Das kindliche Existenzminimum sichern!? und mögliche Handlungsoptionen - Beitrag zur Tagung des Bündnisses Kindergrundsicherung am 4. April 2011 ...
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Das kindliche Existenzminimum sichern!? … und mögliche Handlungsoptionen Beitrag zur Tagung des Bündnisses Kindergrundsicherung am 4. April 2011 in Berlin von Irene Becker
Übersicht I. Handlungsoptionen im Rahmen des SGB II bzw. SGB XII II. Verbleibende Probleme bzw. Unzulänglichkeiten III. Familienpolitische Handlungsoptionen - Kindergrundsicherung - Kinderzuschlag IV. Fazit
I. Handlungsoptionen im Rahmen des SGB II bzw. SGB XII – Empfehlungen für die Reform nach der Reform • Referenzeinkommensbereiche: - konsequente Vermeidung von Zirkelschlüssen (Prüfauftrag an das BMAS erteilt, Bericht bis Juli 2013 gefordert); - einheitliche Quantilsbildung (untere 20%). • Aufteilung der Haushaltsausgaben in kind- und erwachsenenspezi- fische Bedarfe: Überprüfung und Aktualisierung (Prüfauftrag an das BMAS erteilt, Bericht bis Juli 2013 gefordert). • Abgrenzung von regelleistungsrelevanten und nicht regelleistungs- relevanten Gütern: stärkere Einhaltung der „Strukturprinzipien des Statistikmodells“. • Sachleistungsprinzip bei Bildung und Teilhabe (Kostenerstattung): - Ausweitung bezüglich Nachhilfe; - Berechnung der monetären Leistung sollte unabhängig von den Sachleistungen erfolgen (Letztere können keine Substitute sein; Benachteiligung von Kindern mit „anderen“ Hobbys vermeiden!).
II. Verbleibende Probleme bzw. Unzulänglichkeiten – auch bei methodischen Weiterentwicklungen und „Nach- besserungen“ der Grundsicherungsreform 2011 Komplexes System mit Abweichungen zwischen steuerrechtlichem (FLA) und sozialrechtlichem Existenzminimum und vielfältigen Leis- tungen mit unterschiedlichen Anspruchsvoraussetzungen Ungleichbehandlung von Kindern: Staatliche Unterstützung abhängig • von der Höhe der vorrangigen Einkommen: Sprungstellen, keine durchweg degressive Unterstützungshöhe. • und zudem selbst bei gegebenem vorrangigen Einkommen - vom Erwerbsstatus der Eltern, - von der Vermögenssituation, - vom Verhalten der Eltern, - von den eigenen Begabungen und Interessen.
Kindliches Existenzminimum: Sozialrecht und Steuerrecht Existenzminimumbericht SGB II / SGB XII als Basis für EStG Regelleistung - 215 € (u6) - 251 € (6 bis 13) sächliches Existenzminimum - 287 € (ab 14) (durchschnittliche Regelleistung zuzüglich KdU, die laut BA-Statis- ohne Altersdifferenzierung incl. tik sehr stark regional und in Ab- KdU-Pauschale) hängigkeit von HH-Typ und Rang- zahl des Kindes (Kostendegres- + pauschaler Betreuungs-, Erzie- sion) schwanken; hungs- und Ausbildungsaufwand gegebenenfalls zuzüglich Schulbe- darfspaket: 8,33 € p. M., Zuschuss zu Mittagessen in Kita/Schule: 2 €, Siebter Existenzminimumbericht, zu Vereinsbeitrag: 10 €, Lernförde- Beträge 2010: 322 € (> KiG) rung; + 180 € = 502 € gegebenenfalls zuzüglich Mehrbe- darfe. Faktische Kinderfreibeträge gehen darüber hinaus: 584 €!
Kindliches Existenzminimum: Sozialrecht und Steuerrecht Existenzminimumbericht SGB II / SGB XII als Basis für EStG Beispiele Brandenburg an der Havel sächliches Existenzminimum - 3. Kind (u6) einer Paar-Familie: (durchschnittliche Regelleistung 266 € (KdU: 51 €) + 12 €? ohne Altersdifferenzierung incl. - 1. Kind (u6) einer Alleinerziehen- KdU-Pauschale) den: 442 € (incl. MBZ 131 €; KdU: 96 €) + 12 €? + pauschaler Betreuungs-, Erzie- München Stadt hungs- und Ausbildungsaufwand - 3. Kind (15) einer Paar-Familie: 352 € (KdU: 57 €) + 12 €? Siebter Existenzminimumbericht, - 1. Kind (15) einer Alleinerziehen- Beträge 2010: 322 € (> KiG) den: 465 € (KdU: 170 €) + 12 €? + 180 € = 502 € gegebenenfalls zuzüglich indivi- dueller Mehrbedarfe. Faktische Kinderfreibeträge gehen darüber hinaus: 584 €!
Beispiel 1: Ehepaar (30 Jahre alt) mit zwei Kindern zwischen 6 und 13 Jahren, Nettoeinkommen der Eltern 560 € - welches Haushalts- nettoeinkommen ergibt sich im Status quo (Rechtsstand 2011)? Elterliches Vermögen Einkommen aus … < 11.2501 = 12.000 1.985 + 2 * 8,33 € … Erwerbstätigkeit (+ 2 * 10 € + 2 * 2 €) ≈ 2.002 € (+ 24 €) 928 € 1.765 + 2 * 8,33 € … Nichterwerbstätigkeit (+ 2 * 10 € + 2 * 2 €) ≈ 1.782 € (+ 24 €) Nicht-Inanspruchnahme 928 € - der SGB II-Leistung2 1 (30 * 150 € * 2) + (3 * 750 €) = 9.000 € + 2.250 € 2 z. B. wegen falscher Informationen über Anspruchshöhe oder Vermögensfreibeträge oder wegen Ängsten vor dem Druck durch Behörde, mangelndem Durchsetzungsvermögen
Beispiel 2: Ehepaar (30 Jahre alt, Geldvermögen < Freibetrag) mit zwei Kindern zwischen 6 und 13 Jahren - welches Haushalts- nettoeinkommen ergibt sich im Status quo (Rechtsstand 2011)? Elterliches Erwerbs- Inanspruchnahme Kiz / WoG einkommen ja nein 2.277 € + 2 * 8,33 € - 2.200 € brutto (+ 2 * 10 € + 2 * 2 €) 2.031 € - 1.663 € netto ≈ 2.294 € (+ 24 €) - 2.400 € brutto 2.188 € + 2 * 8,33 € - 1.786 € netto (+ 2 * 10 € + 2 * 2 €) 2.154 € (Wegfall des Kiz) ≈ 2.205 € (+ 24 €) - 2.500 € brutto - 1.846 € netto 2.214 € - (Wegfall des WoG)
Zur Inanspruchnahme von Kinderzuschlag und Wohngeld (Haushalte in 1.000): amtliche Statistik (tatsächliche Inanspruchnahme), IAB-Simulation (alle Berechtigte) und Nichtinanspruchnahme(quote) Transfer- alle Nicht- empfänger Berechtigte inanspruchnahme Amtliche IAB-Simu- absolut -quote Daten (1) lation (2) (3 = 2 - 1) (3/2) Kinderzuschlag ab 10/08 103 (04/09) 310 207 67% Wohngeld bis 12/08 545 (12/07) 1.588 1.043 66% Quelle zu (2): Feil, Michael, Jürgen Wiemers (2008): Höheres ALG II und Kindergrundsicherung. Teure Vorschläge mit erheblichen Nebenwirkungen, in: IAB-Kurzbericht 11/2008, Nürnberg. Nachrichtlich zur Grundsicherung für Arbeitsuchende: Nichtinanspruchnahme(quote) nach eigener Schätzung für 2007 - ca. 4,9 Mio. Personen (41% bis 45%) insgesamt, - darunter ca. 3,2 Mio. Personen in 0,9 Mio. BG‘s mit Kindern (39% bis 43%).
Empfänger/innen von ALG II bzw. Sozialgeld in Mio. – Statistik der BA, Dezember des jeweiligen Jahres – begrenzte Aussagefähigkeit 8 Quote: 7 7,1 ca. 10% (West: 8,6%, 6,5 Ost: 16,6 %) 6 5 insgesamt 4 unter 15 J. 3 Quote: ca. 16% 2 1,8 1,7 1 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Einfluss von Verordnungen der BA, Gerichtsentscheidungen auf - Zahl der Anspruchsberechtigten, - Inanspruchnahmeverhalten ???
FLA oberhalb der bedarfsabhängigen Transfers: Ehepaar mit zwei Kindern zwischen 6 und 13 Jahren (Rechtsstand 2011) Bruttoerwerbseinkommen Staatliche Förderung (Haushaltsnettoeinkommen) p. M. (FLA) für zwei Kinder 2.500 € (2.214 €) 368 € 3.500 € (2.775 €) 368 € 5.500 € (3.966 €) 368 € 6.000 € (4.311 €) 381 € 7.000 € (4.987 €) 415 € 9.000 € (6.252 €) 483 € 11.000 € (7.403 €) 518 € ab 44.000 € (25.768 €) 555 €
Gesamttransfer aus ALG II/Sozialgeld, Kindergeld (2009), Wohngeld, Kinderzuschlag und kindbedingten Freibeträgen (2009) bei Ehepaaren mit zwei Kindern (u6) nach dem Bruttoerwerbseinkommen Annahme: 100%ige Inanspruchnahme von Transfers 1800 1600 Minijob-Grenze sächliches 1400 Existenzminimum + BEA-Aufwand 1200 (502 € * 2) 1000 Status quo KiZ-Höchstein- ohne KiZ 800 kommensgrenze 600 Effekt der Freibeträge 445 € 400 328 € sächliches Existenzminimum (322 € * 2) 200 Wohngeldgrenze 0 100 600 1100 11100 10100 10600 11600 1600 2100 2600 3100 3600 4100 4600 5100 5600 6100 6600 7100 7600 8100 8600 9100 9600 Bruttoarbeitseinkommen p. M. hoher impliziter Steuersatz
III. Familienpolitische Handlungsoptionen: aktuelle Vorschläge Kindergrundsicherung: Sicherung des Existenzminimums jedes Kindes durch einen familienpolitischen Transfer unter Berücksichtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Eltern KiG_ESt 502 € (Freibetragssumme im Freibeträge, Kinderzuschlag, Status quo 2009) zur Gewähr- Sozialgeld, weitere kindbedingte leistung des sächlichen Existenz- Transfers (Transferanteile) ent- minimums und des Betreuungs-, fallen; bei hohen Wohnkosten Erziehungs- und Ausbildungs- weiterhin WoG bzw. Berücksichti- aufwands gung im Rahmen von ALG II. Kinderzuschlagsreform: Familien sollen aus Hartz IV herausgeholt werden. KiZ_r KiZmax= 200 € (unter 6 Jahre) Wegfall Höchsteinkommensgren- 236 € (6-13 Jahre) ze, Verringerung Mindesteinkom- 272 € (14+ Jahre) mensgrenze um 100 €; Kindergeld + KiZmax: Einkommensanrechnung 50% bei 384 / 420 / 456 € Erwerbseinkommen (unverän- (Erst- und Zweitkinder) dert) bzw. 70% bei Nichterwerbs- einkommen (statt 100%).
Gesamttransfer bei Ehepaaren mit zwei Kindern (u6) nach dem Bruttoer- werbseinkommen: Status quo und Reformvarianten VOR Gegenfinanzierung 2500 2000 fakt 1500 fakt_okiz KiG_ESt KiZ_r 1000 exmin_sgb2 500 0 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 10 0 0 0 10 0 11 0 0 0 10 70 30 90 50 13 19 25 31 37 43 49 55 61 67 73 79 85 91 97 Bruttoarbeitseinkommen
Verfügbares Einkommen von Ehepaaren mit zwei Kindern (u6) nach dem Bruttoerwerbseinkommen, unterer Einkommensbereich: Status quo und Reformvarianten VOR Gegenfinanzierung 3300 3100 2900 2700 WoG-Grenze exmin_sgb2 2500 fakt KiG_ESt 2300 KiZ_r 2100 1900 1700 1500 0 0 0 0 0 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 10 30 50 70 90 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 Bruttoarbeitseinkommen
Wesentliche Vor- und Nachteile der familienpolitischen Optionen Kindergrundsicherung Kinderzuschlagsreform Pro: Pro: • Einheitliches Existenzminimum in • Förderung der prekären und un- EStG und Sozialrecht entspricht teren Mittelschicht; - Gleichheitsgrundsatz (Lenze) • evt. Abbau verdeckter Armut; - vertikaler Gerechtigkeit; • Vermeidung von Bruchstellen; • Verringerung der Komplexität • kurzfristig umsetzbares Konzept des Transfersystems Bürokra- - begrenzte Kosten (2 - 5 Mrd. €), tieabbau; - geringer Regelungsbedarf. • systematische Bekämpfung ver- Contra: deckter Armut, Förderung auch der prekären und Mittelschicht; • Dualer FLA bleibt bestehen; • Abbau von Inkonsistenzen. • keine Verbesserung für die meis- ten Kinder im SGB II-Bereich; Contra: • weiterhin Kumulation von Trans- • Hohe Kosten (ca. 30 Mrd. €); ferentzugsraten; • Reformbedarf in vielen Details; • Verhaltensreaktionen ungewiss. • besondere Maßnahmen zum Ab- bau verdeckter Armut nötig.
Armutsquoten (Grenze: 50% des arithmetischen Mittels) – Status quo und Reformmodelle* 25 21,6 20 18,718,3 16,5 14,5 15 12,912,6 13,1 12,8 12,011,4 11,010,7 9,8 10 7,7 5 3,3 0 insgesamt
Offene Fragen bzw. konzeptionelle Weiterentwicklungsmöglichkei- ten zur Kindergrundsicherung, z. B. • Wie kann eine gerechte Finanzierung erreicht werden? Vor- schläge vom Bündnis sind zu prüfen und auszuarbeiten! • Ausmaß der Pauschalierung: Differenzierung nach dem Alter? Differenzierung nach der Rangzahl der Kinder wegen HH-Größen- ersparnissen (Wohnkosten)? Entsprechende Änderungen wären auch im Steuerrecht notwendig; Kostenreduzierung möglich! • Relevanter Einkommensbegriff: Vermeidung der Ausnutzung der Gestaltungsmöglichkeiten bei der Einkommensteuer für das Netto- Kindergeld durch modifizierten Einkommensbegriff – z. B. in Anleh- nung an § 14 WoGG – zur Ableitung des auf das Kindergeld anzu- wendenden Steuersatzes. • Steuersatz bei getrennt veranlagten Eltern: Sollte hier ein gewich- teter Durchschnitt der elterlichen Steuersätze gebildet werden? Wie wird im Falle einer Abschaffung des Ehegattensplittings verfahren? • Konstruktion eines eigenen Tarifs für die Besteuerung des Kinder- geldes, so dass der Transfer schneller abgeschmolzen wird? Kostenreduzierung durch geringere Begünstigung der Mittelschicht!
Offene Fragen zur Kinderzuschlagsreform, z. B. • Wie sind die begrenzten Kosten von 2 bis 5 Mrd. € zu finanzieren (Abhängigkeit von der Inanspruchnahmequote) ? vergleichsweise geringes Problem! • Wie kann eine deutlich höhere Inanspruchnahme als bisher erreicht werden? Vereinfachung des Antragsverfahrens, Informationskam- pagnen, Unterstützung bei der Beantragung! • Ist es zu rechtfertigen, dass Kinder je nach Einkommenskonstella- tion ihrer Eltern unterschiedlich behandelt werden? - Problem 1: In Kombination mit Wohngeld höhere Förderung knapp oberhalb der SGB II-Schwelle! - Problem 2: Bei gleichem vorrangigen Einkommen geringere Förde- rung bei Nichterwerbstätigen Eltern(teilen)!
IV. Fazit • Selbst im Falle einer Nachbesserung der Grundsicherungsreform 2011 verbleiben Probleme des komplexen Systems, die durch eine vorrangige Kindergrundsicherung außerhalb des SGB II / XII, teil- weise schon durch eine Kinderzuschlagsreform gelöst bzw. redu- ziert werden könnten. • Mit gut 4 Mrd. € für einen weiterentwickelten Kinderzuschlag können - die Kinderarmutsquote um 4 bis 5 Prozentpunkte gesenkt werden; - Bruchstellen im System vermieden werden. • Eine Kindergrundsicherung, könnte darüber hinaus verdeckte Armut von Kindern systematisch ausschalten und alle Familien bis in die obere Mittelschicht begünstigen, würde aber zu erheblichen Steuer- erhöhungen führen; sie ist daher erst mittelfristig umsetzbar, im Ver- gleich zu anderen Modellen aber das stimmigere Konzept: - Abbau von Inkonsistenzen der derzeitigen Transfervielfalt; - stärkere, sich mit steigender steuerlicher Leistungsfähigkeit kon- tinuierlich entwickelnde Umverteilung „von oben nach unten“; - positive Effekte auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage.
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