierigkeiten,
                                            z. B. eingeschränktes Interesse an Gleich­    sich auf Neues einzustellen und den
Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger hat                                                   Wunsch, Alltagsabläufe immer gleich zu
                                            altrigen, Schwierigkeiten, sich in Andere
über Kinder geschrieben, die vor allem                                                    gestalten ­( Rituale). In vielen Fällen sind die
                                            hineinzuversetzen, oft ungeschickter so-
grosse Probleme hatten, sich in Gruppen                                                   Betroffenen in ihren Bewegungen unge-
                                            zialer Umgang mit anderen Menschen.
zurecht zu finden.                                                                        schickt. Sie reagieren oft überempfindlich
                                          • 	Sprach- und Sprechauffälligkeiten:          auf grelles Licht, spezielle Geräusche, Ge-
Kinder mit Asperger-Syndrom zeigen in
                                            z.B. eine altkluge, pedantische Ausdrucks­    rüche oder Berührungen.
den ersten Lebensjahren eine normale
                                            weise oder eine besondere Sprachme­
sprachliche und kognitive Entwicklung.                                                    Im Gegensatz zu den anderen autistischen
                                            lodie, wörtliches Verständnis und dadurch
Ihre Probleme werden oft erst deutlich,                                                   Formen werden die ­
                                                                                                            Probleme der betrof-
                                            Mühe mit Ironie oder Wortspielen.
wenn sie mehr Zeit mit anderen Kindern                                                    fenen Kindern oder Jugendlichen oft erst im
verbringen. Auch sie zeigen Auffällig-                                                    Kindergarten oder in der Schule deutlich –
                                          • 	Auffälligkeiten in der nonverbalen Kom-
keiten in verschiedenen Bereichen:                                                        manchmal sogar erst im Erwachsenenalter.
                                            munikation:
                                            z. B. im Blickkontakt oder im Einsatz von     Die Wahrnehmung und das Denken von
                                            Mimik und Gestik.                             Menschen mit Asperger-Syndrom unter-
                                                                                          scheidet sich stark von dem der «neuro-
                                          • 	Ausgeprägte Interessen,                     typischen» Menschen. Diese sind in der
                                            die viel Zeit beanspruchen, repetitiv         Lage, sich in einer neuen Situation schnell
                                            ausgeübt werden und oft einen eher            einen Überblick zu verschaffen, während
                                            technischen Charakter haben, z. B. Vor­       «Aspies» (so nennen sich Menschen mit
                                            liebe für Formeln, Fahrpläne, technische      Asperger-Syndrom selber) oft viele Details
                                            Details, historische Daten oder Ähnliches;    wahrnehmen und dann versuchen, ein
                                            Mädchen und Frauen interessieren sich oft     System dahinter zu erkennen. Sie haben oft
                                            auch für Leute mit speziellen Begabungen      auch ein sehr gutes Gedächtnis für diese
                                            oder für einzelne Tierarten.                  Details.

                                                                                                                                        9
Autismus-Spektrum-Störungen - autismus deutsche schweiz hilft, vermittelt und verbindet
Der Begriff «Autismus-Spektrum-Störung»
     Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Fach-
     leute in der Regel einig sind, wann eine Autismus-­
     Diagnose gestellt wird, bezüglich der U
                                           ­ nterdiagnose
     (z.B. frühkindlich, atypisch, Asperger) aber oft
     ­unterschiedlicher Meinung waren. Die amerikanischen
     Autismus-Spezialisten haben deshalb entschieden, in
     ihrem Diagnose-System DSM-5 nur noch die D
                                              ­ iagnose
     «Autismus-Spektrum-Störung» (ASS) zu v­ erwenden.
     Um die betroffenen Personen noch genauer zu
     ­beschreiben, wird festgehalten, ob eine ASS mit oder
     ohne Sprachstörung, geistiger Beeinträchtigung oder
     zum Beispiel Epilepsie vorliegt. Der Schweregrad der
     autistischen Störung wird über den Unterstützungs-
     bedarf des Betroffenen beschrieben (tief, mittel oder
     hoch). Das von der Weltgesundheitsorganisation und
     in der Schweiz verwendete D
                               ­ iagnose-System ICD-10
     wird vermutlich 2019 durch das ICD-11 abgelöst. Darin
     wird es ebenfalls nur noch die Hauptdiagnose Autis-
     mus-Spektrum-Störung geben.

10
Die andere Seite
des Autismus

Bisher war die Rede mehrheitlich von Schwierigkeiten und Pro-
blemen, mit denen autistische Menschen im Alltag zu kämpfen
­haben. Sie haben aber auch viele Stärken.

Menschen aus dem autistischen Spektrum sind in der Regel ehr-
lich und in ihrer Kommunikation offen und direkt. Hintergedanken
und Lügen sind ihnen fremd. Wenn sie sich für ein Thema oder e­ ine
­Tätigkeit interessieren, können sie sich mit grosser Begeisterung und
Ausdauer darin vertiefen und sich viel Wissen und Fertigkeiten an-
eignen. Damit verbundene Tätigkeiten führen sie gewissenhaft und
konzentriert durch. Bei Arbeiten, bei denen Genauigkeit und Sinn für
Details gefragt sind, haben Menschen aus dem Autismus-­Spektrum
gute Chancen, sich weiter zu entwickeln. Erfolgsver­sprechend ist
die Verknüpfung des Spezialinteressens mit Aus­bildung und B
                                                           ­ eruf.

                                                                   11
12
Autismus-Spektrum-
Störungen erkennen

                     13
Die Diagnose

Meist sind es die Eltern, die sich we-       beruht auf genauen Angaben zur bisherigen
gen der Entwicklung ihres Kindes oder        Entwicklung, dem aktuellen Befinden und
­Jugendlichen Sorgen machen und den Ein-     Verhalten der Person. Bei Kindern werden
druck haben, dass «etwas nicht stimmt».      dazu in erster Linie die Eltern befragt, oft
Es kommt aber auch vor, dass Fachper-        aber auch Fachpersonen, die das Kind aus
sonen, die das Kind in einer Gruppe se-      Krippe, Schule oder aus Therapien ken-
hen, als erste einen Verdacht äussern.       nen. Auch bei erwachsenen Personen
Jugendliche und Erwachsene vermuten          sollten die Eltern, wenn möglich, zur Ent-
manchmal zuerst selbst, dass eine autisti-   wicklung befragt werden. Die betroffene
sche Störung vorhanden sein könnte, z.B.     Person muss selbst ausführlich über ihr frü-
wenn sie entsprechende Informationen         heres und aktuelles Leben Auskunft geben.
oder Fragebögen im Internet gefunden         Falls vorhanden können enge Freunde oder
haben. Wenn ein Kind mit dem Verdacht        Lebenspartner/innen einbezogen werden.
auf Autismus untersucht wird, entdecken
Eltern manchmal bei sich oder dem Part-      Bei Kindern ergänzen strukturierte Spiel­
ner/der Partnerin Ähnlichkeiten.             beobachtungen die Untersuchung. Es ist oft
                                             hilfreich, das Kind in einer Gruppensituation
Es gibt keinen spezifischen Test, mit dem    zu erleben. Bei Jugendlichen und Erwach-
die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Stö-    senen werden neben den inhaltlichen Aus-
rung gestellt werden kann. Die Diagnose      sagen vor allem Aspekte der nonverbalen

14
Auch bei einer Verdachtsdiagnose sollte nicht unnötig
 
  Zeit verstreichen und gezielte Fördermassnahmen für
  die Betroffenen so früh wie möglich beginnen.

Kommunikation, der Gegenseitigkeit im Gespräch und des sozialen
Verständnisses beurteilt.

Um eine zuverlässige Diagnose stellen zu können, müssen sich Fach-
personen spezifisch weitergebildet haben und solche Untersuchun­
gen regelmässig durchführen. Bei Kindern mit frühkindlichem
­Autismus kann die Diagnose in der Regel im Alter von 2–21/2 Jah-
ren gestellt werden. Bei Kindern mit Asperger-Syndrom werden die
Probleme meist erst im Kindergarten- oder Schulalter deutlich. Bei
Erwachsenen sind die autistischen Symptome manchmal durch De-
pressionen, Ängste oder Zwänge überlagert, was die Diagnose er-
schwert.

Die richtige Diagnose ist Voraussetzung für eine Autismus-spezi-
fische Unterstützung und Förderung. Jugendlichen und Erwachse-
nen kann sie helfen, ihre Probleme im Alltag besser zu verstehen
und nach neuen Wegen zu suchen. Eltern, Freunde und Lebenspart-
ner, aber auch Lehrpersonen oder Arbeitgeber können sich Infor-
mationen zu ASS beschaffen und dadurch besser auf Menschen mit
Autismus eingehen.

                                                               15
Autismus-Spektrum-Störungen
zeigen sich sehr unterschiedlich
Personen mit autistischer Wahrnehmung haben gewisse Gemeinsamkeiten. Trotzdem ist
jeder Mensch (ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener) anders und auch die typischen
Symptome können sich, wie in den folgenden Beispielen, ganz unterschiedlich äussern.

Kommunizieren und sprechen                     kann sich nicht aktiv beteiligen. Marie weiss
Timo kann gar nicht sprechen. Clara redet      nicht, wie sie jemanden ansprechen oder
ohne Unterbruch über ihr Lieblingsthema        ein Gespräch mit jemand Fremdem begin-
und wiederholt sich oft – sie merkt nicht,     nen soll. Fynn scheint oft abwesend oder
dass sie ihre Mitmenschen damit langweilt.     unaufmerksam zu sein.
Eric redet gerne über die Themen, von                                                           Überempfindlichkeiten
denen er viel weiss – er wirkt altklug und     Kontakt aufnehmen                                Sarah ist sehr geräuschempfindlich – das
andere finden ihn oft belehrend. Simone        Mia fällt es schwer, jemandem in die Augen       Brummen eines Staubsaugers versetzt sie
braucht immer sehr lange, bis sie eine Frage   zu sehen – sie beobachtet lieber aus dem         in Panik. Bestimmte Gerüche irritieren Leon
beantworten kann.                              Augenwinkel. Jonas hat keine Hemmungen,          sehr, sie sind für ihn unangenehm. Einkau-
                                               stellt indiskrete Fragen, geht auch auf frem-    fen zu gehen ist für Peter sehr anstrengend.
Soziale Interaktionen                          de Menschen zu und merkt nicht, dass man         Er kann die vielen Eindrücke im Supermarkt
Céline will immer und überall dabei sein,      sie nicht einfach anfassen darf. Sonja weiss     nicht verarbeiten. Viele Berührungen, vor
damit sie nichts verpasst. Sandro versteht     nicht, wie sie mit jemanden in Kontakt tre-      allem unerwartete, sind für Martin sehr un-
die Regeln der Gruppenspiele nicht und         ten soll, Smalltalk ist für sie nicht möglich.   angenehm und stressen ihn.

16
«Ein Gespräch kann
                                                                            manchmal so klingen,
                                                                            als liefen mehrere
                                                                            Sendungen gleichzeitig.»
                                                                                                      Temple Grandin

Probleme mit Veränderungen                    stellen oder Umleitungen sind ein grosser       lang damit. Hat ein Schulfach mit seinem
umzugehen                                     Stress.                                         Spezialthema zu tun, kann Dominique sehr
Jeden Morgen etwas Neues anzuziehen, ist                                                      gute Leistungen erbringen. Tim sitzt am
für Joël eine Überforderung. Dass Schul-      Ausgeprägte Interessen                          liebsten stundenlang vor dem Computer,
stunden spontan umgestellt werden, ist für    Felix hat beim Spielen wenig Phantasie und      spielt Games oder findet Informationen zu
Anna sehr schwierig; sie reagiert stark und   dreht lieber an den Rädern seines Spiel-        seinem Spezialgebiet. Paul kennt alle Arten
unerwartet für ihr Umfeld. Luis möchte am     zeugautos. Sandra hat eine Vorliebe für         von Standuhren.
liebsten immer das Gleiche essen. Peter       komplizierte Puzzles und Geduldspiele.
nimmt immer wieder genau den gleichen         Luca interessiert sich für alles, was mit Zü-
Weg, um an sein Ziel zu gelangen – Bau-       gen zu tun hat. Er beschäftigt sich stunden-

                                                                                                                                      17
18
Der Umgang mit
­Autismus-Spektrum-
 Störungen

                      19
Mögliche Hilfe und Behandlungsansätze

«Wie kann meinem Kind optimal geholfen          lien unterstützt. Bei vielen Kindern steht    Die Menschen in ihrem Umfeld müssen sich
werden?» ist für Eltern die wichtigste und      deshalb   die   heilpädagogische   Früher-    Autismus-Wissen aneignen, um die Welt
gleichzeitig die schwierigste Frage.            ziehung im Vordergrund. Hinzu kommen,         der Betroffenen zu Hause, in der Schule
                                                je nach Problemen des Kindes, Logopädie,      oder am Arbeitsplatz Autismus-freundlicher
Die Wahl der richtigen Fördermassnahmen         Ergotherapie oder Psychomotoriktherapie.      zu gestalten. So können die Menschen mit
ist immer vom Alter und Entwicklungsstand       Ältere Kinder, Jugendliche und Erwach-        ASS ihre Stärken besser einsetzen und wer-
des Kindes und der Schwere der autistischen     sene wollen in erster Linie ihre sozialen
Symptome abhängig. Bei jungen Kindern           Kompetenzen verbessern. Das soll ihnen
mit frühkindlichem Autismus sind intensive      helfen, das Denken und Fühlen ihrer Mit-
verhaltenstherapeutische   Programme     am     menschen besser zu verstehen und sich
besten untersucht. Andere intensive Frühför-    in Gruppen besser zurechtzufinden. Aus-
derungen sind eher spieltherapeutisch orien-    serdem können sie lernen, Strategien zur
tiert. Alle Programme haben eine klare Struk-   ­Bewältigung schwieriger Alltagssituationen
tur, es wird täglich mehrere Stunden mit dem    zu ent­
                                                      wickeln. Viele dieser Ziele können
Kind in einer 1:1 Situation gearbeitet. Damit   am besten in Gruppen erlernt werden. Dort
soll die Entwicklung des Kindes möglichst       erleben Betroffene auch, dass sie mit ihren
breit gefördert werden.                         Problemen nicht allein sind.
Da die Finanzierung solcher Programme in        Es kann aber nicht nur darum gehen,
der Schweiz bisher nicht gesichert ist, wird    betroffene Kinder, Jugendliche oder Er-
                                                ­
leider nur ein Teil der betroffenen Fami-       wachsene «fit für ihre Umwelt» zu machen.

20
den durch ihre Schwächen weniger beein-
trächtigt.                                        Für betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene müssen Autismus­
Während der Aus- und Weiterbildung ha-            spezifische und auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmte Unter-
ben autistische Kinder, Jugendliche und Er-       stützungs- und/oder Förderungsmassnahmen durchgeführt werden.
wachsene in Form eines Nachteilsausgleichs        Von gezielten Programmen profitieren nicht nur Kinder mit Autismus;
Anspruch auf Anpassungen. In der Berufs-          auch Jugendliche und ­erwachsene Menschen mit Autismus können
ausbildung oder am Arbeitsplatz bietet die        grossen Nutzen aus S­ ozialtrainings oder Belastbarkeitstrainings ziehen.
IV berufliche Eingliederung und Unterstüt-
                                                  Der Verein autismus deutsche schweiz hilft, berät und vermittelt bei
zungsmassnahmen an, so zum Beispiel in
                                                  allen Fragen zu Autismus.
Form von Coaches, die Betroffene unter-
stützen und Arbeitgeber beraten.
                                              ­

                                                         «Das Leben im Autismus ist eine
                                                         miserable Vorbereitung auf das Leben in
                                                         einer Welt ohne Autismus. Die Höflich-
                                                         keit hat viele Näpfchen aufgestellt, in die
                                                         man treten kann. Autisten sind Meister
                                                         darin, keines auszulassen.»    Axel Brauns

                                                                                                                          21
Was können Angehörige oder das Umfeld tun?

• sich bei Fachpersonen Rat und Unterstützung holen                  • 	eine Schule und später einen Ausbildungsplatz finden, wo die
• 	Kontakt zu anderen betroffenen Familien suchen                     Betroffenen gezielt unterstützt werden

• 	die Stärken der Betroffenen erkennen, wertschätzen und fördern   • 	dafür sorgen, dass Betreuungspersonen, Lehrkräfte, Fachleute,
• 	Therapien, Sozialtrainings und Unterstützungsmassnahmen            Behörden und andere Beteiligte möglichst gut informiert sind
  ­suchen, die auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten       und zusammenarbeiten
  sind                                                               • 	Berufsberater/innen suchen, die über Autismus Bescheid wissen
• 	ruhige «Zonen» schaffen, in die sich die Betroffenen zurück­     • 	dabei helfen, eine den speziellen Interessen und
  ziehen können                                                        Begabungen angepasste Arbeit zu finden
• 	Geduld haben, weil die Betroffenen mehr Zeit benötigen, um       • 	für den Arbeitsplatz eine Bezugsperson suchen, welche die
  sich auszudrücken                                                    Eigenheiten der Person mit ASS kennt und ihn/sie bei Entschei-
• 	versuchen, die eigenwilligen Denkvorgänge und Reaktionen zu        dungen und Schwierigkeiten unterstützt
  verstehen und einfühlsam damit umzugehen                           • 	eine Wohnform finden, die Selbstständigkeit ermöglicht und in
• 	die Betroffenen zum Mitmachen und Mitkommen bewegen,               der Hilfestellung angeboten wird
  auch wenn diese vielleicht lieber zu Hause bleiben würden          • 	dabei helfen, Freizeitbeschäftigungen zu finden, die den
• 	da Übergänge für die Betroffenen eine grosse Herausforderung       ­Spezialbegabungen der Selbstbetroffenen entsprechen und die
  sind, muss das Umfeld sich lange vorher damit auseinander­           sie regelmässig mit anderen Menschen zusammenbringen
  setzen und die nötigen Massnahmen rechtzeitig planen

22
23
Als Betroffene/r brauche ich …
10 Dinge, die sich Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung wünschen

Ich bin auch ein Mensch wie                    Hört mir zu, ich versuche                       versucht sie zu erkennen und zu verste-
jeder andere                                   zu kommunizieren                                hen.
Autismus ist zwar ein Teil von mir, es ist     Es ist schwierig für mich zu sagen, was ich
aber nicht alles, was ich bin. Wenn ich spü-   brauche, wenn ich meine Gefühle nicht           Verwendet Zeichnungen,
re, dass man mir etwas nicht zutraut, kann     beschreiben kann. Ich bin hungrig, traurig      zeigt mir Beispiele – ich bin ein
ich es auch nicht versuchen.                   oder verängstigt und kann die richtigen         ­visueller Mensch
                                               Worte dafür nicht finden.                       Zeigt mir, wie ich etwas machen soll, an-
Unterscheidet zwischen «ich                    Achtet auf meine Körpersprache – die Zei-       statt es zu beschreiben. Visuelle Unterstüt-
will nicht» und «ich kann nicht»               chen, was mit mir los ist, sind oft sichtbar,   zung hilft mir weiter.
Es ist nicht so, dass ich nicht auf An­­
weisungen hören will – ich kann sie oft
nicht verstehen. Kommt zu mir und sagt
klar, was ihr wollt. Nur so kann ich euch
verstehen.

Ich interpretiere Aussagen
wörtlich
Smalltalk, Sprichwörter, Wortspiele, Anspie-
lungen oder Ironie verstehe ich nicht.

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Konzentriert euch auf das,                    kann ausrasten. Findet mit mir zusammen
was ich kann – und nicht auf                  heraus, was die Ursachen sind und wie man
das, was ich nicht kann                       solche Situationen vermeiden kann. Weil
Wenn ich ständig das Gefühl habe, dass ich    ich mich nicht ausdrücken kann, reagiere
nicht gut genug bin, vermeide ich es, etwas   ich einfach. Lebensmittelallergien oder Ma­-
Neues zu lernen. Sucht meine Stärken und      gen-Darm-Probleme, bestimmte Ge­räusche
denkt daran: Es gibt mehr als einen Weg,      oder Gerüche oder auch Berührungen
etwas zu machen.                              können mich zum Beispiel überempfindlich
                                              ­machen.
 Helft mir bei sozialen
­Interaktionen                                Akzeptiert und mögt mich so,
Erklärt mir, wie ich mit anderen Kindern      wie ich bin
spielen kann oder wie man als Jugendlicher    Denkt daran, dass ich nicht gewählt habe,
oder Erwachsener ein Gespräch beginnt.        Autismus zu haben. Es ist mir passiert und
Ermutigt mich, auf Andere zuzugehen.          nicht euch. Ohne eure Unterstützung sind
                                              meine Chancen auf ein erfolgreiches Leben
Bitte habt Geduld                             kleiner. Mit eurer Hilfe sind meine Chancen
Begleitet mich durch mein Leben        und    auf ein unabhängiges, erfolgreiches Leben
entdeckt mit mir zusammen, wie weit ich       viel grösser, als ihr vielleicht jemals gedacht
kommen kann.                                  habt.

Findet heraus, was meine
­«Ausraster» verursacht
Wenn die Belastungen für mich zu gross wer-   (übernommen von Ellen Notbohm, 10 things
den, habe ich einen Zusammenbruch oder        a child with autism wishes you knew, 2012)

                                                                                                25
Autismus verstehen, mit Autismus leben können

                 Obwohl in der Schweiz rund 80 000 Men-
                 schen betroffen sind, ist das V
                                               ­ erständnis
                 für die Bedürfnisse von Menschen mit
                 ­Autismus in Politik und Gesellschaft nicht
                 ausreichend.

                 «Eltern sind häufig auf sich
                 selbst gestellt, Betroffenen
                 ­mangelt es an Betreuung und
                  Akzeptanz.»

                 autismus deutsche schweiz: vereint Eltern,
                 Betroffene und Fachleute, damit alle bes-
                 ser mit Autismus umgehen können. Wer-
                 den auch Sie Mitglied!

                 Verein autismus deutsche schweiz

                 Reto Odermatt, Präsident

26
Als Elternvereinigung gegründet, ist autismus deutsche schweiz
                    heute die offizielle vom Bundesamt für Sozialversicherungen
Menschen mit        anerkannte Autismus-Organisation. Der Verein ist ein Netz-
                    ­
Autismus brauchen   werk für Eltern, Angehörige, Betroffene und Fachleute. Er bietet
                    ­unmittelbare, unbürokratische Unterstützung und Beratung an.
Unterstützung
                    Der Verein organisiert Tagungen und Workshops, Informations-
und Engagement.     veranstaltungen und Autismus-freundliche Events. Zudem enga-
                    giert sich autismus deutsche schweiz in Politik und Gesellschaft
                    und hilft Betroffenen, A
                                           ­ n­gehörigen und Fachleuten weiter.

                    Wer Mitglied wird oder spendet, ermöglicht
                    Menschen mit Autismus ein besseres Leben.

                    Spendenkonto PC 80-52832-2
                      www.facebook.com/autismus.ch, www.autismus.ch

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Impressum: 3. Auflage, Januar 2019, ©autismus deutsche schweiz
      Beratung und Unterstützung

      telefonisch: 044 341 13 13
      per E-Mail: info@autismus.ch

                                                                                     hilft,
                                                                                 vermittelt und
                                                                                   verbindet
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