Steigende Komplexität von Nord-Stream2: Corona, Klima und Weltpolitikfähigkeit

Die Seite wird erstellt Hauke Burger
 
WEITER LESEN
Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann, Potsdam

                 Steigende Komplexität von Nord-Stream2:
                   Corona, Klima und Weltpolitikfähigkeit

I. Nichts ist nach der Corona-Pandemie wie zuvor
I.1
Die erwartete zweite Corona-Welle scheint einen kräftigen Anlauf zu nehmen, so daß, wenn
man sie nicht rechtzeitig bricht, sie ihren Höhepunkt zum Jahreswechsel erreicht. Gemessen
an den Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner weisen Spanien und Frankreich sowie Israel
die höchsten Werte aus, noch vor den USA und Brasilien sowie Indien. Dabei wird von
nahezu allen Ländern eine ständig neujustierte Optimalität zwischen Umfang und Ausmaß
der Corona-Schutzmaßnahmen sowie ihren negativen wirtschaftlichen Folgen, insbesondere
auf Beschäftigung und Wohlfahrt, versucht. Je schwächer die wirtschaftliche Entwicklung
und Situation wird, desto geringer erscheint das Risiko von Corona (mit mind. 6 Mutationen)
in den politischen Reden und desto zögerlicher und halbherziger sind die lokal ergriffenen
Maßnahmen. Ihre an sich geringen Wirkungen werden noch abgeschwächt, wenn der
allgemeine Bürgersinn und die Selbstdisziplin jedes einzelnen Menschen (Abstand, Hygiene,
Maske) nur schwach ausgebildet sind. Entsprechend werden das BIP sinken und die
wirtschaftliche Lage instabiler. Aber wirtschaftliche Interessen treten immer stärker in den
politischen Fokus.
Dabei werden wir mit dem Corona-Virus noch lange leben müssen: Bei den meisten
Forschungen zu einem Impfstoff stehen für eine Zulassung noch vorgeschriebene Tests aus,
dann erfordert die Massenproduktion Zeit und dann muß noch ein logistisches Problem
gelöst werden. So benötigt der zu erwartende Impfstoff der Firmen Curevac sowie Moderna
wegen seiner durch die Eile zu erwartenden geringen Stabilität eine durchgehende Kühlkette
von minus 80 Grad C. Die dafür erforderlichen Kapazitäten und Möglichkeiten für bis zu 15
Mrd. Impfdosen bestehen weltweit noch nicht. Die wohl etwas später kommenden
Impfstoffe der Firmen Biontech und Pfizer benötigen nur minus 20 Grad C, aber zwei
Impfungen im Gegensatz zu dem der Firma Johnson&Johnson. Es sind noch viel Zeit und
Innovationen/Entwicklungen erforderlich.

I.2. Alles ändert sich
Hinzu kommt noch das seit geraumer Zeit weltweit steigende Mißtrauen und der
Vertrauensverlust der Bürger/Zivilgesellschaft in die Politik bzw. die herrschenden
politischen Eliten. Zu beobachten ist dieses in China ebenso wie in den USA, in Ländern in
West-, Mittel- und Ost-Europa ebenso wie in Asien und Südamerika. Dieses Mißtrauen folgt
nur teilweise aus dem schlechten Pandemie-Management und der zugleich festzustellenden
Schwächung vieler Demokratien. Es gärt schon lange und immer stärker in den tendentiell
sich spaltenden und zugleich polarisierenden Gesellschaften.
Zu den Folgen des Vertrauensverlustes gehört nicht nur das Verneinen einer besonderen
Bedrohung durch den Corona-Virus und der Sinnhaftigkeit vieler Schutzmaßnahmen mit
entsprechenden Verhaltensannahmen. Dazu gehören auch die massiven Demonstrationen
gegen Diskriminierung (insbes. nach Geschlecht und Hautfarbe sowie ethnischer
Zugehörigkeit) sowie für strukturelle Veränderungen in der jeweiligen Gesellschaft
(strukturelle Arbeitsplatz- und Einkommensverteilung) bei Bedarfsgerechtigkeit und
nominaler Lohngleichheit sowie für mehr direkte politische Partizipation und Ablösung der
alten Eliten usw.
Hinzu kommt eine rigoros geforderte „sofortige“ effektive Umweltschutzpolitik mit engen
restriktiven Zeitvorgaben für eine wirtschaftliche Klimaneutralität mit Energie ausschließlich
aus regenerativen Energiequellen (Sonne, Wind, Wasserkraft usw.). Bezüglich der sog.
Klimaneutralität von Volkswirtschaften ist eine Art Wettrennen ausgebrochen. Ohne klare
(justitiable) Definition setzt dafür bspw. Norwegen das Jahr 2050 ebenso wie China und
folgend Deutschland und die EU fest. Zunächst dienen diese Zieldaten primär der
Orientierung sowie einem „green washing“, um aus der Kritik der Demonstranten sowie der
Presse weltweit zu kommen sowie um nach Schaffung eines Mega-Trends für Investoren
über sog. Green-Bonds zinsgünstig Mittel am Kapitalmarkt für einen durch den Corona-Virus
beschleunigten Um- bzw. Neuaufbau. Der Wettbewerb mit neuen Technologien und
Produkten zwischen den Ländern wird nach der unmittelbaren Krise sehr viel intensiver und
härter werden. Corona dient auch als wirtschaftliche Peitsche.

Dabei sind die Ankündigungen kaum glaubhaft, weil sie kaum erreichbar bzw. kein Teil einer
langfristigen konsistenten Strukturpolitik sind. So vergibt bspw. Norwegen mit seinem
weltweit größten Staatsfonds immer neue Ölförderlizenzen im nördlichen Eismeer und plant
zugleich die Ölförderung auch über 2050 hinaus – weil u.a. die Kapazität der Wasserkraft zur
Energiegewinnung mit den abschmelzenden Gletschern sinkt? China wird seine anteilig
hohe Energiegewinnung durch Kohleverstromung ohne einen Ausbau der Atomenergie (als
sog. Brückentechnologie – BT - zum Zeitgewinn) nicht entsprechend reduzieren und durch
erneuerbare Energie ersetzten können. Und Deutschland steigt gleichzeitig aus der
Atomenergie und der Verstromung von Stein- und Braunkohle aus und es wird den stark
wachsenden Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen nur im Wege einer De-
industrialisierung mit dem Abbau von Arbeitsplätzen oder aber über den Einsatz einer
preisgünstigen Brückentechnologie decken können. Die erste BT ist dabei die Elektrifizierung
von Mobilität, Warenverkehr sowie Tourismus – bis zur Umstellung auf Wasserstoff, wobei
die Produktion von Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen in Deutschland nicht in
ausreichendem Maße möglich sein wird. Die zweite BT ist Erdgas zur Sicherung der
Energieversorgung angesichts der Schwankungen der Sonneneinstrahlung sowie des Windes
und der Problematik der Errichtung von Windrädern (Nähe zu Wohngebieten, Verankerung
im Meeresboden bei steigendem Meeresspiegel und Windstärken usw.). Deutschland ist auf
Gasimporte ab 2021/22 angewiesen.

II. Nord Stream2
II.1.
Beides zeigt die strategische Bedeutung von Nord-Stream2. Diese liegt einerseits in dem
benötigten Erdgas zu wettbewerbsfähigen Preisen. Nur diese gefährden nicht die
internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Wirtschaften
(insbesondere der mit dem deutschen Gasnetz gut verbundenen Länder wie Dänemark,
Niederlande und Polen(!) ) sowie andererseits in der Pipeline als Infrastruktur selbst, die
später dem Transport von Wasserstoff dienen kann oder wird. Sie ist dabei ökonomisch und
ökologisch einer alternativ zu schaffenden Infrastruktur zum Import von (Sonnen-) Energie
oder Wasserstoff aus nordafrikanischen Ländern überlegen.
In der Vergangenheit hat Rußland sich stets als ein verläßlicher Wirtschaftspartner erwiesen,
das Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland war durch Vertragstreue gekennzeichnet.
Dieser Vertragstreue steht jetzt das Verhalten der EU entgegen. Unter EU-Kommissions-
präsident Jean-Claude Juncker arbeitete der slowakische Vizepräsident Maros Sefcovic die
Erweiterung der EU-Gasrichtlinie derart aus, dass sie auch für Pipelines gilt, die aus Nicht-EU-
Staaten Gas in die EU befördern. Sie wurde 2019 mehrheitlich beschlossen und trat im Mai
2019 in Kraft, nachdem zuvor Frankreich unter Emanuel Macron überraschend plötzlich zu
den Pipeline-Gegnern (Slowakei, Polen, Baltische Länder) wechselte. Damit gelten die EU-
Regeln nach der überraschend schnellen Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht (Dez.
2019) auch für Nord-Stream2 und zwar für den noch nicht fertiggestellten Teil der Pipeline
auf den letzten 54 km (in der deutschen Zone).
Die EU mißachtet und gewährt mit dieser auf Nord-Stream2 zielenden Richtlinien (eine Art
„Lex Nord Stream2“ bzw. „Lex Deutschland“) keinen Vertrauens- und damit auch keinen
Investitionsschutz. Sie erhöht zugleich die Bau- und Betriebskosten, indem die Pipeline für
Drittstaaten zugängig sein muß. Aber zugängig für wen angesichts der geographischen
Verbindung? Sollen bspw. Finnland, Schweden oder die Baltischen Länder Öl durch Nord
Stream2 nach Deutschland exportieren? Es ist eine nicht praktizierbare Bestimmung und
damit eine politische prohibitive Restriktion. Die Pipeline könnte einfach als für Drittstaaten
offen erklärt werden (eine Nutzung durch Drittstaaten ist nicht zu fordern) oder zur
Demonstration der prinzipiellen Zugänglichkeit für “new-comer“ nur zu 92,5 % ständig
genutzt werden oder aber sie muß mit Gas bspw. aus Turkmenistan oder Aserbaidschan zu
7,5 % verfüllt werden. Hinzu kommt, dass die ökonomischen Daten wie ua. Anbieter, Kosten
und Durchleitungsgebühren für die „deutschen“ 54 km der EU zur Kontrolle offengelegt
werden müssen. Auch dieses erhöht die Kosten, wobei es unterschiedliche
Durchleitungsgebühren für die derart geschaffenen zwei Leitungsstrecken geben kann.
Entscheidend aber wird, dass diese Richtlinie eine massive Diskriminierung zugunsten von
LNG-Tankern und zuungunsten der Pipeline schafft, also ein konkretes Infrastrukturprojekt
kurz vor Vollendung quasi „torpediert“.

Eine kleine Hoffnung für Nord Stream2 besteht jetzt nur noch in der Gewährung einer
Ausnahmeregelung durch die zuständige deutsche Bundesnetzagentur sein (sofern man
Deutschland diesbezüglich vertraut). Diese hat aber schon einen Antrag abgelehnt.
Allerdings hat sich die EU bzw. faktisch Frankreich auch hier wie für jeden denkbaren Fall ein
Vetorecht geschaffen. Eine weitere kleine Hoffnung liegt in internationalen Institutionen
(auch in Sondergerichten), nicht aber in angestrengten Prozessen vor dem „parteiischen“
Europäischen Gerichtshof. Die Dauer derartiger Prozesse alleine wirkt wie ein unbefristeter
Baustopp bzw. ein schleichendes ökonomisches Ende nach dem unausgesprochenen
politischen Aus.

Dabei richtet sich die Richtlinie nur partiell gegen Rußland und in voller Schärfe gegen
Deutschland. Das Instrument wirkt faktisch wie eine Sanktion und soll durch möglichst hohe
(Sunk-) Kosten sowohl den Sanktionsnehmer (hier Rußland) als auch dem wirtschaftlichen
Hauptkonkurrenten (hier Deutschland) schädigen. Frankreich demonstriert seine Dominanz
hier in vollendeter Form, denn es verschafft sich selbst einen Vorteil und läßt Rußland noch
eine gewisse Alternative.

II.2.
Die französische Firma Total ist mit mind. 10 % an der Anlage zur Gasverflüssigung „Arctic
LNG 2“ (erwartete Investitionskosten: rd. 20 Mrd. US-$) auf der sibirischen Halbinsel Jamal
beteiligt - neben den japanischen Konzernen Jogmee und Mitsui sowie den chinesischen
CNPC und CNOOC (je 10 %) und letztlich der russischen Novatek, an der wiederum Total
einen Anteil von rd. 15 % hält. Ob die deutsche Euler-Hermes eine finanzielle Absicherung in
Höhe von ca. 350 Mio. US-$, gemäß Information der französischen Versicherungsagentur
Bpi-France, übernimmt, ist eine politische Entscheidung. Hier zeigt das Vetorecht bei der
Pipeline einen möglichen politischen Hebeleffekt: „Ohne Versicherung keine Ausnahme“
sowie „Ohne Versicherung keine Technologie-Auftragsvergaben an bspw. Linde, Siemens-
Energie oder andere deutsche Unternehmen“.

Es geht hier bei diesem LNG (verflüssigtes natürliches Gas) um russisches Gas - nur für
Frankreich. Tanker der russischen Staatsreederei Sowkomflot (die strebt die Börsenlistung
an) können das LNG transportieren und in Frankreich anlanden. Es können langfristige
Liefervereinbarungen getroffen werden, die die Gesamtkapazität des LNG-Terminals
erfordern. Zwar können prinzipiell auch Dritte LNG aus anderen Ländern anliefern
(Frankreich betont den Mix!), müssen es aber nicht. Kapazitäten müssen dafür nicht
freigehalten werden. Entsprechend könnte im Sinne eines fairen Wettbewerbs zwischen
Pipeline und Tankerverbindung maximal abgeleitet werden, dass im Falle von Nord-Stream2
Dritte ebenfalls an der Annahmestation in Deutschland auch natürliches, nicht verflüssigtes
Gas anliefern können müssen. Aber die Richtlinie fordert wettbewerbsverzerrend nicht
dieses, sondern den Mix bereits in der Pipeline und damit letztlich im ganzen Verlauf.
Derartiges wird bei keinem Tanker gefordert. Eine Pipeline ist im Gegensatz zu Tankern, die
prinzipiell stündlich umgelenkt werden können, eine auf längere Zeit angelegte
Wirtschaftsverbindung.

Es gibt in Frankreich und in der EU wohl rd. 30 LNG-Anlande-Terminals - schon die Kosten
der erforderlichen Sicherheitseinrichtungen sind sehr hoch. Diese Anlagen sind nur zu rd. 30
% ausgelastet und damit unrentabel. Dabei besteht seit Jahren ein großes
Überschußangebot an Flüssiggas (LNG) aus USA, VAE, Katar usw. Schon dieses ist ein
strenger Indikator dafür, dass der Preis von LNG zu hoch ist und die Gefahr einer
Abhängigkeit der EU vom russischen Gas gar nicht bestehen kann – unabhängig davon, dass
derartige Beurteilungen nicht der EU zustehen. Die Pipeline-Richtlinie senkt in jedem Fall für
LNG den Schwellenwert zur Rentabilität, d.h. die Preis- bzw. Kostendifferenz.

Und es gibt noch einen Aspekt: Die Produktion der Gasfelder Jamal und Gydan (einschl. der
von Jamal LNG und Artic LNG-2) wird wahrscheinlich zu 80 % nach Asien und zu 20 % nach
Europa exportiert werden. Wenn zu diesen 20 % auch der Gasexport über Nord Stream2
gehört, dann geht die faktische Reduktion der Leitungskapazität der Pipeline um 7,5 bis 10 %
auch quantitativ zu Lasten Deutschlands und erhöht zugleich das Potential für Frankreich,
das es gegen hohe Gebühren (vergleichbar zu Polen und der Slowakei) nach Deutschland
liefern könnte. Die EU-Richtlinie schafft dann derart eine Umverteilung. Der Nationalstaat
Frankreich gewinnt mit einer EU, in der Nationalstaaten eine Mehrheit haben. Mit der
schnellen Übernahme der Richtlinie in deutsches Recht stärkt die Regierung Merkel
derartige nationalstaatliche und nationalistische Interessen von Regierungen.

III. Angestrebte Weltpolitikfähigkeit der EU
III.1.
Die US-Sanktionen spielen in der gegenwärtigen Diskussion keine besondere Rolle, obwohl
die deutschen Behörden nahezu tägliche „Drohungen“ erhalten. Einerseits spielt die
Bundesregierung auf Zeit und erhofft sich von einem Demokraten als Präsidenten eine
bessere Position – hier liegt aber eine (bewußte?) Fehleinschätzung vor. Andererseits ist von
der Bundesregierung keine an nationalen Interessen ausgerichtete Politik zu erwarten und
damit kein Signal zur Vollendung der Pipeline. Das geopolitische Interesse der EU ist das
Interesse deutscher Politik. Scheinbar erwartet Deutschland eine Unterstützung durch die
EU in der Zurückweisung der US-Erpressungen (Sanktionen) bzgl. Nord-Stream2 und diese in
Form der Vollendung von Nord Stream2 ignoriert. Ansonsten wird die angestrebte
Weltpolitikfähigkeit der EU unglaubwürdig. Wahrscheinlicher aber ist, dass die EU die
Vollendung nicht unterstützt, sowenig wie man den Iran faktisch unterstützt hat trotz der
großmündigen Worte.
Die deutsche Zurückweisung der US-Sanktionen stärkt zugleich die EU wie es unmittelbar die
Erweiterung der EU-Binnengasmarktrichtlinie zeigt und damit auch die Rolle Frankreichs.
Diese haben sofort über die Regulierung den Preis für das Pipeline-Gas bzw. die Kosten der
Pipeline erhöht und zugleich auch die der momentan zu erwartenden US-Sanktion. Kanzlerin
Merkel wird diese zusätzlichen Kosten durch die Richtlinie akzeptieren – in Erwartung einer
Unterstützung durch EU und Frankreich für Nord Stream2 als Demonstration einer EU-
Weltpolitik während der deutschen Ratspräsidentschaft. Hier spielen, wie bei bei allen ihren
„spontan“ verkündeten Entscheidungen ökonomische Kosten keine Rolle – das politischen
Primat geht stets davon aus, dass die Wirtschaft sich anpassen muß oder dass abgehoben,
im Sinne eines pluralis majestatis ein „es ist alternativlos“ oder „wir schaffen es“ gilt.

Wenn die Erwartungen aber nicht erfüllt werden, was zu befürchten steht, und Nord-
Stream2 ganz scheitert, dann hat Deutschland hohe finanzielle Verluste zu tragen. Die sog.
Energiewende in Deutschland mit dem gleichzeitigen Ausstieg aus der Kernenergie und der
Kohleverstromung war dann in der praktizierten Form ein großer Fehler. Sie ist dann letztlich
eine Maßnahme zur nachhaltigen De-Industrialisierung des Standortes Deutschland und
einem sich an den EU-Wert annähernden (niedrigeren) BIP/Kopf in Deutschland geworden.
Auch die Aussichten auf die Entwicklung des „Wasserstoff-Standortes Deutschland“ trüben
sich weiter ein. Zugleich erfährt Deutschland einen Verlust an Reputation und Zuverläßigkeit.

Mit Nord-Stream2 ginge dann eine erreichbare Stabilität im Sinne eines Neuaufbaus einer
nachhaltigen Wirtschaft sowohl für Deutschland und die EU, aber auch für Rußland verloren.
Verloren gehen dann die mit Nord-Stream2 verbundenen festen, kalkulierbaren
Energiekosten (Deutschland) und –einnahmen (Rußland).
Zur Erreichung der Klimaziele bzw. der sog. Klimaneutralität Deutschlands sind dann starke
Staatseingriffe via Regulierungen erforderlich im Bereich Verkehr und Infrastruktur sowie im
Bereich Immobilien und Wohnen mit hohen Belastungen für die Bürger. Dass dann
offenbare Scheitern der deutschen Energiewende wird durch eine Vielzahl teurer
Programme überdeckt. Betont wird dabei dann das Bemühen um eine angestrebte EU-
Harmonisierung. Sie erfolgt auch über Steuererhöhungen spätestens ab 2022 auch in Folge
der jetzigen überhöhten Neuverschuldung durch die Corona-Hilfsprogramme. Das reale
verfügbare Pro-kopfeinkommen wird sinken.

Vergleichbares gilt auch für Rußland. Einerseits steigt der Druck zu einer weiteren
Abwendung von Europa und Orientierung hin nach Asien. Die mit der Ruine von Nord
Stream2 wegfallen kalkulierbaren Einnahmen und entstehenden Vermögensverluste
belasten den in Teilen sichtbaren erfolgreichen Strukturwandel hin zu einer Diversifizierung
der Wirtschaft zusätzlich zu den bestehenden Sanktionen seitens der USA und EU. Die
Möglichkeiten eines Aufbaus einer klimaneutralen Wirtschaft in Rußland werden geringer.
Diese schädigt nicht nur das Klima global, sondern belasten die Menschen in der Russischen
Föderation zusätzlich. Ihre Lebenssituation wird sich dadurch tendentiell verschlechtern.

III.2.
Für viele EU-Politiker i.w.S. besteht ein absolutes Ziel in der sog. Weltpolitikfähigkeit der EU,
die u.a. als demonstrierte Fähigkeit zur Verhängung von Sanktionen verstanden wird. Aber
Sanktionspolitiken der EU erfordern Einstimmigkeit.

Und hier zeigt sich durchaus strategisches Denken von Kanzlerin Merkel. In Art einer
Instrumentalisierung der Corona-Krise wurden riesige Wirtschaftsprogramme mit hohen
Schuldenaufnahmen beschlossen: für Deutschland für 2020 rd. 240 Mrd. € und für 2021
knapp 100 Mrd. € sowie für die EU von über 750 Mrd. € bei einer vergemeinschafteten
Kreditaufnahme und Haftung. Die Schuldenquoten steigen massiv.

Faktisch schafft dieses Hilfsprogramm in der Zeit einer zweiten Corona-Welle einen starken
Druck insbes. auf die EU-Länder, die auf Transfers angewiesen sind, Sanktionen und damit
weltpolitische Maßnahmen der EU mitzutragen. Zeitgleich wurden Rechtstaatlichkeits-
prinzipien der EU in internen Streitverfahren aufgeweicht, um eine Spaltung der EU zu
verhindern. Aber insgesamt ergibt sich eine Art von Verknüpfung: Hilfen bzw.
Finanztransfers gibt es für alle (oder keinen) nur bei gleichzeitiger Zustimmung aller zu den
Sanktionen.

Und schon wird so Weltpolitikfähigkeit der EU durch die Verhängung von Sanktionen gegen
Weißrußland bzw. ausgewählte weißrussische Bürger demonstriert. Und die nächste
Demonstration der Weltpolitikfähigkeit der EU scheint mit dem Fall Nawalny in Vorbereitung
zu sein. Dabei sind Sanktionen seit Jahrzehnten typische Instrumente der USA im Sinne eines
Wirtschaftskrieges. Die EU scheint den USA als ein Vorbild für Sanktionspolitiken jetzt zu
folgen. Dann wird der politische Wert einer derartigen Demonstration bzw. Sanktion höher
eingeschätzt als der der eigenen ökonomischen Verluste – hier auch aus dem schleichenden
Aus für Nord Stream2.

Derartige Sanktionen sind aber auch Elemente eines „Kalten Krieges“ und Folge von politisch
zementierten nationalen sog. Traumata und übergeordneten Werten. Sie führen zu
ständigen Abgrenzung und zu einer Spaltung des Welthandels und damit zu festungsartigen
Hemisphären, d.h. zurück in die Sichtweisen der Vergangenheit. Entgegen allen häufig
gehörten Aussagen von Politikern führt der freie, nicht staatlich (durch Verbote, Sanktionen,
Staatshilfen usw.) gelenkte globale Handel zu Verständigung und Wohlfahrtssteigerungen in
allen Nationen. Ein Aus für Nord Stream2 wäre schon deshalb ein Fehler, der aufgrund von
aktuellen politischen Plausibilitäten erfolgt. Der Verlust bestünde aber nicht nur in Höhe von
vielen Milliarden Euro, sondern auch in der Zerstörung eines trotz der Kriege historisch
gewachsenen Grundverständnisses einer Zusammengehörigkeit in Rußland und Deutschland
bzw. in Rußland und dem Rest von Europa. Dieses steht bei dieser Weltpolitik auf dem Spiel.
Wahrscheinlich werden nach Corona auch viele Veränderungen in der Geopolitik erfolgt
sein.                                                                 W.F.,Stand: 1.10.2020
Sie können auch lesen