Stellungnahme zum Referentenentwurf des Gesetzes zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn
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Stellungnahme zum Referentenentwurf „Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn“ 02. Februar 2022 Stellungnahme zum Referentenentwurf des Gesetzes zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn Der evangelische Fachverband Arbeit und soziale Integration (EFAS) e.V. vertritt die Interessen von ca. 400 evangelischen und diakonischen Beschäftigungs- und Qualifizierungsträgern, Integrationsprojekten nach § 132 SGB IX und Jugendberufs- hilfeträger in der Bundesrepublik Deutschland. Der Verband und dessen Mitglieder haben sich schon Jahre vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns mit der Thematik und möglichen Auswirkungen auseinandergesetzt. Dabei steht nicht nur die Frage der gerechten Entlohnung im Arbeitssystem, sondern auch der Blickwinkel der erwerbslosen Menschen im Fokus. Der EFAS wird sich im Wesentlichen zu dem Aspekt der Erhöhung des Mindestlohns äußern. Im Überblick kommen wir zu folgenden Bewertungen des Gesetzentwurfes: 1. Allgemeines: Der EFAS begrüßt die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns. 2. Markteintrittsbarrieren: Die Höhe von 12,- Euro Stundenlohn bewirkt bei vielen hunderttausend Menschen, die im ALG II Bezug Langleistungs- beziehende sind, aber auch bei den besonders betroffenen Schwerbehinderten Menschen nach § 155 SGB IX, die Abkoppelung der ökonomischen Leistungsfähigkeit von der Entlohnung. Damit entstehen neue Eintrittsbarrieren für langzeitarbeitslose und schwerbehinderte Menschen mit besonderer Betroffenheit. Hier fehlen Lösungsansätze im vorliegenden Entwurf. Teilweise betrifft dies auch Sachverhalte und Regelungen auf Länderebene. 3. Mindestlohn ohne sozialen Arbeitsmarkt wirkt ausgrenzend: Bislang wird der Aspekt „Abbau von entstehenden Markteintrittsbarrieren“ im Referentenentwurf nicht mit berücksichtigt. Abhilfe schafft ein adäquater Beschäftigungssicherungszuschuss für Menschen nach § 155 SGB IX, sowie ein Beschäftigungszuschuss nach § 16i SGB II. 4. Der Zeitpunkt der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12,- Euro Stundenlohn ist aus unternehmerischer und betriebswirtschaftlicher Sicht ungünstig gewählt. Viele Inklusionsunternehmen haben als Dienstleister oder „verlängerte Werkbank“ Jahresverträge mit Unternehmen abgeschlossen. Die meisten Kalkulationen beinhalten den erhöhten Lohn nicht in der Steigerungsrate. 5. Der Anteil der aufstockenden Hilfe und der Fallzahlen im SGB II wird bei der nennenswerten Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns sinken. Mit den zusätzlichen Mitteln entsteht ein neuer finanzieller Spielraum beim Bund und den Kommunen. Eine zusätzliche finanzielle Belastung hingegen entsteht bei den Integrationsämtern, die die Gelder aus der Ausgleichsabgabe und nicht aus Steuermitteln speisen. Der Bund ist 1
Stellungnahme zum Referentenentwurf „Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn“ 02. Februar 2022 aufgefordert zu klären, wie durch die Integrationsämter durch Verschiebung von Mitteln die Mehrbelastung ausgeglichen werden kann. 6. Es entstehen Risiken bei erfolgreichen Klagen gegen den Entwurf: Der Entwurf beinhaltet anders als bei dem „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie 2014“ keine Übergangsregelungen bei bestehenden Tarifverträgen. Dieses ist ein Einfallstor für Klagen mit unklaren Erfolgsaussichten. Bei einer erfolgreichen Klage entstehen Risiken, die auf die Sozialunternehmen und Träger zukommen. Diese gilt es zu vermeiden. Allgemeines Der EFAS begrüßt die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, der unabhängig von Regionen und der Art der Tätigkeit bzw. von der ausübenden Person ist. Nicht nur aus christlicher Perspektive, sondern auch aus volkswirtschaftlicher Sicht, ist der Ansatz „von seiner Hände Arbeit leben zu können“ richtig. Mit der Erhöhung auf 12,- Euro Stundenlohn wird dem Gerechtigkeitsgefühl in großen Teilen der Gesellschaft Rechnung getragen. Dennoch wird mit der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns die Armutsgrenze auf Basis des EU Standards (60% des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens) nur für Einzelhaushalte erreicht. Alleinerziehende mit Kind liegen bei einer Vollzeitstelle knapp unter der Armutsgrenze, aber über dem Anspruchsniveau des ALG II und sind somit auf Wohngeld angewiesen. Neben der weltwirtschaftlichen Entwicklung hat die Schwäche der Tarifpartner zur Notwendigkeit eines allgemeinen Mindestlohns geführt. Den Tarifpartnern fehlt seit Jahren die Kraft (vielleicht auch der Wille), Lohngrenzen nach unten abzusichern. Politische Entscheidungen der Vergangenheit, z.B. die Stärkung der Minijobs und die Erhöhung der Anrechnungsfreigrenze bei ALG II Beziehenden, haben den Druck auf die volkswirtschaftliche Lohnuntergrenze erhöht. Mit der erheblichen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns treten als Reaktion zwangsläufig Begleiterscheinungen auf, gegen die im Vorfeld gesteuert werden muss, wenn die Erhöhung nicht zu unerwünschten sozial ausgrenzenden Effekten führen soll. Markteintrittsbarriere Die Höhe von 12,- Euro Stundenlohn macht bei vielen hunderttausend Menschen, die im ALG II Bezug Langleistungsbeziehende sind, aber auch bei den besonders betroffenen Schwerbehinderten Menschen nach § 155 SGB IX, durch die weitergehende Abkoppelung der ökonomischen Leistungsfähigkeit von der Entlohnung, den Markteintritt unwahrscheinlicher. Damit entwickelt sich der gesetzliche Mindestlohn für leistungsschwächere Menschen zu einer noch größeren Markteintrittsbarriere. Es gibt heute schon zahlreiche Menschen, bei denen der 2
Stellungnahme zum Referentenentwurf „Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn“ 02. Februar 2022 Entlohnung keine ausreichende wirtschaftliche Leistung gegenüber steht. Dieser Aspekt wird sich verstärken. Mindestlohn ohne sozialen Arbeitsarbeitsmarkt wirkt gesellschaftlich ausgrenzend Das bisherige System sieht für Arbeitgeber, die Menschen im SGB II Bezug beschäftigen, einen befristeten Eingliederungszuschuss oder einen Beschäftigungs- zuschuss nach § 16i SGB II vor. Für Menschen, die nach § 155 SGB IX besonders betroffen sind, besteht die Möglichkeit, dass der Arbeitgeber einen Beschäftigungssicherungszuschuss aus Mitteln der Ausgleichsabgabe über die Integrationsämter, die in die Hoheit der Bundesländer fallen, zur Sicherung des Arbeitsverhältnisses erhält. Der Zuschuss für die Arbeitgeber soll die Lücke, die durch das Auseinanderfallen der ökonomische Leistungsfähigkeit und der Entlohnung entsteht, schließen. Im SGB II hat der Bund die Möglichkeit, entsprechend angemessene Mittel über die Haushaltsplanung für die Jobcenter bereitzustellen. Bei einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns wird dieses notwendig sein. Ohne es valide nachrechnen zu können, erscheint die unter dem Punkt „D. Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand“ benannte Mehrbelastung von 4,41 Millionen Euro deutlich zu niedrig gegriffen zu sein. Für die besonders betroffenen Menschen mit Schwerbehinderung wird in den meisten der 16 Bundesländer ein prozentualer Beschäftigungssicherungszuschuss von bis maximal 30% der Bruttoarbeitgeberkosten gewährt. Für viele Menschen mit erheblichen Einschränkungen ist trotz des Zuschusses die Hürde für den Markt- eintritt zu hoch. Die Hürde mit Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von aktuell 9,82 auf 12,00 Euro bei gleichbleibender Finanzierung durch die Integrationsämter (30% der Bruttoarbeitgeberkosten) umso höher. Statt bisher 8,25 Euro muss der besonders betroffene Mensch dann 10,08 Euro erwirtschaften, damit ein auskömmliches Arbeiten möglich ist. Wenn die Inklusionsämter bei der prozentualen Bezuschussung von max. 30% bleiben, ist die absolute Höhe für die Mitfinanzierung der Personalkosten des Arbeitsplatzes für die meisten Inklusionsunternehmen aber kaum leistbar. Die Steigerung ließe sich nur auffangen, wenn der Beschäftigungssicherungszuschuss prozentual erhöht werden würde. Dazu sind die Integrationsämter, die die Gelder aus der Ausgleichsabgabe speisen, kaum in der Lage. Eine Lösung könnte sein, dass der Bund auf seinen Anteil aus der Ausgleichsabgabe - wie beim Corona Teilhabefonds geschehen - verzichtet und somit den Spielraum bei den Integrationsämtern erhöht. Ebenso würde eine Anpassung der Schwerbehindertenverordnung, wie im Koalitionsvertrag in Randziffer 2596 und 2600 beschrieben, zeitgleich helfen. Damit für die Integrationsämter die Klarheit geschaffen wird, dass keine Gelder mehr für Werkstätten oder Wohngebäude aus der Ausgleichsabgabe gezahlt werden sollen, sondern die personenbezogene Individualförderung, die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zielt, Vorrang hat. 3
Stellungnahme zum Referentenentwurf „Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn“ 02. Februar 2022 Die Forscher des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Universität Mannheim haben festgestellt, dass eine Mindestlohnerhöhung auf 12,- Euro kurzfristig zu mehr Arbeitslosigkeit insgesamt führen kann.1 Eine Differenzierung bzgl. der ArbeitnehmerInnen war nicht Gegenstand des Forschungsdesigns. Aus unserer Erfahrung können wir aber sagen, dass ohne Ausgleichslösung für die Mehrbelastung der Integrationsunternehmen der Zugang zum Arbeitsmarkt für die Zielgruppe der besonders betroffenen schwerbehinderten Menschen nicht nur kurzfristig erheblich schwerer sein wird. Dieses gilt es unserer Auffassung nach zu verhindern. Zeitpunkt der Erhöhung Der Zeitpunkt der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12,- Euro Stundenlohn ist aus unternehmerischer und betriebswirtschaftlicher Sicht, ungünstig gewählt. Viele Inklusionsunternehmen haben als Dienstleister oder „verlängerte Werkbank“ Jahresverträge mit Unternehmen abgeschlossen. Die meisten Kalkulationen beinhalten den erhöhten Lohn nicht in der Steigerungsrate. Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes führt ohne die oben beschriebene Erhöhung des Beschäftigungssicherungszuschusses für die Inklusionsunternehmen zu einer zu hohen Belastung. Wenn die Anhebung und eine Abfederung wie oben beschrieben erfolgt, entfällt dieser Punkt. Mehreinnahme und Reduktion der Belastung des Bundes und anderer im föderalen System Es gibt mehrere Studien, die mittels Simulationsanalyse errechnet haben, wie die fiskalischen Effekte der Erhöhung des Mindestlohns sein werden. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Universität Mannheim hat einen Effekt von knapp 20 Mrd. Euro als Mehreinnahme berechnet2. Dabei wurde nicht unterschieden, wie sich die Mehreinnahme auf das föderale System verteilen. Da sich die Aufteilung der Lohn- und Einkommenssteuer gleichmäßig zwischen Bund und Länder jeweils auf 42,5% bemisst, werden die Länder ausreichend Spielraum haben, um mehr Wohngeld auszahlen zu können, wenn sich ein Wohngeldanspruch für Menschen aus dem SGB II Anspruch ergibt. Der Bund kann den Haushaltstitel des SGB II durch eine Erhöhung entsprechend sachgerecht ausgestalten. Zusätzlich wird der Stellenbedarf im SGB II durch die Abnahme der Fallzahlen reduziert. Hier wäre es wünschenswert mit dem Stellenpotential, das nach wie vor schlechte Betreuungsverhältnis bei den Fallmanagerinnen zu erhöhen. 1 Krebs, Drechsel-Grau; Mindestlohn von 12 EURO: Auswirkungen auf Beschäftigung, Wachstum und öffentliche Finanzen; Nr. 73 September 2021 Hans-Böckler-Stiftung; S. 18ff 2 Krebs, Drechsel-Grau; Mindestlohn von 12 EURO: Auswirkungen auf Beschäftigung, Wachstum und öffentliche Finanzen; Nr. 73 September 2021 Hans-Böckler-Stiftung; S. 16ff 4
Stellungnahme zum Referentenentwurf „Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn“ 02. Februar 2022 Da der Beschäftigungssicherungszuschuss der Integrationsämter nicht aus Steuermitteln der Länder finanziert wird, sondern aus der Ausgleichsabgabe des Bundes helfen die steuerlichen Mehreinnahmen der Länder hier nur bedingt, um einen wie oben beschrieben Ausgleichsmechanismus in Gang zu setzen. Hier kann eine Anpassung der Schwerbehindertenverordnung wie oben beschrieben greifen. Risiken bei erfolgreichen Klagen gegen das Gesetz Durch die fehlende Übergangsklausel in Bezug auf bestehende Tarifverträge, die nach dem 01.10.2022 Stundenlöhne, die unter 12,- Euro liegen, vereinbart haben, besteht die große Gefahr einer Klage, wie von den Arbeitsgeberverbänden öffentlich angekündigt. In Bezug auf die § 16i Förderung stellt sich die Frage der Mehrbelastung für die Arbeitgeber, da eine Rückforderung unmittelbar bei den geförderten Arbeit- nehmerInnen aufgrund der Pfändungsfreigrenze ethisch und moralisch nicht vertretbar ist. Wenn aber die BA von den Unternehmen den zuerst erhöhten Stundenlohn zurückfordert, tritt ein Problem auf. Dies hätte eine erhebliche Mehrbelastung bei den Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen zur Folge, in dessen Strukturen eine größere Anzahl an geförderten Menschen nach § 16i SGB II beschäftigt sind. Hier sollte der Gesetzgeber vorrausschauende Regelungen zur Vermeidung von Rückforderungen der BA bei einer gegebenenfalls erfolgreichen Klage treffen. Stuttgart, den 02. Februar 2022 Evangelischer Fachverband Arbeit und soziale Integration e.V. 5
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