Verheerende Zustände in Geflüchteten-Camps - "Leben buchstäblich im Dreck"

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Verheerende Zustände in Geflüchteten-Camps - "Leben buchstäblich im Dreck"
GESPRÄCH MIT SEENOTRETTER REISCH
Fünf Jahre EU-Türkei-Abkommen:

Verheerende Zustände in Geflüchteten-Camps - „Leben
buchstäblich im Dreck“
Die EU und die Türkei einigten sich 2016 angesichts der Migration Richtung Europa auf ein Abkommen. 2021 ist die
Situation der Geflüchteten rund um Izmir prekär, wie Merkur.de erfährt.

Kapitän Claus-Peter Reisch auf dem Deck des Rettungsschiffes «Eleonore».                   © Johannes Filous/dpa

Von Anna-Katharina Ahnefeld

Aktualisiert: 25.03.202116:50

Izmir - Zehn Jahre schon dauert der Syrien-Krieg an. Fünf Jahre besteht das EU-Türkei-Abkommen. 1833
Tage. So viel Zeit ist seitdem vergangen. Angesichts der Geflüchteten-Bewegung 2015 vereinbarte die
Europäische Union 2016 einen Deal, der die Zahl der Geflüchteten auf der Route über die Türkei nach
Griechenland - und damit in die EU - eindämmen sollte. Doch die Realität sieht übel aus, wie Merkur.de*
aus der Region um das türkische Izmir erfährt.
Verheerende Zustände in Geflüchteten-Camps - "Leben buchstäblich im Dreck"
EU-Türkei-Abkommen besteht seit fünf Jahren - Projekt „LandsAid“ versorgt 700 Familien
um Izmir
Zehn Jahre. Fünf Jahre EU-Türkei-Deal. 1833 Tage. Hinter den Zahlen stecken Menschen. Menschen wie
diejenigen, denen der deutsche Seenotretter Claus-Peter Reisch, ehemaliger Skipper des Rettungsschiffs
Lifeline, rund um die türkische Metropole Izmir begegnet. In inoffiziellen Camps, verstreut über das
ländliche Gebiet, leben dort Tausende. 700 Familien betreut das Projekt „LandsAid“, mit dem Reisch in
die Türkei gereist ist. Es hilft diesen Familien zu überleben. Mit Essenspaketen, Hygiene- und Babyartikeln.
In Zeiten der Corona-Pandemie auch mit Masken. Laut „LandsAid“ befinden sich in der Region um Izmir
circa 150.000 bis 200.000 Migrant:innen, die Hälfte davon in illegalen Camps. Der Großteil von ihnen sei
aus Syrien, erklärt Reisch. In den notdürftig zusammen gezimmerten Camps hausen ihm zufolge vor allem
Frauen, Kinder und alte Menschen in prekären Zuständen - ohne staatliche Hilfe, ohne Geld, ohne Arbeit,
meist ohne fließend Wasser.
Während er mit Merkur.de* spricht, steht Reisch am Hafen von Izmir, wie er erzählt. Es sei warm, die
Menschen trügen bereits frühlingshafte Kleidung, berichtet er. Aufgrund der Pandemie hätten alle eine
Maske auf, auch Kinder, die auf Fahrrädern unterwegs seien. Er hat sich zurückgezogen, um in Ruhe
telefonieren zu können. Um zu beschreiben, was auch für ihn als erfahrenen Seenotretter kaum zu
glauben sei. Von „Elendslagern“ spricht er, kleinen Camps, die größtenteils aus Plastikplanen bestünden.
„Ich glaube, ich darf sagen, ich habe schon einiges gesehen, aber das was ich da sehen musste, hat mich
emotional sehr berührt“, sagt Reisch. Auf Twitter hatte er bereits vor dem Telefonat Fotos der Zustände
geteilt. Eines zeigt eine alte Frau, inmitten eines der Camps, umgeben von Kindern und jungen Frauen, auf
einen Stock gestützt.

In den Camps in der Türkei leben vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen.   © Claus-Peter Reisch
Verheerende Zustände in Geflüchteten-Camps - "Leben buchstäblich im Dreck"
„LandsAid“ unterstützt syrische Geflüchtete in der Region um Izmir - Menschen leben in
prekären Lagern
Zehn Jahre. Fünf Jahre EU-Türkei-Deal. 1833 Tage. „Die Geflüchteten finden einen Landbesitzer, der sie
auf seinem Gelände campieren lässt. Wenn sie Glück haben, stellt er ihnen einen Wassertank hin und füllt
diesen auf. Dann haben sie Glück. Alles andere bleibt ihnen überlassen. Die heben sich dann ein Loch als
Toilette aus. Wenn es regnet, versinken die Camps in Schlamm. Die Menschen haben keine vernünftigen
Schuhe. Es ist erschütternd“, schildert Reisch seine Eindrücke: „Die Leute leben buchstäblich im Dreck.
Überall auf dem Land verteilt befinden sich diese kleineren Camps. Das Ziel von „LandsAid“ sei es, neben
der Versorgung, die Geflüchteten von der lebensgefährlichen Reise nach Europa abzuhalten. Ein
schwieriges Unterfangen, angesichts der Verzweiflung und der katastrophalen Bedingungen in den
Camps.
„Die Menschen setzen sich in der Hoffnung, dass es in Griechenland* besser ist, in irgendwelche
untauglichen Boote“, sagt der 60-Jährige. Trotz der Gefahr, auf dem Weg dorthin zu kentern und zu
ertrinken. Eine der Aufgaben des Hilfsprojekts sei es daher, die Menschen darüber aufzuklären. „Wenn
man dafür sorgt, dass es den Menschen einigermaßen gut geht, dass der Druck, sich woanders
hinzubewegen, nicht da ist, dann machen sich weniger auf den Weg.“ Er berichtet, was sich die
Helfer:innen vor Ort erschüttert erzählen: Von einer fünfköpfigen Familie, die das Projekt über ein Jahr
hinweg betreut hatte. Und die sich dennoch in eines der Boote setzte. Es habe keine Überlebenden
gegeben. „Die Abschottungspolitik, die als Folge der EU-Türkei-Erklärung eingeführt wurde, hatte
verheerende Folgen für die geflüchteten Menschen, die in Europa Sicherheit und Schutz suchen“,
berichtet die humanitäre Hilfsorganisation „International Rescue Committee“ (IRC).

80 Prozent der Geflüchteten, die rund um Izmir leben, stammen dem Hilfsprojekt „LandsAid“ zufolge aus Syrien.
© Claus-Peter Reisch
Syrische Geflüchtete auf dem Weg nach Europa - Tausende leben rund um Izmir in
inoffiziellen Camps
Das Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos wurde zum Symbolbild der
Migrationsbewegung nach Europa. Als das Lager in Brand geriet, lenkte dies vergangenes Jahr den Blick
der Weltgemeinschaft auf die Zustände vor Ort. Für eine Weile. Auf dem EU-Gipfel ab dem 25. März,
steht das EU-Türkei-Abkommen auf der Agenda. Wie die Deutsche Welle berichtete, ist das finanzielle
Hilfsprogramm für die Geflüchteten in der Türkei bereits für ein weiteres Jahr verlängert worden. Die
Situation der Migrant:innen in der Türkei ist weniger Menschen bekannt als die Elendslager auf den
griechischen Inseln.
Den Namen Moria kennt jeder, die kleinen zersplitterten Camps rund um Izmir nicht. „Ein paar Kilometer
weiter ist die Not mindestens genauso groß, aber es weiß keiner davon“, sagt Claus-Peter Reisch. Was die
Perspektive dieser Menschen sei? „Die Perspektive ist, dass man schauen muss, dass die Menschen durch
Nahrungsmittel am Leben bleiben. Das sie überleben können.“ Zehn Jahre. Fünf Jahre EU-Türkei-Deal.
1833 Tage.

.        Der EU-Türkei-Deal
         Die Türkei soll ohne Anspruch auf Asyl nach Griechenland geflüchtete Menschen
         zurücknehmen und die Grenzen verstärkt kontrollieren, um Migrant:innen an der Flucht
         in Richtung Europa zu hindern. Dafür nehmen die Mitgliedstaaten der EU die gleiche
         Zahl an geflüchteten Syrer:innen aus den Lagern der Türkei auf. Im Gegenzug sollen mit
         sechs Milliarden Euro aus Brüssel die in der Türkei lebenden Geflüchteten unterstützt
         werden. Ein Grundgedanke war, Menschen von der gefährlichen Reise über das
         Mittelmeer abzuhalten und diejenigen mit Asylanspruch besser zu versorgen. In der
         Realität verwandelte sich die griechische Insel Lesbos zur äußeren Festungsmauer
         Europas, an der Menschen teilweise Jahre auf ihren Asyl-Bescheid warten - oder darauf,
         in die Türkei zurück geschickt zu werden.
         Die Zahl, der über das östliche Mittelmeer in die Europäische Union geflüchteten
         Menschen hat seitdem tatsächlich abgenommen. Dem UN-Flüchtlingskommissariat
         zufolge kamen 2015 noch rund 857.000 Geflüchtete an, 2019 nur noch knapp 60.000. In
         der Türkei* selbst leben laut UNO-Flüchtlingshilfe (Stand 2019) über 3,6 Millionen
         syrischer Geflüchtete. Knapp 29.000 Menschen nahmen die EU-Staaten in dieser Zeit
         insgesamt auf - deutlich weniger als im EU-Türkei-Deal vereinbart. Die Corona-Krise
         verschärfte die Situation der Geflüchteten noch. Die Türkei verweigerte die Rücknahme
         der Geflüchteten, die EU stoppte die Aufnahme. Seit August 2020 nimmt die
         Europäische Union wieder Syrer:innen auf. Das Abkommen entwickelte sich zunehmend
         zu einem politischen Druckmittel der Türkei auf die EU, die beispielsweise vergangenes
         Jahr die Grenze zu Griechenland vorübergehend für offen erklärte.
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