Videokonferenz trifft Voting-Tool - Lernen, testen, diskutieren und motivieren in der digitalen Distanzlehre

 
WEITER LESEN
Videokonferenz trifft Voting-Tool - Lernen, testen, diskutieren und motivieren in der digitalen Distanzlehre
20   Digitales Lehren und Lernen                                                         GDM-Mitteilungen 110 · 2021

     Videokonferenz trifft Voting-Tool – Lernen, testen, diskutieren und
     motivieren in der digitalen Distanzlehre

     Sabrina Heiderich und Valentin Böswald

     Videokonferenzen werden derzeit vielfach an den         Qualitätsverbesserung der (Distanz-)Lehre leisten.
     Hochschulen zur Umsetzung einer Distanzlehre ein-       Studien verweisen auf diverse Effekte durch ihren
     gesetzt. Die Vorteile liegen in den verschiedenen In-   Einsatz (vgl. Mayhew et al., 2020), u. a.:
     teraktionsmöglichkeiten (bspw. Video, Audio, Bild-
                                                                Dynamisierung von Lehrveranstaltungen
     schirm teilen- und Chat-Funktion), die die Präsenz-
                                                                Studierendenzentriertes (Diskussions-)Format
     lehre möglichst gut ersetzen sollen. Unser Eindruck
                                                                Verbesserung des Lernens
     ist jedoch, dass das Distanzlehren und -lernen in
                                                                Erhöhung von Freude und Aufmerksamkeit
     Videokonferenzen dazu führt, dass sich die aktive
                                                                Erhöhung von Engagement und Motivation
     Beteiligung der Lehramtsstudierenden insbesonde-
                                                                Erhöhung von Problemlösefähigkeiten
     re im Plenum im Vergleich zu Präsenzveranstaltun-
                                                                Erhöhung der Inklusivität durch gegenseitiges
     gen deutlich reduziert. Deshalb wird der Auffas-
                                                                Sichtbarwerden der Ideen und Meinungen der
     sung gefolgt, dass Interaktivität keine Eigenschaft
                                                                gesamten Kohorte
     des digitalen Lernsystems (bspw. mit Fokus auf
     die Funktionen der Videokonferenz-Software) ist,        Aus diesen Erkenntnissen ist das Bestreben ent-
     sondern als dynamischer Prozess zwischen den            sprungen, ein Audio Response System kontinuier-
     Lernenden, den Lehrenden und dem verwende-              lich im Rahmen einer Lehrveranstaltung des Lehr-
     ten System verstanden werden muss (vgl. Heidig,         amtstudiums Mathematik einzusetzen, die derzeit
     2020). Das aus der Kommunikationspsychologie            vollständig per Videokonferenz durchgeführt wird.
     stammende Modell INTERACT (Integriertes Mo-                 Wir hatten die Präsentationsplattform Mentime-
     dell der Interaktivität beim multimedialen Lernen,      ter in der Veranstaltung „Einführung in die Fachdi-
     vgl. Domagk, Schwartz & Plass, 2010) beschreibt         daktik“ an der WWU Münster bereits im vorange-
     die dynamischen Beziehungen der angebotenen             gangenen Wintersemester für GymGe-Studierende
     Interaktionsmöglichkeiten durch das Lernsystem,         des 3. Semesters und HRSGe-Studierenden des
     gesteuert durch die Lehrenden und den daraufhin         5. Semesters eingesetzt. In der letzten Übungssit-
     möglichen (Re-)Aktionen der Lernenden auf drei          zung haben wir mithilfe des Tools auf das antei-
     Ebenen: (1) Physische Aktivität, (2) Kognitive und      lige Single-Choice-Format in der abschließenden
     metakognitive Aktivität und (3) Affektiver Zustand.     Klausur vorbereitet, indem das klassische Ankreuz-
     Das Modell folgt der Annahme, dass eine physische       format in ein digitales Live-Voting überführt wur-
     Aktivität, zusammen mit einem günstigen affekti-        de. Auf Basis des äußerst guten Feedbacks der
     ven Zustand die zum Lernen notwendige kognitive         Veranstaltungsteilnehmer/-innen ist die Idee ent-
     Aktivierung unterstützen und zusätzlich fördern         standen das digitale Werkzeug in der Folgeveran-
     kann.                                                   staltung im Zuge einer wöchentlichen Einstiegsse-
         Für eine Anregung von Prozessen im Rahmen           quenz in jede Übungssitzung – vorbereitet durch
     der Videokonferenzlehre wollten wir ein Werkzeug        kleinere Studierendengruppen (anstelle einer klei-
     implementieren, das Interaktionen auf allen drei        nen Referatsleistung) – zu integrieren. Dabei lässt
     genannten Ebenen anregt und damit zugleich die          sich dieses Medium unkompliziert in Lehrveran-
     Studierenden vom externen Arbeitsplatz aus akti-        staltungen per Videokonferenz implementieren.
     viert (1), das Lernen unterstützt, Wissen testet, zu
     Diskussionen anregt (2) und einen motivierenden
                                                             Voting-Tool Mentimeter und
     Charakter besitzt (3). Für eine geeignete Ausgangs-
                                                             mathematikdidaktische Inhalte
     lage seitens der Lernenden konnten Gegenfurter
     et al. (2017) in ihrer Studie eine große Akzeptanz      Mentimeter ist eine App für Live-Umfragen und
     hinsichtlich des Einsatzes digitaler Tools in uni-      Echtzeit-Feedback. Das gleichnamige Unternehmen
     versitären Lehrveranstaltungen durch Mathematik-        wurde 2014 in Schweden gegründet. Für das Er-
     studierende im Vergleich zu Studierenden anderer        stellen einer Präsentation wird ein Account auf der
     Fachkulturen zeigen. Aus der Sicht digitaler Sys-       Mentimeter-Homepage benötigt (www.mentimeter.
     teme können sogenannte Audience Response Sys-           com). In der kostenfreien Version sind zwei Fra-
     teme auf verschiedenen Ebenen einen Beitrag zur         gefolien und fünf Quizfolien mit verschiedenen
Videokonferenz trifft Voting-Tool - Lernen, testen, diskutieren und motivieren in der digitalen Distanzlehre
GDM-Mitteilungen 110 · 2021                                                           Digitales Lehren und Lernen      21

Abbildung 1. Mentimeter Darstellungsart „Select Answer“ in der „Quiz Competition“

Darstellungsformaten möglich. Die Abstimmenden                  Folie wurde bspw. in der jüngsten Vorlesungs- und
nehmen über einen beliebigen Webbrowser (per                    Übungssitzung u. a. das Konzept der Grundvor-
Smartphone, Laptop o. Ä.) teil.                                 stellungen zu grundlegenden mathematischen Be-
    “Mentimeter enables increased interaction with-             griffen thematisiert, so dass zu der gleichnamigen
out judgement and, in turn, enables all student                 Überschrift vier Aussagen formuliert wurden, bei
voices to be heard within a more inclusive learn-               denen die eine korrekte (4.) identifiziert werden
ing environment” (Mayhew et al., 2020, 14). Das                 muss:
Voting-Tool wird in den Übungen zur Einführungs-
vorlesung in die Mathematikdidaktik (n = 250) als                   Grundvorstellungen
wiederkehrendes Einstiegsformat in den Sitzungen
                                                                    1. Eine Grundvorstellung ist eine fachmathema-
genutzt, um bisherige Inhalte aus den vergange-
                                                                       tische Charakterisierung eines Begriffs.
nen Vorlesungen und Übungen aufzugreifen, zu
                                                                    2. Zu einem Begriff soll genau eine Grundvor-
diskutieren und zu festigen und um gleichzeitig
                                                                       stellung ausgebildet werden.
über das gesamte Semester hinweg auf die ab-
                                                                    3. Bei der Ordinalzahl-Vorstellung zu natürli-
schließende Prüfung vorzubereiten. Der Einsatz zu
                                                                       chen Zahlen ist die zentrale Frage „Wie vie-
Beginn jeder Sitzung bringt eine unmittelbare ak-
                                                                       le?“.
tive Einbindung aller Studierenden mit sich. Die
                                                                    4. Bei der Grundvorstellung „Verteilen“ zur Di-
Veranstaltungsteilnehmer/-innen erarbeiten je ei-
                                                                       vision natürlicher Zahlen wird die Anzahl
ne Präsentation in Kleingruppen. Dabei erstellen
                                                                       der Elemente je Teilmenge gesucht.
sie vier Folien mit je vier Aussagen- bzw. Antwort-
Items zu einer zentralen Überschrift bzw. Frage zu
einem vorgegebenen Darstellungsformat. Eine fünf-               Es kann zusätzlich eine maximale Antwortzeit für
te Folie kann optional mit einem anderen Format                 das Voting und eine wiederkehrende Folie mit ei-
gestaltet werden. Nach einem inhaltlichen Feedback              ner Rangliste (Leaderboard) in Form eines Balkendia-
von den jeweiligen Übungsleiter/-innen auf Basis                gramms eingestellt werden, die unmittelbar nach
einer exportierbaren .pdf zur Präsentation führen               einer Frage den aktuellen Punktestand zeigt und
sie schließlich die Live-Umfrage in der zuvor zu-               zum Abschluss der eingestellten Folien denjenigen
geteilten Sitzung zu Beginn durch. Dies erfordert               bzw. diejenige mit den meisten und schnellsten kor-
sowohl ein Vertrautmachen im Umgang mit dem                     rekten Antworten als Sieger/-in kürt (vgl. Abb. 2).
digitalen Werkzeug als auch eine inhaltliche Vorbe-
reitung auf die Diskussion der Umfrageergebnisse.
    Bei der Erstellung der Umfrage bietet das von               Videokonferenz trifft Mentimeter
uns ausgewählte Format Quiz Competition (Reiter
Type) bei der Darstellungsform Select Answer das                Die Mentimeter-Präsentation wird in der kostenlo-
Potenzial eine Auswahl verschiedener Optionen in                sen Version im Browser gestartet. Über die „Bild-
Form von Aussagen zu einer Frage bzw. Überschrift               schirm teilen“-Funktion des Videokonferenz-Tools
zu treffen (Reiter Content), von denen eine oder                kann das anschließende Live-Voting gestartet wer-
mehrere korrekt sein können, sodass sowohl Single-              den. Die drei Ebenen der Interaktivität beim multi-
als auch Multiple-Choice-Formate konstruiert wer-               medialen Lernen lassen sich dabei wie folgt adres-
den können (vgl. Abb. 1). Bei der illustrierenden               sieren:
Videokonferenz trifft Voting-Tool - Lernen, testen, diskutieren und motivieren in der digitalen Distanzlehre
22   Digitales Lehren und Lernen                                                                GDM-Mitteilungen 110 · 2021

     Abbildung 2. Abschließendes „Leaderboard“ zu einer Umfrage

     (1) Physische Aktivität                                      (2) Kognitive und metakognitive Aktivität
     Die Studierenden der Lehrveranstaltung nehmen                Eine kognitive Aktivierung erfolgt über das Nach-
     aktiv an dem Voting teil, indem sie einen aus Menti-         denken der implementierten inhaltlichen Fragen
     meter heraus erzeugten QR-Code mit ihrem Smart-              und Aussagen der einzelnen Präsentationsfolien
     phone scannen, den man unmittelbar in der voran-             zu bisherigen Veranstaltungsinhalten, die zunächst
     gegangenen Präsentationsfolie zur Lehrveranstal-             individuell eingeschätzt werden müssen. Eine un-
     tung einbetten kann (vgl. Abb. 3). Alternativ kön-           mittelbare dynamische Auswertung jeder Präsen-
     nen sie die Seite www.menti.com besuchen und                 tationsfolie erfolgt beim gewählten Darstellungs-
     den automatisch generierten Code zur Umfrage                 format mittels Säulendiagramm über die Antwort-
     eingeben.                                                    Verteilung, sodass die Einschätzungen aller Studie-
         Mit der Auswahl eines Charak-                            renden der Lehrveranstaltung äußerst zeitnah und
     ters in Form eines Icons mit einem                           für alle einsichtig sind (vgl. Abb. 5). Eine sich stets
     durch die Software vorgeschlagenen                           anschließende Diskussion und Aufklärung über die
     Namen wird sowohl die Möglichkeit                            (Nicht-)Tragfähigkeit der Items als metakognitive
     zur Anonymisierung, aber auch zur                            Aktivität, die in der leitenden Verantwortung der
     Individualisierung gegeben, da ein                           Präsentationsgruppe liegt – und damit dem/der
     Klarname eingesetzt werden kann,           Abbildung 3
                                                                  Dozierenden nur eine aushelfende Hintergrund-
     aber nicht muss (vgl. Abb. 4). Hier-                         funktion zuweist – regt zur Kommunikation einer
     durch entfällt die mögliche Barrie-                          bereits in ihrer Korrektheit aufgelösten Situation
     re einer einzelnen Wortmeldung im Plenum. Ei-                an. Neben der inhaltlichen Bekräftigung richtiger
     ne Überprüfung der Teilnahme der Studieren-                  Items können die nicht-tragfähigen Gründe der an-
     den ist kurzerhand über einen Abgleich der An-               deren Items diskutiert werden. Da die Präsenta-
     zahl der Live-Anzeige derjenigen, die bereits abge-          tionsinhalte durch die Studierendengruppen ins-
     stimmt haben, auf der Präsentationsfolie zur Um-             besondere mit Fokus auf die jüngsten Vorlesungs-
     frage zur stets aktualisiert angezeigten Teilnehmer/         und Übungsinhalte vorbereitet werden sollen und
     -innenzahl der Videokonferenz-Software möglich.              die Präsentationen wöchentlich eingebunden wer-

     Abbildung 4. Benutzeroberfläche für Teilnehmer/-innen
Videokonferenz trifft Voting-Tool - Lernen, testen, diskutieren und motivieren in der digitalen Distanzlehre
GDM-Mitteilungen 110 · 2021                                                         Digitales Lehren und Lernen            23

Abbildung 5. Säulendiagramm zur Auswertung eines Votings

den, werden mögliche Verstehensschwierigkeiten             ten auf verschiedenen Ebenen an, die in ihrem Zu-
zeitnah aufgegriffen und diskutiert. Ein nicht zu          sammenwirken einen möglichen Schritt zu einer
unterschätzender Nebeneffekt ist der damit verbun-         produktiven Distanzlehre ermöglichen sollen.
dene implizite Verweis auf das genaue Lesen von
Items bzw. Aussagen mit Bezug zu Single- und               Literatur
Multiple-Choice-Aufgaben. Ein weiterer möglicher           Domagk, S., Schwartz, R. N., & Plass, J. L. (2010). lnterac-
positiver Effekt dieses Formats ist die Verbesserung          tivity in multimedia learning: An integrated model.
des langfristigen Behaltens der abgefragten Inhalte           Computers in Human Behavior, (26), 1024–1033.
im Vergleich mit ähnlich zeitaufwendigen Lernakti-         Gegenfurtner, A., Fisch, K., & Reitmaier-Krebs, M. (2017).
                                                              Disziplinäre Fachkultur als Einflussgröße auf die stu-
vitäten, ein sogenannter Test-Effekt (vgl. Rowland,
                                                              dentische Akzeptanz von E-Learning-Angeboten an
2014).
                                                              Hochschulen. In Deutsches Zentrum für Hochschul-
                                                              und Wissenschaftsforschung (DZHW) (Hg.), Digitali-
(3) Affektiver Zustand                                        sierung der Hochschulen: Forschung, Lehre, Administrati-
Einen Einfluss auf den affektiven Zustand der Ler-            on. 12. Jahrestagung der Gesellschaft für Hochschul-
                                                              forschung, Hannover, 6–7.
nenden, insbesondere auf die aktuelle Motivation
                                                           Heidig, S. (2020). Wie kann ich die aktive Mitarbeit Stu-
und die aktuellen Emotionen, hat möglicherwei-
                                                              dierender in Videokonferenzen fördern? In J. Kawa-
se der integrierte Spielcharakter beim Einsatz des            lek, K. Hering & E. Schuster (Hrsg.), Tagungsband 18.
Live-Votings. Dieser wird sowohl einerseits über              Workshop on e-Learning (WeL’20), Heft 134, 37-46.
eine Minimierung der zu gewinnenden Punkte bei             Mayhew, E., Davies, M., Millmore, A., Thompson, L., &
zunehmendem Ablauf der Zeit bei jeder Umfra-                  Pena Bizama, A. (2020). The impact of audience re-
gefolie erzeugt (vgl. Ablaufbalken in der rechten             sponse platform Mentimeter on the student and staff
Ansicht in Abb. 4), als auch andererseits über die            learning experience. Research in Learning Technology,
Auswertung einer Rangliste mit einem/r Sieger/-in             (28). doi:10.25304/rlt.v28.2397
der Umfrage (Abb. 2). Dies soll eine positive Be-          Rowland, C. A. (2014). The effect of testing versus re-
einflussung des affektiven Zustands der Lernenden             study on retention: A meta-analytic review of the
                                                              testing effect. Psychological Bulletin, 140(6), 1432–1463.
nach sich ziehen.
                                                              doi:10.1037/a0037559
    Der wiederkehrende Einsatz eines Voting-Tools
(in unserem Fall Mentimeter) im Rahmen der Ein-
                                                           Sabrina Heiderich,
stiegssequenz einer Lehrveranstaltung (am Beispiel
                                                           Westfälische Wilhelms-Universität Münster
einer Übung zu einer mathematikdidaktischen Ein-
                                                           E-Mail: sabrina.heiderich@uni-muenster.de
führungsvorlesung), die live per Videokonferenz
stattfindet, soll eine mögliche Idee liefern, wie die      Valentin Böswald,
wahrgenommene Hemmschwelle zur aktiven Be-                 Westfälische Wilhelms-Universität Münster
                                                           E-Mail: valentin.boeswald@uni-muenster.de
teiligung im Plenum bei der Verwendung dieses
Lernsystems überwunden werden kann. Das vor-
gestellte Potenzial der physischen Aktivierung, der
Förderung der (Meta-)Kognition und der positi-
ven Anregung des affektiven Zustands der Lernen-
den in der Kombination von Videokonferenz und
Voting-Tool spricht dabei Interaktionsmöglichkei-
Sie können auch lesen