Spielen ohne Spielzeug - Eine Entscheidung zur spielzeugfreien Zeit - Cornelsen

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Spielen ohne Spielzeug - Eine Entscheidung zur spielzeugfreien Zeit - Cornelsen
14 Thema                                                                                                 www.kleinundgross.de   06 / 2015

                                Spielen ohne

                                                                                                                                            Fotos: Heike Westermann
                                  Spielzeug
                                           Eine Entscheidung zur
                                            spielzeugfreien Zeit

  Freies Spiel stellt tagtäglich eine wichtige Säule im Kinder-   zieherinnen beobachteten die Kinder, überprüften ihre Ma-
  gartenalltag dar. Dass eine spielzeugfreie Zeit dem Spiel       terialien, berieten sich über einen langen Zeitraum und
  der Kinder neue Impulse geben, das Miteinander in der           entwickelten schließlich die Idee eines spielzeugfreien
  Gruppe stärken und viel Kreativität sowie Phantasie her-        Gruppenraumes.
  vorbringen kann, wird im Folgenden anhand eines erfolg-
  reichen Praxisbeispiels einer Berliner Kita deutlich.           Folgende Ziele standen für die Erzieherinnen im Vorder-
                                                                  grund. Die spielzeugfreie Zeit sollte:
                                                                  ßßdie Kinder wieder neugierig machen, sie herausfordern
  Heike Westermann                                                  und ihnen zu einem konzentrierten Spiel verhelfen.
                                                                  ßßSpielsituationen ermöglichen, die ein stärkeres Miteinan-
                                                                    der hervorrufen.
  In der Berliner Kita „Am Park“ hat es noch nie eine spiel-      ßßdie vielen Konflikte um Spielzeug reduzieren, die bisher
  zeugfreie Zeit gegeben. Hier war es das Verhalten der Kin-        den Alltag belasteten.
  der im Freispiel, das eine Veränderung nötig machte. Die        ßßdie Kreativität der Kinder „hervorkitzeln” und fördern,
  Erzieherinnen stellten fest, dass es bei den Kindern der          denn diese war in letzter Zeit leider etwas „auf der
  Gruppe sehr viel Streit um Spielsachen gab, obwohl ausrei-        Strecke geblieben”.
  chend Materialien vorhanden waren. Das Spielzeug wurde
  von den Kindern aus den Regalen oder Kisten genommen            Gemeinsame Planung
  und dann nach wenigen Minuten achtlos liegen gelassen.          Eine spielzeugfreie Zeit ist für Kinder eine massive Verände-
  Zudem erfolgte das Spiel der Kinder häufig allein und we-       rung und hierauf müssen sie vorbereitet werden. Warum
  niger in Kindergruppen.                                         wird das Spielzeug weggeräumt? Wohin kommen die Spiel-
  Als besonders belastend erlebten die Erzieherinnen das En-      materialien? Wann kommt das Spielzeug wieder zurück?
  de der Freispielzeit. Die Kinder entzogen sich mit Hartnä-      Womit kann man denn dann noch spielen? Diese Fragen
  ckigkeit dem Aufräumen – sie waren ganz einfach überfor-        beschäftigen die Kinder und erfordern eine Antwort. Die
  dert, bei der Menge an Spielzeug, die weggeräumt werden         Erfahrung zeigt, dass Kinder sich bei guter Vorbereitung
  musste.                                                         recht bereitwillig auf so ein Projekt einlassen. Sie sind neu-
                                                                  gierig, gespannt und freuen sich erst einmal auf das ge-
  Impulse durch Pädagoginnen                                      meinsame Packen der großen Kisten. So war es auch in die-
  Doch was tun, wenn die Kinder im Freispiel wenig Ideen          ser Berliner Kita. Die Kinder wollten den Versuch „ohne
  entwickeln, sich zunehmend um Spielzeuge streiten und           Spielzeug“ wagen.
  gar nicht mehr mit ihrem Herzen bei der Sache sind? Die Er-
Spielen ohne Spielzeug - Eine Entscheidung zur spielzeugfreien Zeit - Cornelsen
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Eltern informieren                                             ‚Was wollen wir spielen?‘ Die Kinder schauten fragend in
Die Berliner Pädagoginnen gestalteten einen ganzen El-         die Runde und auffordernd zu uns Erzieherinnen. Wir Er-
ternabend, um den Müttern und Vätern ihre Beweggründe          zieherinnen hielten uns bewusst zurück. Die Kinder soll-
für das Projekt darzulegen. Lernen Kinder noch etwas,          ten selbst ausprobieren, erkunden und Ideen entwickeln.
wenn kein Spielzeug da ist? Was macht mein Kind denn           Nach kurzer Orientierungsphase machten sich die Kinder
dann den ganzen Tag? Wie werden die Kinder ohne Spiel-         ans Werk. Was uns Erzieherinnen quasi von der ersten
sachen auf die Schule vorbereitet? Diese Gedanken äußer-       Stunde an auffiel: die Kinder waren entspannter, standen
ten die Eltern sehr offen auf dem Elternabend. Die vielen      nicht mehr so unter Druck. Merkwürdig, ob das auf das
Fragen der Eltern zeigte den Erzieherinnen, dass das Pro-      fehlende Spielzeug zurückzuführen war? Oder war es
jekt spielzeugfreie Zeit einen regelmäßigen Austausch zwi-     eher die Ruhe vor dem Sturm? Wir waren gespannt.
schen Kita und Eltern erforderte. In unserem Praxisbeispiel
verabredeten die Pädagoginnen mit den Eltern, dass konti-      Auch die folgenden Tage hielten die Entspannung und
nuierliche Fotodokumentationen, ein zeitnaher Eltern-          das intensivere Tun der Kinder an. Plötzlich wurden wir
abend nach Start des Projektes und regelmäßige Rückmel-        Erzieherinnen wieder zu Spielpartnerinnen – nicht indem
dungen in den Tür- und Angelgesprächen stattfinden             wir etwas vorgaben, sondern da die Kinder uns in ihr
sollten.                                                       Spiel integrierten. Es entstanden Parcours mit Stühlen
                                                               und Tischen, lange Dominostrecken unter den Tischen,
  Der Erfahrungsbericht aus Berlin                             Murmelbahnen aus Kartonröhren, Karton- und Kissen-
  „Nach Weihnachten ging unser Projekt los. Hand in Hand       höhlen, extravagante Kostüme aus Pappen und Stoffen,
  packten die Kinder mit uns Erzieherinnen alle Materialien    gemeinsam gemalte Kunstwerke, unzählig viele Rollen-
  in Kisten und transportierten die Spielsachen aus dem        spiele zu den verschiedensten Themen und vieles, vieles
  Raum. Da unser Keller nicht ausreichend Platz bot, wurde     mehr.
  ein Teil des Spielzeugs in der Garage einer Familie unter-
  gebracht.                                                    Vieles dauerte nun länger. Erst nach mehreren Wochen
  Fast alles an Spielzeug war weg, außer den Holzbaustei-      fiel uns eine weitere Veränderung auf. Wir brauchten nun
  nen und Kuscheltiere. Die Bausteine blieben im Gruppen-      für alles mehr Zeit. Im Morgenkreis mussten z. B. neue Re-
  raum, weil es sich die Kinder ausdrücklich gewünscht hat-    geln und Absprachen getroffen werden. Das Freispiel
  ten. Kuscheltiere waren weiterhin erlaubt, da einige junge   wurde zudem auf drängenden Wunsch der Kinder sehr
  Kinder diese einfach noch brauchten.                         oft zeitlich ausgeweitet und selbst das Mittagessen dau-
                                                               erte länger, da die Kinder stärker in Gespräche verwickelt
                                                               waren.

                                                                                  „Wertvolles Spielen
                                                                                    mit wertlosem
                                                                                      Material“
16 Thema                                                                                            www.kleinundgross.de   06 / 2015

   Niemand hatte am Mittagstisch mehr den Druck, als Erste     z. B. Riesenkartons, aus denen ein Haus entstand, in dem
   oder Erster fertig sein zu müssen, um mit einem bestimm-    jedes Kind sein eigenes Fenster hatte. Cornflakes-Verpa-
   ten Spielzeug spielen zu können, aus dem einfachen          ckungen wurden von den Kindern zu originellen Helmen
   Grund – das Spielzeug war nicht da!                         umfunktioniert, Stoffe, Knöpfe, Kronkorken, Korken, Toi-
   In Gesprächen am Mittagstisch oder während des Nach-        lettenpapierrollen und vieles mehr kam in großen Stück-
   mittagssnacks wurden Ideen lebhaft diskutiert, im Frei-     zahlen im Freispiel zum Einsatz.
   spiel durchlebte Abenteuerreisen in dramatischen Erzäh-
   lungen an nicht beteiligte Kinder weitergegeben oder        Im täglichen Gespräch mit den Eltern berichteten wir von
   auch Pläne für den Nachmittag geschmiedet.                  den neuen Wandlungen in der Gruppe und veranstalte-
                                                               ten ein kleines Eltern-Kind-Caffé zum Thema spielzeug-
   Die Kinder wuchsen in der Gruppe stärker zusammen, es       freie Zeit. Ein Treffen, in dem es zu einem regen Informa-
   bildeten sich die ersten, zarten Fädchen eines neuen, an-   tionsaustausch kam. Die Kinder fanden es toll, dass sie
   ders geknüpften Bandes. Die Jungen und Mädchen erfuh-       ihren Eltern alles zeigen konnten. Wir freuten uns über
   ren voneinander, dass jedes Kind irgendetwas Besonderes     die Rückmeldung, dass die von uns positiv empfundenen
   konnte – sei es tolle Ideen zu haben, diese auszuschmü-     Veränderungen auch von den Eltern zu Hause festzustel-
   cken, zu gestalten, zu basteln usw. Jeder spielte mit je-   len waren. Die Kinder bastelten viel und sehr kreativ, gin-
   dem, das war vor der spielzeugfreien Zeit anders. Da gab    gen auf die Suche nach verwertbaren Materialien, räum-
   es eher Experten für die einzelnen Materialien und Spiel-   ten zum Teil auch hier ihr Spielzeug beiseite, damit mehr
   bereiche. Jetzt waren die Karten neu gemischt, jeder        Platz für Höhlen und Parcours zur Verfügung stand.
   konnte sich neu einbringen, niemand wurde von anderen       Wir machten bei den Eltern eine schriftliche Abfrage, wie
   auf etwas festgelegt.                                       sie das Projekt und ihre Kinder erlebten. Fast alle Eltern
                                                               gaben eine sehr positive Rückmeldung.
   Strommaschinen, Murmelhöhlen und Cornflakes-Helme –
   auch wir Erzieherinnen ließen uns von dem Projekt mitrei-   Neun Monate später …
   ßen und steckten unser soziales Umfeld an. Sowohl Kolle-    Mittlerweile sind fast neun Monate vergangen. Nun wer-
   ginnen als auch die Eltern unserer Gruppe machten sich      den Sie sich sicher fragen, ob wir das Spielzeug wieder in
   viele Gedanken und gingen mit uns in den Austausch. Oh-     der Gruppe haben.
   ne die Zusammenarbeit und Unterstützung mit und von         Jein! Wir berieten uns mit den Kindern und holten nach
   den Eltern hätten wird die ganze Idee wahrscheinlich        sechs Monaten einige Spielzeuge zurück in die Gruppe.
   nicht so gut umsetzen können. Viele Eltern brachten im-     Hierzu zählten z. B. Autos, Gesellschaftsspiele und Rollen-
   mer wieder andere gebrauchte Sachen zum Spielen mit,        spielmaterialien. Doch an vielen Spielzeugen hatten die
                                                               Kinder gar kein Interesse mehr. Dieses Spielzeug spende-

                                                                                          „Kreativität
                                                                                         wird angeregt“
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                                                                                      „Es gilt hier
  ten wir. Die durch die Reduktion an Spielzeug frei geblie-
  benen Regale füllen nun weiterhin „wertlose“ Materiali-                             eine stärkere
  en, auf die die Kinder nicht mehr verzichten möchten.
                                                                                     Beobachterrolle
 Nach wie vor haben die Kinder viel phantasievollere Spiel-
 ideen. Im Umgang mit den wertlosen Materialien sind sie
                                                                                     einzunehmen.“
 sehr geschickt, ausdauernd und kreativ. Diese Verände-
 rung zeigt sich zum Glück auch bei den „fertigen“ Spiel-
 zeugen.
 Sie können es unseren Zeilen bestimmt entnehmen: Wir
 sind richtig stolz auf unsere Kindergruppe und auf unser        Zeit gestellt werden. Mit körpereigenen Instrumenten,
 Projekt! Eine spontane Idee hat zu einer großen Verände-        wie z. B. selbstgebauten Rasseln oder Trommeln, kann
 rung geführt.“                                                  musiziert werden und mit Zeitungen, Toilettenpapier und
 Heidi B. und Ursula G., Kita „Am Park“, Berlin                  Kartons lässt es sich richtig gut turnen.
                                                               ß ß die zunehmenden Rollenspiele, Baukonstruktionen
                                                                 Für
                                                                 und kreativen Kunstwerke benötigen die Kinder viel
Ein holpriger Beginn ist nicht untypisch                         Klebe- und Befestigungsmaterial. Hier gilt es ausreichend
Nicht immer läuft eine spielzeugfreie Zeit von Anfang an so      Kleister, Kleber, Fäden, Seile, Tücher, Stoffe, Wäscheklam-
gut, wie von den beiden Erzieherinnen beschrieben. Zu Be-        mern oder auch Nägel zur Verfügung zu stellen, damit
ginn können Kinder sehr verunsichert und ideenlos sein.          sich die Ideen der Kinder umsetzen lassen.
Das führt zuweilen zum ausgiebigen Toben und umherren-         ßßIn vielen Aufsätzen und Rückblicken wird empfohlen,
nen oder einem intensiven Testen der neuen Materialien.          eine spielzeugfreie Zeit über mindestens zwei Monate,
Nicht selten kommt es in den ersten Tagen zu einer deutli-       besser drei Monate durchzuführen.
chen Erhöhung der Lautstärke im Gruppenraum.
Einige Kinder äußern zu Beginn Unzufriedenheit, weil sie       Eine wichtige Erkenntnis
sich unwohl fühlen oder überfordert sind. Sie fordern ihr      Hervorzuheben ist in dem oben beschriebenem Prozess das
Spielzeug zurück. Da gilt es, diese Kinder etwas stärker zu    reflektierte Handeln der beiden Pädagoginnen. Sie beob-
begleiten und deren Eltern um Geduld zu bitten.                achteten das Spiel der Kinder genau und beteiligten die
Auch den Erzieherinnen fällt die Umstellung nicht immer        Kinder und Eltern im gesamten Verlauf des Projektes. Der
leicht, denn sie müssen sich genauso umorientieren wie die     spielzeugfreie Gruppenraum wurde viel länger umgesetzt,
Kinder. Die Rolle der Anleiterin und Ideengeberin ist nun      als zuvor angedacht, weil sich die Kinder engagiert und vol-
nicht mehr so stark gefragt. Dahingehend gilt es, eine stär-   ler Ideen über Wochen und Monate einbrachten. Darüber
kere Beobachterrolle einzunehmen.                              hinaus beendeten die Erzieherinnen das Projekt anders, als
Kartons, Tücher, Seile, Papprollen, Stoffe und Tücher, die     dies üblicherweise in Kitas geschieht. Sehr viele Kitas holen
durch den ganzen Raum gespannt werden, oder auch Ti-           nach der spielzeugfreien Zeit alle Spielsachen wieder her-
sche und Stühle, die von Kindern aufgetürmt oder aneinan-      vor. Die beiden Berliner Erzieherinnen kehrten mit der
dergereiht werden – da kommt im wahrsten Sinne des             Gruppe nach Beendigung des Projektes nicht wieder zum
Wortes einiges in Bewegung. Auch das muss von allen            Ursprungszustand zurück, sondern berieten sich mit den
Beteiligten ausgehalten werden.                                Kindern, wie es weitergehen soll. Dass sich die Kinder ent-
                                                               schieden einen Teil ihres Gruppenspielzeuges zu verschen-
Tipps für die Praxis:                                          ken, zeigt, wie wichtig ihnen das Projekt war. Die Kinder
ßß
 Das Ausräumen der Spielzeugmaterialien sollte unbe-           fühlten sich ernst genommen und beteiligt.
  dingt mit den Kindern gemeinsam erfolgen, damit diese
  sich auf die neue Situation einstellen können.
                                                                Heike Westermann, Fachberaterin für Kindertagesstätten, Berlin. He-
ßßDas Beibehalten von regelmäßigen Treffen im Morgen-
                                                                rausgeberin des Internetportals „kitakram“ für Erzieherinnen und
  kreis, in der Kinderkonferenz oder in Arbeitsgemein-
                                                                Pädagoginnen.
  schaften gibt den Kindern Sicherheit und Raum zum
  Austausch.                                                    Kontakt
ßßZu Beginn ist es ratsam, nicht zu viele Außentermine, wie     www.kitakram.de
  z. B. Ausflüge, zu verabreden. Denn diese reißen die Kin-
  der aus dem Spiel und verhindern eine Auseinanderset-
                                                                Das Projekt „Spielzeugfreier Gruppenraum“ wurde von Heidi B. und
  zung mit der neuen Situation. Wenn sich die Kinder an
                                                                Ursula G. in der Kita „Am Park“ in Berlin mit Kindern im Alter von
  die spielzeugfreie Zeit gewöhnt haben, können die Au-
                                                                zwei Jahren bis zur Einschulung entwickelt.
  ßentermine wieder mehr werden.
ß ß Bewegung und Musik mit der Erzieherin oder exter-
  Auch
  nen Anbietern kann unter das Motto der spielzeugfreien
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