Veraltete Eliten, neues Selbstverständnis - Führerlose Aufstände und die Vertrauenskrise arabischer Autoritäten - Konrad-Adenauer ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Quelle: © Ramzi Boudina, Reuters. Weitere Themen Veraltete Eliten, neues Selbstverständnis Führerlose Aufstände und die Vertrauenskrise arabischer Autoritäten Simon Engelkes 114
Zehn Jahre nach dem Beginn des „Arabischen Frühlings“ bekommt die autokratische Fassade im Nahen Osten und Nordafrika wieder Risse. Der Kampf um eine Alternative zur herrschenden Elite scheitert dabei jedoch am Mangel organisierter politischer Kräfte, die die Wut der Straße in konstruktive politische Beteiligung übersetzen könnten. Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas befin- Führerlosigkeit dar und zieht Schlüsse für die den sich derzeit in einem pandemiebedingten notwendige Wiederannäherung zwischen Bevöl- Schwebezustand. Vor dem Ausbruch der Corona kerung und Herrschaft. pandemie im Frühjahr 2020 gingen in Beirut, Algier, Khartum und Bagdad wieder über eine Eine zweite Protestwelle bricht los Million Menschen auf die Straße und forderten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wan- Die unmittelbaren Auslöser der erneuten del. Die umfangreichen staatlichen Einschrän- Protestwelle waren von Land zu Land unter- kungsmaßnahmen im Kampf gegen C OVID-19 schiedlich. Im Sudan brachte eine Regie- haben die Proteste zwar vorübergehend herun- rungsentscheidung, den Preis für Brot zu tergefahren, doch die ihnen zu Grunde liegenden verdreifachen, acht Monate zivilen Ungehorsam sozioökonomischen und politischen Ursachen und Proteste, welche im Umsturz des Macht- bestehen weiter. Zehn Jahre nach dem Ausbruch habers Omar al-Baschir mündeten. Al-Baschir einer Welle von Massenprotesten gegen Willkür hatte das Land für drei Jahrzehnte autoritär und Unrecht, die in fünf Ländern der Region zum regiert. In Algerien war es die Ankündigung Sturz von Langzeitherrschern führte – wovon von Präsident Abdelaziz Bouteflika, bei den drei in Bürgerkriegen, einer in einem autoritä- nächsten Präsidentschaftswahlen für eine fünfte ren Rückfall und einer in einem demokratischen Amtszeit zu kandidieren, die die Massenprotest- Übergang endeten –, ist die arabische Welt noch bewegung Hirak lostrat. Der schwerkranke und nicht zur Ruhe gekommen. kaum in der Öffentlichkeit präsente Bouteflika und seine als le pouvoir (die Macht) bezeichne- Die zweite Welle der arabischen Aufstände, die ten Machtzirkel hielten die Zügel des Landes 20 im Dezember 2018 im Sudan begann und sich Jahre lang in der Hand. Im Irak trieb die Degra- seither auf Algerien, Irak und Libanon ausdehnte, dierung des populären Generals Abdel-Wahab setzt die Auseinandersetzung zwischen Bevöl- al-Saedi, der als Symbolfigur gegen Korruption kerungen und ihren politischen Eliten über die und Vetternwirtschaft sowie als Held im Kampf Anforderungen an einen modernen Staat fort. gegen den sogenannten Islamischen Staat von Öffentlichen Institutionen, insbesondere Parla- der Bevölkerung geschätzt wurde, ab Oktober menten und Parteien, wird nicht vertraut – oft im 2019 die Menschen auf die Straße. Trotz des Zuge einer ausgeprägten Ablehnung organisier- Siegs gegen die Terrororganisation vor drei ter Interessensvertretung im Allgemeinen. Die Jahren ist das Land tief zerrissen und kann als Proteste – ohne gemeinsame Strategien, Hierar- eines der ölreichsten Länder der Welt nicht für chien oder Ideologien – fokussieren sich in ihren seine Bevölkerung sorgen. Im Libanon weite- Forderungen vermehrt auf konkrete Fragen der ten sich Proteste gegen eine geplante Steuer auf Regierungsführung und ihre Strukturlosigkeit Sprachanrufe über Apps wie WhatsApp zur glei- erschwert dabei sowohl deren Umsetzung als chen Zeit zu landesweiten Demonstrationen aus. auch deren Niederschlagung. Dieser Artikel Inmitten von Armut und Staatsbankrott steckt beleuchtet die Ursachen und Forderungen der der Zedernstaat in der tiefsten Krise seit Ende neuen Protestwelle, legt die Hintergründe ihrer des 15-jährigen Bürgerkriegs vor 30 Jahren. Weitere Themen 115
Altbekannte Ursachen … eigenes Land in einen Bürgerkrieg abrutscht. Doch auch wenn die Demonstrierenden von den Diese Funken konnten nur deshalb einen Straßen verschwanden – die Probleme, die sie auf Flächenbrand auslösen, weil es mit den tief die Straßen gebracht hatten, blieben. gehenden und seit 2011 weiterhin ungelösten sozioökonomischen Problemen in der Region Ein Jahrzehnt später gibt es in vielen Ländern bereits genügend Zündstoff gab. Mit Ausnahme der Region noch immer eine unzureichende des Systemwechsels in Tunesien endeten die Pro- staatliche Grundversorgung, hohe Arbeitslosig- teste vor zehn Jahren entweder, weil die Regime keit und Armut – im Libanon lebt fast die Hälfte diese mit Gewalt unterdrückten und in Autorita- der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.1 Dazu rismus zurückfielen, die Menschen mit materiel- kommen regionale Währungs- und Wirtschafts- len Zusprüchen kooptierten und mit vereinzelten krisen, eine übermäßige Abhängigkeit von institutionellen Anpassungen besänftigten, oder (abnehmenden) Einnahmen aus Ölexporten weil die Öffentlichkeit in manchen arabischen oder ausländischer Entwicklungshilfe, eine toxi- Staaten mit Blick auf die Entwicklungen in Syrien, sche Politisierung von Identität und die weit- Libyen und Jemen nicht riskieren wollte, dass ihr reichende Korruption im öffentlichen Sektor. Armut und Arbeitslosigkeit, kaum Perspektiven: In vielen Ländern der Region blieben sozioökonomische Probleme auch während des vergangenen Jahrzehnts ungelöst. Quelle: © Zohra Bensemra, Reuters. 116 Auslandsinformationen 1|2021
Insbesondere bei der jungen Bevölkerung füh- sozioökonomische Reformen, bessere staatliche ren materielle Entbehrung, Zukunftsangst und Dienstleistungen insbesondere bei der Wasser-, mangelndes Vertrauen in die Fähigkeit oder den Gesundheits- und Stromversorgung, aber auch Willen ihrer Regierungen, diese grundlegenden bessere Jobmöglichkeiten und Zukunftsperspek- Probleme zu lösen, zu Verzweiflung und Protest. tiven sowie effektivere Bemühungen zur Korrupti- In regionalen sowie länderspezifischen Umfra- onsbekämpfung. gen werden Korruption und schlechte Regie- rungsführung als wesentliche Probleme und Hauptbeweggründe für die Proteste gesehen. 97 Es ist besonders bemerkens- Prozent der Jugend in der Levante und Nord wert, dass die jüngsten afrika schätzen zumindest Teile der politischen Proteste ethnokonfessionelle Elite als korrupt ein.2 und identitäre Trennlinien … neue Forderungen überwanden. Die zweite Protestwelle wiederholt daher nicht die Forderungen von 2011, sondern geht dar- über hinaus. Mit Protestchören wie „Alle von Ein Phänomen, das den für wirksame Reformen ihnen bedeutet alle von ihnen“ im Libanon und notwendigen Zusammenhalt untergräbt und „Das System muss weg“ in Algerien fordern die antidemokratische Herrschaft schützt, ist das eth- Demonstrierenden nicht nur die Absetzung der nokonfessionelle gesellschaftliche Ordnungsmo- herrschenden Elitennetzwerke aus Politikern, dell.5 Im Irak und im Libanon haben sich infolge Geschäftsleuten und Militärs allein, sondern die despotischer Minderheitenherrschaften und Bür- vollständige Demontage der politischen Struk- gerkriege politische und rechtliche Mechanismen turen und Wirtschaftssysteme, die sie ernäh- der ethnokonfessionellen Machtaufteilung etab- ren.3 Statt einzelner Spielsteine sollen sich die liert, welche die Vergabe der höchsten politischen grundlegenden Spielregeln ändern. Auch wenn Ämter sunnitischen, schiitischen, christlichen Protestierende in Algerien und im Sudan auch oder kurdischen Bevölkerungsteilen zusprechen. nach demokratischen Partizipationsmöglichkei- Diese institutionalisierte identitäre Spaltung der ten streben, so schallen heute bedeutend weniger Gesellschaft begünstigt Vetternwirtschaft (wasta) Rufe nach Demokratie durch die Straßen; Forde- und Klientelismus. Sie zementiert die Undurch- rungen nach politischen Freiheiten tauchen oft lässigkeit politischer Strukturen und verhindert nur am Rande auf. Dies gründet auf der Erkennt- die Entwicklung eines bürgerorientierten Staats- nis, dass auch stärkere Wahldemokratien – wie verständnisses.6 im Irak und Libanon mit der Abhaltung relativ freier und fairer Wahlen – in der öffentlichen Daher ist es besonders bemerkenswert, dass Wahrnehmung größtenteils nur der Stärkung die jüngsten Proteste ethnokonfessionelle und korrupter politischer Eliten dienen. identitäre Trennlinien überwanden.7 Sowohl in den von Berbern bewohnten Regionen Alge- Der Ruf nach ‘aish, hurriya, ‘adala idschtima‘iya – riens als auch in den mehrheitlich arabischen Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit – erklingt Städten und Gemeinden des Landes war zur auch heute noch, nur sind die Protestierenden Hochzeit des Hirak gleichsam der Ruf zu hören: kompromissloser bei ihren Forderungen nach „Keine Berber, keine Araber, keine Ethnie oder sozioökonomischer Teilhabe.4 Der Wunsch Religion! Wir sind alle Algerier!“ Es ist das erste nach einer Neuordnung des politischen Systems Mal seit der Unabhängigkeit 1962, dass eine entzündet sich an den alltäglichen sozioöko- solche Einigkeit in der Forderung nach Wandel nomischen Lebensrealitäten, die Vorrang vor besteht.8 Gleiches war im Sudan zu beobachten, unmittelbar politischen Zielen zu haben scheinen. wo das Regime zunächst der ethnischen Gruppe Die Protestbewegungen fordern tiefgreifende der Fur die Schuld an den Protesten geben wollte, Weitere Themen 117
sodass auch in der Hauptstadt Khartum der Ruf staatliche Ausgangssperren und Versammlungs- „Wir sind alle Darfur“ zu hören war.9 Im Libanon, verbote einigen Protesten zwar den Wind aus der für den Großteil seiner Geschichte durch kon- den Segeln. Doch auch wenn der sichtbare Pro- fessionelle Spaltungen definiert wurde, schwenk- test verschwand, so ist er keinesfalls verstummt ten im Oktober vor zwei Jahren hunderttausende und brach sich bei gelegentlichen Lockerun- Libanesen jeglicher Konfession die libanesische gen der pandemiebedingten Einschränkungen Flagge mit den Worten „Wir sind alle Libanesen. wieder Bahn. „Wir fürchten den Hunger, nicht Auf der Straße sind wir keine Schiiten, Sunniten das Coronavirus“, fasste es ein libanesischer oder Christen. Wir sind Bürger.“10 Auch im Irak Demonstrant zusammen.13 konnten sich die Forderungen der Demonstrie- renden zu nationalen Anliegen entwickeln und als eine „identitätsstiftende Grundlage“ für eine nati- Führerlose Bewegungen onale Identität fungieren.11 Die Proteste förder- wachsen und gedeihen in ten durch ihre gemeinschaftlichen Forderungen den letzten Jahren rund nach Aufgabe jeglicher Unterscheidung aufgrund von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit eine um den Globus. einende nationale Identität – zusammengehalten durch die gleichen Nöte und Schicksale. Besonders bemerkenswert ist jedoch die Führer- Strukturanpassungen im losigkeit der Proteste. Denn führerlose Bewegun- politischen Aktivismus gen lassen sich zurzeit nicht nur im Nahen Osten beobachten. Sie wachsen und gedeihen unter den Doch die Protagonisten der zweiten Protestwelle oben beschriebenen Bedingungen in den letzten haben auch ihr Vorgehen angepasst. Eine Lektion Jahren rund um den Globus – von Hongkong und aus 2011 ist, dass Gewalt Regimen die Chance Thailand über Frankreich bis nach Chile. Sie sind bietet, politische Aufstände als Bürgerkrieg Ausdruck einer globalen Macht- und Formver- umzudeuten, in aller Härte zu bekämpfen und schiebung von institutionalisierten Akteuren zu dadurch jede Hoffnung auf friedlichen Wandel informellen politischen Bewegungen und Formen zu ersticken. Obwohl die Demonstrierenden im des politischen Aktionismus. Einige Beobachter Sudan, in Algerien und im Irak mit Gewalt und verleitet dieser globale Trend zur Verkündung Repression durch staatliche Sicherheitskräfte eines „Zeitalters der führerlosen Revolution“.14 sowie nichtstaatliche Milizen konfrontiert waren, Diese Bewegungen sind ein Krisenphänomen, beharrten sie größtenteils auf einem gewalt- richten sich gegen das politische Establishment freien Vorgehen – was sowohl die Entfremdung und grenzen sich von bestehenden Parteien ab.15 gemäßigter Unterstützer verhinderte als auch Um ihre Bedeutung im Kontext des Nahen Ostens breite nationale und internationale Unterstüt- und Nordafrikas zu verstehen, ist es notwendig, zung einbrachte.12 zuerst den Blick auf die politischen Systeme in der Region zu richten. Durch die vergangenen Erfahrungen hat sich auch gezeigt, dass der Sturz eines Herrschers Kompetitiver Autoritarismus und nicht das Ende der politischen Ordnung bedeu- politischer Klientelismus tet. Im Sudan und in Algerien gingen die Pro- teste daher auch nach dem Militärputsch Das politische Modell in der arabischen Welt gegen Omar al-Baschir und dem Rücktritt von wurde lange Zeit als „kompetitiver Autoritaris- Abdelaziz Bouteflika weiter. Im Irak setzten mus“ beschrieben, in dem sich nichtdemokrati- sich die Proteste nach dem Rücktritt des Pre- sche Regime (schein)demokratischer Methoden mierministers im November 2019 und Reform- bedienen, um ihre Macht zu sichern. Formal versprechen der neuen Regierung ebenfalls demokratische Institutionen wie Parlamente fort. Zuletzt nahm die Coronapandemie durch und Parteien wurden (und werden) als Mittel zur 118 Auslandsinformationen 1|2021
Vereint unter einer Flagge: Die aktuellen Protestbewegungen überwinden häufig ethnische und konfessionelle Trennlinien, ihre Forderungen werden zu nationalen Anliegen. Quelle: © Thaier Al-Sudani, Reuters. Legitimierung politischer Autorität eingesetzt, meisten Teilen der Region passé. In den letzten obwohl die politische Elite bei Wahlen routine Jahrzehnten dominierten in der Region Ein- oder mäßig staatliche Ressourcen missbrauchte, Zwei-Parteien-Systeme, die den politischen Wett- oppositionellen Kräften die Berichterstattung in bewerb massiv einschränkten. Heute finden sich den Medien verweigerte, Gegner öffentlich schi- in den meisten arabischen Ländern pluralistische kanierte oder Wahlergebnisse manipulierte.16 Parteiensysteme; im Libanon und Irak mit sich Überall im Nahen Osten und Nordafrika gibt es ständig umbenennenden und neu zusammen- mittlerweile Parlamente oder vergleichbare Insti- setzenden Bündnissen aus unübersichtlich vielen tutionen und Abgeordnete werden größtenteils in Parteien sogar „hyperpluralistische“ Systeme. direkten Wahlen mandatiert. Ihr Einfluss auf das Politikgeschäft variiert von Land zu Land, doch die Parteien werden aus d emokratietheoretischer Zeit geschlossener autoritärer Regime ist in den Perspektive oft als die wichtigsten politischen Weitere Themen 119
Organisationen der modernen Welt beschrie- Demonstrierenden eingingen, wandten sich ben.17 Sie dienen der Formulierung politischer diese oft an die Oppositionsführer. Nun hat das Programme durch die Artikulation und Bün- Misstrauen alle politischen Führer erreicht.22 delung von Bürgerinteressen und der anschlie- ßenden Mobilisierung von Wählern hinter einer Im Gegensatz dazu vertreten die informellen Pro- Agenda. Hierdurch schaffen sie eine Beziehung testbewegungen große Teile der Bevölkerung. In zwischen Regierung und Bevölkerung und allen vier Ländern genießen die Protestbewegun- ermöglichen ihren Mitgliedern zusätzlich zur gen breite Unterstützung. Eine überwältigende Wahlentscheidung direkte Beteiligungsmög- Mehrheit der Sudanesen (81 Prozent), Algerier lichkeiten sowie Rechenschaftsforderungen an (71 Prozent), Libanesen (67 Prozent) und Ira- gewählte Vertreter. ker (82 Prozent) steht hinter den Forderungen der Demonstrierenden; im Sudan gab über ein In der arabischen Welt ist diese Verbindung größ- Drittel der Befragten an, an den Protesten teilge- tenteils klientelistisch, d. h. Wähler stimmen für nommen zu haben.23 Die tiefe Entfremdung zwi- eine Partei, von der sie sich bestimmte Vorteile schen der überwiegend jungen Bevölkerung und erhoffen. In vielen Ländern der Region sind den herrschenden Eliten der Länder treibt viele politische Parteien zudem tendenziell schwach Menschen auf die Straßen. Hier zeigt sich ein organisiert und ideologisch unscharf. Sie dienen großes, nicht umgesetztes politisches Potenzial. nicht der Interessenaggregation und Bürger- Mit dem Wegfall der politischen Parteien bricht vertretung, sondern dem persönlichen Nutzen ein Schlüsselstück des politischen Systems, der ihrer Mitglieder. Sie sind oft personalistischer Vermittler zwischen Bevölkerung und Herrschaft, Natur, haben eine schwache interne Demokra- aus der Gleichung – und es kommt zur direkten tie und nur beschränkten Einfluss auf politische Konfrontation. Entscheidungsfindung.18 Der Libanon-Direktor von Democracy Reporting International, André Sleiman, beschreibt die Parteien im Libanon als Soziale Bewegungen rücken „Banden“, gezeichnet von autokratischen Struktu- mehr und mehr in den Mittel- ren, fokussiert auf die eigenen Interessen sowie punkt gesellschaftlicher Aus- aufgebaut auf Loyalität und Gehorsam: „Man kann sie nicht reformieren.“19 handlungsprozesse. Die Vertrauenskrise arabischer Parteien Nach den radikalpolitischen Projekten der Diese Einschätzung teilen viele, insbesondere zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie dem junge Menschen in der Region. Es ist daher nicht arabischen Nationalismus, Panarabismus und überraschend, dass das Vertrauen in öffentliche Baathismus, dem Erstarken des Islamismus sowie Institutionen und die Bereitschaft, sich politisch zuletzt den Demokratierufen des „Arabischen zu engagieren, verschwindend gering sind. In Frühlings“, wächst in der Region eine zwar poli- Umfragen geben 61 Prozent der Befragten in tisch aktivierte, jedoch auch weitgehend desori- der arabischen Welt an, dass ihre Ansichten von entierte, fast schon postideologische Generation keiner bestehenden politischen Gruppe vertreten auf. Politisch zusammengesetzte Regierungen werden.20 71 Prozent der Libanesen misstrauen bieten keine Lösung mehr. Es kommt daher der politischen Parteien und vier von fünf dem Wunsch nach technokratischer Führung auf, der Parlament. Im Irak haben sogar nur fünf Pro- eher gute Regierungsführung zugetraut wird. In zent der Bevölkerung eine positive Einstellung einer regionalen Umfrage der Konrad-Adenauer- gegenüber Parteien.21 Erkennbar ist diese Ent- Stiftung gaben 40 Prozent der Algerier und 55 fremdung von der politischen Elite auch an der Prozent der Libanesen an, Wahlen sollten abge- sinkenden Wahlbeteiligung. Als einige Regime schafft und Experten zur Regierungsverantwor- vor zehn Jahren nicht auf die Forderungen der tung gezogen werden.24 Der Sudan stellt hier 120 Auslandsinformationen 1|2021
einen Prototyp dar, in dem im Nachgang des selten von Ideologie oder erkennbaren Füh- Militärputsches gegen Diktator al-Baschir 2019 rungs- oder Organisationsstrukturen geleitet eine dreijährige Übergangsphase unter Führung werden.27 Diese nichtstrukturierten Proteste, einer zivilen Technokratenregierung vereinbart bezeichnend für autoritäre Systeme, können wurde. Damit verbunden ist die Hoffnung auf ein nach Bayat Wandel erbringen, wo strukturierte Ende der autokratischen „Teile-und-herrsche“- Bewegungen scheitern. Führerlosigkeit befördert Strategien und der Beginn von administra et eine schnelle Reaktions- und hohe Anpassungs- impera (verwalte und herrsche). Eine Erschwernis fähigkeit, hohe Agilität und Innovationsge- der Bestrebungen von 2011 waren unter anderem schwindigkeit bei Protestformen und -taktiken, politische und ideologische Spaltungen, insbe- die sich schneller horizontal verbreiten kön- sondere zwischen Islamisten und Säkularisten, nen. Sie führt aber gleichzeitig auch zu einem die zu einem starken Fokus auf Identitätsfra- Strategievakuum und ineffizientem Einsatz von gen führten, weshalb dringendere Angelegen- Ressourcen. Wie kam es, dass die jüngste Protest- heiten wie sozioökonomische Verbesserungen welle führerlos blieb? vernachlässigt wurden. Eine technokratische Übergangslösung kann zwar zu einer mittelfris- tigen Entspannung beitragen, löst jedoch die Führungsstrukturen erleichtern Grundproblematik nicht und eröffnet erneut ein es staatlichen Stellen, einzelne Legitimationsvakuum. Persönlichkeiten ins Visier zu Die politischen Nachkriegsprojekte des Nahen nehmen und zu kooptieren, Ostens – im Streben nach arabischer Einheit, zu verhaften oder gar hinzu- nationaler Unabhängigkeit, Entkolonialisie- richten. rung und sozioökonomischer Transformation – liefen oft unter charismatischen Führern und ihren Einparteiensystemen. Heute wird jedoch die Rolle und Bedeutung politischer Parteien Diversifizierung als organisatorische als „Torwächter zu den Hebeln und Insignien Herausforderung der Macht“ infrage gestellt,25 während soziale Bewegungen mehr und mehr in den Mittelpunkt Viele der jüngsten Proteste hatten ihren Ursprung gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse rücken. in führerlosen Ad-hoc-Aufständen, die sich Diese dienen dabei weniger als politische Gestal- anschließend zu Massenprotesten im ganzen tungsakteure, sondern fungieren vermehrt als Land ausweiteten. Auch wenn v. a. die Jugend Watchdogs, als selbsterklärtes Korrektiv und eine entscheidende Triebkraft hinter den Pro- Mahnung gegenüber den Herrschenden. Die testen ist, zogen diese eine breite Masse von Ineffizienz von Parteien und die Unberechen- Bürgern an, die über die Mittelschichten der barkeit staatlicher Repression gegen öffentliches Hauptstädte hinausging und auch viele Frauen Aufbegehren verändern die Formen von politi- einschloss. Diese Diversifizierung der Protestteil- schem Aktivismus. Bürger wenden sich zuneh- nehmer und die dadurch bedingten unterschied- mend informellen Mechanismen des Protests lich umfangreichen Forderungen erschwerten und Boykotts zu.26 die Formierung einer einheitlichen Führung. Ein klassisches „Henne-Ei-Dilemma“: Die Uneinig- Hintergründe von Führerlosigkeit keit ist einerseits ein Symptom für Führerlosig- keit, erschwert andererseits aber auch erst den Der Soziologe Asef Bayat sah schon vor den Ent- Aufbau von Führungsstrukturen. In Algerien wicklungen im Jahr 2011 sozialen Wandel im führten ideologische Differenzen zu Brüchen Nahen Osten in Beziehung zu nonmovements; innerhalb der Bewegung. Die Vielfalt der Pro- „kollektive Handlungen nichtkollektiver Akteure“, testbewegungen wurde von einer Stärke zu einer die Änderungen erwirken, auch wenn diese Herausforderung. Weitere Themen 121
Ohne Führungsfiguren für eine bessere Zukunft: Eine Sudanesin demonstriert in der Hauptstadt Khartum. Quelle: © Umit Bektas, Reuters. Die harte Hand des Staates Protestierende im Irak und Verhaftungen in Algerien verstärkten durch hervorgerufene Ein weiterer Grund für die Entwicklung weit- Sympathie zwar die Protestmobilisierung, tru- gehend führerloser Bewegungen kann in der gen jedoch auch dazu bei, potenzielle Füh- Reaktion staatlicher Stellen auf die Proteste rungsfiguren von der Übernahme von mehr gesehen werden. Auf Widerstand reagieren Verantwortung abzuschrecken. Denn Führungs- staatliche Akteure in (semi-)autoritären Kon- strukturen erleichtern es staatlichen Stellen, texten mit einer Mischung aus Zugeständnis- einzelne Persönlichkeiten ins Visier zu neh- sen, Kooptation und Zwang. Die Gewalt gegen men und zu kooptieren, zu verhaften oder gar 122 Auslandsinformationen 1|2021
hinzurichten, wodurch die Bewegung schnell wurden – noch keine neue, strukturierte Organisa- fragmentiert oder unterdrückt werden kann. tion entwickeln, die sich als Bewerber auf der poli- Führerlose Proteste mit ihrer guerilla-artigen tischen Bühne hätte durchsetzen können. Zwar Organisationsform hingegen sind schwieriger vereinten sich einige Demonstrierende hinter zu unterdrücken.28 2015 entstandenen politischen Bewegungen wie Li Haqqi (für mein Recht) oder bestehenden säku- laren Oppositionsparteien, die bestrebt waren, Die Demonstrierenden eine Anti-Establishment-Allianz zu formen. Den- der zweiten Protestwelle noch ergab sich eine diffuse und verstreute Art der „Führung im Kollektiv“ – als „Basisbewegung haben verdeutlicht, dass [größtenteils] außerhalb der Kontrolle politischer sie nicht verstummen, bis Parteien und entstehender zivilgesellschaftlicher ihre Probleme ernsthaft Strukturen“.31 angegangen werden. Technologie ermöglicht Führerlosigkeit Hierbei spielten die sozialen Medien – wie Nichtsdestotrotz waren Kooptierungsversuche bereits 2011 – eine bedeutende Rolle, indem sie von Fürsprechern der Protestbewegung verein- den Protestierenden eine dezentrale Kommuni- zelt erfolgreich. Einige Protestierende im Irak kation ermöglichten. Schwierig kontrollierbare verließen die Bewegung zur Aufnahme poli- Messagingdienste mit Ende-zu-Ende-Verschlüs- tischer Tätigkeiten. Für einen großen Teil der selung wie Telegram, Twitter zur Verbreitung Demonstrierenden jedoch war das Eintreten in von Protestaufrufen sowie Facebook-Gruppen Verhandlungen mit dem Regime einer Teilnahme für den Austausch von Slogans und Protestrufen an dem manipulierten System und damit einer machten Anführer, zumindest für die Durchfüh- Entscheidung gleichzusetzen, „Teil des Problems“ rung von Protestaktionen, obsolet. Im Libanon zu werden – was ebenso vor der Übernahme einer und im Irak fand die Mobilisierung hauptsäch- Führungsrolle zurückscheuen ließ. Die Proteste lich über kleine Gruppierungen und soziale Netz- richten sich gegen die wahrgenommene Kon- werke statt. zentration von Macht, weshalb viele Teilnehmer ähnlichen Entwicklungen in ihren eigenen Rei- Neustrukturierung als Notwendigkeit? hen kritisch gegenüberstehen.29 Diese Art der führerlosen Protestorganisation Die unüblichen Verdächtigen macht eine Umsetzung der Protestziele jedoch schwierig. Ein Hochskalieren dieser Kleingrup- Ähnlich wie 2011 waren die Protagonisten der pen politischer „Amateure“ erfordert Know-how, zweiten Protestwelle nicht etablierte zivilgesell- Organisationserfahrung, Ressourcen und – vor schaftliche Akteure, sondern „unübliche Ver- allem – Zeit. Auch braucht es zur erfolgreichen dächtige“30 ohne große politische Vorerfahrung, Erzielung politischer Ergebnisse – das zeigen die die weder glaubten, eine Organisation zu brau- Gegenrevolutionen und das Versinken in Bür- chen, noch die richtige Expertise hierfür hatten. gerkriegen nach 2011 – hochgradig strukturierte Sie hatten keine konkrete politische Vision und und strategisch agierende Organisationen. Die keine ausformulierte strategische Agenda für Erfahrungen von 2011, gekoppelt mit dem Über- Verhandlungsgespräche mit der Regierung, wofür lebensdrang der politischen Elite, zeigen jedoch sie Vertreter gebraucht hätten. So konnten sich die Unfähigkeit dieser Protestformen, Jahrzehnte im Libanon in der jüngsten Protestwelle keine alte und tief verwurzelte Strukturen politischer Führungsfiguren herausbilden und – im Gegen- und wirtschaftlicher Herrschaft zu beenden. Die satz zu den Müllprotesten 2015, die maßgeblich meisten Staaten konnten die sozialen Bewegun- von der organisierten Zivilgesellschaft angeführt gen in ihren Ländern damals ausmanövrieren. Weitere Themen 123
Die Demonstrierenden der zweiten Protestwelle Chance auf Reform. Das Vertrauen in Parteien als haben verdeutlicht, dass sie nicht verstummen, politisches Strukturelement, als Organisations- bis ihre Probleme ernsthaft angegangen werden. form, sei jedoch weiterhin vorhanden.33 In Alge- Die Proteste sind ein Indiz für die mangelnde rien sind die formalen politischen Institutionen Responsivität des Systems gegenüber den Inter- und Parteien aufgrund ihrer Verbundenheit mit essen der Bürger. Wie können die ungebündelten dem alten Bouteflika-Regime völlig diskreditiert. Forderungen der Bevölkerung aus dem vorpoliti- Yahia Zoubir sieht daher deren Abrutschen in die schen Raum in die politische Debatte eingebracht Irrelevanz voraus und als Lösungsmöglichkeit und die Wut der Straße in konstruktive politische eine Auflösung aller Parteien und deren Neuauf- Beteiligung und Gestaltungsmacht übersetzt wer- bau unter strengeren Regulierungen.34 den? Und wie können sich politische Parteien an diesem Dialog beteiligen? Politische Führerlosigkeit überwinden Etablierte Parteien reformieren Der Kampf um einen Gegenentwurf zur herr- schenden Elite scheitert vor allem am Mangel Politische Parteien, die über ethnisch-konfessi- alternativer politischer Kräfte, die als glaubwür- onelle Grenzen hinweg und entlang politischer dig eingestuft werden und sich effizient organi- Überzeugungen mobilisieren, eine nationale sieren können. Der Weg aus der aktuellen Krise Identität fördern und – angefangen auf lokaler scheint also nur durch eine intrinsische Entwick- Ebene – Vertrauen in ihre Regierungsführungs lung programmatischer Organisationen aus den kapazitäten schaffen, könnten eine Chance Reihen der Protestierenden heraus möglich. Bei haben. Sie müssten Reformen des Wirtschafts- dieser Überwindung der politischen Führerlosig- modells vorschlagen und durch Parteiengesetze, keit kann die Arbeit internationaler Institutionen die Regeln und Bedingungen für die Neugrün- vor Ort anschließen. dung und den Fortbestand politischer Parteien formulieren, eingeschränkt werden. Sie müss- ten durch innerparteiliche Reformprozesse eine Unabhängige zivilgesellschaft- Kultur der Verantwortung entwickeln und das liche Institute sind für die Vertrauen der Bürger in traditionelle Partizipati- Entwicklung politischer und onsmechanismen wie Wahlen und Kandidaturen zurückgewinnen. Experten aus der Region sehen sozioökonomischer Lösungs- hier bei den etablierten Parteien jedoch kaum vorschläge unabdingbar. eine Chance. Der irakische Analyst Sajad Jiyad sieht zwar die Möglichkeit, das Vertrauen der eigenen Basis In vielen Ländern der Region fehlt es an Aus- und der traditionellen Wähler zu erhalten. Dieses tauschplattformen für junge Menschen und jedoch von den „entmachteten Massen“ zurück- speziell für zukünftige Führungskräfte im zivil- zugewinnen, sei kaum möglich. Hierfür wäre eine gesellschaftlichen und politischen Bereich, wo ressourcen- und zeitaufwändige Generalüber politische Gestaltungsideen diskutiert und Orga- holung nötig, die von Transparenzinitiativen nisationsstrukturen hochgezogen werden kön- über interne Umstrukturierungen bis zu Anpas- nen. Es fehlen Schulungseinrichtungen, die über sungen der Parlamentsaktivitäten reichen müsste. die Funktionsweise politischer Prozesse aufklä- Die aktuelle sozioökonomische Lage erlaube ren, die rechtlichen Hintergründe für Partei- und auch keine Weiterführung des Klientelismus Vereinsgründungen vermitteln, zu Engagement modells.32 Auch der libanesische Wissenschaftler in Gemeinden motivieren sowie Raum für die André Sleiman sieht bei den etablierten Parteien Auseinandersetzung über Konzepte wie Bürger- in Anbetracht der fehlenden internen Demokra- schaft, Transparenz und Rechenschaftspflicht tie, Redefreiheit und Rechenschaftspflicht keine schaffen. Auch sollten die Mitarbeiter staatlicher 124 Auslandsinformationen 1|2021
Institutionen in ihrem Verständnis der grundle- Rentenökonomien, konnte die Kernkomponenten genden Aufgaben des Staates, der Mechanismen guter Regierungsführung nicht erfüllen und hat in und Prinzipien guter Regierungsführung, öffent- den Augen großer Bevölkerungsteile ausgedient. licher Ordnung und Verwaltung gestärkt werden. Um einen Teil der Spannungen, die sich derzeit Hier bieten sich besonders lokale Akteure wie zusammenbrauen, abzuschwächen und langfris- Gemeindeverwaltungen und deren Bürgermeis- tig Stabilität zu fördern, bedarf es der Konzeptu- ter an, da auf kommunaler Ebene oft größerer alisierung eines bürgerorientierten, modernen Handlungsspielraum besteht und Ergebnisse arabischen Staates, der sich auf Rechtsstaatlich- besserer Regierungsführung direkt spürbar sind. keit, verantwortungsvolles Regierungshandeln und soziale Gerechtigkeit stützt. Hierfür muss das Internationale Institutionen können zusätzlich Engagement auf den Straßen in Dialog umgewan- bei der Erweiterung der bislang noch schwachen delt und als Beteiligung am politischen Prozess lokalen Thinktank-Kultur unterstützen. Unabhän- kanalisiert werden. Die für dieses Jahr angesetz- gige zivilgesellschaftliche Institute sind für die ten Wahlen in mehreren Ländern der Region, dar- Entwicklung politischer und sozioökonomischer unter auch Parlamentswahlen im Irak Ende 2021, Lösungsvorschläge unabdingbar. Die Schützen- könnten eine Chance hierfür bieten. hilfe von außen sollte sich dabei allerdings immer an den jeweiligen politischen Möglichkeitsraum Weitere Publikationen und politische Analysen zum anpassen und an konkreten Bedürfnissen ori- zehnjährigen Jubiläum des „Arabischen Frühlings“ entieren. In vielen Ländern wird ausländische finden Sie auf unserer Themenseite: www.kas.de/ Einmischung sehr kritisch aufgefasst. Hier sollte arab-spring. Europa in einen offenen Erfahrungsaustausch tre- ten – auch um die Protestbewegungen durch eine Einmischung nicht zu diskreditieren. Simon Engelkes ist Referent in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung. Entwicklung eines modernen Staatsverständnisses Auch zehn Jahre nach seinem Beginn ist der „Arabische Frühling“ keine abgeschlossene Sache. Er ist ein Prozess, eine sich wandelnde Kultur des Protests und der Einforderung von Verantwort- lichkeit, der in vielen Ländern der Region seit 2010/11 zu beobachten ist. Er ist zu einer Refe- renz der arabischen Jugend geworden, ihren For- derungen weiter Nachdruck zu verleihen. Über all dem steht die Neuaushandlung einer tragfähi- gen politischen Vereinbarung und die Schaffung eines nachhaltigen Bürger-Staat-Verhältnisses – eine der Hauptmotivationen der Proteste vor zehn Jahren. Die Wahrnehmung dieses Verhält- nisses hat sich verändert. In vielen Ländern der Region, auch in denen ohne jüngste Protestaus- brüche, fordern Bürger die staatliche Fürsorge- pflicht ein. Der autoritäre Gesellschaftsvertrag der alten Ordnung, basierend auf leistungsbezogenen Formen der Legitimation und dysfunktionalen Weitere Themen 125
1 45 % der Libanesen leben unterhalb der oberen 9 Zunes, Stephen 2020: The Anatomy of Sudan’s rmutsgrenze von weniger als 4 U A SD pro Tag. Democratic Revolution–One Year Later, I nter- Wood, David / Boswall, Jacob / Halabi, Sami 2020: national Center on Nonviolent Conflict (ICNC), Going Hungry: The Empty Plates and Pockets 15.04.2020, in: https://bit.ly/2NnD4x3 [17.01.2021]. of Lebanon, 05/2020, in: https://bit.ly/2ZjvYwk 10 Yee, Vivian 2019: Lebanon Protests Unite Sects [17.01.2021]. in Demanding New Government, The New York 2 ASDA’A BCW 2020: Arab Youth Survey, Top 10 Times, 23.10.2019, in: https://nyti.ms/2N5G8Os Findings, in: https://bit.ly/3tZDzye [17.01.2021]. [17.01.2021]. 3 France 24 2019: ‚All of them means all of them‘: 11 Jaecke / Labude / Frieser 2020, N. 7, S. 131. Lebanon protest slogans, 21.10.2019, in: 12 Fahmi, Georges 2019: Five Lessons From the New https://f24.my/5g07 [17.01.2021]; Ahmed, H amid Arab Uprisings, Chatham House, 12.11.2019, in: Ould / Chikhi, Lamine 2019: Hundreds of https://bit.ly/3u0kiwB [17.01.2021]. thousands protest against Algeria’s ruling elite, 13 Downey, Michael et al. 2020: We fear hunger, not Reuters, 26.04.2019, in: https://reut.rs/3b6nfD7 coronavirus: Lebanon protests return, The Guardian, [17.01.2021]. via YouTube, in: https://youtu.be/4u1lEXKIrHw Von einer Mehrzahl der Algerier (62 %), S udanesen [17.01.2021]. (68 %), Libanesen (58 %) und Iraker (50 %) werden 14 Brannen, Samuel 2019: The Age of Leaderless die persönliche wirtschaftliche Situation sowie öffent- Revolution, C enter for Strategic and International liche Korruption als größte Herausforderungen Studies (CSIS), 01.11.2019, in: https://bit.ly/2ZidIU3 wahrgenommen, während der Wunsch nach mehr [17.01.2021]. Demokratie nur von 2,3 % (Algerien), 3,9 % (Sudan), 15 Fislage, Franziska / Grabow, Karsten 2019: Bewe- 5 % (Libanon) bzw. 1,4 % (Irak) als wichtigstes An- gungen als Herausforderung für politische Parteien?, liegen genannt wird. Arab Barometer: Arab Barome- Konrad-Adenauer-Stiftung, in: https://bit.ly/3pnmpan ter Wave V, 2018 – 2019, in: https://bit.ly/3u6UUnV [17.01.2021]. [29.03.2021]. 16 Levitsky, Steven / Way, Lucan 2002: The Rise of 4 Dieser Slogan mit den zentralen Forderungen der Competitive Authoritarianism, Journal of Democracy ägyptischen Demonstrierenden im Frühjahr 2011 13: 2, S. 52, in: https://bit.ly/37mBzWT [18.02.2021]. wurde im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ oft 17 Pettitt, Robin 2014: Contemporary Party Politics, durch karama (Würde) ergänzt. Während der Ruf London, S. 3. nach Brot die unmittelbare materielle Notlage 18 Storm, Lise / Cavatorta, Francesco 2018: Do Arabs referenziert, wird die Forderung nach sozialer not do parties? An introduction and exploration, in: Gerechtigkeit oft mit strukturellen Veränderungen Storm / Cavatorta (Hrsg.): Political Parties in the assoziiert. Arab World. Continuity and Change, Edinburgh, 5 In diesem Artikel wird der Begriff „ethnokonfessio- S. 1 – 4. nell“ im Sinne der englischen Begriffe sectarian und 19 Gespräch mit André Sleiman, Libanon- Sectarianism (arab. ta’ifiya) verwendet, für die es Direktor von Democracy Reporting International, im Deutschen bisher keine etablierte Übersetzung per Telefon am 30.12.2020. gibt. Für eine Diskussion verschiedener Konzepte 20 Arab Center Washington DC 2020: The 2019 – 2020 siehe Mabon, Simon / Ardovini, Lucia (Hrsg.) 2018: Arab Opinion Index: Main Results in Brief, 16.11.2020, Sectarianism in the Contemporary Middle East, in: https://bit.ly/3u7WdDp [29.03.2021]. Oxford. 21 Konrad-Adenauer-Stiftung 2020, N. 8; Volk, 6 Jaecke, Gregor / Labude, David / Frieser, Regina Thomas 2021: 10 Jahre „Arabischer Frühling“ – 2020: Jugendrevolte oder identitätsstiftende Bewe- wie denkt die Region heute?, Konrad-Adenauer- gung? Eine Anatomie der Massenproteste im Irak, Stiftung, 26.01.2021, in: https://bit.ly/3avzYQy Auslandsinformationen 36: 3, Konrad-Adenauer- [15.02.2021]. Stiftung, 05.10.2020, S. 124 f., in: https://bit.ly/ 22 Muasher, Marwan 2019: Is This the Arab Spring 2.0?, 3pwlqEN [17.01.2021]. Carnegie Endowment for International Peace, 7 Im Irak sprechen sich laut einer repräsentativen 30.10.2019, in: https://bit.ly/2ZlQJas [17.01.2021]. Umfrage 95 % der Befragten für eine Überwindung 23 Arab Center Washington DC 2020, N. 21. des ethnokonfessionellen Quotensystems (muha- 24 Konrad-Adenauer-Stiftung 2020: PolDiMed sasa ta’ifiya) aus. Konrad-Adenauer-Stiftung 2020: Meinungsumfrage. Executive Summary: Opinion Poll on the Protest 25 Randjbar-Daemi, Siavush / Sadeghi-Boroujerdi, Movement in Iraq, 11/2020, in: https://bit.ly/ Eskandar / Banko, Lauren 2017: Introduction to 2NwXPpW [17.01.2021]. political parties in the Middle East. Historical trajec- 8 International Crisis Group 2019: Post-Bouteflika tories and future prospects, British Journal of Middle Algeria. Growing Protests, Signs of Repression, Eastern Studies 44: 2, S. 156, in: https://bit.ly/3bivV9r Crisis Group Middle East and North Africa Briefing [18.02.2021]. 68, 26.04.2019, S. 4, in: https://bit.ly/3am7kBB 26 Fakir, Intissar / Yerkes, Sarah 2018: Arab Horizons. [17.01.2021]. Governance and the Future of the Arab World, Carnegie Endowment for International Peace, in: https://bit.ly/37h6STc [17.01.2021]. 126 Auslandsinformationen 1|2021
27 Bayat, Asef 2010: Life as Politics. How Ordinary People Change the Middle East, Amsterdam, S. 14, in: https://bit.ly/2Nyo0Nc [18.02.2021]. 28 Ross, Carne 2013: The Leaderless Revolution. How Ordinary People Will Take Power and Change Politics in the 21st Century, London. 29 Serhan, Yasmeen 2019: The Common Element Uniting Worldwide Protests, The Atlantic, 19.11.2019, in: https://bit.ly/3rP1u1k [17.01.2021]. 30 Aarts, Paul / Cavatorta, Francesco 2013: Civil Society in Syria and Iran: Activism in Authoritarian Contexts, Boulder, S. 1 – 19. 31 Sleiman-Gespräch 2020, N. 20. Siehe auch Sleiman, André 2019: A Moment for Change. The Lebanese Uprisings of 2019, Democracy Reporting International, 12/2019, in: https://bit.ly/3bbJpnq [17.01.2021]. 32 Gespräch mit Sajad Jiyad per Telefon am 30.12.2019. 33 Sleiman-Gespräch 2020, N. 20. 34 Gespräch mit Yahia Zoubir, Non-Resident Fellow am Brookings Doha Center und Professor an der KEDGE Business School in Marseille, am 07.01.2021. Weitere Themen 127
Sie können auch lesen