Unter den Radar gerutscht - Klett Kita

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Unter den Radar gerutscht - Klett Kita
WERKSTATT

     Nicht gesehene Kinder

     Unter den Radar
     gerutscht
     Jedes Kind hat das Recht auf eine feinfühlig begleitende Fachkraft.
     Doch im Tagesablauf einer Kita geraten manche Kinder aus dem Blick.
     Ohne Absicht. Die Verhaltensbiologen Gabriele Haug-Schnabel und
     Joachim Bensel beschreiben das Defizit, raten, den Tagesablauf auf den
     Prüfstand zu stellen, und geben dafür hilfreiche Fragen an die Hand.
     GABRIELE HAUG-SCHNABEL · JOACHIM BENSEL

                                                                                             Foto: © gettyimages/krithnarong

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Unter den Radar gerutscht - Klett Kita
WERKSTATT

W
             ie ausgewertete Beob-      Eltern erklärten, was sie konstruiert,   beim Mittagessen, in der Siesta-Zeit
             achtungen bei laufen-      modelliert und gemalt hatten, auch       und im Außengelände – verlassen
             dem Kita-Betrieb zeigen,   was ihnen dabei durch den Kopf           kann.
gibt es in Einrichtungen die so-        ging und ihre Intention war – vor-         Im Alltag sind immer wieder die
genannten „nicht gesehenen Kin-         ausgesetzt, das Werk war fotogra-        folgenden Äußerungen zu hören:
der“ weit mehr und über den Tages-      fiert oder an einen sicheren Ort ge-
ablauf häufiger als dies von den        bracht worden und nicht schon in
Fachkräften vermutet wird. Es geht      Einzelteile zerlegt und aufgeräumt         „Sag mal, war Mona heute da?“
um Kinder, die weniger als andere       worden.                                    „Klar, sonst hätten wir es beim
im Blick der Fachkräfte sind, von          Es geht für nicht gesehene Kinder       Aufrufen der Namen und An­
ihnen seltener angesprochen und         also nicht nur um zu wenig profes­         kreuzen der Liste beim Morgen­
kaum in ein Gespräch oder Pla-          sionelle Assistenz bei Kontaktauf-         kreis gemerkt!“
nungstreffen einbezogen werden –        nahmen, in Konfliktsituationen und         „Von Bertin habe ich in den
also weniger Impulse zu ihren Bil-      bei Herausforderungen. Auch der            letzten Monaten keine Beobach­
dungsinteressen erhalten.               Bildungsauftrag wird nicht wie er-         tung gemacht! Hilfe, dann mach
  Wie kann ein derartiges Zuwen-        wartet durchgeführt, da ihren spon-        ich am besten gleich heute eine!“
dungsungleichgewicht entstehen,         tanen Ideen die Aufmerksamkeit
das die Professionalität einer Grup-    und die anerkennende Wertschät-
penpädagogik infrage stellt? Beob-      zung durch die Fachkräfte fehlt, an      Worum geht es genau, wenn wir von
achtungen zu den Fragestellungen        denen auch die anderen Kinder            nicht gesehenen Bedarfen und nicht
„Wen haben wir im Blick? Welches        durch angeregte Beobachtungen,           befriedigten und nicht erfüllten Be-
Kind und welche Kinder haben wir        spannende Rückschlüsse und mögli-        dürfnissen bei Kita-Kindern spre-
weniger im Blick?“ lassen befürch-      che logische Konsequenzen hätten         chen? Es geht um zu wenig aktuelles
ten, dass es im Tagesablauf einer       teilhaben können. Genau hier liegt       Wissen über den Entwicklungsstand
Kita situationsübergreifend Zeiten      ungenutztes Vernetzungspotenzial         eines Kindes, seinen Platz in der
und Orte gibt, in denen das Tun, die    zwischen Kindern mit unterschiedli-      Gruppe, seine momentanen The-
Aktivitäten sowie Bedürfnisse und       chen Interessen und Begabungen,          men, seine Vorlieben und sein Befin-
Bedarfe einzelner Kinder zu wenig       die dadurch interessanter und an-        den. Das bedeutet, dass es den nicht
und zu wenig differenziert gesehen      sprechbarer werden könnten.              gesehenen Kindern an Schutz, an
werden. Das heißt, ihre Signale wer-                                             individueller Beantwortung, an Em-
den seltener wahrgenommen, und          Besonders gefährdet: Kita-Profis         pathie, aber auch an vielfältigen An-
sie laufen somit Gefahr, weniger auf-   Woran könnten diese durchaus rele-       regungen fehlen kann – und zwar
merksam beantwortet zu werden.          vanten blinden Flecken in der Ent-       genau in den Situationen, in denen
  Nicht gesehenen Kindern fehlt es      wicklungsbegleitung liegen? Eine         das Kind unsere Responsivität und
an einer Art sozialem Kitt: Weder       wichtige Frage, der detailliert nach-    differenzierte Zuwendung dringend
Mimik noch Gestik oder Worte ma-        gegangen werden muss. Denn jedes         brauchen würde.
chen ihnen bewusst, dass den an­        Kind hat nicht nur das Recht auf           Zu den nicht gesehenen Kindern
deren ihre Anwesenheit etwas be-        Schutz und Bildungschancen, ihm          können auch sogenannte Kita-Profis
deutet, sie für die Gruppe wichtig      stehen auch vielfältige Anregungen       gehören, sie müssen auch keines-
und spannend sind. Neben sozial-        und spontane Beantwortung zu. Je-        wegs unauffällig sein; es sind Mäd-
emotionalen Defiziten aufgrund feh-     des Kind hat jeden Tag den Anspruch      chen und Jungen mit bereits viel
lender interpersoneller Botschaften     auf eine liebevoll zugewandte, wert-     Kita-Erfahrung durch einen frühen
kann es auch an Anregungen, Rück-       schätzende und feinfühlig ablaufen-      Start und inzwischen intensiven
meldungen, an Bestätigung oder gar      de Kommunikation sowie auf die           Jahren in der Einrichtung. Sie kom-
an Unterstützung ihrer Vorhaben und     Unterstützung bei vielfältigen Inter-    men bereits allein klar, kennen nicht
Pläne fehlen, da ihre isolierten Bil-   aktions- und Erfahrungsmöglichkei-       nur den Tagesablauf, den Wochen-
dungsbemühungen eher geduldet als       ten – mal allein, mal mit den ande-      ablauf, sondern auch die Regeln und
unterstützt werden – wenn sie über-     ren Kindern.                             deren mögliche Schlupflöcher. Au-
haupt im Blick sind.                      Jedes Kind hat das Recht auf eine      ßerdem passen sie sich geschickt an
  Mehrfach konnten wir bei Quali-       feinfühlige, sensibel anregende so-      die Routinen an. Trotz dieser Anpas-
tätserhebungen in Einrichtungen         wie empathisch begleitende Fach-         sungsfähigkeit stimmt der schnelle
beobachten, dass die vom Team           kraft, die Mädchen wie Jungen indi-      Schluss „Sie brauchen uns nicht
über den Tag zu wenig gesehenen         viduell beantwortet und auf deren        mehr!“ keineswegs. Es geht um nicht
und beantworteten Kinder erst am        Präsenz und Zugewandtheit sich das       gesehene und nicht befriedigte Be-
Spätnachmittag ihren abholenden         Kind bereichsübergreifend – auch         dürfnisse – gemäß unseren Beob-

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                                                                                                Fachkräfte haben einen besonderen
                                                                                                Beobachtungsauftrag, angesichts der
                                                                                                noch geringen sprachlichen und
                                                                                                sozialen Fähigkeiten der Kleinst­
                                                                                                kinder, auf die nonverbalen Signale
                                                                                                der Kinder zu achten, diese richtig
                                                                                                zu deuten und sensibel zu beant-
                                                                                                worten. Die Körperhaltung eines
                                                                                                Kindes kann viel aussagen. Das Be-
                                                                                                antwortungsverhalten der pädago-
                                                                                                gischen Fachkraft entscheidet da­
                                                                                                rüber, ob ein Kind das Gefühl hat,
                                                                                                dazuzugehören, Einfluss zu nehmen
                                                                                                und somit an unterschiedlichen Si-
                                                                                                tuationen teilhaben zu können.
                                                                                                  Jede professionelle Entwicklungs-
                                                                                                und Bildungsbegleitung setzt das
Nicht gesehenen Kindern fehlt es an sozialem Kitt: Ihnen wird nicht vermittelt, wie wichtig sie Beobachten der kindlichen Signale,
für die Gruppe sind.                                                                            das Beachten der kindlichen Inte­
                                                                                                ressen und wertschätzendes Zuhö-
                                                                                                ren voraus. Es geht dann um indivi­
       achtungen vermehrt bei Kindern mit              Nur eine aufmerksam zugewandte duelle Förderung seiner Bildungs­
       Spezialbegabungen. Es geht um feh- Begleitung ermöglicht es zum Bei- bemühungen zur professionellen
       lende emotionale Spiegelung und spiel, dass Kleinstkinder gefüttert Erweiterung seiner hoffentlich an­
       Stärkung, um zu wenig Responsivi- werden, wenn sie hungrig sind, und regungsreichen Lernumgebung. Je-
       tät und anregende Bildungsbeglei- schlafen dürfen, wenn ihre Signale dem Kind steht es zu, seinen Erfah-
       tung – also für diese Kinder um klare von Müdigkeit beobachtet werden. rungsraum zu erweitern, ihm seine
       Defizite aufgrund fehlender Profes­ Dasselbe gilt für eine zugewandt-­ Zeit zu geben, die Möglichkeit und
       sionalität.                                   responsive Ansprache, wenn sie Er- das Recht zu haben, etwas allein zu
         Gerade diese Kindergartenprofis wachsenen Signale eines Kontakt- spielen, zu versuchen oder zu sagen,
       erhalten in ihren letzten ein bis zwei wunsches senden.                                  was es wie, wo und mit wem ma-
       Kindergartenjahren zu oft – außer                                                        chen möchte – auch wenn gerade
       geplanten Vorschuleinheiten – nicht Die Körperhaltung sagt viel aus                      die Morgenkreis-Zeit ansteht.
       mehr genug Zufütterung von Spe­ Doch häufig erfolgt eine Kommu­                            Wenn Partizipation als Leitlinie
       zialfutter, um bildlich zu sprechen. nikation im Vorbeilaufen: „Noah, der Entwicklungsbegleitung eines
       Die altersgemäß hochaktive Neu­        - Schatz, du kommst doch allein klar?“ Kindes gesehen wird, ist eine ge-
       gier und Explorationsbereitschaft Das ist keine echte Frage – denn ein schulte Aufmerksamkeit der Fach-
       kann sich schnell dysfunktional in Nein oder gar ein Widerspruch ist kräfte die Voraussetzung dafür, dass
       Quatschmachen und vitalen Grenz­ eigentlich nicht vorgesehen. Statt- jedem Kind in seinem Alter zuge-
       überschreitungen zeigen – eigenak- dessen wird ein Nicken erwartet, traut und ermöglicht wird, dass es
       tive Versuche, aus dem altbekann- das nach kurzem Zulächeln die Experte für seine aktuellen Bedürf-
       ten Kindergartenalltag doch noch Fachkraft entlastet und weitergehen nisse und Bildungsbemühungen ist.
       etwas Neues herauszuholen.                    lässt. Noah wird damit klarkommen, Wird dieser alltägliche Auftrag im
         Nicht gesehenen Kindern werden aber auch er hat trotz eigener Spiel- Team so auch gesehen und erfüllt?
       Zugewandtheit, Teilhabe und Parti- freude, Interesse, Wissen, Geduld
       zipationsgefühle vorenthalten. Ih- und Geschick, das Recht auf zuge- Gleichschritt muss nicht sein
                                                                                                                                      Foto: © gettyimages/JFCreatives

       nen kann ein so wichtiger sensibler wandte Zeiten eines erwachsenen Basierend auf einer respektvollen
       kurzer Blickkontakt im Alltag fehlen, Spielpartners. Kinder mit mehr Un- Haltung jedem Kind gegenüber
       ebenso eine individuell stärkende terstützungsbedarf haben oft das lohnt sich ein professionell kriti-
       Anregung oder Rückmeldung, ein Glück, mehr im Blick zu sein und scher Blick aller Teammitglieder auf
       wertschätzender Kommentar oder mehr die Aufmerksamkeit und Prä- die aktuelle Taktung des Tages-
       eine responsive Beantwortung, ab- senz der Fachkraft zu spüren. Aber ablaufs und die echt gelebte Nut-
       gestimmt auf ihre momentanen Be- auch dann entscheidet das echte En- zung der vorhandenen Räumlichkei-
       dürfnisse und Befindlichkeiten.               gagement über den Wert des Ge- ten über die gesamte Öffnungszeit.

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Ist dies gewährleistet, wird nahezu                 aus der Reihe tanzen? Es geht um        Oder hier eine besonders wert-
automatisch ein individuell auf                     Schon- und Schutzräume für Ge-        schätzende Idee für Max, Nora und
jedes Kind ausgerichtetes Handeln                   danken und für eigene Ideen.          alle anderen Kinder dieser Gruppe:
angestrebt. Wichtige Hinweise und                 Nachfolgend zwei Beobachtungsbei-       „Wir starten den Morgenkreis ohne
Prüffragen zur Blickschulung für                  spiele zu gelungenen Variationen        Max und Nora, die noch im Flur
mehr Individualität im Lebensraum                 des klassischen Morgenkreises, ohne     sind. Wir legen aber ihre zwei Kissen
Kita sind:                                        seine Bedeutung als Gruppentreff        auch in den Kreis, dann können sie
áá Die Feststellung, dass es sich in              und bewusst gemeinsame Zeit abzu-       zu uns stoßen, wenn sie fertig sind.
   Kitas um eine Gruppen- und eben                schwächen. Es geht darum, das Ritu-     Wenn die zwei aber etwas länger
   um keine Einzelbetreuung han-                  al Morgenkreis abzuhalten, aber in      brauchen als wir, besuchen wir sie
   delt, wird oft als Argument be-                einer Form, die tagesaktuelle Varia-    und lassen uns alles erklären und
   nutzt, nicht jedem Kind gerecht                bilität zulässt, um besonderen Ak-      singen danach im Flur das Käferlied
   werden zu können.                              teuren eine Bühne zu bieten und ihr     zusammen.“
áá Trotz sicherheitsgebender Rituale              Ansinnen wertschätzend für die            Das ist ein Signal! Alle Kinder spü-
   sollte die Struktur des Tagesab-               Runde sichtbar zu machen:               ren, dass sie zur Gruppe gehören, ge-
   laufs so sein, dass jedes Kind sei-              „Weil Saffi heute das Rad noch-       sehen und geschätzt werden, dass
   nen individuellen Aktivitäts- und              mals erfunden hat, findet der Mor-      jedes Kind auf seine Art die Gruppe
   Ruherhythmus ausleben kann und                 genkreis im Hof statt, damit er uns     bereichert, aber nicht alle im glei-
   nötige Unterstützung in Gruppen-               seine Erfindung und ihre Funktion       chen Takt agieren müssen.          ◀
   situationen erfährt (Schubert-Suff-            vorführen kann. Es gibt noch eine
   rian, Regner 2015).                            ganz spannende Geschichte dazu, da      LITERATUR
áá Gibt es geschützte Räume für in-               Marius (Fachkraft) genau aufge-         SCHUBERT-SUFFRIAN, FRANZISKA;
   tensive Tätigkeiten und deren Er-              schrieben hat, wie Saffi auf die Idee   REGNER, MICHAEL (2015): Partizipation in
   gebnisse? Gilt dies auch für einzel-           kam und welches Material er zum         Krippe und Kita. Kindergarten heute. Praxis
   ne Kinder, auch für Kinder, die oft            Bau seines Rades verwendet hat.“        kompakt. Freiburg: Herder.

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