Veraltete Eliten, neues Selbstverständnis - Führerlose Aufstände und die Vertrauenskrise arabischer Autoritäten - Konrad-Adenauer ...

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Veraltete Eliten, neues Selbstverständnis - Führerlose Aufstände und die Vertrauenskrise arabischer Autoritäten - Konrad-Adenauer ...
Quelle: © Ramzi Boudina, Reuters.
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         Veraltete Eliten, neues
           Selbstverständnis
      Führerlose Aufstände und die Vertrauenskrise arabischer Autoritäten

                                 Simon Engelkes

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Veraltete Eliten, neues Selbstverständnis - Führerlose Aufstände und die Vertrauenskrise arabischer Autoritäten - Konrad-Adenauer ...
Zehn Jahre nach dem Beginn des „Arabischen Frühlings“
bekommt die autokratische Fassade im Nahen Osten und
Nordafrika wieder Risse. Der Kampf um eine Alternative
zur herrschenden Elite scheitert dabei jedoch am Mangel
organisierter politischer Kräfte, die die Wut der Straße in
konstruktive politische Beteiligung übersetzen könnten.

Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas befin-       Führerlosigkeit dar und zieht Schlüsse für die
den sich derzeit in einem pandemiebedingten         notwendige Wiederannäherung zwischen Bevöl-
Schwebezustand. Vor dem Ausbruch der Corona­        kerung und Herrschaft.
pandemie im Frühjahr 2020 gingen in Beirut,
Algier, Khartum und Bagdad wieder über eine         Eine zweite Protestwelle bricht los
Million Menschen auf die Straße und forderten
wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wan-     Die unmittelbaren Auslöser der erneuten
del. Die umfangreichen staatlichen Einschrän-       Protestwelle waren von Land zu Land unter-
kungsmaßnahmen im Kampf gegen C       ­ OVID-19     schiedlich. Im Sudan brachte eine Regie-
haben die Proteste zwar vorübergehend herun-        rungsentscheidung, den Preis für Brot zu
tergefahren, doch die ihnen zu Grunde liegenden     verdreifachen, acht Monate zivilen Ungehorsam
sozioökonomischen und politischen Ursachen          und Proteste, welche im Umsturz des Macht-
bestehen weiter. Zehn Jahre nach dem Ausbruch       habers Omar al-­Baschir mündeten. Al-Baschir
einer Welle von Massenprotesten gegen Willkür       hatte das Land für drei Jahrzehnte autoritär
und Unrecht, die in fünf Ländern der Region zum     regiert. In Algerien war es die Ankündigung
Sturz von Langzeitherrschern führte – wovon         von Präsident Abdelaziz Bouteflika, bei den
drei in Bürgerkriegen, einer in einem autoritä-     nächsten Präsidentschaftswahlen für eine fünfte
ren Rückfall und einer in einem demokratischen      Amtszeit zu kandidieren, die die Massenprotest-
Übergang endeten –, ist die arabische Welt noch     bewegung Hirak lostrat. Der schwerkranke und
nicht zur Ruhe gekommen.                            kaum in der Öffentlichkeit präsente Bouteflika
                                                    und seine als le pouvoir (die Macht) bezeichne-
Die zweite Welle der arabischen Aufstände, die      ten Machtzirkel hielten die Zügel des Landes 20
im Dezember 2018 im Sudan begann und sich           Jahre lang in der Hand. Im Irak trieb die Degra-
seither auf Algerien, Irak und Libanon ausdehnte,   dierung des populären Generals Abdel-Wahab
setzt die Auseinandersetzung zwischen Bevöl-        al-Saedi, der als Symbolfigur gegen Korruption
kerungen und ihren politischen Eliten über die      und ­Vetternwirtschaft sowie als Held im Kampf
Anforderungen an einen modernen Staat fort.         gegen den sogenannten Islamischen Staat von
Öffentlichen Institutionen, insbesondere Parla-     der Bevölkerung geschätzt wurde, ab Oktober
menten und Parteien, wird nicht vertraut – oft im   2019 die Menschen auf die Straße. Trotz des
Zuge einer ausgeprägten Ablehnung organisier-       Siegs gegen die Terrororganisation vor drei
ter Interessensvertretung im Allgemeinen. Die       Jahren ist das Land tief zerrissen und kann als
Proteste – ohne gemeinsame Strategien, Hierar-      eines der ölreichsten Länder der Welt nicht für
chien oder Ideologien – fokussieren sich in ihren   seine Bevölkerung sorgen. Im Libanon weite-
Forderungen vermehrt auf konkrete Fragen der        ten sich Proteste gegen eine geplante Steuer auf
Regierungsführung und ihre Strukturlosigkeit        Sprachanrufe über Apps wie WhatsApp zur glei-
erschwert dabei sowohl deren Umsetzung als          chen Zeit zu landesweiten Demonstrationen aus.
auch deren Niederschlagung. Dieser Artikel          Inmitten von Armut und Staatsbankrott steckt
beleuchtet die Ursachen und Forderungen der         der Zedernstaat in der tiefsten Krise seit Ende
neuen Protestwelle, legt die Hintergründe ihrer     des 15-jährigen Bürgerkriegs vor 30 Jahren.

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Altbekannte Ursachen …                                  eigenes Land in einen Bürgerkrieg abrutscht.
                                                        Doch auch wenn die Demonstrierenden von den
Diese Funken konnten nur deshalb einen                  Straßen verschwanden – die Probleme, die sie auf
Flächenbrand auslösen, weil es mit den tief­            die Straßen gebracht hatten, blieben.
gehenden und seit 2011 weiterhin ungelösten
sozioökonomischen Problemen in der Region               Ein Jahrzehnt später gibt es in vielen Ländern
bereits genügend Zündstoff gab. Mit Ausnahme            der Region noch immer eine unzureichende
des Systemwechsels in Tunesien endeten die Pro-         staatliche Grundversorgung, hohe Arbeitslosig-
teste vor zehn Jahren entweder, weil die Regime         keit und Armut – im Libanon lebt fast die Hälfte
diese mit Gewalt unterdrückten und in Autorita-         der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.1 Dazu
rismus zurückfielen, die Menschen mit materiel-         kommen regionale Währungs- und Wirtschafts-
len Zusprüchen kooptierten und mit vereinzelten         krisen, eine übermäßige Abhängigkeit von
institutionellen Anpassungen besänftigten, oder         (abnehmenden) Einnahmen aus Ölexporten
weil die Öffentlichkeit in manchen arabischen           oder ausländischer Entwicklungshilfe, eine toxi-
Staaten mit Blick auf die Entwicklungen in Syrien,      sche Politisierung von Identität und die weit-
Libyen und Jemen nicht riskieren wollte, dass ihr       reichende Korruption im öffentlichen Sektor.

Armut und Arbeitslosigkeit, kaum Perspektiven: In vielen Ländern der Region blieben sozioökonomische Probleme
auch während des vergangenen Jahrzehnts ungelöst. Quelle: © Zohra Bensemra, Reuters.

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Insbesondere bei der jungen Bevölkerung füh-         sozioökonomische Reformen, bessere staatliche
ren materielle Entbehrung, Zukunftsangst und         Dienstleistungen insbesondere bei der Wasser-,
mangelndes Vertrauen in die Fähigkeit oder den       Gesundheits- und Stromversorgung, aber auch
Willen ihrer Regierungen, diese grundlegenden        bessere Jobmöglichkeiten und Zukunftsperspek-
Probleme zu lösen, zu Verzweiflung und Protest.      tiven sowie effektivere Bemühungen zur Korrupti-
In regionalen sowie länderspezifischen Umfra-        onsbekämpfung.
gen werden Korruption und schlechte Regie-
rungsführung als wesentliche Probleme und
Hauptbeweggründe für die Proteste gesehen. 97           Es ist besonders bemerkens-
Prozent der Jugend in der Levante und Nord­             wert, dass die jüngsten
afrika schätzen zumindest Teile der politischen
                                                        Proteste ethnokonfessionelle
Elite als korrupt ein.2
                                                        und identitäre Trennlinien
… neue Forderungen                                      überwanden.

 Die zweite Protestwelle wiederholt daher nicht
 die Forderungen von 2011, sondern geht dar-
 über hinaus. Mit Protestchören wie „Alle von        Ein Phänomen, das den für wirksame Reformen
 ihnen bedeutet alle von ihnen“ im Libanon und       notwendigen Zusammenhalt untergräbt und
„Das System muss weg“ in Algerien fordern die        antidemokratische Herrschaft schützt, ist das eth-
 Demonstrierenden nicht nur die Absetzung der        nokonfessionelle gesellschaftliche Ordnungsmo-
 herrschenden Elitennetzwerke aus Politikern,        dell.5 Im Irak und im Libanon haben sich infolge
 Geschäftsleuten und Militärs allein, sondern die    despotischer Minderheitenherrschaften und Bür-
 vollständige Demontage der politischen Struk-       gerkriege politische und rechtliche Mechanismen
 turen und Wirtschaftssysteme, die sie ernäh-        der ethnokonfessionellen Machtaufteilung etab-
 ren.3 Statt einzelner Spielsteine sollen sich die   liert, welche die Vergabe der höchsten politischen
 grundlegenden Spielregeln ändern. Auch wenn         Ämter sunnitischen, schiitischen, christlichen
 Protestierende in Algerien und im Sudan auch        oder kurdischen Bevölkerungsteilen zusprechen.
 nach demokratischen Partizipationsmöglichkei-       Diese institutionalisierte identitäre Spaltung der
 ten streben, so schallen heute bedeutend weniger    Gesellschaft begünstigt Vetternwirtschaft (wasta)
 Rufe nach Demokratie durch die Straßen; Forde-      und Klientelismus. Sie zementiert die Undurch-
 rungen nach politischen Freiheiten tauchen oft      lässigkeit politischer Strukturen und verhindert
 nur am Rande auf. Dies gründet auf der Erkennt-     die Entwicklung eines bürgerorientierten Staats-
 nis, dass auch stärkere Wahldemokratien – wie       verständnisses.6
 im Irak und Libanon mit der Abhaltung relativ
 freier und fairer Wahlen – in der öffentlichen     Daher ist es besonders bemerkenswert, dass
Wahrnehmung größtenteils nur der Stärkung           die jüngsten Proteste ethnokonfessionelle und
 korrupter politischer Eliten dienen.               identitäre Trennlinien überwanden.7 Sowohl
                                                    in den von Berbern bewohnten Regionen Alge-
Der Ruf nach ‘aish, hurriya, ‘adala idschtima‘iya – riens als auch in den mehrheitlich arabischen
Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit – erklingt Städten und Gemeinden des Landes war zur
auch heute noch, nur sind die Protestierenden Hochzeit des Hirak gleichsam der Ruf zu hören:
kompromissloser bei ihren Forderungen nach „Keine Berber, keine Araber, keine Ethnie oder
sozioökonomischer Teilhabe.4 Der Wunsch Religion! Wir sind alle Algerier!“ Es ist das erste
nach einer Neuordnung des politischen Systems Mal seit der Unabhängigkeit 1962, dass eine
entzündet sich an den alltäglichen sozioöko- solche Einigkeit in der Forderung nach Wandel
nomischen Lebensrealitäten, die Vorrang vor besteht.8 Gleiches war im Sudan zu beobachten,
unmittelbar politischen Zielen zu haben scheinen. wo das Regime zunächst der ethnischen Gruppe
Die Protestbewegungen fordern tiefgreifende         der Fur die Schuld an den Protesten geben wollte,

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sodass auch in der Hauptstadt Khartum der Ruf         staatliche Ausgangssperren und Versammlungs-
„Wir sind alle Darfur“ zu hören war.9 Im Libanon,      verbote einigen Protesten zwar den Wind aus
 der für den Großteil seiner Geschichte durch kon-     den Segeln. Doch auch wenn der sichtbare Pro-
 fessionelle Spaltungen definiert wurde, schwenk-      test verschwand, so ist er keinesfalls verstummt
 ten im Oktober vor zwei Jahren hunderttausende        und brach sich bei gelegentlichen Lockerun-
 Libanesen jeglicher Konfession die libanesische       gen der pandemiebedingten Einschränkungen
 Flagge mit den Worten „Wir sind alle Libanesen.       wieder Bahn. „Wir fürchten den Hunger, nicht
 Auf der Straße sind wir keine Schiiten, Sunniten      das Coronavirus“, fasste es ein libanesischer
 oder Christen. Wir sind Bürger.“10 Auch im Irak       Demonstrant zusammen.13
 konnten sich die Forderungen der Demonstrie-
 renden zu nationalen Anliegen entwickeln und als
 eine „identitätsstiftende Grundlage“ für eine nati-      Führerlose Bewegungen
 onale Identität fungieren.11 Die Proteste förder-        wachsen und gedeihen in
 ten durch ihre gemeinschaftlichen Forderungen
                                                          den letzten Jahren rund
 nach Aufgabe jeglicher Unterscheidung aufgrund
 von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit eine
                                                          um den Globus.
 einende nationale Identität – zusammengehalten
 durch die gleichen Nöte und Schicksale.
                                                       Besonders bemerkenswert ist jedoch die Führer-
 Strukturanpassungen im                                losigkeit der Proteste. Denn führerlose Bewegun-
­politischen Aktivismus                                gen lassen sich zurzeit nicht nur im Nahen Osten
                                                       beobachten. Sie wachsen und gedeihen unter den
Doch die Protagonisten der zweiten Protestwelle        oben beschriebenen Bedingungen in den letzten
haben auch ihr Vorgehen angepasst. Eine Lektion        Jahren rund um den Globus – von Hongkong und
aus 2011 ist, dass Gewalt Regimen die Chance           Thailand über Frankreich bis nach Chile. Sie sind
bietet, politische Aufstände als Bürgerkrieg           Ausdruck einer globalen Macht- und Formver-
umzudeuten, in aller Härte zu bekämpfen und            schiebung von institutionalisierten Akteuren zu
dadurch jede Hoffnung auf friedlichen Wandel           informellen politischen Bewegungen und Formen
zu ersticken. Obwohl die Demonstrierenden im           des politischen Aktionismus. Einige Beobachter
Sudan, in Algerien und im Irak mit Gewalt und          verleitet dieser globale Trend zur Verkündung
Repression durch staatliche Sicherheitskräfte          eines „Zeitalters der führerlosen Revolution“.14
sowie nichtstaatliche Milizen konfrontiert waren,      Diese Bewegungen sind ein Krisen­phänomen,
beharrten sie größtenteils auf einem gewalt-           richten sich gegen das politische Establishment
freien Vorgehen – was sowohl die Entfremdung           und grenzen sich von bestehenden Parteien ab.15
gemäßigter Unterstützer verhinderte als auch           Um ihre Bedeutung im Kontext des Nahen Ostens
breite nationale und internationale Unterstüt-         und Nordafrikas zu verstehen, ist es notwendig,
zung einbrachte.12                                     zuerst den Blick auf die politischen Systeme in der
                                                       Region zu richten.
Durch die vergangenen Erfahrungen hat sich
auch gezeigt, dass der Sturz eines Herrschers          Kompetitiver Autoritarismus und
nicht das Ende der politischen Ordnung bedeu-          politischer Klientelismus
tet. Im Sudan und in Algerien gingen die Pro-
teste daher auch nach dem Militärputsch                Das politische Modell in der arabischen Welt
gegen Omar al-Baschir und dem Rücktritt von            wurde lange Zeit als „kompetitiver Autoritaris-
Abdelaziz Bouteflika weiter. Im Irak setzten           mus“ beschrieben, in dem sich nichtdemokrati-
sich die Proteste nach dem Rücktritt des Pre-          sche Regime (schein)demokratischer Methoden
mierministers im November 2019 und Reform-             bedienen, um ihre Macht zu sichern. Formal­
versprechen der neuen Regierung ebenfalls              demokratische Institutionen wie Parlamente
fort. Zuletzt nahm die Coronapandemie durch            und Parteien wurden (und werden) als Mittel zur

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Vereint unter einer Flagge: Die aktuellen Protestbewegungen überwinden häufig ethnische und konfessionelle
Trennlinien, ihre Forderungen werden zu nationalen Anliegen. Quelle: © Thaier Al-Sudani, Reuters.

Legitimierung politischer Autorität eingesetzt,          meisten Teilen der Region passé. In den letzten
obwohl die politische Elite bei Wahlen routine­          Jahrzehnten dominierten in der Region Ein- oder
mäßig staatliche Ressourcen missbrauchte,                Zwei-Parteien-Systeme, die den politischen Wett-
oppositionellen Kräften die Berichterstattung in         bewerb massiv einschränkten. Heute finden sich
den Medien verweigerte, Gegner öffentlich schi-          in den meisten arabischen Ländern pluralistische
kanierte oder Wahlergebnisse manipulierte.16             Parteiensysteme; im Libanon und Irak mit sich
Überall im Nahen Osten und Nordafrika gibt es            ständig umbenennenden und neu zusammen-
mittlerweile Parlamente oder vergleichbare Insti-        setzenden Bündnissen aus unübersichtlich vielen
tutionen und Abgeordnete werden größtenteils in          Parteien sogar „hyper­pluralistische“ ­Systeme.
direkten Wahlen mandatiert. Ihr Einfluss auf das
Politikgeschäft variiert von Land zu Land, doch die      Parteien werden aus d ­ emokratietheoretischer
Zeit geschlossener autoritärer Regime ist in den         Perspektive oft als die wichtigsten politischen

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Organisationen der modernen Welt beschrie-            Demonstrierenden eingingen, wandten sich
ben.17 Sie dienen der Formulierung politischer        diese oft an die Oppositionsführer. Nun hat das
Programme durch die Artikulation und Bün-             Misstrauen alle politischen Führer erreicht.22
delung von Bürgerinteressen und der anschlie-
ßenden Mobilisierung von Wählern hinter einer         Im Gegensatz dazu vertreten die informellen Pro-
Agenda. Hierdurch schaffen sie eine Beziehung         testbewegungen große Teile der Bevölkerung. In
zwischen Regierung und Bevölkerung und                allen vier Ländern genießen die Protestbewegun-
ermöglichen ihren Mitgliedern zusätzlich zur          gen breite Unterstützung. Eine überwältigende
Wahlentscheidung direkte Beteiligungsmög-             Mehrheit der Sudanesen (81 Prozent), Algerier
lichkeiten sowie Rechenschaftsforderungen an          (71 Prozent), Libanesen (67 Prozent) und Ira-
gewählte Vertreter.                                   ker (82 Prozent) steht hinter den Forderungen
                                                      der Demonstrierenden; im Sudan gab über ein
 In der arabischen Welt ist diese Verbindung größ-    Drittel der Befragten an, an den Protesten teilge-
 tenteils klientelistisch, d. h. Wähler stimmen für   nommen zu haben.23 Die tiefe Entfremdung zwi-
 eine Partei, von der sie sich bestimmte Vorteile     schen der überwiegend jungen Bevölkerung und
 erhoffen. In vielen Ländern der Region sind          den herrschenden Eliten der Länder treibt viele
 politische Parteien zudem tendenziell schwach        Menschen auf die Straßen. Hier zeigt sich ein
 organisiert und ideologisch unscharf. Sie dienen     großes, nicht umgesetztes politisches Potenzial.
 nicht der Interessenaggregation und Bürger-          Mit dem Wegfall der politischen Parteien bricht
 vertretung, sondern dem persönlichen Nutzen          ein Schlüsselstück des politischen Systems, der
 ihrer Mitglieder. Sie sind oft personalistischer     Vermittler zwischen Bevölkerung und Herrschaft,
 Natur, haben eine schwache interne Demokra-          aus der Gleichung – und es kommt zur direkten
 tie und nur beschränkten Einfluss auf politische     Konfrontation.
 Entscheidungsfindung.18 Der Libanon-Direktor
 von Democracy Reporting International, André
 Sleiman, beschreibt die Parteien im Libanon als         Soziale Bewegungen rücken
„Banden“, gezeichnet von autokratischen Struktu-         mehr und mehr in den Mittel-
 ren, fokussiert auf die eigenen Interessen sowie
                                                         punkt gesellschaftlicher Aus-
 aufgebaut auf Loyalität und Gehorsam: „Man
 kann sie nicht reformieren.“19
                                                         handlungsprozesse.

Die Vertrauenskrise arabischer Parteien
                                                      Nach den radikalpolitischen Projekten der
Diese Einschätzung teilen viele, insbesondere         zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie dem
junge Menschen in der Region. Es ist daher nicht      arabischen Nationalismus, Panarabismus und
überraschend, dass das Vertrauen in öffentliche       Baathismus, dem Erstarken des Islamismus sowie
Institutionen und die Bereitschaft, sich politisch    zuletzt den Demokratierufen des ­„Arabischen
zu engagieren, verschwindend gering sind. In          Frühlings“, wächst in der Region eine zwar poli-
Umfragen geben 61 Prozent der Befragten in            tisch aktivierte, jedoch auch weitgehend desori-
der arabischen Welt an, dass ihre Ansichten von       entierte, fast schon postideologische Generation
keiner bestehenden politischen Gruppe vertreten       auf. Politisch zusammengesetzte Regierungen
werden.20 71 Prozent der Libanesen misstrauen         bieten keine Lösung mehr. Es kommt daher der
politischen Parteien und vier von fünf dem            Wunsch nach technokratischer Führung auf, der
Parlament. Im Irak haben sogar nur fünf Pro-          eher gute Regierungsführung zugetraut wird. In
zent der Bevölkerung eine positive Einstellung        einer regionalen Umfrage der Konrad-Adenauer-
gegenüber Parteien.21 Erkennbar ist diese Ent-        Stiftung gaben 40 Prozent der Algerier und 55
fremdung von der politischen Elite auch an der        Prozent der Libanesen an, Wahlen sollten abge-
sinkenden Wahlbeteiligung. Als einige Regime          schafft und Experten zur Regierungsverantwor-
vor zehn Jahren nicht auf die Forderungen der         tung gezogen werden.24 Der Sudan stellt hier

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einen Prototyp dar, in dem im Nachgang des         selten von Ideologie oder erkennbaren Füh-
 Militärputsches gegen Diktator al-Baschir 2019     rungs- oder Organisationsstrukturen geleitet
 eine dreijährige Übergangsphase unter Führung      werden.27 Diese nichtstrukturierten Proteste,
 einer zivilen Technokratenregierung vereinbart     bezeichnend für autoritäre Systeme, können
 wurde. Damit verbunden ist die Hoffnung auf ein    nach Bayat Wandel erbringen, wo strukturierte
Ende der autokratischen „Teile-und-herrsche“-­      Bewegungen scheitern. Führerlosigkeit befördert
 Strategien und der Beginn von administra et        eine schnelle Reaktions- und hohe Anpassungs-
 impera (verwalte und herrsche). Eine Erschwernis   fähigkeit, hohe Agilität und Innovationsge-
 der Bestrebungen von 2011 waren unter anderem      schwindigkeit bei Protestformen und -taktiken,
 politische und ideologische Spaltungen, insbe-     die sich schneller horizontal verbreiten kön-
 sondere zwischen Islamisten und Säkularisten,      nen. Sie führt aber gleichzeitig auch zu einem
 die zu einem starken Fokus auf Identitätsfra-      Strategievakuum und ineffizientem Einsatz von
 gen führten, weshalb dringendere Angelegen-        Ressourcen. Wie kam es, dass die jüngste Protest-
 heiten wie sozioökonomische Verbesserungen         welle führerlos blieb?
 vernachlässigt wurden. Eine technokratische
 Übergangslösung kann zwar zu einer mittelfris-
 tigen Entspannung beitragen, löst jedoch die          Führungsstrukturen erleichtern
 Grundproblematik nicht und eröffnet erneut ein        es staatlichen Stellen, einzelne
­Legitimationsvakuum.
                                                       Persönlichkeiten ins Visier zu
Die politischen Nachkriegsprojekte des Nahen
                                                       nehmen und zu kooptieren,
Ostens – im Streben nach arabischer Einheit,           zu verhaften oder gar hinzu-
nationaler Unabhängigkeit, Entkolonialisie-            richten.
rung und sozioökonomischer Transformation –
liefen oft unter charismatischen Führern und
ihren Einparteiensystemen. Heute wird jedoch
die Rolle und Bedeutung politischer Parteien        Diversifizierung als ­organisatorische
als „Torwächter zu den Hebeln und Insignien         Herausforderung
der Macht“ infrage gestellt,25 während soziale
Bewegungen mehr und mehr in den Mittelpunkt         Viele der jüngsten Proteste hatten ihren Ursprung
gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse rücken.     in führerlosen Ad-hoc-Aufständen, die sich
Diese dienen dabei weniger als politische Gestal-   anschließend zu Massenprotesten im ganzen
tungsakteure, sondern fungieren vermehrt als        Land ausweiteten. Auch wenn v. a. die Jugend
Watchdogs, als selbsterklärtes Korrektiv und        eine entscheidende Triebkraft hinter den Pro-
Mahnung gegenüber den Herrschenden. Die             testen ist, zogen diese eine breite Masse von
Ineffizienz von Parteien und die Unberechen-        Bürgern an, die über die Mittelschichten der
barkeit staatlicher Repression gegen öffentliches   Hauptstädte hinausging und auch viele Frauen
Aufbegehren verändern die Formen von politi-        einschloss. Diese Diversifizierung der Protestteil-
schem Aktivismus. Bürger wenden sich zuneh-         nehmer und die dadurch bedingten unterschied-
mend informellen Mechanismen des Protests           lich umfangreichen Forderungen erschwerten
und Boykotts zu.26                                  die Formierung einer einheitlichen Führung. Ein
                                                    klassisches „Henne-Ei-Dilemma“: Die Uneinig-
Hintergründe von Führerlosigkeit                    keit ist einerseits ein Symptom für Führerlosig-
                                                    keit, erschwert andererseits aber auch erst den
 Der Soziologe Asef Bayat sah schon vor den Ent-    Aufbau von Führungsstrukturen. In Algerien
 wicklungen im Jahr 2011 sozialen Wandel im         führten ideologische Differenzen zu Brüchen
 Nahen Osten in Beziehung zu nonmovements;          innerhalb der Bewegung. Die Vielfalt der Pro-
„kollektive Handlungen nichtkollektiver Akteure“,   testbewegungen wurde von einer Stärke zu einer
 die Änderungen erwirken, auch wenn diese           Herausforderung.

Weitere Themen                                                                                    121
Ohne Führungsfiguren für eine bessere Zukunft: Eine Sudanesin demonstriert in der Hauptstadt Khartum.
Quelle: © Umit Bektas, Reuters.

Die harte Hand des Staates                              Protestierende im Irak und Verhaftungen in
                                                        Algerien verstärkten durch hervorgerufene
Ein weiterer Grund für die Entwicklung weit-            Sympathie zwar die Protestmobilisierung, tru-
gehend führerloser Bewegungen kann in der               gen jedoch auch dazu bei, potenzielle Füh-
Reaktion staatlicher Stellen auf die Proteste           rungsfiguren von der Übernahme von mehr
gesehen werden. Auf Widerstand reagieren                Verantwortung abzuschrecken. Denn Führungs-
staatliche Akteure in (semi-)autoritären Kon-           strukturen erleichtern es staatlichen Stellen,
texten mit einer Mischung aus Zugeständnis-             einzelne Persönlichkeiten ins Visier zu neh-
sen, Kooptation und Zwang. Die Gewalt gegen             men und zu kooptieren, zu verhaften oder gar

122                                                                            Auslandsinformationen 1|2021
hinzurichten, wodurch die Bewegung schnell           wurden – noch keine neue, strukturierte Organisa-
fragmentiert oder unterdrückt werden kann.           tion entwickeln, die sich als Bewerber auf der poli-
Führerlose Proteste mit ihrer guerilla-artigen       tischen Bühne hätte durchsetzen können. Zwar
Organisationsform hingegen sind schwieriger          vereinten sich einige Demonstrierende hinter
zu unterdrücken.28                                   2015 entstandenen politischen Bewegungen wie
                                                     Li Haqqi (für mein Recht) oder bestehenden säku-
                                                     laren Oppositionsparteien, die bestrebt waren,
   Die Demonstrierenden                              eine Anti-Establishment-Allianz zu formen. Den-
   der zweiten Protestwelle                          noch ergab sich eine diffuse und verstreute Art
                                                     der „Führung im Kollektiv“ – als „Basisbewegung
   haben verdeutlicht, dass
                                                     [größtenteils] außerhalb der Kontrolle politischer
   sie nicht verstummen, bis                         Parteien und entstehender zivilgesellschaftlicher
   ihre Probleme ernsthaft                           Strukturen“.31
   angegangen werden.
                                                     Technologie ermöglicht Führerlosigkeit

                                                     Hierbei spielten die sozialen Medien – wie
Nichtsdestotrotz waren Kooptierungsversuche           bereits 2011 – eine bedeutende Rolle, indem sie
von Fürsprechern der Protestbewegung verein-          den Protestierenden eine dezentrale Kommuni-
zelt erfolgreich. Einige Protestierende im Irak       kation ermöglichten. Schwierig kontrollierbare
verließen die Bewegung zur Aufnahme poli-            ­Messagingdienste mit Ende-zu-Ende-Verschlüs-
tischer Tätigkeiten. Für einen großen Teil der        selung wie Telegram, Twitter zur Verbreitung
Demonstrierenden jedoch war das Eintreten in          von Protestaufrufen sowie Facebook-Gruppen
Verhandlungen mit dem Regime einer Teilnahme          für den Austausch von Slogans und Protestrufen
an dem manipulierten System und damit einer           machten Anführer, zumindest für die Durchfüh-
Entscheidung gleichzusetzen, „Teil des Problems“      rung von Protestaktionen, obsolet. Im Libanon
zu werden – was ebenso vor der Übernahme einer        und im Irak fand die Mobilisierung hauptsäch-
Führungsrolle zurückscheuen ließ. Die Proteste        lich über kleine Gruppierungen und soziale Netz-
richten sich gegen die wahrgenommene Kon-             werke statt.
zentration von Macht, weshalb viele Teilnehmer
ähnlichen Entwicklungen in ihren eigenen Rei-        Neustrukturierung als Notwendigkeit?
hen kritisch gegenüberstehen.29
                                                     Diese Art der führerlosen Protestorganisation
Die unüblichen Verdächtigen                          macht eine Umsetzung der Protestziele jedoch
                                                     schwierig. Ein Hochskalieren dieser Kleingrup-
Ähnlich wie 2011 waren die Protagonisten der         pen politischer „Amateure“ erfordert Know-how,
zweiten Protestwelle nicht etablierte zivilgesell-   Organisationserfahrung, Ressourcen und – vor
schaftliche Akteure, sondern „unübliche Ver-         allem – Zeit. Auch braucht es zur erfolgreichen
dächtige“30 ohne große politische Vorerfahrung,      Erzielung politischer Ergebnisse – das zeigen die
die weder glaubten, eine Organisation zu brau-       Gegenrevolutionen und das Versinken in Bür-
chen, noch die richtige Expertise hierfür hatten.    gerkriegen nach 2011 – hochgradig strukturierte
Sie hatten keine konkrete politische Vision und      und strategisch agierende Organisationen. Die
keine ausformulierte strategische Agenda für         Erfahrungen von 2011, gekoppelt mit dem Über-
Verhandlungsgespräche mit der Regierung, wofür       lebensdrang der politischen Elite, zeigen jedoch
sie Vertreter gebraucht hätten. So konnten sich      die Unfähigkeit dieser Protestformen, Jahrzehnte
im Libanon in der jüngsten Protestwelle keine        alte und tief verwurzelte Strukturen politischer
Führungsfiguren herausbilden und – im Gegen-         und wirtschaftlicher Herrschaft zu beenden. Die
satz zu den Müllprotesten 2015, die maßgeblich       meisten Staaten konnten die sozialen Bewegun-
von der organisierten Zivilgesellschaft angeführt    gen in ihren Ländern damals ausmanövrieren.

Weitere Themen                                                                                      123
Die Demonstrierenden der zweiten Protestwelle        Chance auf Reform. Das Vertrauen in Parteien als
haben verdeutlicht, dass sie nicht verstummen,       politisches Strukturelement, als Organisations-
bis ihre Probleme ernsthaft angegangen werden.       form, sei jedoch weiterhin vorhanden.33 In Alge-
Die Proteste sind ein Indiz für die mangelnde        rien sind die formalen politischen Institutionen
Responsivität des Systems gegenüber den Inter-       und Parteien aufgrund ihrer Verbundenheit mit
essen der Bürger. Wie können die ungebündelten       dem alten Bouteflika-­Regime völlig diskreditiert.
Forderungen der Bevölkerung aus dem vorpoliti-       Yahia Zoubir sieht daher deren Abrutschen in die
schen Raum in die politische Debatte eingebracht     Irrelevanz voraus und als Lösungsmöglichkeit
und die Wut der Straße in konstruktive politische    eine Auflösung aller Parteien und deren Neuauf-
Beteiligung und Gestaltungsmacht übersetzt wer-      bau unter strengeren Regulierungen.34
den? Und wie können sich politische Parteien an
diesem Dialog beteiligen?                            Politische Führerlosigkeit überwinden

Etablierte Parteien reformieren                      Der Kampf um einen Gegenentwurf zur herr-
                                                     schenden Elite scheitert vor allem am Mangel
Politische Parteien, die über ethnisch-konfessi-     alternativer politischer Kräfte, die als glaubwür-
onelle Grenzen hinweg und entlang politischer        dig eingestuft werden und sich effizient organi-
Überzeugungen mobilisieren, eine nationale           sieren können. Der Weg aus der aktuellen Krise
Identität fördern und – angefangen auf lokaler       scheint also nur durch eine intrinsische Entwick-
Ebene – Vertrauen in ihre Regierungsführungs­        lung programmatischer Organisationen aus den
kapazitäten schaffen, könnten eine Chance            Reihen der Protestierenden heraus möglich. Bei
haben. Sie müssten Reformen des Wirtschafts-         dieser Überwindung der politischen Führerlosig-
modells vorschlagen und durch Parteiengesetze,       keit kann die Arbeit internationaler Institutionen
die Regeln und Bedingungen für die Neugrün-          vor Ort anschließen.
dung und den Fortbestand politischer Parteien
formulieren, eingeschränkt werden. Sie müss-
ten durch innerparteiliche Reformprozesse eine          Unabhängige zivilgesellschaft-
Kultur der Verantwortung entwickeln und das             liche Institute sind für die
Vertrauen der Bürger in traditionelle Partizipati-
                                                        Entwicklung politischer und
onsmechanismen wie Wahlen und Kandidaturen
zurückgewinnen. Experten aus der Region sehen
                                                        sozioökonomischer Lösungs-
hier bei den etablierten Parteien jedoch kaum           vorschläge unabdingbar.
eine Chance.

Der irakische Analyst Sajad Jiyad sieht zwar die
Möglichkeit, das Vertrauen der eigenen Basis         In vielen Ländern der Region fehlt es an Aus-
und der traditionellen Wähler zu erhalten. Dieses    tauschplattformen für junge Menschen und
jedoch von den „entmachteten Massen“ zurück-         speziell für zukünftige Führungskräfte im zivil-
zugewinnen, sei kaum möglich. Hierfür wäre eine      gesellschaftlichen und politischen Bereich, wo
ressourcen- und zeitaufwändige Generalüber­          politische Gestaltungsideen diskutiert und Orga-
holung nötig, die von Transparenzinitiativen         nisationsstrukturen hochgezogen werden kön-
über interne Umstrukturierungen bis zu Anpas-        nen. Es fehlen Schulungseinrichtungen, die über
sungen der Parlamentsaktivitäten reichen müsste.     die Funktionsweise politischer Prozesse aufklä-
Die aktuelle sozioökonomische Lage erlaube           ren, die rechtlichen Hintergründe für Partei- und
auch keine Weiterführung des Klientelismus­          Vereinsgründungen vermitteln, zu Engagement
modells.32 Auch der libanesische Wissenschaftler     in Gemeinden motivieren sowie Raum für die
André Sleiman sieht bei den etablierten Parteien     Auseinandersetzung über Konzepte wie Bürger-
in Anbetracht der fehlenden internen Demokra-        schaft, Transparenz und Rechenschaftspflicht
tie, Redefreiheit und Rechenschaftspflicht keine     schaffen. Auch sollten die Mitarbeiter staatlicher

124                                                                       Auslandsinformationen 1|2021
Institutionen in ihrem Verständnis der grundle-        Rentenökonomien, konnte die Kernkomponenten
genden Aufgaben des Staates, der Mechanismen           guter Regierungsführung nicht erfüllen und hat in
und Prinzipien guter Regierungsführung, öffent-        den Augen großer Bevölkerungsteile ausgedient.
licher Ordnung und Verwaltung gestärkt werden.         Um einen Teil der Spannungen, die sich derzeit
Hier bieten sich besonders lokale Akteure wie          zusammenbrauen, abzuschwächen und langfris-
Gemeindeverwaltungen und deren Bürgermeis-             tig Stabilität zu fördern, bedarf es der Konzeptu-
ter an, da auf kommunaler Ebene oft größerer           alisierung eines bürgerorientierten, modernen
Handlungsspielraum besteht und Ergebnisse              arabischen Staates, der sich auf Rechtsstaatlich-
besserer Regierungsführung direkt spürbar sind.        keit, verantwortungsvolles Regierungshandeln
                                                       und soziale Gerechtigkeit stützt. Hierfür muss das
Internationale Institutionen können zusätzlich         Engagement auf den Straßen in Dialog umgewan-
bei der Erweiterung der bislang noch schwachen         delt und als Beteiligung am politischen Prozess
lokalen Thinktank-Kultur unterstützen. Unabhän-        kanalisiert werden. Die für dieses Jahr angesetz-
gige zivilgesellschaftliche Institute sind für die     ten Wahlen in mehreren Ländern der Region, dar-
Entwicklung politischer und sozio­ökonomischer         unter auch Parlamentswahlen im Irak Ende 2021,
Lösungsvorschläge unabdingbar. Die Schützen-           könnten eine Chance hierfür bieten.
hilfe von außen sollte sich dabei allerdings immer
an den jeweiligen politischen Möglichkeitsraum         Weitere Publikationen und politische Analysen zum
anpassen und an konkreten Bedürfnissen ori-            zehnjährigen Jubiläum des „Arabischen Frühlings“
entieren. In vielen Ländern wird ausländische          finden Sie auf unserer Themenseite: www.kas.de/
Einmischung sehr kritisch aufgefasst. Hier sollte      arab-spring.
Europa in einen offenen Erfahrungsaustausch tre-
ten – auch um die Protestbewegungen durch eine
Einmischung nicht zu diskreditieren.                   Simon Engelkes ist Referent in der Abteilung Naher
                                                       Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Entwicklung eines ­modernen
Staatsverständnisses

 Auch zehn Jahre nach seinem Beginn ist der
­„Arabische Frühling“ keine abgeschlossene Sache.
  Er ist ein Prozess, eine sich wandelnde Kultur des
  Protests und der Einforderung von Verantwort-
  lichkeit, der in vielen Ländern der Region seit
 2010/11 zu beobachten ist. Er ist zu einer Refe-
  renz der arabischen Jugend geworden, ihren For-
  derungen weiter Nachdruck zu verleihen. Über
  all dem steht die Neuaushandlung einer tragfähi-
  gen politischen Vereinbarung und die Schaffung
  eines nachhaltigen Bürger-Staat-­Verhältnisses –
  eine der Hauptmotivationen der Proteste vor
  zehn Jahren. Die Wahrnehmung dieses Verhält-
  nisses hat sich verändert. In vielen Ländern der
  Region, auch in denen ohne jüngste Protestaus-
  brüche, fordern Bürger die staatliche Fürsorge-
  pflicht ein.

Der autoritäre Gesellschaftsvertrag der alten
Ordnung, basierend auf leistungsbezogenen
Formen der Legitimation und dysfunktionalen

Weitere Themen                                                                                       125
1   45 % der Libanesen leben unterhalb der oberen             9    Zunes, Stephen 2020: The Anatomy of Sudan’s
    ­ rmutsgrenze von weniger als 4 U
    A                                  ­ SD pro Tag.               Democratic Revolution–One Year Later, I­ nter­-
    Wood, David / Boswall, Jacob / Halabi, Sami 2020:               national Center on Nonviolent Conflict (ICNC),
    Going Hungry: The Empty Plates and Pockets                     15.04.2020, in: https://bit.ly/2NnD4x3 [17.01.2021].
    of Lebanon, 05/2020, in: https://bit.ly/2ZjvYwk           10   Yee, Vivian 2019: Lebanon Protests Unite Sects
    [17.01.2021].                                                  in Demanding New Government, The New York
2   ASDA’A BCW 2020: Arab Youth Survey, Top 10                     Times, 23.10.2019, in: https://nyti.ms/2N5G8Os
    Findings, in: https://bit.ly/3tZDzye [17.01.2021].             [17.01.2021].
3   France 24 2019: ‚All of them means all of them‘:          11   Jaecke / Labude / Frieser 2020, N. 7, S. 131.
    Lebanon protest slogans, 21.10.2019, in:                  12   Fahmi, Georges 2019: Five Lessons From the New
    https://f24.my/5g07 [17.01.2021]; Ahmed, H    ­ amid           Arab Uprisings, Chatham House, 12.11.2019, in:
    Ould / Chikhi, Lamine 2019: Hundreds of                        https://bit.ly/3u0kiwB [17.01.2021].
    thousands protest against Algeria’s ruling elite,         13   Downey, Michael et al. 2020: We fear hunger, not
    Reuters, 26.04.2019, in: https://reut.rs/3b6nfD7               coronavirus: Lebanon protests return, The Guardian,
    [17.01.2021].                                                  via YouTube, in: https://youtu.be/4u1lEXKIrHw
    Von einer Mehrzahl der Algerier (62 %), S   ­ udanesen         [17.01.2021].
    (68 %), Libanesen (58 %) und Iraker (50 %) werden         14   Brannen, Samuel 2019: The Age of Leaderless
    die persönliche wirtschaftliche Situation sowie öffent-        Revolution, C  ­ enter for Strategic and International
    liche Korruption als größte Herausforderungen                   Studies (CSIS), 01.11.2019, in: https://bit.ly/2ZidIU3
    wahrgenommen, während der Wunsch nach mehr                     [17.01.2021].
    Demokratie nur von 2,3 % (Algerien), 3,9 % (Sudan),       15   Fislage, Franziska / Grabow, Karsten 2019: Bewe-
    5 % (Libanon) bzw. 1,4 % (Irak) als wichtigstes An-            gungen als Herausforderung für politische Parteien?,
    liegen genannt wird. Arab Barometer: Arab Barome-              Konrad-Adenauer-Stiftung, in: https://bit.ly/3pnmpan
    ter Wave V, 2018 – 2019, in: https://bit.ly/3u6UUnV            [17.01.2021].
    [29.03.2021].                                             16   Levitsky, Steven / Way, Lucan 2002: The Rise of
4   Dieser Slogan mit den zentralen Forderungen der                Competitive Authoritarianism, Journal of Democracy
    ägyptischen Demonstrierenden im Frühjahr 2011                  13: 2, S. 52, in: https://bit.ly/37mBzWT [18.02.2021].
    wurde im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ oft            17   Pettitt, Robin 2014: Contemporary Party Politics,
    durch karama (Würde) ergänzt. Während der Ruf                  London, S. 3.
    nach Brot die unmittelbare materielle Notlage             18   Storm, Lise / Cavatorta, Francesco 2018: Do Arabs
    referenziert, wird die Forderung nach sozialer                  not do parties? An introduction and exploration, in:
    Gerechtigkeit oft mit strukturellen Veränderungen               Storm / Cavatorta (Hrsg.): Political Parties in the
    assoziiert.                                                    Arab World. Continuity and Change, Edinburgh,
5   In diesem Artikel wird der Begriff „ethnokonfessio-             S. 1 – 4.
    nell“ im Sinne der englischen Begriffe sectarian und      19   Gespräch mit André Sleiman, Libanon-
    Sectarianism (arab. ta’ifiya) verwendet, für die es            Direktor von Democracy Reporting International,
    im Deutschen bisher keine etablierte Übersetzung                per Telefon am 30.12.2020.
    gibt. Für eine Diskussion verschiedener Konzepte          20   Arab Center Washington DC 2020: The 2019 – 2020
    siehe Mabon, Simon / Ardovini, Lucia (Hrsg.) 2018:             Arab Opinion Index: Main Results in Brief, 16.11.2020,
    Sectarianism in the Contemporary Middle East,                  in: https://bit.ly/3u7WdDp [29.03.2021].
    Oxford.                                                   21   Konrad-Adenauer-Stiftung 2020, N. 8; Volk,
6   Jaecke, Gregor / Labude, David / Frieser, Regina               Thomas 2021: 10 Jahre „Arabischer Frühling“ –
    2020: Jugendrevolte oder identitätsstiftende Bewe-             wie denkt die Region heute?, Konrad-Adenauer-
    gung? Eine Anatomie der Massenproteste im Irak,                 Stiftung, 26.01.2021, in: https://bit.ly/3avzYQy
    Auslandsinformationen 36: 3, Konrad-Adenauer-                  [15.02.2021].
    Stiftung, 05.10.2020, S. 124 f., in: https://bit.ly/      22   Muasher, Marwan 2019: Is This the Arab Spring 2.0?,
    3pwlqEN [17.01.2021].                                          Carnegie Endowment for International Peace,
7   Im Irak sprechen sich laut einer repräsentativen               30.10.2019, in: https://bit.ly/2ZlQJas [17.01.2021].
    Umfrage 95 % der Befragten für eine Überwindung           23   Arab Center Washington DC 2020, N. 21.
    des ethnokonfessionellen Quotensystems (muha-             24   Konrad-Adenauer-Stiftung 2020: PolDiMed
    sasa ta’ifiya) aus. Konrad-Adenauer-Stiftung 2020:             Meinungsumfrage.
    Executive Summary: Opinion Poll on the Protest            25   Randjbar-Daemi, Siavush / Sadeghi-Boroujerdi,
    Movement in Iraq, 11/2020, in: https://bit.ly/                 Eskandar / Banko, Lauren 2017: Introduction to
    2NwXPpW [17.01.2021].                                           political parties in the Middle East. Historical trajec-
8   International Crisis Group 2019: Post-Bouteflika               ­tories and future prospects, British Journal of Middle
    Algeria. Growing Protests, Signs of Repression,                Eastern Studies 44: 2, S. 156, in: https://bit.ly/3bivV9r
    Crisis Group Middle East and North Africa Briefing             [18.02.2021].
    68, 26.04.2019, S. 4, in: https://bit.ly/3am7kBB          26   Fakir, Intissar / Yerkes, Sarah 2018: Arab Horizons.
    [17.01.2021].                                                  Governance and the Future of the Arab World,
                                                                   Carnegie Endowment for International Peace, in:
                                                                   https://bit.ly/37h6STc [17.01.2021].

126                                                                                     Auslandsinformationen 1|2021
27 Bayat, Asef 2010: Life as Politics. How Ordinary
   People Change the Middle East, Amsterdam, S. 14,
   in: https://bit.ly/2Nyo0Nc [18.02.2021].
28 Ross, Carne 2013: The Leaderless Revolution. How
   Ordinary People Will Take Power and Change
   Politics in the 21st Century, London.
29 Serhan, Yasmeen 2019: The Common Element Uniting
   Worldwide Protests, The Atlantic, 19.11.2019, in:
   https://bit.ly/3rP1u1k [17.01.2021].
30 Aarts, Paul / Cavatorta, Francesco 2013: Civil Society
   in Syria and Iran: Activism in Authoritarian Contexts,
   Boulder, S. 1 – 19.
31 Sleiman-Gespräch 2020, N. 20. Siehe auch Sleiman,
   André 2019: A Moment for Change. The Lebanese
   Uprisings of 2019, Democracy Reporting International,
   12/2019, in: https://bit.ly/3bbJpnq [17.01.2021].
32 Gespräch mit Sajad Jiyad per Telefon am 30.12.2019.
33 Sleiman-Gespräch 2020, N. 20.
34 Gespräch mit Yahia Zoubir, Non-Resident Fellow
   am Brookings Doha Center und Professor an
   der ­KEDGE Business School in Marseille, am
   07.01.2021.

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