Warum es keine Lohn-Preis-Spirale geben wird
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Der Chefökonom – 10. März 2023 Warum es keine Lohn-Preis-Spirale geben wird Deutschlands Industriegewerkschaften haben in der Vergangenheit durchweg Verantwortungsbewusstsein in der Lohnpolitik bewiesen. Daran ändern auch üppige Forderungen und schrille Warnungen nichts. Von Professor Bert Rürup Optimale Ergebnisse von Lohnverhandlungen kann es nicht geben. Das weiß schon das einführende Ökonomielehrbuch. Die Entgelte der Beschäftigten sind zu jeder Zeit gewinnschmälernde Kosten der Arbeitgeber. Für sich genommen ist jede Lohnrunde gesamtwirtschaftlich ein Nullsummenspiel, bei dem Einkommen umverteilt werden. Dessen ungeachtet appelliert die Arbeitgeberseite vor jeder Tarifrunde an die seit der Hyperinflation der 1920er-Jahre im kollektiven Gedächtnis verankerte Inflationsphobie der Bevölkerung und malt das Gespenst einer sich selbst befeuernden Lohn-Preis-Spirale an die Wand. Diese Spirale werde die Notenbank zu Zinserhöhungen zwingen, die wiederum die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ausbremsen, lautet die Argumentation. So würden potenzielle Einkommenszuwächse wieder vernichtet. Die Gewerkschaftsseite dagegen bemüht das Argument, dass Lohnerhöhungen die Kaufkraft steigerten, damit die Nachfrage beflügelten und einen Aufschwung beförderten.
Isoliert betrachtet sind beide Argumente nachvollziehbar und nicht a priori falsch. Doch letztlich geht es bei Tarifverhandlungen darum, die durch Produktivitätsgewinne eröffneten Verteilungsspielräume halbwegs fair zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten zu verteilen. Dabei bewiesen die Arbeitgeber wie die großen deutschen Industriegewerkschaften - oft im Gegensatz zu den Spartengewerkschaften - in den vergangenen Dekaden durchweg ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein. So behielten diese Gewerkschaften stets neben den Interessen der Beschäftigten auch den Arbeitsplatzerhalt und die Wettbewerbsfähigkeit der exportabhängigen deutschen Industrie im Blick. 2
Und nicht wenige Arbeitgeber, etwa in der Autoindustrie, zahlten ihren Beschäftigten oft einen vierstelligen Bonus, um die Arbeitnehmer am Unternehmenserfolg zu beteiligen. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung spiegelt sich diese "faire" Verteilung von Einkommenszuwächsen in einer seit Jahrzehnten recht beständig um die 70-Prozent-Marke pendelnden Lohnquote, also dem Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen, wider. Das damit verbundene hohe Maß an sozialem Frieden wurde zu einem wichtigen Standortvorteil Deutschlands. Während etwa in Frankreich von 2011 bis 2020 insgesamt 91 Arbeitstage pro tausend Beschäftigte im Jahresschnitt wegen Streiks ausfielen, waren es in Deutschland lediglich 18 Tage. Ein wesentlicher Grund für die durchweg moderate Entgeltentwicklung in Deutschland während der zurückliegenden drei Jahrzehnte war, dass mit dem am 27. Juni 1989 einsetzenden Fall des Eisernen Vorhangs ein riesiges Niedriglohngebiet unmittelbar vor der eigenen Haustür entstand. Viele Unternehmen nutzten die Möglichkeit und verlagerten arbeitskostenintensive Fertigungen in die nunmehr in die internationale Arbeitsteilung integrierten osteuropäischen Länder - oder konnten zumindest glaubhaft damit drohen. Auch dank der durchweg klugen Lohnpolitik der Industriegewerkschaften gelang es der exportabhängigen Industrie, durch Rationalisierung und Internationalisierung der Lieferketten nicht nur gut bezahlte Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten, sondern auch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Zweifellos haben nun die Pandemie, der Ukrainekrieg und die Energiekrise zu einer ungewöhnlichen Gemengelage geführt. Die 3
gesamtwirtschaftliche Leistung ist seit nunmehr zwölf Quartalen faktisch nicht gewachsen - und ein rasches Ende dieser Schwächephase ist nicht in Sicht. Nach vielen Jahren ohne relevante Inflation dürfte nun binnen drei Jahren das Preisniveau um weit mehr als 20 Prozent steigen und die Reallöhne massiv unter Druck setzen. Die jüngsten Daten des Statistischen Bundesamts für Februar bestätigen, dass ein schneller Rückgang der Teuerung bislang nicht zu erkennen ist. So betrug im Februar die Inflation nach vorläufigen Daten 8,7 Prozent und damit kaum weniger als im Rekordmonat Oktober 2022, als 8,8 Prozent gemessen wurden. Gleichzeitig erwecken die Meldungen vieler börsennotierter Konzerne von Rekordgewinnen im abgelaufenen Jahr den Eindruck, die jüngsten Krisen seien an diesem Teil der deutschen Wirtschaft spurlos vorbeigegangen. Die hohen Erwartungen der Gewerkschaftsmitglieder nach einem "ordentlichen Schluck aus der Lohnpulle" sind also verständlich. Die dieses Jahr anstehenden Tarifverhandlungen für rund elf Millionen Arbeitnehmer dürften daher deutlich härter als in der Vergangenheit werden, nicht zuletzt weil in vielen Branchen Arbeitskräfte dringend gesucht werden. Nun ist es für die Arbeitnehmerseite eine glückliche Fügung des Tarifrundenkalenders, dass als Erstes jene Gewerkschaften verhandeln, deren Counterparts nicht im internationalen Wettbewerb stehen: der öffentliche Dienst, die Bahn und die Post. Kein dort Beschäftigter muss Sorge haben, dass sein Arbeitsplatz ins Ausland verlagert wird - und so können die Gewerkschaften dort guten Gewissens mit Forderungen nach zweistelligen Lohnerhöhungen aufwarten. Selbst im unwahrscheinlichen 4
Fall, dass diese Forderungen durchgesetzt würden, könnte angesichts staatlich reglementierter Preise in diesen Bereichen vom Beginn einer Lohn-Preis-Spirale schwerlich die Rede sein. Erfahrungsgemäß werden diese Forderungen durch öffentlichkeitswirksame Warnstreiks flankiert, um dann im Laufe der Verhandlungen - gut kaschiert durch hohe, aber nicht tabellenwirksame Einmalzahlungen - auf gut die Hälfte zusammenzuschmelzen. Abschlüsse in der Nähe der durchschnittlichen Inflationsrate des vergangenen Jahres von knapp sieben Prozent dürften dann zur Richtschnur für andere, stärker im internationalen Wettbewerb stehende Branchen werden. Natürlich werden die Löhne steigen, vor allem in jenen Branchen, in denen Arbeitskräftemangel herrscht. Das hat aber nichts mit einer Lohn-Preis- Spirale zu tun, sondern ist ein Zeichen von Knappheit, die bekanntlich in Marktwirtschaften zu steigenden Preisen führt. Daher ist zu erwarten, dass am Ende dieses Jahres für die Gesamtwirtschaft ein moderater Reallohnzuwachs stehen dürfte. Doch die drei vorherigen Jahre mit teils deutlichen Reallohneinbußen werden mit Sicherheit nicht aufgeholt werden. Auch am Ende des Jahres 2023 werden die Arbeitnehmer durchweg merklich ärmer sein als Ende des Jahres 2019. Dass diese realen Einkommenseinbußen bald wieder aufgeholt werden können, ist wenig wahrscheinlich. Denn die Multikrise hat Deutschland nachhaltig ärmer gemacht. Die damit verbundenen Realeinkommensverluste wird die gesamte Gesellschaft schultern müssen. Wer welchen Anteil daran zu tragen hat, obliegt gleichermaßen den 5
Tarifparteien und den steuerpolitisch Verantwortlichen. Auch hier gilt: Ein optimales Ergebnis gibt es nicht. Der Autor Bert Rürup ist Chefökonom des Handelsblatts und Präsident des Handelsblatt Research Institute. 6
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