Schweizer Kolonien in Brasilien - zwei Projektevaluationen in der internationalen Zusammenarbeit vor 150 Jahren

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Schweizer Kolonien in Brasilien – zwei Projektevaluationen in der internationalen
Zusammenarbeit vor 150 Jahren:
      ein Projekt
            zwei Evaluationen
                  unterschiedliche Einschätzungen

Einleitende Bemerkungen des Autors: Während mehr als 20 Jahren hat der Autor Projekte
besucht, Projekte evaluiert und Studien für und über Projekte durchgeführt. Dabei ging es um Pro-
jekte der Internationalen Zusammenarbeit (IZ) als auch um Projekte im Bereich der Arbeits-
marktintegration und der sozialen Integration in der Schweiz. Die Mandate betrafen somit entwe-
der Projekte im Ausland oder Projekte im Inland, bzw. die KEK-Arbeitsbereiche IZ oder Integration
und Soziales. Nicht wenig erstaunt war der Autor daher, als er auf ein Projekt stiess, das alle diese
Bereiche und Aspekte in sich vereinigt: Die Auswanderung von Schweizern nach Brasilien um 1850,
die so genannte Parceria-Kolonisation. Auch damals schon wurden Projekte evaluiert. Die vorlie-
gende Studie analysiert und vergleicht zwei historische Evaluationen auf der Basis von Erfahrun-
gen aus der Gegenwart.

1. Einführung: Die Auswanderung aus der Schweiz hat eine lange und wechselvolle Geschichte.
( Literatur, Freitas Oliviera). Eine Auswanderungswelle gab es nach 1850, als Tausende von Ko-
lonisten aus der Schweiz ausgewandert sind, um dort nach dem System der Halbpacht auf den
Kaffeeplantagen zu arbeiten und ein Stück eigenes Land zu bebauen. Die Konditionen für die
Schweizer Kolonisten waren aber dermassen schlecht, dass sich das Projekt schon bald zum Skan-
dal entwickelte. In der Schweiz waren die Behörden darum gezwungen, etwas zu unternehmen,
und mandatierten 1856 und 1860 Berater bzw. Evaluatoren, um die Lage der Schweizer Kolonisten
untersuchen zu lassen: 1857 besuchte Jakob Christian Heusser die Schweizer Kolonisten und 3
Jahre später Johann Jakob von Tschudi. Beide führten eine Evaluationsmission vor Ort durch und
schrieben Berichte über die Lage der Kolonisten.
2. Vergleich der beiden Evaluationen
                    Evaluation Heusser - 1857               Evaluation Tschudi - 1860
Der Anlass          Der Bericht des Kolonisten Thomas       Der brasilianische Projektpartner Ver-
                    Davatz gelangte in der Schweiz an       gueiro & Cia. stellte ab 1857 die Zah-
                    die Öffentlichkeit: Schweizer wer-      lungen an das Projekt ein (Dewulf S.
                    den wie Sklaven behandelt! In einer     124, Ziegler S. 304f), sodass die
                    dipl. Note bittet der schweiz. Bun-     Schweizer Gemeinden auf ihren Kre-
                    despräsident „um energische Inter-      diten aus der Vorschusszahlung der
                    vention der Regierung Seiner Majes-     Reisekosten sitzen blieben.
                    tät, damit die […] angeworbenen
                    Schweizer aus ihrer Sklaverei befreit
                    werden…“ (zit. in Tschudi 60, S. 3)
Die Evaluatoren     Jakob Christian Heusser (1826-          Johann Jakob von Tschudi (1818-
                    1909), Bruder von Johanna Spyri-        1889), Naturforscher und Forschungs-
                    Heusser (= Heidi-Autorin), Doktor       reisender, Arzt, Diplomat, Gutsbesit-
                    der Geologie und Landvermesser          zer in Wiener Neustadt, Niederöster-
                    (Agrimensor) und sein Team              reich

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Die Auftraggeber Regierungen von verschiedenen             Der Bundesrat ernennt Tschudi zum
                  Kantonen: ZH, GR, LU, SH, OW, GR,        ausserordentlichen Gesandten für
                  AR/AI usw. vertreten durch Oberst        Brasilien.
                  Rudolf Benz, damaliger Polizeidirek-
                  tor Kt. ZH
Das Pflichtenheft Von einem Vertrag mit Pflichtenheft      Instruktionen des Bundesrats: „… mit
/ die ToR / die   ist nichts bekannt. Heusser sagt in      allen […] Mitteln dahin zu wirken, dass
Aufgabe           seinen Briefen dazu nur Folgendes:       die Lage der in Brasilien als Kolonisten
                  „die Lage der Auswanderer näher          befindlichen Schweizerbürger verbes-
                  anzusehen, und einen genauen und         sert und dieselben gegen willkürliche
                  unparteiischen Bericht darüber ein-      und vertragswidrige Behandlung ge-
                  liefern (…).“ (Brief Nr. 51a)            schützt werden.“ (Ziegler S. 322)
Die Evaluations- Abreise ab Lissabon am 30. Dez.           Tschudi übergibt seinen Sohn am 1.
mission           1856 und Ankunft in Brasilien am         März 1860 seinem Bruder in St. Gal-
                  19. Jan. 1857. Lokale Mission in Bra-    len, am 4. April Einschiffung in Le Hav-
                  silien (ab São Paulo) vom 7. Februar     re, Ankunft in Rio am 13. Mai
                  1857 bis April 1857
Die Finanzierung Die Reise von der Schweiz nach Bra-       Finanzierung aus der Bundeskasse,
der Evaluation    silien wurde durch das Projekt, bzw.     keine weiteren Details bekannt
                  die Vergueiro & Cia. finanziert
Das Programm      Zuerst Antrittsbesuch auf der Fa-        Zuerst Desk Study in der Schweiz:
der Evaluati-     zenda Ibicaba bei der Vergueiro &        Tschudi verlangt von allen Gemeinden
onsmission        Cia., Studium der Dokumente bzw.         u. Kantonen die Verträge und eine
                  der Buchhaltung, anschliessend           Zusammenstellung ihrer Forderungen.
                  Field Visits auf allen Kolonien          In Brasilien: Antrittsbesuch bei Kaiser
                                                           Dom Pedro II., anschliessend Besuche
                                                           bei den Schweizer Kolonisten
Die Methode         Studium der Verträge und vor allem Field Visits und Gespräche mit allen
                    der Buchhaltung, Besuch aller Kolo- Schweizer Kolonisten (ausser Kolonie
                    nien und persönliche Gespräche mit Ibicaba, weil die Vergueiro & Cia. den
                    allen Schweizer Kolonisten             Zutritt verweigerte)
Die Evaluations-    Entwicklung des Vermögens bzw.         Beschaffenheit der Böden der Kolo-
kriterien           der Schulden der einzelnen Kon-        nistenfamilien, Qualität der ihnen
                    traktfamilien (Beispiel) und gesamt- zugeteilten Kaffeebäume, Viehbe-
                    haft für jede Kolonie, da die Kolonis- stand und Guthaben / Schulden der
                    ten unter sich solidarisch hafteten    Schweizer Siedler
                    für ihre Schulden
Die Rollenkon-      Auf der Fazenda Ibicaba gerät Heus- Auf der Kolonie Santa Leopoldina ge-
flikte und andere   ser an eine aufgebrachte Menge         rät Tschudi in einen Aufruhr der
Schwierigkeiten     von Schweizer Kolonisten, die sich     Schweizer Kolonisten gegen ihn sel-
bei der Durch-      mit Knüppeln und Äxten bewaffnet ber, da er weder Geld noch sonst eine
führung der Mis-    hatten. Revolta de Ibicaba: Am 8.      Lösung anbieten konnte für die Ver-
sion                März kommt es zum Showdown             besserung der Lage der Schweizer
                    zwischen Heusser und den erzürn-       Kolonisten. Diese drohen, ihre eige-
                    ten, verzweifelten und enttäuschten nen Häuser anzuzünden, wenn man
                    Kolonisten. Heusser gelingt es, die    sie nicht an einen besseren Ort führe!
                    Schweizer zu beruhigen und ein         Tschudi kann mit mutigem Auftritt
                    provisorisches Abkommen zu erzie- eine Eskalation verhindern. (Schaz-
                    len. (weitere Probleme)                mann S. 152)

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Die Rückkehr      Heusser kehrt erst 1882 (nach 16        Tschudi reist am 25. Oktober 1861
                  Jahren!) zum ersten Mal in die          aus Brasilien ab
                  Schweiz zurück
Die Berichte      a) Erster Kurzbericht im Brief Nr. 64 a) Memorandum von 1857 (Schaz-
                      an Oberst Benz vom 6.4.1857            mann S. 135)
                  b) Hauptbericht vom Sommer 1857 b) 2 Hauptberichte, 6. Okt. 1860 und
                      (http://bit.ly/hI94bV)                 1861
Die Projektein-   „Die Schweizer, die durch Vergueiro „Das materielle Wohl der Colonisten
schätzungen       nach der Provinz St. Paul eingeführt der Provinz des Südens kann man
                  wurden, sind durch Wucher auf eine durchgehend als ein befriedigendes
                  so schauderhafte Weise ausgebeu-        nennen. Nach 2 Jahren von Entbeh-
                  tet, die Contrakte sind von den hie-    rung und harter Arbeit ist in der Regel
                  sigen Grundbesitzern so willkürlich     die Stellung des Einwanderers für die
                  ausgelegt, auch gar nicht gehalten      Zukunft gesichert.“ (Tschudi 61, S. 36)
                  worden, daß es meine heiligste          mehr
                  Pflicht ist, diese Auswanderung auf
                  Contrakte Vergueiros mit allen mir
                  zu Gebote stehenden Mitteln zu
                  bekämpfen.“ (Brief Nr. 65) mehr
Das Fazit         Systemkritik: Heusser glaubt, dass      Zielgruppe nicht adäquat: Gemäss
                  das Halbpachtsystem nur in der          Tschudi ist das Projekt grundsätzlich
                  Theorie funktioniert, in der Praxis     gut, aber bei der Selektion der Aus-
                  aber zu unhaltbaren Zuständen           wanderer hätten die richtigen Leute
                  führt.                                  rekrutiert werden müssen.
Die Empfehlun-    Heusser ist für einen Abbruch des       Tschudi sieht keinen Anlass für eine
gen               Projektes. Er möchte, dass keine        Systemänderung. Seiner Meinung
                  weiteren Halbpacht-Verträge mit         nach braucht es aber bessere Kontrol-
                  Schweizer Auswanderern abge-            len durch konsularische Vertretungen.
                  schlossen werden (Austrocknung          Zudem will er eine Sofortlösung für
                  des Halbpachtsystems) und er denkt Härtefälle: Für 30 Familien, die keine
                  an einen Ausstieg der Schweizer         Chance haben, ihre Schulden je los-
                  Kolonisten aus dem Projekt, indem       zuwerden, soll eine andere Lösung
                  eine CH-Bank deren Schulden über- gefunden werden.
                  nehmen sollte.
Die Folgen        Kurzfristig: Thomas Davatz kann aus Kurz- und mittelfristig: Tschudi erar-
                  Brasilien ausreisen. Ab 1857 keine      beitet und unterschreibt eine Konsu-
                  weiteren Auswanderer aus der            larkonvention zwischen Brasilien und
                  Schweiz über das Parceria-System.       der Schweiz.
                  Mittelfristig: Die brasilianischen
                  Behörden leiten zwei offizielle Un-
                  tersuchungen ein.
                  Langfristige Folgen: ca. 15 Jahre später stellen sich Konsequenzen ein: „Die
                  Häufung von Mängeln und Missbräuchen in der Auswanderungspolitik und
                  bei den Auswanderungsagenturen führte 1874 zur Schaffung eines Verfas-
                  sungsartikels (Art. 34 BV), welcher die Bundesregierung ermächtigte, notfalls
                  einzugreifen. 1880 trat ein Bundesgesetz in Kraft, das dem Bund die Überwa-
                  chung der Auswanderungsagenturen übertrug.“
                  (Historisches Lexikon der Schweiz,
                  http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D7988.php)

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3. Was unterscheidet die beiden Evaluationen, bzw. deren Hauptakteure?
Die Fakten sind klar: „Die Kolonisten wurden in jeder erdenklichen Form ausgebeutet.“ (Ziegler S.
279) und „Die Parceria-Kolonisation scheiterte.“ (Ziegler S. 377) Darum erstaunen die unterschied-
lichen Ergebnisse der beiden Evaluationen. Wie erklären sich diese Unterschiede? Die beiden
Hauptverantwortlichen für die Evaluationen waren nicht nur sehr verschiedene Charaktere, sie
haben ihre Aufgabe auch unterschiedlich angepackt:
      Tschudi verhandelte scharf mit dem Auftraggeber, also dem Departement des Innern in
       Bern, über sein Mandat (Ziegler S. 319f). Dieser Prozess führte zu einer Klärung und letzt-
       endlich zu einer Stärkung der Position Tschudis. Zudem besorgte er sich die aktive Unter-
       stützung durch die österreichische Regierung und die preussische Gesandtschaft in Brasili-
       en (eine frühe Form von D-A-CH, d.h. der Zusammenarbeit der deutschsprachigen Län-
       der?): „Nun konnte Tschudi sicher sein, dass seine Bemühungen bei der brasilianischen Re-
       gierung grössere Erfolgschancen hatten, da dieselbe ein Auswanderungsverbot nicht nur
       aus der Schweiz, sondern auch Preussens und Österreichs befürchten musste.“ (Ziegler S.
       321) Tschudi wusste, dass es bei einer solchen Evaluation auch um Macht, um Personen
       und ums Prestige geht. Vor Ort geht Tschudi darum zuerst einmal direkt zum Kaiser. Erst
       nachher spricht er mit den Projektverantwortlichen und den Projektbeteiligten, bzw. den
       Kontrahenten.
      Heusser dachte nicht in machtpolitischen Dimensionen. Er meinte, die Faktenlage sei ent-
       scheidend und fokussierte seine Energien auf die Ermittlung der Sachverhalte: Er nahm de-
       tailliert Stellung zu allen Paragraphen des Vertrags der Auswanderer und untersuchte akri-
       bisch alle Vorwürfe / Reklamationen der Schweizer Kolonisten, berechnete ihre Schulden
       so genau als möglich usw. Er vertraute den Aussagen der Kolonisten und auch den Aussa-
       gen der Grossgrundbesitzer. Erst nach der Mission merkte er, dass er in einer viel zu
       schwachen Position war und weshalb es von Anfang an falsch lief: „Die Kantons-
       Regierungen hätten mich nicht so entblößt reisen lassen, das Anerbieten der Gesellschaft
       Vergueiro gar nicht annehmen sollen. Durch den weisen Rath der Herren in Rio, bei Vergu-
       eiro gar nicht als Abgesandter der Regierungen, sondern als sein Eingeladener und Freund
       aufzutreten, kam es vollends, daß ich in St. Paul gar keine Macht in Händen hatte, ein reiner
       Spielball war.“ (Brief Nr. 66b)
Die beiden Evaluatoren reagierten unterschiedlich auf die angetroffenen Missstände:
      Heusser empörte sich. In Analogie zur Feststellung „Widerstand kommt aus Empörung“
       (Stéphane Hessel) entstand bei Heusser aus seiner Empörung ein grundsätzlicher Wider-
       stand gegen das Projekt, d.h. gegen das Parceria-System. Er bekämpfte dieses, wollte es
       abschaffen, verbieten, sein Credo war: Das Projekt darf nicht weitergeführt werden!
      Tschudi blieb „ruhig“. (Er machte in seinem Bericht Heusser den Vorwurf, zu wenig „ruhig“
       gewesen zu sein: „[…] es fehlte ihm […] an der unumgänglich nötigen Ruhe, um so schwieri-
       ge Verhältnisse zu ordnen.“ (Tschudi 60, S. 2) Tschudi kritisierte zwar auch das Vorgehen
       der Schweizer Gemeinden aufs schärfste, aber er gibt letztendlich der Zielgruppe die
       Schuld am Misserfolg des Projektes: Nicht einmal die Hälfte der ausgewanderten Familien-
       vorstände hält er für geeignet als Kolonisten. (Tschudi 60, S. 13)

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4. Was können wir aus der Analyse der beiden Evaluationen lernen?
KEKerInnen müssten sich z.B. zu folgenden Fragen positionieren:
   A -- Wie halten wir es mit der Auftragsklärung? Wir wollen keine lästigen Nachfragerinnen
        und Verzögerer sein – also, wie viel muten wir dem Auftraggeber (und uns) an Klärungs-
        aufwand zu?
   B -- Wie stellen wir sicher, dass wir unabhängig sein können? „Unparteiisch“ und frei im Vor-
        gehen, in der Auswahl der Gesprächspartner, bei der Datenerhebung und bei der Bewer-
        tung unserer Feststellungen und Beobachtungen?
   C -- Wie stellen wir fest, dass wir die relevanten Gesprächspartner treffen und nicht eine vor-
        selektionierte (von wem?) Auswahl? Wie können wir den Aufwand in Grenzen halten
        (nicht alle können interviewt werden)?
   D -- Was sind bei jedem Evaluationsauftrag die wichtigen, unerlässlichen Fakten? Welche Sta-
        tistiken rufen wir ab?
   E -- Wie verhalten wir uns bei Konflikten während der Evaluation, in denen wir von Evaluier-
        ten, Auftraggebern und Umfeldakteuren bedrängt werden?
   F -- Machen wir eine Machtanalyse (Kräftefeldanalyse)?
   G -- Was ist unser persönlicher Werte-Hintergrund, der uns aus unserer Herkunft und unserer
        akademischen und politischen Sozialisation usw. mitgegeben worden ist? Wie machen wir
        diesen transparent?

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