"Schuhe, wie die Jungs sie tragen" - Kleidung als Ausdruck des Habitus von Juniorprofessor*innen

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Lara Altenstädter

„Schuhe, wie die Jungs sie tragen“ – Kleidung als Ausdruck des Habitus
von Juniorprofessor*innen
Vestis virum reddit oder auch „Kleider machen       symbolisch aufgeladenes kodifiziertes Vermitt-
Leute“ (Keller 1874). Das Sprichwort, das auf       lungsmedium dar. Sie trägt dazu bei, dass sich
die Novelle von Gottfried Keller zurückgeht, ver-   die durch das omnipräsente meritokratische
weist darauf, dass Bekleidung als bewusst ein-      Ideal suggerierte Chancengleichheit im Feld
gesetztes Distinktionsmittel fungieren kann. Die    Hochschule als Illusion entpuppt. Die Daten und
Kleidung einer Person beeinflusst nahezu reflex­    Zahlen dokumentieren deutlich, dass sich beson-
artig die Beurteilung durch das Gegenüber. Sie      ders die Spitzenpositionen in Hochschulen als
wird nicht nur zum Schutz, aus Scham oder als       sozial bereinigt darstellen. Erste Bemühungen,
Schmuck getragen, sondern ist immer auch habi­      dieser Chancenungleichheit – die auch in den
tuell geprägt (Bourdieu 1982: 666) und kann         langwierigen und wenig planbaren Qualifika­
folglich darauf Einfluss haben, inwieweit jemand    tionswegen innerhalb der Hochschullandschaft
einer bestimmten Gruppe zugehörig erscheint.        begründet liegen – entgegenzuwirken, schienen
Dabei ist Souveränität im Auftreten, indem Habit    dabei zunächst erfolgversprechend. So stiegen
und Habitus kongruent sind, entscheidend, um        mit der 2002 eingeführten Personalkategorie
Anerkennung von jenen Personen zu erfahren,         Juniorprofessur die Frauenanteile sprunghaft an.
zu denen eine Zugehörigkeit angestrebt wird.        Die Studie von Möller (2015) macht allerdings
Der Habitus ist dabei weder naturgegeben noch       auf einen Prozess der sozialen Schließung auf-
frei wählbar, sondern vielmehr ein sozial hervor-   merksam und zeigt, dass der Weg zur Professur
gebrachtes Denk-Wahrnehmungs- und Disposi-          in hohem Maße sozial selektiv bleibt, wenn er
tionssystem und kann mit Bourdieu (1993: 98)        nicht sogar durch die Juniorprofessur verschärft
als „modus operandi“ verstanden werden.             wird (Möller 2015: 126). Eine Juniorprofessur zu
Im Kontext von Hochschulaufstiegen wird die         erreichen, die als habilitationsäquivalenter Weg
These einer Passung oder Nicht-Passung des Habi­    zu einer Lebenszeitprofessur geschaffen wurde,
tus zum Feld Hochschule (vgl. Bourdieu/Passeron     ist keinesfalls leicht, gewöhnlich oder wahr-
1971; Bourdieu 1993) bereits seit Jahrzehnten       scheinlich und bleibt vor allem für Erstakademi-
diskutiert. Es wird davon ausgegangen, dass         ker*innen in der Mehrzahl unerreichbar. Fraglich
Frauen, Migrant*innen und sogenannte Arbei-         bleibt an dieser Stelle, wie Juniorprofessor*innen
terkinder die Universität, anders als Männer        als Akteur*innen in Hochschulen, die sprunghaft
aus Akademikerhaushalten etwa, häufiger und         auf die professorale Ebene erhoben wurden und
über mehrere Qualifikationsstufen hinweg als        dabei zunächst nur auf ‚Bewährung‘ dieser Sta-
verunsichernd und ausgrenzend erleben. Diese        tusgruppe angehören, mit den impliziten hoch-
Wahrnehmung einer Nicht-Passung zwischen            schulischen Normen umgehen. Inwiefern drückt
Institution Hochschule und bestimmten Ak-           sich in ihrer Kleidungspraxis ihr Habitus aus?
teur*innen hängt u. a. mit der Hochschulalltags-    Diese Fragen ins Zentrum rückend, fokussiert der
kultur zusammen, in der sich nach wie vor impli-    vorliegende Beitrag auf die Handlungswirklich-
zite Normen mit Appellcharakter und distinktiv      keit von Juniorprofessor*innen und auf ihre Stra-
wirkende Praktiken gehalten haben. Die Institu-     tegien und Alltagsentscheidungen im Kontext
tion Hochschule kann in diesem Kontext als ein      von Kleidung.
Speicher von Sozialordnungen begriffen werden,
der als Handlungsregulativ Wirkung entfaltet        Kleidungspraxis an Hochschulen
(Douglas 1991: 81 f.). Eine Nicht-Passung kommt
dabei über eine spannungsgeladene Inkongru-         Besonders im Kontext von Beruf hat Kleidungs-
enz zwischen Habitus und wahrgenommenen             praxis eine wirkmächtige Symbolkraft. Das so­
Normen zustande, die sich in Distinktionsbemü-      zia­­le Feld Hochschule ist dabei keine Ausnahme.
hungen und damit verbundenen Aushandlungs-          In den Anfängen der Universität trugen die Ge-
prozessen dokumentiert. Passung hingegen            lehrten dabei Kleidung, die dem klerikalen Habit
zeigt sich darin, dass normative Erwartungen        entsprach. Erst später entkoppelte sich die Uni-
als positiver Horizont erscheinen, denen unkri-     versität aus dem Einflussbereich der Kirche und
tisch entsprochen wird (Meister/Sotzek 2017: 4).    die unterschiedliche Stellung der hochschulin-
Kleidung stellt in diesem Zusammenhang ein          ternen Statusgruppen wurde durch verschiedene

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                             Quasten an den Talaren hervorgehoben (Füssel         aufnahmen stellen dabei ein Medium dar, mit
                             2009: 268). Dass die Amtsuniform von Profes-         dem sich vorreflexive Blickwinkel auf Dinge,
                             sor*innen heute nicht mehr im Alltag getragen        Personen und Situationen rekonstruieren lassen.
                             wird, ist ein Ergebnis der Student*innenrevolu-      Aus diesem Grund wurde als Erhebungsinstru-
                             tion von 1968, die unter dem Kampfruf „Unter         ment eine Fotobefragung, eine partizipative Er-
                             den Talaren, den Muff von tausend Jahren“ den        hebungsmethode der visuellen Soziologie (Kolb
                             professoralen Standeshabit abzuschaffen such-        2008), genutzt. Konkret wurden 15 Juniorpro-
                             te (Füssel 2009: 245). Erste Erkenntnisse zu der     fessor*innen aus NRW gebeten: Fotografieren
                             aktuellen Kleidungspraxis von Professor*innen        Sie bitte alltägliche oder auch besondere Situ-
                             hat Stegmann (2005) mit ihrer qualitativ ange-       ationen, Dinge und Personen aus Ihrem Leben
                             legten Fallstudie generieren können. Sie kam zu      als Wissen­schaftler*in. Nachfolgend wurden auf
                             dem Ergebnis, dass insbesondere „(vermodete)         Basis der gewonnenen Fotos Interviews geführt
                             Kleidung […] pejorativ-vergeschlechtlicht zu         – sogenannte Fotointerviews, die vom metho-
                             sein scheint“ und aus Sicht von Professor*innen      dischen Design dem episodischen Interview
                             etwas Anrüchiges habe (Stegmann 2005: 275).          nahekommen. Zentrale theoretische Anknüp-
                             Sie stellte überdies fest, dass eine „antimodi-      fungspunkte waren die Habitus-Feld-Theorie
                             sche Attitüde“ im Kontext von Bekleidung in          von Bourdieu (1970) sowie das Konzept der
                             der Hochschule nicht beliebig sei, sondern viel-     vergeschlechtlichten Organisation (gendered
                             mehr dem Modus entspreche, visuell die wis-          organizations) nach Acker (1991). Ausgewertet
                             senschaftliche Persona zu repräsentieren und         wurden die Daten mit der Dokumentarischen
                             damit als passend zum Feld Hochschule (an)           Methode (Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl
                             erkannt zu werden (Stegmann 2005: 213). Die          2013), die einen Umgangsweg mit beiden Daten-
                             Symbolik der Kleidung wird besonders deutlich,       quellen anbietet.
                             wenn man die unterschiedlichen fachkulturellen
                             Kleidungsstile betrachtet. Schultz et al. (2018)     Zwischen Konvention und Innovation:
                             explizieren in ihrer Studie zu Professorinnen in     Empirische Befunde
                             den Rechtswissenschaften, dass sich in der Klei-
                             derpraxis die Akzeptanz der Norm auszudrücke,        Aus dem empirischen Material konnten ver-
                             die Fachkonventionen zu akzeptieren und fort-        schiedene Strategien rekonstruiert werden, wie
                             zuführen, um Zugang zu der Gemeinschaft zu           die interviewten Juniorprofessor*innen mit der
                             erreichen.                                           impliziten hochschulischen Kleiderordnung um-
                             Implizite Bekleidungskodizes an Hochschulen,         gehen. Wie genau sich ihre Kleiderpraxis dar-
                             als Teil der institutionalisierten Grammatik, die    stellt, wird im Folgenden skizziert.
                             sowohl die Fachkultur als auch den Status einer
                             Person dokumentieren, tragen zur Konstruktion        Bewusst ‚nicht-passend‘ bis vorsichtig provokant
                             der wissenschaftlichen Persona bei bzw. sind ein     Ein Muster, das sich in zwei Fällen rekonstruieren
                             Teil dieser Idealvorstellung, wie eine Person sein   lies, ist die konflikthafte Auseinandersetzung zwi-
                             sollte, um als passend zur Hochschule beurteilt      schen der wahrgenommenen Norm nach außen,
                             zu werden. Die Untersuchung dieser kulturellen       die wissenschaftliche Persona zu demonstrieren,
                             Praktiken im Feld Hochschule stellen folglich        und der habituellen Überzeugung, dass es auf
                             einen Weg dar, um die Vorstellung von Profes-        das inhaltliche Ausfüllen dieser Rolle ankommt.
                             sorabilität zu dekonstruieren und ihr damit ent-     Dies äußert sich in einer Kleidungspraxis, die als
                             gegenzuwirken.                                       bewusst nicht-passend bis vorsichtig provokant
                                                                                  zur Konvention beschrieben werden kann. Diese
                             Rekonstruktion von habitueller (Nicht-)              Kleidungspraxis dokumentiert sich deutlich in ei-
                             Passung: Untersuchungsdesign                         nem Foto, das JP8, alias Juniorprofessorin Silber,
                                                                                  im Kontext der Bildserie zum beruflichen Alltag
                             In dem Dissertationsprojekt „Der berufliche          angefertigt hat:
                             Habitus von Juniorprofessor*innen“ wurde der         Bei Betrachtung des Fotos ist die starke Mittel-
                             Annahme gefolgt, dass an Juniorprofessor*innen       zentrierung auffällig, die durch den farblichen
                             verschiedene berufliche Erwartungen heran­           Kontrast zwischen Bildhintergrund und Bildvor-
                             getragen werden. Diese zum Teil impliziten           dergrund unterstrichen wird. Die szenische Cho-
                             Normen sollen sie bestenfalls nicht nur regis­       reografie zeigt einen Fuß bzw. einen Strumpf und
                             trieren, sondern sich diese auch aneignen. Soll      einen Schuh, welche diesen bekleiden. In diesem
                             nun ihre habituelle (Nicht-)Passung zu sowie         klar strukturierten, klinischen Bild rufen überdies
                             Aneignungen von Hochschulnormen rekonstru-           die weißen Augen auf dem schwarzen Socken
                             iert werden, müssen ihre alltäglichen Praktiken      eine Irritation bei der betrachtenden Person
                             in den Blick rücken. Fotos als visuelle Moment-      hervor, da Tierabbildungen eher einer kindlichen

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Präferenz entsprechen, jedoch der Fuß einer er-
wachsenen Person abgebildet ist.
Sich auf das Bild beziehend, fragt die Inter-
viewerin nach, was hier genau abgebildet ist.
Frau Silber, die als Geisteswissenschaftlerin in
einem MINT-Fach eine Juniorprofessur besetzt,
was einem Sonderfall entspricht, antwortet Fol-
gendes:
   „Also man darf sich auch nicht zu ernst neh-
men. Und die Kollegen tendieren teilweise dazu

                                                                                                                                                    Quelle: Foto aus der Fotoserie von JP8.
(lacht). Und irgendwie, also ich suche halt so ei-
nen guten Mittelweg mich anzupassen und ernst
genommen zu werden, aber trotzdem meine Per-
sönlichkeit nicht zu verlieren. […] Und wenn wir
dann in unseren Besprechungen sitzen und die
sich wieder streiten und aufführen wie die Jungs
in der Sandkiste, dann muss ich immer so mal
anfangen so [schlägt das Bein über und wippt
mit dem Fuß], um ihnen das Zeichen zu geben.
Weil das sind andere Tische, das ist eine große         erfolgt, ist durchaus riskant, denn sie birgt die
Runde, die sehen alle auf meine Socken. […]             Gefahr, die aktuelle Position zu verschlechtern
(lacht) Um so ein bisschen, ja, nicht ganz in die-      und angestrebte Positionen nicht zu erreichen.
sen, wie soll ich sagen, Alphamännchen Habitus          Diese Handlungspraxis hat jedoch auch das Po-
zu verfallen oder da das auch ein bisschen mit          tenzial, neue Wahrnehmungs- und Ausdrucks-
Humor zu nehmen, das muss man ja machen.                muster in die Hochschule zu implementieren.
(JP8, Z. 390 ff.)
Kleidung nutzt Frau Silber als Mittel, um sich der      Angepasst, um ‚passend‘ zu erscheinen
gängigen Konvention zu widersetzen, diese zu            Ein gegensätzliches Muster, das sich in acht In-
konterkarieren und durch Sichtbarmachung der            terviews zeigte und damit am häufigsten rekon­
Normativität eine ironische Distanz zu ihr ein-         struierbar war, zeigt sich als vollständige Konven-
zunehmen. Ihre Kleidungspraxis verweist dabei           tionserfüllung. Hierbei wird eine gehorsame, den
auf eine habituelle Passungsdiskrepanz zu den           Normen und Gepflogenheiten entsprechende Per-
impliziten Fach- bzw. Hochschulnormen, was              formanz unternommen, die wiederum auf einen
in ihrer fachfremden beruflichen Sozialisation          feldkonformen Habitus verweist. Kleidung wird
begründet werden kann. Das Tragen der un-               indes als performativer Ausdruck von Sozialität,
orthodoxen Socken bei Sitzungen mit anderen             als Instrument, um sich einen Vorteil zu verschaf-
Professor*innen ist ihre Art der Kommunikation          fen, genutzt: „Vor allem wenn es um Sachen
und Provokation, ohne dabei als Gefahr oder Be-         geht. Wenn die Wahl meiner Kleidung einen
drohung wahrgenommen zu werden. Sie drückt              Vorteil bringt, dann ziehe ich mich ent­sprechend
damit aus, dass ihr das „Sandkasten“-Spiel, bei         an“ (JP1, Z. 397 ff.), so beschreibt es JP1, alias
dem durch Äußer­lichkeiten Macht demonstriert           Herr Kupfer1. Er ist ebenfalls Juniorprofessor in
wird, zuwider ist, sie sich daran weder beteiligen      einem MINT-Fach an einer Hochschule in NRW.
noch diese reproduzieren möchte, und stellt das         Aus seiner Sicht fungiert seine textile Hülle als
meritokratische Ideal infrage. Für sie ist ihre Klei-   Kapital, um weiteres Kapital zu akkumulieren,
derwahl eine Gratwanderung zwischen Akzep-              und verweist auf eine habitualisierte Wenn-
tanz und Widerstand zu den impliziten Normen,           Dann-Logik. Im Kontext von Kleidung handelt
indem sie versucht, einerseits die Norm nicht zu        Herr Kupfer also eher reaktiv, indem er den
deklassieren und sie andererseits bewusst zu            immanenten Fachkonventionen entsprechend
durchkreuzen, um mit einem ‚Augenzwinkern‘              agiert. Er versucht dabei, gegenüber den Stu-
auf die Irrelevanz äußerer Erscheinung aufmerk-         dierenden seine Rolle als Vorbild und Autoritäts-
sam zu machen. Mit Butler kann dabei ihr Wi-            person durch seine Kleidung zu unterstreichen.
derstand gegen die Norm „als Effekt eben der            Schließt man diese Rekonstruktion an Bourdieus
Macht, gegen die er sich richten soll“ (Butler          Theorie der feinen Unterschiede (1982) zurück,
2001: 94), verstanden werden. Er ist damit zwar         so zeigt sich in dem „modus operandi“ der Klei-
ausgerichtet gegen die bestehende Konvention,           dung die Abhängigkeit Herrn Kupfers von der Be-            1
                                                                                                                     Die Interviewbeispiele
aber gleichzeitig eben auch Ausdruck dieser. Die-       wertung anderer Personen. Seine gewissenhafte              für diesen Beitrag wurden
se Strategie, in der eine Umdeutung und Neube-          Kleidungspraxis versteht er dabei als synonymes            ausgewählt, da sich hier
                                                                                                                   das Typische im Individuellen
wertung des hochschulischen Bekleidungscodes            Symbol für seine gegenstandbezogene und                    zeigt (Hilliard 1993).

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                             wissen­schaftliche Genauigkeit. Nachlässiger und     Zurückzuführen ist dies auch auf die größere
                             lockerer könnte er sich nur kleiden, wenn man        Auswahlmöglichkeit, welche die Konvention vor-
                             ihn besser kenne und bereits von seiner inneren      schreibt, und auch darauf, dass die Anforderun-
                             Passung überzeugt sei, so seine Argumentation.       gen an Männer eher dem entsprechen, was auch
                             Dies wiederum verweist auf seinen unsicheren         sonst im sozialen Raum bei festlichen Anlässen
                             Status als Juniorprofessor, demgemäß er for-         von ihnen erwartet wird. Frauen haben dabei in
                             mell zwar bereits die professorale Ebene erreicht    Bezug auf die Kombinationsmöglichkeiten einen
                             hat, jedoch hier zunächst ‚auf Probe‘ verbleiben     weiteren Spielraum, der allerdings immer auch
                             kann, bis seine Leistung als auf Lebenszeit pro-     das Risiko birgt, ‚daneben zu liegen‘.
                             fessorabel, durch eine Berufung in Form einer
                             ordentlichen Professur, bestätigt wird.              Resümee
                             Die Juniorprofessor*innen, bei denen sich diese
                             beiden Orientierungsrahmen rekonstruieren            Es ist auffällig, dass alle Juniorprofessor*innen
                             ließen, haben die Vorstellung der wissenschaft­      einen impliziten Kleidungskodex wahrnehmen
                             lichen Persona internalisiert und versuchen,         und sich zu diesem verhalten. Dabei haben
                             dieser nahezukommen. Dies zeigt sich unter           die Bekleidungserwartungen nicht nur einen
                             anderem daran, dass sie Kleidung zum Teil zwar       normativen, sondern auch einen Kon­           struk­
                             als Distinktionsmittel nutzen, jedoch in der         tionscharakter, indem bestimmte Vorstellungen
                             Hauptsache ihre Wahl nach dem Prinzip der An-        sowohl von Geschlecht als auch der wissen-
                             gemessenheit gegenüber dem Gegenstand der            schaftlichen Persona hierin impliziert sind. Als
                             Wissenschaft treffen. Was dabei als angemessen       übergreifende Passung zwischen professora-
                             betrachtet wird, variiert von Person zu Person.      lem Habitus und institutionellen Normen wird
                             So lehnt es Frau Silber ab, unhinterfragt Konven­    eine wissenschaftliche Persona entworfen,
                             tionen zu übernehmen, da sie dies als unange-        die männlich ist, Student*innen inspiriert und
                             bracht betrachtet. Auch Herr Kupfer wählt seine      den professoralen Stand würdevoll nach außen
                             Kleidung entsprechend dem aus, was er als an-        vertritt. Die berufliche Kleiderkonvention wird
                             gebracht bewertet. Dabei scheinen die impliziten     dabei von einigen wenigen Erstakademiker*in-
                             Bekleidungserwartungen keinen inneren Konflikt       nen hinsichtlich ihrer Grenzen austariert und
                             auszulösen. Dies wiederum deutet darauf hin,         als etwas betrachtet, das in Spannung zu ihrer
                             dass er bereits einen passenden Habitus zum          herkömmlichen Kleidungspraxis steht. Dies
                             sozialen Feld Hochschule (entwickelt) hat. Ihm       führt zu einer spannungsgeladenen, inneren
                             geht es darum, durch Kleidung Akzeptanz und          Auseinandersetzung, die wiederum als hoch-
                             Respekt gegenüber dem Wissenschaftssystem            schulkulturelles Entwicklungspotenzial bezeich-
                             immanenten, impliziten Regeln auszudrücken,          net werden kann, indem die tradierte Sozial-
                             um auf diese Weise selber Akzeptanz und Aner-        ordnung dekonstruiert wird. Betont werden
                             kennung zu erfahren.                                 muss dabei, dass die überwiegende Mehrzahl
                             Strategie übergreifend scheinen zudem Schuhe         der Juniorprofessor*innen sich widerstandslos
                             ein zentrales Kleidungsstück zu sein, das Zuge-      normkonform kleidet, was darauf hindeutet,
                             hörigkeit erzeugt. Einige der Interviewpartne-       dass sie bereits eine gewisse Passung zum
                             rinnen wählen Halbschuhe, „wie sie die Jungs         Hochschulsystem (entwickelt) hat.
                             hier auch alle anhaben“ (JP8, Z. 353 f.), oder       Überdies zeigte sich im Datenmaterial, dass
                             tragen Schuhe mit breitem, geräuscherzeugen-         Frauen versuchen, ihr Geschlecht in den Hin-
                             dem Absatz (vgl. bspw. JP13). Hierdurch erhoffen     tergrund zu rücken, und bewusst auf männlich
                             sie sich, antistereotype Merkmale zu demonst-        konnotierte Kleidungsstücke wie Hosen und An-
                             rieren und als emanzipiert, selbstbewusst und        zugschuhe zurückgreifen. Die Vermeidung von
                             führungskompetent wahrgenommen zu werden.            Nacktheit, insbesondere im Brustbereich scheint
                             Dass Frauen ihr körperbezogenes Geschlecht           ein kollektiv wahrgenommener Kleidercode zu
                             als leistungsabwertend einschätzen, wird auch        sein, dem entsprochen wird, auch um Angriffs-
                             dadurch erkennbar, dass sieben der acht Inter-       fläche zu reduzieren. Dass er nicht als illegitim
                             viewpartnerinnen sowohl im Alltag als auch bei       zurückgewiesen wird, deutet darauf hin, dass die
                             Probevorträgen in Berufungsverfahren auf einen       Demonstration von körperlicher Weiblichkeit den
                             hochgeschlossenen Schnitt des Oberteils achten.      Juniorprofessor*innen als Nachteil erscheint. Bi-
                             In der absichtsvollen Handlungspraxis, die Weib-     lanzierend lässt sich feststellen, dass alle Junior-
                             lichkeit zu ‚neutralisieren‘, dokumentiert sich,     professor*innen des Samples nach Anerkennung
                             dass sie sich stärker als ihre männlichen Kollegen   ihrer Passfähigkeit zur Professor*innenschaft
                             mit ihrer eigenen Bekleidungskompetenz ausein-       streben und die Passung mit ihrem beruflichen
                             andersetzen müssen und sie die impliziten Erwar-     Kleidungsstil zu betonen versuchen.
                             tungen eines männlichen Ideals stärker spüren.

54     Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW Nr. 47/2020
Beiträge

Literaturverzeichnis                                    Perspektiven auf die Hochschulen in Europa
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  nen denken. Übersetzt von Michael Bischoff.           Baden Baden: Nomos.                                      Fakultät für Gesellschafts­
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  Die akademische Kleiderordnung als Medium             wissenschaftliche Studie über Effekte von Ha-            47057 Duisburg
  soziale Distinktion. In: Barbara Krug-Richter,        bitus, Fachkultur und Geschlecht. Münster: Lit.          Tel.: (0203) 379 1835
                                                                                                                 lara.altenstaedter@uni-due.de
  Ruth-Elisabeth Mohrmann (Hrsg.), Frühneuzeit-         Verlag.                                                  DOI: 10.17185/duepublico/
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                                                                Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW Nr. 47/2020         55
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Duisburg-Essen, zur Verfügung gestellt. Die hier veröffentlichte Version der E-Publikation
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DOI:      10.17185/duepublico/73727
URN:      urn:nbn:de:hbz:464-20210706-162748-5

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