Therapie mit schweren Nebenwirkungen - Corona und die Folgen für Welternährung und Weltgesundheit von Stig Tanzmann - kritischer ...

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Der kritische Agrarbericht 2021

( Schwerpunkt »Welt im Fieber – Klima & Wandel«

Therapie mit schweren Nebenwirkungen
Corona und die Folgen für Welternährung und Weltgesundheit

von Stig Tanzmann

                       Die Corona-Krise hat schwerwiegende Folgen für die Ernährungssituation der Menschen in den
                       ärmsten Ländern. Die Pandemie lässt mehrere hundert Millionen Menschen kurz oder langfristig
                       hungern – und das Ziel der Völkergemeinschaft, bis 2030 den Hunger auf der Welt zu überwinden,
                       in unerreichbare Ferne rücken. Die Auswirkungen der Krise treffen vor allem ohnehin bereits margi-
                       nalisierte und vulnerable Gruppen. Die Schließung lokaler Märkte führt dazu, dass Kleinbäuerinnen
                       und -bauern weder ihre Produkte verkaufen noch selber Nahrungsmittel erwerben können. Beson-
                       ders betroffen sind hunderte Millionen Schulkinder, die keine tägliche Mahlzeit mehr in den Schu-
                       len bekommen. Insgesamt verschärft die Pandemie vor allem im globalen Süden die Probleme des
                       derzeitigen Agrar- und Ernährungssystems. Der vorliegende Beitrag stellt diese Zusammenhänge
                       dar und kritisiert vor allem, dass bei der Bekämpfung der Pandemie die industriellen Ernährungs-
                       systeme gestärkt, die lokalen Handels- und Vermarktungswege der Kleinbäuerinnen und -bauern
                       hingegen weiter geschwächt werden. Auch auf Ebene der Vereinten Nationen werden im Vorfeld
                       des 2021 anstehenden Food Systems Summit die Weichen falsch gestellt – wogegen sich bereits
                       Widerstand in der Zivilgesellschaft regt.

Seit 2014 steigen die Zahlen der hungernden Men-                zu müssen, war dramatisch und kann zu Entwick-
schen weltweit von Jahr zu Jahr wieder an (Abb. 1).1            lungsproblemen geführt haben.
2019 litten 690 Millionen Menschen chronisch an
Hunger, zehn Millionen mehr als im Vorjahr. Das                 Von den lokalen Märkten abgeschnitten
heißt: Jeder elfte Mensch hungert – in den Ländern
Afrikas südlich der Sahara sogar jeder fünfte. 144              Aber auch für viele Bäuerinnen und Bauern war die
Millionen Kinder sind chronisch unterernährt. Wie               Einstellung der Schulessensprogramme während der
viele Menschen an Hunger sterben, ist nicht genau               Lockdowns ein tiefer Einschnitt. Für sie ist die Beliefe-
erfasst. Schätzungen gehen von jährlich neun Millio-            rung der Schulkantinen gerade mit frischen und leicht
nen Hungertoten aus. Ohne eine radikale Kehrtwen-               verderblichen Lebensmitteln eine zentrale Einkom-
de werden im Jahr 2030 – so die Prognose der UN                 mensquelle. Ohne Schulessen gab es auch für sie kein
– 840 Millionen Menschen Hunger leiden. Und jetzt               Einkommen, das teilweise dringend für den Zukauf
kommt zusätzlich noch Corona: Die Covid-19-Pande-               anderer Lebensmittel, aber auch für die Investition
mie bringt bis zu 132 Millionen weitere Menschen in             in landwirtschaftliche Produktionsmittel, gebraucht
akute Hungergefahr.                                             wurde.
Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus tra-                        In dieser Situation, von heute auf morgen wegen
fen und treffen die Schwächsten am härtesten.2 Ins-             eines von oben herab verhängten Lockdowns von den
besondere die harten Lockdowns im Frühjahr und                  lokalen Märkten abgeschnitten zu sein, befanden sich
Frühsommer 2020 haben viele arme Menschen welt-                 Millionen von Bäuerinnen und Bauern und insbeson-
weit hungern lassen. Stark betroffen waren Kinder: So           dere Menschen, die in den informellen Siedlungen der
hatten zeitweise 370 Millionen Kinder keinen Zugang             Länder des Südens leben. Gerade für sie waren häufig
mehr zu Schulessen. Für viele dieser Kinder war und             die informellen Märkte, auf denen lokales Obst, Ge-
ist diese Mahlzeit in der Schule die einzige verlässliche       müse, Fisch und Fleisch verkauft wurden, oder die
Mahlzeit am Tag. Mehrere Wochen auf sie verzichten              Straßenküchen die zentralen Orte der Lebensmittel-

102
Welthandel und Ernährung

  Abb. 1: Anzahl der Hungernden weltweit³

                                                                                                                             Mio.
                                                                                                                   ,
           ,                        Anzahl der chronisch hungernden Menschen weltweit (in Millionen)

                                        Anteil der chronisch hungernden Menschen an der Weltbevölkerung
                                        (in Prozent)
                                                                                                                             Mio.

                                                                                                        ,
            ,                                                                          ,
   ,                                                                                                                     Mio.
                                                                 ,

    

                                                                  ,
   ,
                                                                                                            …
                                                 

                                                                               

                                                                                                   
                                                                                     

                                                                                          
                                                                  
                                          

                                                      
                                   

                                                            
                    

                         

                              

                                                                          
           

                                                                                                                    
                                               

                                                                                    
                                                                               

                                                                                               
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                                                                 
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                                                                         
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                                   

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           

versorgung. Hier konnte man gesunde und nahrhafte                        Märkten zu transportieren. Dies führte wiederholt zu
sowie preiswerte Lebensmittel kaufen – ohne auf ver-                     der Situation, dass Händler*innen aufs Land fuhren;
gleichsweise teure, hochverarbeitete oder nur kalori-                    sie durften sich bewegen und den Bäuerinnen und
enreiche Nahrung zurückgreifen zu müssen.                                Bauern ihre Ernten zu Dumpingpreisen abkaufen,
   Obwohl es in den meisten Wohngebieten noch kei-                       um sie dann mit Spekulationsgewinnen in den gro-
ne Krankheitsfälle gab und die Gefahr durch Covid-19                     ßen Städten überteuert weiterzuverkaufen. Bisher
für ihre Bewohner*innen nicht spürbar war, wurde                         ist zwar die große Spekulation an den Börsen, im
weltweit vor allem darauf gesetzt, mögliche Infek-                       Gegensatz zur Ernährungskrise 2008/09, ausgeblie-
tionsketten durch rigide Ausgangsperren zu unterbre-                     ben. Aber lokal wurden sowohl Produzent*innen als
chen. Jegliche Aktivitäten außerhalb der Unterkünfte                     auch Konsument*innen Opfer von rücksichtslosen
wurden unterbunden und damit das Erwirtschaften                          Spekulant*innen, welche mit ihrem Verhalten den
von Einkommen für Tagelöhner und Tagelöhnerin-                           Hunger weiter verschärft haben.
nen unmöglich gemacht. Auch der informelle Le-                              Für viele Bäuerinnen und Bauern kam hinzu, dass
bensmittelhandel, der die städtische Bevölkerung mit                     sie ihre Felder nicht betreten konnten, da sie ihre
erschwinglichen Nahrungsmitteln und Gegenständen                         Häuser nicht verlassen durften. Dies hat dazu geführt,
des täglichen Bedarfs wie Seife und Feuerholz versorgt,                  dass in vielen Regionen der Welt und insbesondere in
wurde aus den Straßen verbannt. Dieses Vorgehen                          Afrika entweder die Ernte nicht eingebracht werden
führte in vielen Städten schon nach wenigen Tagen                        konnte und auf den Feldern verdorben ist und/oder
zu akutem Hunger. Auch die sozialen Auswirkungen                         die neue Aussaat nicht oder erst verspätet ausgebracht
der Ausgangssperren sind beträchtlich. Die kleinen                       werden konnte. Dieser Trend wurde im Herbst 2020
Wellblechbaracken, die in vielen informellen Siedlun-                    in Staaten wie Nigeria noch dadurch verschärft, dass
gen das Bild bestimmen, sind nicht drauf ausgelegt,                      das, was ausgesät wurde, von klimawandelbedingten
dass ganze Familien für viele Tage auf engstem Raum                      Überschwemmungen vernichtet oder stark beschädigt
zusammenleben. Berichtet wird von einer massiven                         wurde.
Zunahme häuslicher Gewalt.4                                                 Als besonders verletzlich haben sich die landwirt-
                                                                         schaftlichen Systeme herausgestellt, die mit dem
Felder betreten verboten                                                 Ansatz der Grünen Revolution, welcher vor allem in
                                                                         Afrika in den letzten 15 Jahren stark propagiert wur-
Gerade in Afrika waren viele Produzent*innen massiv                      de, arbeiten und vor der Aussaat erst einmal Saatgut
von harten Lockdowns betroffen. In 33 afrikanischen                      und Düngemittel beschaffen mussten. Aufgrund der
Ländern haben staatliche Maßnahmen Bäuerinnen                            Einschränkungen im Handel durch die Corona-Ge-
und Bauern daran gehindert, Lebensmittel zu den                          genmaßnahmen erreichten diese Betriebsmittel die

                                                                                                                                       103
Der kritische Agrarbericht 2021

Betriebe häufig erst mit großer Verspätung. Deutlich            Wertschöpfungsketten beliefern. Sie konnten weiter
krisenfester waren die agrarökologisch wirtschaften-            fischen und Fisch anlanden.7
den Betriebe, die noch ihr eigenes Saatgut züchten und             Die meiste Aufmerksamkeit im Kontext Arbeits-
vermehren und auf Basis kluger Anbautechniken und               migration erhielt aber in Deutschland die Frage
Fruchtfolgen nicht auf synthetischen Dünger ange-               der Erntearbeiter*innen im Obst- und Gemüsebau
wiesen sind.                                                    (Spargel) und die der Wanderarbeiter*innen in den
                                                                Schlachthöfen. Damit die Agrarproduktion in die-
Kein Weg zu Arbeit                                              sen Bereichen nicht zum Erliegen kam, wurden viele
                                                                Arbeiter*innen aus Rumänien und anderen Staaten
Sehr stark betroffen von den Corona-Maßnahmen                   sogar eingeflogen. Doch obwohl sich gezeigt hat, wie
waren insbesondere Wanderarbeiter*innen, sowohl                 unverzichtbar diese Menschen für das vorherrschende
in der Landwirtschaft aus auch in anderen Sekto-                industrielle, auf maximale Arbeitsteilung ausgelegte
ren, weil sie häufig von einem Tag auf den anderen              Agrar- und Ernährungssystem sind, hat dies weder
ihre Arbeit verloren haben oder aber nicht zu ihrer             zu einer größeren Wertschätzung, besseren sozialen
Arbeit zurückkehren konnten, da plötzlich die Gren-             Absicherung noch gar zu nennenswerten Lohnerhö-
zen geschlossen waren. Am dramatischsten war diese              hungen geführt.
Situation in Indien. Dort machten sich im Frühjahr                 Aufgrund der schon lange bekannten schlechten
2020 Millionen von Wanderarbeiter*innen auf den                 Arbeits- und Lebensbedingungen verbreitete sich das
Weg aus den Städten zurück aufs Land – teils gingen             Coronavirus unter den ausländischen Beschäftigten
sie mehrere hundert Kilometer zu Fuß. In den Städ-              in den Schlachthöfen Deutschlands besonders rasch.
ten fürchteten sie, ohne Arbeit und somit ohne Geld             Die Folge waren umfassende Schlachthofschließun-
schlicht zu verhungern.                                         gen und eine Diskussion über Werkverträge. Diese
   Weniger beachtet wurde das Schicksal von Millio-             sollen abgeschafft werden. Aber eine grundsätzliche
nen von Kleinfischer*innen. Auch sie verloren in den            Debatte über unwürdige Arbeitsbedingungen in der
Lockdowns ihre lokalen Märkte und damit die Mög-                Landwirtschaft und wie diese weltweit behoben wer-
lichkeit, Benzin für ihre Schiffsmotoren zu kaufen              den könnten, z. B. mit einer umfassenden Umsetzung
und auf die See fahren und fischen zu können. Anders            der Erklärung zu bäuerlichen Rechten (UNDROP) der
war es für die großen Trawler, die die internationalen          Vereinten Nationen8, wird bislang nicht geführt.

   Schlechte Bilanz
   Die Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika

   Im Jahr 2006 hat die Bill und Melinda Gates-Stiftung             AGRA, nur um 18 Prozent. Das entspricht etwa den
   zusammen mit der Rockefeller-Stiftung die sog. Allianz für       Ertragssteigerungen aus der Zeit vor AGRA.
   eine Grüne Revolution in Afrika (kurz: AGRA) gegründet.5     ■   Anhand von Fallstudien aus Mali, Kenia, Sambia und
   Sie hat sich das Ziel gesetzt, die landwirtschaftlichen          Tansania wird deutlich, dass der von AGRA forcierte
   Erträge und die Einkommen von 30 Millionen kleinbäuer-           Anbau in Monokulturen mit Zukauf der entsprechen-
   lichen Haushalten zu verdoppeln. So sollten Armut und            den Betriebsmittel nicht zu den gewünschten Effek-
   Hunger in 20 afrikanischen Ländern bis 2020 halbiert wer-        ten führt, sondern vielfach zu großen Nachteilen für
   den. AGRA setzt dabei im Kern einseitig auf den Anbau            kleinbäuerliche Erzeuger*innen: Kleinbäuerinnen und
   von Monokulturen, vor allem Mais, und versucht, Ertrags-         Kleinbauern, die an AGRA-Projekten teilnahmen, waren
   steigerungen durch Inputpakete aus synthetischen Dün-            bereits nach der ersten Anbausaison so hoch verschul-
   gemitteln, Hybridsaatgut und Pestiziden herbeizuführen.          det, dass sie ihre Kredite nicht zurückzahlen konnten
   Dafür baut AGRA Agrarchemiehändlernetze auf.                     und Vieh verkaufen mussten.
      Eine Studie, die auf einer Analyse des Wissenschaftlers   ■   AGRA-Projekte schränken die Wahlfreiheit für klein-
   Timothy A. Wise beruht, hat die Wirksamkeit der AGRA-            bäuerliche Erzeuger*innen ein. Das hat dramatische
   Programme untersucht.6 Die Ergebnisse der Studie zeigen,         Auswirkungen auf die Vielfalt von Nahrungsmitteln.
   dass AGRA daran gescheitert ist, die selbstgesteckten            Der AGRA-Fokus liegt hier einseitig auf Mais. Tradi-
   Ziele zu erreichen:                                              tionelle klimaresistente und nährstoffreiche Nah-
                                                                    rungsmittel werden dadurch verdrängt. So ging die
   ■   AGRA wollte die landwirtschaftlichen Erträge in den          Hirseproduktion im AGRA-Zeitraum von 2006 bis 2018
       13 AGRA-Ländern um 100 Prozent steigern. Tatsächlich         in den 13 AGRA-Schwerpunktländern um 24 Prozent
       aber stiegen die Erträge von 2006 bis 2018, also unter       zurück.

104
Welthandel und Ernährung

   Im Gegenteil: Die Wertschöpfungskette, die mög-       und den USA, in denen Covid-19 ausgebrochen war,
lichst billige Lebensmittel aus aller Welt auf Kosten    mit Importverboten. Seitdem im Herbst 2020 in China
der Produzent*innen und Arbeiter*innen sowie der         Coronaviren immer häufiger auf gefrorenem Fleisch
Umwelt in die Regale der Supermärkte bringt, soll        und Fisch auf Märkten gefunden wurde, was auf kon-
auf keinen Fall infrage gestellt werden. So werden       taminierte Importware zurückgeführt wurde, werden
weiter Mangos zu Tiefstpreisen aus Peru eingeführt,      nun alle Tiefkühllieferungen (Fisch und Fleisch) auf
obwohl dort die Pandemie besonders hart wütet mit        Coronaviren getestet. China befürchtet, dass es über
über 100 Toten je 100.000 Einwohner*innen. Hö-           die Tiefkühlware zu neuen Covid-19-Ausbrüchen
here Preise für Agrarprodukte würden gerade Staa-        kommen kann. Kontaminierte Ladungen werden zu-
ten wie Peru und den dortigen Produzent*innen            rückgeschickt und die betreffenden Exporteure für
und Landarbeiter*innen den finanziellen Spielraum        eine Woche mit einem Importverbot belegt.10 Dass
geben, sich und ihre Familien besser vor dem Vi-         antibiotikaresistente Keime auf gefrorenem Fleisch
rus und seinen Folgen zu schützen. Schutzkleidung        überleben, hätte allerdings bereits aus der Debatte um
könnte gekauft und das Gesundheitssystem ausge-          Eine Gesundheit (One Health) und Antibiotikaresis-
baut werden. Ein gerechteres Handelssystem würde         tenz bekannt sein können.11
hier helfen.                                                Wird man die Gesundheitsbedingungen im Sinne
   Die Covid-19-Pandemie zeigt, wie eng die Gesund-      von One Health und Agrarökologie in der Fleisch-
heits-, Hunger- und Ernährungsfelder miteinander         produktion für Menschen, Tiere und Biodiversität
verbunden sind. Krankheitserreger überschreiten ins-     nicht drastisch verbessern, wird man die bestehende
besondere dann und dort die Artgrenzen, wenn Natur       Pandemie nicht in den Griff bekommen, weil sich
und Biodiversität zerstört werden oder Mensch und        möglicherweise immer wieder Menschen an konta-
Natur sich zwangsweise »zu nahe« kommen.9 Gleich-        miniertem Fleisch infizieren. Gleichzeitig zerstört das
zeitig sind die Menschen für neue Krankheitserreger      bisherige System der Fleischproduktion systematisch
besonders anfällig, die in ungesunden Umgebungen         die Biodiversität, indem immer mehr Flächen für die
leben, z. B. weil ihnen ihr Recht auf Wasser und Nah-    Futtermittelproduktion im Amazonas und anderswo
rung oder ausreichenden Wohnraum verwehrt ist            gerodet werden und die Exkremente aus der Massen-
oder sie aufgrund mangelnder sozialer Sicherungs-        tierhaltung Flüsse und Meer eutrophieren lassen. Die
systeme gezwungen sind, trotz Erkrankung zu arbei-       gesundheitsschädlichen Zustände in der Massentier-
ten. Dies betrifft insbesondere viele Menschen, die im   haltung sind hinlänglich bekannt. Die Gesundheits-
ländlichen Raum leben und arbeiten und so die Er-        probleme der Arbeiter*innen in den Schlachthöfen
nährung der Weltbevölkerung sichern.                     benannt. Dies ist bester Nährboden, neue Pandemi-
   Unmissverständlich wurden in der Pandemie die         en entstehen zu lassen. Das Agrarproduktionssystem
extremen Lücken in vielen lokalen Gesundheitssyste-      muss daher auch aus diesem Grund dringend grund-
men aufgezeigt: Es mangelt insbesondere an Personal      sätzlich verändert werden.
für Informationsarbeit sowie Nachverfolgung und
Behandlung von Infektionen, an Laborkapazitäten,         Falsche Weichenstellungen
an Schutzausrüstung und Medikamenten. Besonders
lückenhaft ist die Gesundheitsversorgung im länd­        Doch die politischen Aktivitäten gehen in eine ganz
lichen Raum und entsprechend benachteiligt die dort      andere Richtung. Die öffentliche und politische De-
lebenden Menschen.                                       batte wird weiter stark ohne die Betroffenen geführt.
                                                         Vor allem wird betont, wie gut doch die Wertschöp-
Hotspot Massentierhaltung und Fleischindustrie           fungsketten gehalten hätten und die Regale in den
                                                         Supermärkten nach den ersten Hamsterkäufen doch
Nicht nur in Deutschland gab und gibt es große           schnell wieder voll waren. Dabei wird vergessen, dass
Gesundheitsprobleme in den exportorientierten            Supermärkte lange Wertschöpfungsketten vor allem
Schlachthöfen. Insbesondere in Brasilien und den         für den globalen Norden, die Oberschicht im globa-
USA kam es zu starken Covid-19-Ausbrüchen auf-           len Süden und natürlich für Agrar- und Ernährungs-
grund der schlechten Arbeitsbedingungen in den           konzerne aufbauen. Aber die von Hunger und Armut
Schlachthöfen. Auch dort mussten Schlachthöfe ge-        Betroffenen werden meist nicht erreicht, für sie sind
schlossen werden. In diesem Kontext stellte sich her-    die während der Lockdowns geschlossenen informel-
aus, dass das Coronavirus auch auf gefrorenem Fleisch    len Märkte und öffentliche Versorgungseinrichtungen
überlebt. Nachdem in China auf Märkten mehrfach          wie Schulessen daher essenziell. Auch Bäuerinnen
aus Brasilien importiertes und mit Coronaviren kon-      und Bauern sowie Arbeiter*innen profitieren nicht
taminiertes Fleisch entdeckt wurde, belegte China im     vom Supermarktsystem, denn sie stehen am Ende der
Sommer 2020 verschiedene Schlachthöfe aus Brasilien      immer länger werdenden Wertschöpfungsketten und

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Der kritische Agrarbericht 2021

werden von diesen zu immer niedrigeren Erzeuger-              dungen getroffen werden, die der Wirtschaft und den
preisen bzw. Löhnen gezwungen.                                Konzernen nutzen und stark technokratisch geprägt
   Die Stimmen dieser Betroffenen werden immer wei-           sind, statt denen eine Stimme zu geben, die von Hun-
ter aus den Debatten gedrängt. Dies wird dadurch be-          ger betroffen sind.
günstigt, dass die meisten politischen und öffent­lichen         Würde sich der Gipfel am CFS orientieren, wäre
Debatten seit der Corona-Krise digital geführt werden.        er ganz anders aufgebaut. Das CFS ist das Gremium,
In diese digitalen Diskussionsräume hat nicht jeder/          welches den von Hunger und Mangelernährung Be-
jede Zugang, häufig fehlt Elektrizität oder Internet-         troffenen die meisten Mitspracherechte einräumt.
empfang. Zusätzlich ist es im digitalen viel einfacher,       Im CFS sind diese Gruppen im zivilgesellschaftlichen
Debatten vorzustrukturieren und kritische Fragen gar          Mechanismus (CSM) organisiert und aktiver Teil der
nicht erst zuzulassen oder gezielt abzu­wimmeln.              Verhandlungen; so wird dafür gesorgt, dass die Stim-
   Stärkster Ausdruck dieser politischen Krise der            men der Betroffenen gehört werden.
Welternährungsarchitektur und der Krise politischer              Verschärft wurden die Befürchtungen um die Aus-
Beteiligung ist der Food Systems Summit der Verein-           richtung des Food Systems Summit durch die Ernen-
ten Nationen 2021 in New York. Grundsätzlich wäre             nung von Agnes Kalibata, Präsidentin von AGRA,
dieser Gipfel dafür prädestiniert, zwei Jahre nach dem        als Sonderbotschafterin für den genannten Gipfel
Beginn der Pandemie zukunftsweisende Antworten                (zu AGRA siehe Kasten oben). Die internationale Zi-
darauf zu geben, wie denen von der Pandemie am                vilgesellschaft protestierte im März 2020 mit einem
meisten Betroffenen in Zukunft besser geholfen wer-           Offenen Brief, der von über 550 Organisationen un-
den kann und die Ernährungssysteme der Welt – ba-             terzeichnet wurde, gegen die inhaltliche Ausrichtung
sierend auf dem Recht auf Nahrung und mit Blick auf           des Gipfels und die mangelnden Möglichkeiten, sich
die weiteren Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs)            angemessen beteiligen zu können.12
– zukunftsfähig verändert werden können.                         Doch die Bedenken der Zivilgesellschaft wurden
   Doch von Beginn an hatte der Gipfel eine ganz              mit der Ernennung des Scientific Board des Gipfels
andere Stoßrichtung, denn er wurde zusammen mit               weiter verschärft. Denn ein Großteil der benannten
dem Weltwirtschaftsforum – und am Komitee für                 Wissenschaftler*innen steht vor allem für agrarindus-
Welternährung (CFS) vorbei – geplant. Es ist daher            triell-technische Lösungen und kaum für neue Ansät-
zu befürchten, dass beim Gipfel vor allem Entschei-           ze wie Agrarökologie. Zusätzlich sind viele von ihnen
                                                              in Interessenkonflikte verwickelt. So ist auch auch der
                                                              Vorsitzende dieses wissenschaftlichen Gremiums Mit-
   Folgerungen      & Forderungen                             glied des Boards von AGRA. So ist zu befürchten, dass
                                                              die Ansätze der Grünen Revolution und verbundene
   ■   Die globalen Ernährungssysteme gerecht, agraröko-      Denkmuster stark in den Strukturen und des Gipfels
       logisch und demokratisch zu gestalten, geht nur,       verankert werden können. Wieso führende Mitglieder
       wenn die Macht der internationalen Konzerne und        von AGRA eine solch prominente Rolle bei diesem
       des agrarindustriellen Komplexes begrenzt wird und     Gipfel spielen sollen, ist nicht ersichtlich.
       die Betroffenen umfassend einbezogen werden.              Die internationale Zivilgesellschaft hat auf die zu-
   ■   In der bisherigen Ausrichtung wird der Food Systems    nehmenden Probleme beim Gipfel im Oktober 2020
       Summit der Vereinten Nationen scheitern und keinen     mit einem Aktionsaufruf, sich außerhalb des Gipfels
       positiven Beitrag zu Kampf gegen den Hunger leisten.   zu engagieren, reagiert.13 Ihr Ziel und ihre Antwort
   ■   Der One-Health-Ansatz muss als neue Grundlage der      auf die Pandemie ist klar: Die globalen Ernährungs-
       nationalen und globalen Gesundheits- und Land-         systeme müssen gerecht, agrarökologisch und demo-
       wirtschaftspolitik verankert werden.                   kratisch umgestaltet werden. Nicht das industrielle
   ■   Dies erfordert, den One-Health-Ansatz holistisch       Ernährungssystem mit all seinen ökologischen und
       (Agrarökologie muss im Bereich Landwirtschaft als      sozialen Kollateralschäden, sondern die zu überwie-
       Grundlage verankert werden) und menschenrechts­        genden Teilen agrarökologisch wirtschaftenden Klein-
       basiert (Recht auf Nahrung) sowie am Schutz der        bäuerinnen und Kleinbauern, die Schätzungen zufolge
       Biodiversität auszurichten.                            nach wie vor 80 Prozent der in Asien und Sub-Sahara
   ■   Die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum in        Afrika konsumierten Lebensmittel produzieren,14
       den Ländern des Südens muss endlich ausgebaut          müssen gestärkt aus der Krise hervorgehen.
       werden. Ein wichtiger Beitrag dazu ist es, dass die
       Pharmakonzerne auf ihre Patente verzichten. Dies
                                                              Anmerkungen
       gilt nicht nur für Medikamente zur Heilung von          1 Die Zahlen in diesem Absatz sind entnommen aus: Positions-
       Corona und Impfstoffe.                                    papier Welternährung 2030. 11 Schritte für eine Zukunft ohne
                                                                 Hunger. Aachen 2020, S. 4 (www.forumue.de/wp-content/

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Welthandel und Ernährung

    uploads/2020/10/Positionspapier_welternaehrung2030_               10 China to suspend imports from companies if shipments of frozen
    web20201009.pdf).                                                    food test positive for COVID-19. In: The Poultry Site 14. Sep-
2   Zum Ganzen siehe auch den Bericht von FIAN International:            tember 2020 (www.thepoultrysite.com/news/2020/09/china-
    Monitoring report on the right to food and nutrition during          to-suspend-imports-from-companies-if-shipments-of-frozen-
    Covid-19. June 2020 (www.fian.org/files/files/Covid_Monito-          food-test-positive-for-covid-19).
    ring_Report_-Template_EN(1).pdf).                                 11 Siehe hierzu auch den Beitrag von Reinhild Benning in diesem
3   Quelle: Siehe Anm. 1, S. 4.                                          Kritischen Agrarbericht (S. 275–281).
4   Weitergehende Informationen hierzu finden sich bei Brot für die   12 www.foodsovereignty.org/wp-content/uploads/2020/03/EN_
    Welt im Blog von I. Jacobsen: Therapie mit schweren Nebenwir-        Edited_draft-letter-UN-food-systems-summit_070220.pdf.
    kungen (11. Mai 2020) (www.brot-fuer-die-welt.de/blog/covid19-    13 Open call for engagement to respond to the UN Food Systems
    lokal-angepasste-massnahmen-statt-ausgangssperren/).                 Summit (www.csm4cfs.org/wp-content/uploads/2020/10/EN-
5   Siehe hierzu das Hintergrundpapier von J. Urhahn und S. Tanz-        Open-Call-on-UN-Food-Systems-Summit-12-October-2020-1.pdf).
    mann: Eine unheilvolle Allianz – Die Allianz für eine Grüne       14 International Fund For Agricultural Development (IFAD): Small-
    Revolution in Afrika. 30. November 2018 (https://webshop.            holders, food security and the environment. Rome 2013 (www.
    inkota.de/node/1558).                                                ifad.org/documents/38714170/39135645/smallholders_report.
6   Siehe hierzu Brot für die Welt et al.: Falsche Versprechen. Die      pdf/133e8903-0204-4e7d-a780-bca847933f2e).
    Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (AGRA). Juni 2020
    (https://webshop.inkota.de/node/1612).
7   Weitergehende Informationen hierzu finden sich bei Brot für
    die Welt im Blog von F. Mari: Covid 19 Krise: Fischmangel
    trotz Fangsaison (6. Juni 2020) (www.brot-fuer-die-welt.de/                          Stig Tanzmann
    blog/2020-covid-19-krise-fischmangel-trotz-fangsaison/).                             Landwirt und Agrarwissenschaftler,
8   Siehe hierzu den Beitrag von Lena Bassermann in diesem Kriti-                        seit 2010 als Referent für Landwirtschaft
    schen Agrarbericht (S. 98–99).                                                       bei Brot für die Welt.
9   Siehe hierzu auch den Beitrag von Joachim Spangenberg in die-
    sem Kritischen Agrarbericht (S. 208–212).                                            stig.tanzmann@brot-fuer-die-welt.de

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