Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? - Studie im Auftrag des Netzwerk Bildung
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Wolfgang Böttcher, Lilo Brockmann, Tabea Meierjohann, Johannes Wiesweg Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? Studie im Auftrag des Netzwerk Bildung
FES diskurs März 2022 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerk- schaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch: – politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft; – Politikberatung; – internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern; – Begabtenförderung; – das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung versteht sich als Zukunftsradar und Ideenschmiede der Sozialen Demokratie. Sie verknüpft Analyse und Diskussion. Die Abteilung bringt Expertise aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik zusammen. Ihr Ziel ist es, politische und gewerkschaftliche Ent- scheidungsträger_innen zu aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu beraten und progressive Impulse in die gesellschaftspolitische Debatte einzubringen. FES diskurs FES diskurse sind umfangreiche Analysen zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Auf Grundlage von empirischen Erkenntnissen sprechen sie wissenschaftlich fundierte Hand- lungsempfehlungen für die Politik aus. Über die Autor_innen Prof. Dr. Wolfgang Böttcher, Seniorprofessor am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Dr. Lilo Brockmann, Lehrbeauftragte am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfäli- schen Wilhelms-Universität Münster und Referendarin am Studienseminar in Reckling- hausen Tabea Meierjohann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG Schulpädagogik - Inklusive Bildung am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Dr. Johannes Wiesweg, Evaluator mit den Arbeitsschwerpunkten Schul- und Bildungsfor- schung und ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissen- schaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Dr. Martin Pfafferott, Arbeitsbereich Bildung und Wissenschaft, Abteilung Analyse, Pla- nung und Beratung
Wolfgang Böttcher, Lilo Brockmann, Tabea Meierjohann, Johannes Wiesweg Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? Eine explorative Studie im Auftrag des Netzwerk Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung 3 Vorwort 4 1 Um was soll und muss es gehen? Zur Einleitung 5 2 Die Lage, die schulen und die Bildungschancen 5 2.1 Schulen in herausfordernder Lage - Schulen im Risiko: Worüber sprechen wir eigentlich? 6 2.2 Ungleiche Bildungsangebote und Bildungspolitik 7 2.3 Macht Bildung die Nachbarschaft besser? 8 2.4 Zwei Meinungen: Wegmarken für politische Perspektiven zu Bildung und Gerechtigkeit 10 2.5 Die Einzelschule und die Ambivalenzen der Neuen Steuerung 12 3 Was sagt die Wissenschaft über die Unterstützung von Schulen in herausfordernden Lagen? 12 3.1 Welche Maßnahmen empfiehlt die Wissenschaft der Einzelschule? 15 3.2 Forschung- und Entwicklungsprojekte zur Stärkung der benachteiligten Schulen 19 4 Finanzierung der Schulischen Bildung und Prinzipien der Verteilung 19 4.1 Wer bekommt was? 20 4.2 Bedarfsorientierte Ressourcenzuweisung – Sozialindizes und Individualdaten als Lösungen 24 5 EIGENE FORSCHUNG 24 5.1 Eine Anfrage an Schulen: Eine Online-Befragung zur Sicht der betroffenen Schulleitungen und Lehrkräfte 24 5.1.1 Auswahl der Stichprobe und Vorgehen bei der Befragung 25 5.1.2 Darstellung der Befunde aus dem geschlossenen Teil des Fragebogens 32 5.1.3 Offene Antworten zu Herausforderungen und Unterstützungsbedarfen 36 5.1.4 Ein Zwischenfazit zur Online-Befragung 37 5.2 Ausgewählte Interviews und Stellungnahmen 38 5.2.1 Zwei Bildungswelten aus der Perspektive praktischer Pädagogik 41 5.2.2 Mehr Gespräche, Stellungnahmen und Zitate 43 5.2.3 Die Stadt und das Leben und das bisschen Schule Friedrich-Ebert-Stiftung 1
45 6 Was soll getan werden, um schulen in herausfordernden Lagen zu helfen? – Vorschläge 46 6.1 Wissen über Herkunft und Chancenausgleich 46 6.2 Alternative Mittelallokation 47 6.3 Ein Curriculum der Grundbildung 47 6.4 Problemsensible Lehrkräfteaus- und -fortbildung 47 6.5 Die multiprofessionelle Schule 48 6.6 Aus Evaluation lernen 48 6.7 Verantwortung und systemisches Denken: Das multiprofessionelle Quartier 49 7 Schlussfrage: Renovierung oder neubau? 51 8 Literaturverzeichnis 55 9 Anhang 2 Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? März 2022 FES diskurs
Vorwort Bildungschancen sind in unserer Gesellschaft ungleich Studie in Auftrag gegeben, deren Kern eine quantitative verteilt. Das stellt in vielfacher Hinsicht ein Problem dar: Befragung von knapp 350 Schulleiter_innen und Lehrkräf- Für die jungen Menschen und ihre Familien, aber auch für ten an Schulen in herausfordernder Lage ist. Die Studie ist die Gesamtgesellschaft, das soziale Miteinander und die explorativ angelegt und wird um qualitative Befragungen Arbeitswelt. Ungleiche Chancen verfestigen sich, wenn ergänzt sowie theoretisch eingerahmt. sich Schüler_innen aus benachteiligten sozialen Lagen an Zwei Leitfragen stehen im Zentrum: Welche Unterstüt- Schulen ballen und ihre Schulen mit einem Bündel an viel- zungsbedarfe sind aus Sicht der vor Ort Tätigen, insbeson- fältigen Herausforderungen konfrontiert sind. dere der Schulleitungen und der Lehrkräfte besonders So sehr die Einzelschule der Ort ist, an dem sich ent- dringlich? Und welche Maßnahmen lassen sich daraus für scheidet, was und wie erfolgreich junge Menschen lernen, jene Schulen ableiten, in denen Problemlagen kumulieren? ist es naiv zu glauben, dass gerade die Schulen in solch he- Die Studie soll damit einen Impuls zur Diskussion über rausfordernden Lagen diesen Herausforderungen ohne und zur Entwicklung von bildungspolitischen und schul- Unterstützung von außen begegnen können. Es ist daher praktischen Ansätzen zur Reduzierung von Bildungsbe- die Aufgabe von Bildungspolitik und Bildungsverwaltung, nachteiligung setzen - einer Diskussion, die seit langem diejenigen zu stärken und zu professionalisieren, die in der geführt wird, ohne aber an Aktualität und Dringlichkeit Schule die pädagogische Arbeit gestalten und verantwor- verloren zu haben. ten. Dazu gehört auch, Standards zu setzen und deren Er- Wir danken den Autor_innen Prof. Dr. Wolfgang reichen zu überprüfen. Böttcher, Dr. Lilo Brockmann, Tabea Meierjohann, Gerade in den letzten Jahren hat die Bildungspolitik Dr. Johannes Wiesweg herzlich für diesen Beitrag und einige Initiativen ergriffen, um Schulen in herausfordern- wünschen Ihnen viele Anregungen beim Lesen. den Lagen zu unterstützen: Einige Bundesländer haben sich auf den Weg gemacht, Ressourcen auf der Grundlage von Sozialindizes bedarfsgerecht zu verteilen. Die neue Burkhard Jungkamp Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekün- Staatssekretär a.D. digt, in einem eigenen „Startchancen“-Programm Schulen Moderator des Netzwerk Bildung der in sozial schwieriger Lage gezielt zu unterstützen. Friedrich-Ebert-Stiftung Grundlegende Voraussetzung für wirksame Maßnah- men ist das Wissen, welche Unterstützung überhaupt be- Dr. Martin Pfafferott nötigt wird. Daher ist es wichtig, gerade diejenigen zu be- Arbeitsbereich Bildung und Wissenschaft fragen, die diese Schulen leiten und in ihnen unterrichten. Abteilung Analyse, Planung und Beratung Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat daher die vorliegende Friedrich-Ebert-Stiftung Friedrich-Ebert-Stiftung 3
1. Um was soll und muss es gehen? – Zur Einleitung Manche Schulen habe es schwerer als andere. Um unser gen abgeleitet werden können. Sie sollen Schulen in Thema zu skizzieren: Manche Schulen arbeiten mit einer schwierigen Lagen helfen, sie können aber womöglich Schülerschaft, die aus wirtschaftlich labilen Verhältnissen gleichzeitig einen Impuls zur Schulreform im gesamten kommt und in denen es eine gewisse Bildungsferne gibt. System setzen. Die Vorschläge nehmen insbesondere die Der Anteil der Schüler_innen mit Migrationshintergrund Politik und Verwaltung, aber auch die empirische Bil- ist groß. Diese Schulen stehen häufig in Umfeldern, die dungsforschung in die Pflicht. Wir versuchen, die Diskus- durch Belastungen gekennzeichnet sind: Viele finanziell sion um Bildungsungleichheit anzuregen, indem wir offen- schwache Familien, schlechte Infrastruktur, eingeschränkte siv bewerten lassen wollen, ob unsere Vorschläge realisier- Lebensqualität. Diese Schulen, Schulen in herausfordern- bar sein könnten oder eher illusorisch sind. Abschließend den Lagen, stehen vor besonderen Schwierigkeiten. Es gibt (Kapitel 7) fragen wir aus einer Meta-Perspektive, ob nicht ein großes Risiko, dass es ihnen zu häufig nicht gelingt, das an industrielle Produktion angelehnte Schulwesen in hinreichend viele der ihnen anvertrauten Schüler_innen Gänze sein Ende erreicht hat und es nicht einen grundsätz- auf ein Bildungsniveau zu bringen, das diesen Chancen auf lichen „System Change“ braucht statt bloßer Renovierung. ein reichhaltiges und gesichertes Leben in einer komplexen Sehr sicher ist, dass man „unser“ Thema anders glie- und technisch hoch gerüsteten Gesellschaft ermöglicht. dern kann, dass wir viele Fragen gar nicht erst stellen und Gesichert ist, dass dieses Risiko wesentlich auf die soziale deshalb auf spannende Antworten gar nicht kommen. Aber Herkunft ihrer Schüler_innen zurückgeführt werden kann. wir sind auch sicher, dass wir hier ein grundsätzliches Pro- Dieser Tatbestand der herkunftsbedingten Bildungsun- blemthema der deutschen Schule behandeln. Und wir hof- gleichheit gilt im Prinzip unverändert, seit die Korrelation fen, dass wir die einschlägige und aktuell ja durchaus le- von Herkunft und Schulerfolg gemessen wird. Was nun bendige Debatte noch ein bisschen anheizen und beschleu- kann für diese „Schulen im Risiko“ getan werden, damit sie nigen. mehr – oder sogar alle? – Schüler_innen auf ein höheres Niveau bringen und sie umfassend unterstützen? Um auf diese Frage hinreichend substanzvolle Antwor- ten zu geben, um fachlich und politisch diskutiert zu wer- den, gehen wir im Folgenden auf diese Weise vor: Wir werden zunächst das Thema einkreisen, indem wir über die Position von Schulen in unterschiedlichen Sozial- räumen sprechen, über die Zusammensetzung der Schüler- schaft reflektieren und zeigen, wie unterschiedliche, auch politisch verantwortete Ausgangsbedingungen Bildungsun- gleichheit erzeugen (Kapitel 2). In Kapitel 3 listen und skizzieren wir Entwicklungs- und Begleitprojekte, die in den letzten 15 Jahren versucht haben, Schulen in schwieri- gen Lagen zu unterstützen. Weil man immer wieder der Forderung begegnet, dass benachteiligte Schulen zusätzli- che Mittel erhalten sollen, werfen wir in Kapitel 4 einen schnellen Blick auf ausgewählte Verteilungsprinzipien des Bildungsbudgets. Das Kapitel 5 ist zentral für unsere Ar- beit: Zunächst beschreiben wir die Anlage und Ergebnisse einer Fragebogenerhebung bei Lehrkräften und Schullei- tungen von Schulen in schwierigen Lagen (5.1). Wir be- richten danach in einer Auswahl über die Gespräche, die wir mit Expert_innen geführt haben und nehmen Ideen einiger Stellungnahmen auf, die wir eingeholt haben (5.2). In Kapitel 6 präsentieren wir sieben Vorschläge, die, wie wir meinen, aus den bisherigen Befunden und Überlegun- 4 Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? März 2022 FES diskurs
2. Die Lage, die Schulen und die Bildungschancen Wir kreisen in diesem Kapitel unser Thema ein. Wir versu- Bildungsstand, niedrigem sozioökonomischen Status sowie chen zunächst eine wenigstens intuitiv nachvollziehbare geringer oder prekärer elterlicher Erwerbsbeteiligung. Definition des Typus Schule, über den wir nachdenken Und wir denken hier zweitens an das Umfeld der Schu- und schreiben und den wir im Titel als „Schulen in heraus- len, das wenig Anregung bietet und in dem es oft schwierig fordernden Lagen“ bezeichnen. Diese herausfordernden bis unmöglich ist, nützliche Kooperationspartner zu fin- Lagen wollen wir mit Hilfe von zwei ausgewählten Bil- den. Die Infrastruktur ist eher schlecht. Hier wohnen dungs- und Regionalstudien über den Zusammenhang von mehrheitlich Menschen, die über unterdurchschnittliche Wohnen, Bildungsangebot und Bildungschancen skizzie- Einkommen verfügen, keine, unsichere oder körperlich ren. Danach kommt die Rolle der einzelnen Bildungsteil- anstrengende berufliche Tätigkeiten ausüben und die über nehmer_innen beim Erwerb von Bildung und Erhöhung wenig Bildung verfügen. Häufig ist auch die ALG-II-Quote der Bildungschancen ins Zentrum der kritischen Debatte sehr hoch. Diese Menschen schleppen mehr handfeste Pro- zur Bildungsgleichheit. Schließlich drängt sich die Frage bleme mit sich herum als die obere Hälfte der Gesellschaft. nach der besonderen Rolle der Einzelschule im Kontext Die Schulen, über die wir sprechen, sind Schulen, die von Sozialraum und bildungspolitischer Steuerung auf. mit gewaltigen Herausforderungen zu kämpfen haben. Wir diskutieren Chancen und Probleme der Neuen Steue- Falls die Frage danach, was sie brauchen, zur Antwort rung des Schulsystems, in der der Einzelschule eine beson- führt, dass sie andere und mehr Unterstützung benötigen dere Verantwortung zukommt. Dabei wird die Frage debat- als die weniger belasteten Schulen, wird man nicht mit die- tiert, wer im „Mehrebenensystem Schule“ für welche Maß- ser groben Dichotomie „belastet – weniger belastet“ zu- nahmen welche Verantwortung trägt. frieden sein können. Wer mit besonderen Maßnahmen auf systematische Belastung reagieren will, muss in der Lage 2.1 Schulen in herausfordernder sein, die Schulen zu identifizieren, die dieses Anrecht ha- Lage – Schulen im Risiko: Worüber ben. Wer wissen will, wie stark Einzelschulen belastet sind, sprechen wir eigentlich? wird verschiedene Indikatoren zusammenführen und ge- wichten, schließlich auch Abstufungen vorschlagen müs- Keine Schule ist wie die andere. Für die Schulen, die es sen. Ansonsten drohen Fehlallokationen von Energie, Zeit schwerer haben als andere, findet man verschiedene Be- und Geld. Auch wäre es wichtig, über Verfahren zu verfü- zeichnungen: Das sind Schulen in herausfordernder Lage, gen, welche die tatsächlichen Probleme einer Schule iden- Schulen in sozial deprivierter Lage, Schulen in benachtei- tifizieren, um, falls vorhanden, ihnen mit adäquaten, also ligten Quartieren, Schulen mit sozioökonomisch benach- wirksamen Maßnahmen zu helfen. Wir werden uns mit teiligter Schülerschaft, Brennpunktschulen, Schulen mit dieser Frage etwas ausführlicher befassen (siehe Kapitel 4.2 schwieriger Schülerkomposition. Häufig wird nicht nur und 6.2.). Für unsere Zwecke jedoch werden wir mit einer sprachlich variiert. Man kann auch Verschiedenes meinen, gröberen Kategorisierung arbeiten, um das Prinzip unserer wenn man von Schulen spricht, von denen angenommen Exploration und Argumentation klarer darlegen zu kön- wird, dass sie es schwerer als andere haben, ihre pädagogi- nen. schen Ziele zu erreichen (vgl. Huber 2012; Manitius & Die Selektionsprinzipien des deutschen Schulsystems Dobbelstein 2017). unterstützen die grobe Differenzierung. Die Grundschule Im vorliegenden Text soll in den weiteren Ausführungen bereitet die Kinder auf den Übergang in die Sekundarstufe I die Bezeichnung der Schulen in herausfordernden Lagen vor. Sie übt durch die Abschlussnoten oder ihre Prognose genutzt werden. Was wir unter diesen Herausforderungen über den weiteren schulischen Erfolg ihrer Schüler_innen, verstehen, möchten wir anhand von zwei Perspektiven ver- mehr oder weniger stark von bildungsnahen Eltern zu- anschaulichen, die wir grob und etwas verallgemeinernd gunsten ihrer Kinder korrigiert, großen Einfluss bei der einleitend skizzieren: Entscheidung aus: Wer wird das Gymnasium besuchen? Wir schauen in diese Schulen hinein und sehen, dass Die anderen landen bei allen anzutreffenden Ausnahmen hier vor allem Kinder und Jugendliche lernen, denen das der Regel an Schulen unterhalb dieser Ebene, in denen das Lernen nicht wirklich leichtfällt, womöglich fällt es ihnen Lernmilieu weniger förderlich ist. Ungünstige Lern- und sogar schwer. Vor allem aber fällt es den Schulen schwer, Leistungsvoraussetzungen schaukeln sich in diesen Schu- die Kinder erfolgreich zu unterrichten. Diese Kinder stam- len auf. Dieser „Kompositionseffekt“ führt auch dazu, dass men überwiegend aus Familien mit geringem formalem sich die Prognose des Bildungserfolgs beim Übergang in Friedrich-Ebert-Stiftung 5
die weiterführenden Schulen verfestigt: eine sich selbst er- gungen. Sie sei passiv. Die Probleme kumulieren nach füllende Prophezeiung (vgl. Möller & Bellenberg 2017). Weishaupt deshalb, weil viele Kommunen mit überdurch- Im hier vorliegenden Text soll nicht die „scheiternde schnittlichen Defiziten im Hinblick auf Bildungsangebote Schule“ adressiert werden. Auch in der deutschen Erzie- auch über geringe Mittel verfügen, die zur Kompensation hungswissenschaft wird sie mit dem englischen Begriff der eingesetzt werden könnten. Es bestünden „Unterschiede „failing school“ adressiert (vgl. Huber 2012). Diese Schule der kommunalen Finanzkraft und ein fehlender kommu- produziert schulische Lernerfolge unterhalb ihres Poten- naler Finanzausgleich, die zu Bildungsdisparitäten führen“. zials, sie schafft es nicht, pädagogisch konstruktive Prozesse Seitdem Schulen durch politische Entscheidungen ihr An- so gut umzusetzen, wie es möglich wäre. Aber: Jede Schule, gebot erweitern mussten, spielen Schulträger, in vielen Fäl- eine Schule mit privilegierter wie eine mit vorwiegend so- len also die Kommunen, im Hinblick auf die Versorgung zioökonomisch und kulturell benachteiligter Schülerschaft der Kinder eine zunehmend größere Rolle: Ganztagsange- kann schlechter sein als es ihr möglich wäre. Genauso kön- bote, Inklusionsassistenz, Hausaufgabenbetreuung und nen Schulen allerdings auch besser sein als Schulen in ver- mehr. Diese sind besonders auch als maßgebliche Ressource gleichbarer Situation. Das Thema schlechterer oder besse- zur Förderung von benachteiligten Schüler_innen gedacht. rer Schulen ist ganz sicher nicht unbedeutend. Uns soll es Aber wie sollen ärmere Kommunen das stemmen? „Einen hier aber allenfalls am Rande interessieren, wenn wir uns echten kommunalen Finanzausgleich“, der hier für mehr die Frage stellen, welche Unterstützung insbesondere Schu- Chancengleichheit sorgen könnte, „gibt es nicht“. Er for- len in herausfordernden Lagen benötigen. dert: „Deshalb wäre die Angleichung der Finanzkraft der Die schwierige sozioökonomische Herkunft ihrer Schü- Kommunen ein wichtiger Ansatzpunkt, um regionale Dis- ler_innen und ihr Ort in einem benachteiligten Umfeld paritäten im Bildungswesen zu verringern“. können Schule zu einer Organisation in Risikolage ma- Weiter führt er drei wesentliche Aspekte zusammen, die chen. Hier finden sich die Schüler_innen, die ein hohes Ungleichheit im Schulwesen generieren: „Strukturelle Be- Risiko haben, zu scheitern. Die Schulen schaffen es auch nachteiligungen entstehen durch die zunehmende Wohnse- aufgrund ihrer benachteiligten Lage oftmals nicht, ihren gregation, ein gegliedertes Schulsystem und eine Bildungs- Schüler_innen das Wissen und Können mit auf den Weg politik, die einer zunehmenden Segregation der Kinder und zu geben, die ihnen in der modernen Gesellschaft ein brei- Jugendlichen nicht durch gezielte regional und standortspe- tes Feld von beruflichen und persönlichen Optionen eröff- zifisch differenzierte Steuerungsmaßnahmen begegnet“. Ne- nen. Wir wollen dieses Thema mit Hilfe einer Stimme aus ben der Wohnsegregation wird hier also auf den hierarchi- der Bildungsforschung öffnen. Wir wollen verstehen, wie schen Aufbau der Sekundarstufe I eingegangen: Die „Diffe- sehr das hier aufgeworfene Thema ein strukturelles ist, das renzierung nach Schularten (hat) schon immer zu unter- mit Bildungsangeboten und mit Problemen der Bildungsfi- schiedlichen Lern- und Entwicklungsmilieus für die Schü- nanzierung zu erklären ist. lerinnen und Schüler“ geführt. Die ungleichen Bedingungen finden sich aber auch zwischen Grundschulen. Weishaupt 2.2 Ungleiche Bildungsangebote hat zu dieser Frage verschiedene Regionalstudien vorgelegt und Bildungspolitik (z.B. 2018), die eindrucksvoll die Ungleichheiten belegen. In seinem Vortrag stützt er sich auf einschlägige Daten des Bil- Horst Weishaupt, einer der bekannteren empirischen Bil- dungstrend 2018 des Instituts zur Qualitätsentwicklung im dungsforscher, hat uns dabei mit seinen Überlegungen zur Bildungswesen (IQB). Er stellt den Anteil der Grundschulen Frage eines regional ungleichen Angebots an formaler Bil- (im vierten Schuljahr) dar, die von vielen Kindern entweder dung und daraus resultierender Bildungsungleichheit ge- aus Familien mit niedrigem beruflichem Status oder Migra- holfen. Wenn Angebotsstrukturen an verschiedenen tionshintergrund besucht werden (siehe Abbildung 1 auf der Wohnorten unterschiedlich sind, wird daraus für ihn ein folgenden Seite). Der Berufsstatus wird mit dem ‚Internatio- Ungleichheitsproblem. Dramatisch aber werde es, wenn nal Socio-Economic Index of Occupational Status‘ (HISEI) regionale und soziale Probleme zusammenfallen. Weis- gemessen (siehe Infokasten 1 auf der folgenden Seite). Das haupt (2021a) fasst einige seiner Thesen in einem Vortrag zweite Säulenpaar verrät, dass sich zwischen 2011 und 2016 zusammen, den er am 6. Juli 2021 bei einer Online-Konfe- der Anteil der Klassen mit niedrigem Status erhöht hat: von renz des Wissenschaftszentrums Berlin gehalten hat. 18,9 auf 21,5%. Zunächst belegt er mit einschlägigen Daten seine The- Die Durchschnittsleistungen der sozial belasteten Grund- se1, wonach in Deutschland eine regional gleichwertige schulklassen liegen fast ein Schuljahr hinter den Leistungen Bildungsteilhabe nicht gewährleistet ist, da individuelle des Durchschnitts der anderen Grundschulklassen zurück, Bildungsmöglichkeiten stark von „regional variierende[n] im Fach Mathematik mehr als ein halbes Jahr. Gelegenheitsstrukturen“ abhängen. Die Politik reagiere Weishaupt kann in seinem kurzen Vortrag auch auf aber nicht ausreichend auf regionale Bildungsbenachteili- weitere Studien zurückgreifen und dieses Fazit ziehen: „Klassen in sozial schwierigen Lagen sind durchschnittlich größer, in ihnen werden deutlich mehr Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrich- 1 Wir beziehen uns bei Zitaten auf das Handout zum Vortrag bzw. die Präsentationsfolien. Während der Layout-Phase dieses Gutachtens erschien tet, mehr Kinder dieser Klassen hatten nur wenig Vor- ein Text von Weishaupt, in dem die Argumente ausführlicher dargelegt wer- schulförderung, die Lehrkräfte haben häufiger keine Lehr- den (vgl. Weishaupt 2022). befähigung in Deutsch und Mathematik, nur wenig mehr 6 Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? März 2022 FES diskurs
Infokasten 1 HISEI – International Socio-Economic Index of Occupational Status Um die sozioökonomische Stellung beschreiben zu können, den, wird jeweils der höchste ISEI-Wert der Eltern (Mutter werden in der Bildungsstatistik verschiedene Indikatoren- oder Vater) herangezogen, der entsprechend als Highest systeme genutzt. Ein häufig genutztes Messinstrument ist ISEI (HISEI) der Familie bezeichnet wird. Unqualifizierte der Internationale Sozioökonomische Index (ISEI), der sich oder wenig qualifizierte, meist manuelle Berufe befinden auf den Status einer beruflichen Tätigkeit bezieht. Auf sich unterhalb des HISEI-Wertes von 43,5. Der Index kann Grundlage des ISEI werden die Berufe in eine Rangreihe durch die Verbindung von Einkommen und Bildungsniveau gebracht, die Werte zwischen 10 Punkten und 90 Punkten sowohl das ökonomische als auch das kulturelle Kapital mit (von einfachen bis komplexen Tätigkeiten) annehmen kann. einbeziehen (vgl. Mahler & Kölm 2019, S. 267). Um den sozioökonomischen Status einer Familie abzubil- nehmen an Ganztagsangeboten teil, die Schulen sind kaum ist insbesondere ein städtisches Thema (vgl. El-Mafaalani, häufiger gebundene Ganztagsschulen, jahrgangsübergrei- Kurtenbach & Strohmeier 2015). Auch wenn nach dem fender Unterricht findet seltener statt und nur gut die Disparitätenbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung 2019 auf Hälfte der Kinder wächst mit Deutsch als Familiensprache dem Land an vielen Stellen geringe Einkommen sowie ein auf “. geringer Anteil hoch qualifizierter Personen zu konstatie- ren sind (vgl. Fink, Hennicke & Tiemann 2019, S. 10), wird 2.3 Macht Bildung die Nachbar- im Diskurs um sozialräumlich benachteiligte Schulen vor schaft besser? allem der Einfluss von Stadtteilen diskutiert, die durch eine hohe Konzentration bestimmter sozialer Bevölke- Die bereits oben angesprochene und auch für Bildungsbe- rungsgruppen in einem Stadtgebiet auffallen (vgl. Alisch nachteiligungen wesentliche wohnräumliche Segregation 2018, S. 503). Abbildung 1 Anteil der Klassen im 4. Schuljahr in Deutschland mit unterschiedlichen Indikatoren sozial schwieriger Lagen 2011 und 2016 (IQB-Erhebungen) 34,0 35 29,6 30 26,4 25,7 26,2 25 21,5 20 18,9 14,6 15 13,2 10 7,3 5 0 sozioökonomisch durchschnittlicher mehrheitlich niedriger HISEI und niedriger HISEI oder benachteiligte HISEI unter 43,5 Schülerinnen und hoher Migranten- hoher Migranten- Schulen Schüler mit Migra- anteil anteil (OECD-Index) tionshintergrund 2011 2016 Quelle: Weishaupt (2021a; 2021c); IQB-Erhebungen 2011 und 2016 Friedrich-Ebert-Stiftung 7
Zwar könnte man durchaus „Chancen und Potentiale in Durch Bildungserfolge wird „soziale Distanz zum sozialen segregierten Stadtvierten herausarbeiten“, dennoch sind sie Umfeld im Stadtteil aufgebaut und durch Umzüge in räum- eher als Orte sozialer „Exklusion und Benachteiligung“ liche Distanz umgesetzt“. Die ‚Aufsteiger‘ werden zu ‚Weg- Gegenstand der „medialen und wissenschaftlichen Diskur- ziehern‘. Die Pointe ist, dass Bildungsmaßnahmen die Situ- se“ (El-Mafaalani, Kurtenbach & Strohmeier 2015, S. 10). ation des Stadtteils nicht unbedingt verbessern. Im Gegen- Das Problem wächst: „Die soziale und demographische Se- teil: Der durch Umzug freiwerdende Wohnraum wird, falls gregation nimmt zu und die ethnische Segregation nimmt nicht gegenläufige Prozesse wie Gentrifizierung einsetzen, nicht ab“ (ebd.). Diese „soziale Polarisierung“ (Fink, Hen- preiswert bleiben und für Zuzügler attraktiv, die womög- nicke & Tiemann 2019, S. 12) beobachtet auch der Sozio- lich noch mehr Probleme mitbringen, als die früheren Be- ökonomische Disparitätenbericht 2019: Während angese- wohner_innen zu schultern hatten. Auch die Probleme der hene Wohnviertel immer mehr von sozioökonomisch pri- bisher pädagogisch erfolgreichen Schulen werden dadurch vilegierten Schichten bewohnt werden, ballen sich in be- größer. nachteiligten Vierteln Menschen, die drohen, zu verarmen. Festzuhalten bleibt hier, dass die kollektiven Effekte er- Wir erkennen hier für unsere Frage der Bildungsungleich- folgreicher Bildung beschränkt sein können. Selbst viele heit, dass es offensichtlich nicht nur in der Verantwortung Einzelfälle schaffen noch keine strukturelle Veränderung. der Bildungspolitik liegt, Bildungsungleichheit zu themati- Damit ist nicht gesagt, dass sich Anstrengungen für mehr sieren und zu bearbeiten. Offensichtlich muss man sich die Bildung nicht lohnen – ganz im Gegenteil. Aber es muss Kooperation mit politischen Akteuren in der Stadtentwick- im Blick bleiben, dass die damit verbundenen Erwartungen lung sichern, will man den Auftrag zum Abbau von Un- nicht überdehnt werden sollten. Die Frage ist, ob der soziale gleichheit nachhaltig bearbeiten. Diese These wird ge- Tatbestand der herkunftsbedingten Bildungsungleichheit stärkt, wenn wir die Ebene der Schulen als „pädagogische durch die Ermöglichung individueller Bildung erfolgreich Handlungseinheiten“ betrachten und die Idee prüfen, ob bearbeitet werden kann. Wie kann also der für den Einzel- durch Bildungsanreize für einzelne Kinder und Jugendli- nen wünschenswerte „Aufstieg durch Bildung“ im wahrs- che nicht nur deren Situation, sondern auch die Lage des ten Sinne des Wortes verallgemeinert werden – so dass Stadtteils verbessert werden kann. nicht nur einzelne „Glückliche“ von „mehr Bildung“ profi- Eine kleinräumige „städtische Betrachtung bestätigt, tieren? dass es innerstädtische Armutsquartiere gibt, in denen der dauerhafte Bezug von SGB II-Leistungen im Kindesalter 2.4 Zwei Meinungen: Wegmarken bereits der Normalfall ist. Eine noch höhere Konzentration für politische Perspektiven zu armer Kinder finden wir auf der Settingebene, also in den Bildung und Gerechtigkeit Kitas und Grundschulen, in denen insbesondere arme und benachteiligte Kinder häufig unter sich sind“ (Groos & Im Kontext der Kritik an Bildungsungleichheiten wird von Kersting 2015, S. 103). Und hierzu passend: „Bildungsar- Seiten derjenigen, die das Schulsystem verteidigen, die mut und Einkommensarmut treten kleinräumlich konzent- Durchlässigkeit als Beleg dafür angeführt, dass Bildungs- riert auf, was dazu führt, dass die meisten armen Leute aufstiege dann möglich sind, wenn trotz schwieriger Her- Nachbarn haben, denen es kaum bessergeht als ihnen kunft Talent und Anstrengung zusammenkommen. Wie selbst“ (El-Mafaalani & Strohmeier 2015, S. 29). weit trägt die Idee, Einzelne zu animieren, die Chancen zu Im Prinzip wären Kitas und Schulen eine der wenigen nutzen, die das System unter gewissen Bedingungen ge- Räume, die diesen Kindern die Welt öffnen können. Aber währt? Was bewirken solche Anstrengungen? Und wie wenn sie dort unter sich sind, dann besteht – statistisch stark ist das Bildungssystem als Agent geeignet, gesell- gesehen – nicht viel Hoffnung, dass sie größere Sprünge schaftliche Kohäsion, Gleichheit oder Gerechtigkeit zu be- aus ihrer Herkunft heraus schaffen. Es gibt jedoch Befun- fördern? Wir wollen einen kurzen Einblick in diese Debatte de, die zeigen, dass spezifische Bildungsangebote und be- zum Verhältnis von Bildung und sozialer Gleichheit geben. sonders engagierte Schulen dazu befähigen, wider Erwar- Wir finden sie in den Texten des Soziologen Richard ten schulisch erfolgreich zu sein. Manch eine dieser Schu- Münch und seiner Fachkollegin Jutta Allmendinger im len reüssiert in den Wettbewerben, die nach guten Schulen Band von Mau & Schöneck (2015) exemplarisch entwi- suchen. Sie zeigen, dass „Aufstieg durch Bildung“ indivi- ckelt. Wir sind der Überzeugung, mit dieser Skizze den duell möglich sein kann. Aber wir haben es dann mit sta- Blick über die doch enge Frage „Was brauchen Schule in tistischen Anomalien zu tun: ‚Against the odds‘ – wider schwierigen Lagen“ zu weiten. die Wahrscheinlichkeit. Entgegen der verbreiteten Ansicht, dass „bessere Bil- Wir erhalten von El-Mafaalani und Kurtenbach aller- dungschancen für alle gleichsam als Vehikel zu einem dings auch Nachrichten, die die Hoffnung, durch Bildung Mehr an sozialer Gerechtigkeit“ (ebd., S. 65) dienen, be- Wogen der Veränderung in den Quartieren auszulösen, hauptet Münch ein Anwachsen der Ungleichheit durch abkühlen: Sie zeigen, dass die Bildungserfolgreichen ihre mehr Bildung. Er stellt drei unterschiedliche inhaltliche Herkunftsquartiere verlassen. Ihre Analyse, die auf Daten und politische Füllungen des Gerechtigkeitsbegriffs vor. aus amtlichen Statistiken beruht, belegt relativ robust, „In konservativer Sicht ist soziale Gerechtigkeit gegeben, „dass durch Bildungsinvestitionen allein keine Segrega- wenn jedes Individuum den Platz in der hierarchisch in tionstendenzen abgebaut werden können, sondern eher Berufsstände gegliederten Gesellschaft findet, der seinem verfestigt oder sogar verschärft werden“ (2015, S. 261). Beitrag zum Gesamtwohl entspricht. In sozialdemokrati- 8 Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? März 2022 FES diskurs
scher Sicht wird soziale Gerechtigkeit erreicht, wenn die Auch in der Mitte der Gesellschaft sind die Folgen als weitgehend egalitär verstandene Gesellschaft auch ih- spürbar. Während hier die realen Einkommen stagnieren, ren schwächsten Mitgliedern ein Leben in Würde ermög- setze sich die Elite ab. Was Münch hier nur andeutet, ist licht. In liberaler Sicht schließlich zeigt sich die soziale Ge- seit Jahren belegter Befund ökonomischer Berichterstat- rechtigkeit einer Gesellschaft darin, dass Einkommen und tung (vgl. Anhang unter https://www.fes.de/lnk/was-brau- Status in einem offenen Wettbewerb unter Bedingungen chen-schulen). Die Programmatik einer expansiven und der Chancengleichheit nach erbrachter Leistung auf ent- die Individuen adressierenden Bildung sei allein nicht in sprechende Nachfrage zugewiesen werden, was eine soge- der Lage, soziale Kohäsion zu erzeugen und „bedarf drin- nannte meritokratische Ordnung ergibt“ (ebd., S. 65, kur- gend der Korrektur durch die Rückbesinnung auf die Un- siv im Orig.). Diese unterschiedlichen politischen Vorstel- ausweichlichkeit von marktkorrigierendem und nach- lungen einige aber, so Münch, dass sie zum Zwecke der marktlichem sozialem Ausgleich“ (ebd., S. 72). Realisierung ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen mehr und Im selben Band argumentiert Jutta Allmendinger bessere Bildung forderten. Dies jedoch, so die kritische (2015) anders. Sie stellt fest, dass im Zusammenhang von Pointe, führe gewissermaßen hinter dem Rücken der ande- Bildung in aller Regel von Druck und Stress und nicht ren Gerechtigkeitsideen zur „Durchsetzung einer liberalen (mehr) von Freude die Rede sei. Bildung werde vor allem Ordnung mit einem liberalen Gerechtigkeitsverständnis im Hinblick auf ihre Verwertung auf dem Arbeitsmarkt und damit zu mehr sozialer Ungleichheit und erheblichen debattiert. Sie führt in diesem Zusammenhang den engli- Desintegrationserscheinungen“ (ebd., S. 65). Letztlich wür- schen (kapitalismuskritischen) Soziologen Colin Crouch den nicht nur die konservativen und sozialdemokratischen an, der in seinen Werken den politisch dominanten Neo- Ideen verlieren, auch das liberale Verständnis selbst werde Liberalismus kritisiert, in dem auch Bildung Opfer einer unterwandert. alle gesellschaftlichen Sphären umfassenden ‚marketizati- Münch sieht einen Trend zu einer Interpretation der on‘ und ‚commercialization‘ werde. „In dieser Denkweise Bildung als Instrument, „die Individuen zur Selbstbehaup- ist Bildung nur die Magd, sie ist Mittel zum Zweck und tung auf dem Markt zu befähigen“ (ebd., S. 66). Die Domi- dient zur Steigerung der Erwerbstätigkeit“ (ebd., S. 74). nanz dieses von ihm als neoliberal bezeichneten Paradig- Allmendinger kritisiert im Folgenden eine Interpretation mas sei auch dadurch gekennzeichnet, dass die Politik den gesellschaftlicher Ungleichheitsentwicklung, die auch die Individuen größere „Chancengleichheit vor Eintritt in den Bildung für diese Lage in Haft zu nehmen versucht. Bil- Arbeitsmarkt“ ermöglichen will, statt „Ungleichheit durch dung sei eben nicht die Magd der Wirtschaftspolitik, ver- Umverteilung nach dem Ergebnis des Markttausches“ merkt sie mit Bezug auf Ralf Dahrendorf und spielt damit (ebd., S. 67) zu reduzieren. Eine Bildungspolitik, die auf wohl auf dessen klassische liberale Definition der ‚Bildung die Selbstbefähigung und Selbstbehauptung der Einzelnen als Bürgerrecht‘ an (vgl. ebd., S. 74). setze, schwäche gleichzeitig „die kollektiven, Ungleichheit Allmendinger beschreibt, dass „die sozialen Unter- in engeren Grenzen haltenden Kräfte der sozialen Integra- schiede zwischen Haushalten von zwei prekär Beschäftig- tion“ (ebd., S. 67). Mit der Expansion der Bildung, die breite ten mit einem doppelten Armutsrisiko und Haushalten von Bevölkerungsschichten erfasse, verschärfe sich der Wettbe- zwei Gutverdienern mit einem doppelten Sicherheitsnetz“ werb insbesondere um mittlere und höhere Positionen und (ebd., S. 75) größer werden. Und diese Unterschiede führe parallel zu einer deutlichen Spreizung zwischen den „übertragen sich immer zuverlässiger und folgenreicher dort zu erzielenden Einkommen und den ‚fürstlichen‘ Ent- über Generationen hinweg“ (ebd.). Das Argument aber, lohnungen der wenigen Spitzenkräfte, denen unterstellt wonach mehr Bildung im Wettbewerbsmodus diese Un- werde, dass sie den größten Einfluss auf die Profite der gleichheit befördere, sei in doppeltem Sinne unrichtig, es Unternehmen haben (vgl. ebd. S. 67). Eine zentrale Pointe: „trägt weder konzeptionell noch empirisch“ (ebd.). „Die „Das Versprechen der neoliberalen Politik des empower- neo-liberale Politik der Aktivierung“ (ebd., S. 75) ziele ment, durch höhere Bildung zu mehr Wohlstand zu gelan- nämlich gar nicht auf Bildung. Nicht Bildungspolitik, son- gen, erfüllt sich nicht mehr für alle in gleicher Weise und dern Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verursachten „die in vollem Umfang“ (ebd., S. 67, kursiv im Orig.). Deregulierung von Arbeitsmärkten und die Spreizung von Solange der individuelle Bildungserwerb im großen Einkommen“ (ebd., S. 76). Umfang mit Belohnungen durch Einkommen und Status Allmendinger wechselt nun kurz die Perspektive, in- bedacht wurde, blieben die Probleme unter der Decke. dem sie daran erinnert, dass, wer immer glaube, Bildung Aber „das Programm der Bildungsexpansion stößt an seine biete den dominanten Lösungsansatz für soziale Proble- Grenzen, weil zwar viele befähigt werden, sich selbst zu me, die Realität verkenne. Sozialstaaten müssten auf zwei behaupten, aber zugleich eine neue Unterschicht entstan- Beinen stehen: „eine gute Bildungspolitik und eine gute den ist, in der sich all diejenigen sammeln, denen das An- Sozialpolitik“ (ebd., S. 76). Diesen Ansatz sieht sie in gebot der Teilhabe durch Bildung nicht hilft, weil sie es für skandinavischen Ländern verwirklicht und artikuliert: sich nicht verwirklichen können“ (ebd., S. 71).2 „Meine zukunftsfrohe These lautet, dass bessere Bildung 2 Der Erziehungswissenschaftler Helmut Heid hat die Idee des „Auf- alle aufsteigen“ (Heid 2009, S. 12). Aufstieg sei somit das Versprechen an stiegs durch Bildung“ in ähnlicher Weise kritisiert: Nicht vergessen sollte diejenigen, die nicht oben sind. Aber dafür müssen sie sich anstrengen. Ob man auch, dass die Chance auf den Aufstieg immer auch die Chance des sie es trotz Anstrengung schaffen, sei aber nicht ausgemacht. Erfolgreiche Verlierens einschließt. „Aufstieg ist rein logisch nur dort möglich, wo nicht Bildung sichere nicht verbindlich den Aufstiegsplatz. Friedrich-Ebert-Stiftung 9
soziale Ungleichheiten abbaut“ (ebd., S. 76). Zum weite- 2.5 Die Einzelschule und die Ambi- ren Beleg führt sie den deutschen Bildungsföderalismus valenzen der Neuen Steuerung an. Sie spricht davon, dass die Bundesländer in der Lage seien, ‚unterschiedliche Bildungswelten‘ zu erzeugen, also Wer die Situation der Schule in herausfordernden Lagen im Wettbewerb Bildung zu verbessern. Auch die interna- analysieren und ihr nützliche Hilfe zukommen lassen will, tionalen bildungsstatistischen Vergleiche, die in der deut- muss eine Vorstellung darüber haben, wie das Schulsystem schen Bildungspolitik ja erst seit Mitte der 1990er Jahre politisch und administrativ geleitet bzw. gesteuert wird (wieder) eine Rolle spielen, sprächen eine deutliche Spra- und welchen Platz die Schule, der geholfen werden soll, che in der Hinsicht, dass das Bildungswesen selbst in der hier hat. Wir werden sehen, dass der Einzelschule mit der Lage sei, herkunftsbedingte Chancenungleichheit zu re- sogenannten ‚Neuen Steuerung‘ eine deutlich erhöhte Ver- duzieren. antwortung für das eigene Handeln zugesprochen wurde. Wir könnten, so Allmendinger, von guten Beispielen Für unsere Frage ist dieser Tatbestand hoch relevant. lernen: „Die Gerechtigkeitslücken im Bildungswesen las- Bereits seit der Mitte der 1970er Jahre hatte sich in der sen sich schließen, die Chancengleichheit lässt sich erhö- westdeutschen Schulpolitik der Blick der Forschung und hen, und Bildungsarmut lässt sich zügig abbauen“ (ebd.). Politik auf die Entität Schule gerichtet. Der Begriff Schul- Aber hier helfen kleine Reformen nicht: „Wir müssen die entwicklung meinte zunehmend die Entwicklung der ein- Systemfrage stellen“ (ebd.). Maßnahmen werden skizziert: zelnen Schule und weniger die Steuerung der kommunalen Abschaffung der frühen Aufteilung auf unterschiedliche Angebotsstruktur oder die landesrechtlichen Entscheidun- Schulformen, mehr ganztägige Angebote und ein verbind- gen für differenzierte Schulstrukturen (vgl. Bauer & Rolff liches Curriculum, das „neben kognitiven auch soziale 1978; Rolff & Tillmann 1980). Kompetenzen vermittelt“ (ebd., S. 79). Allmendinger zählt Mit der Studie zum Leistungsvergleich zwischen Schü- Daten auf, die zeigen, dass sich Investitionen in Bildung ler_innen in Gesamtschulen und im gegliederten Schulsys- für die Individuen lohnen. Insbesondere zeigen Statistiken, tem wurde der Befund prominent, dass die Leistungsunter- dass mittlere und hohe Bildungsniveaus tatsächlich den schiede zwischen Schulen bedeutend größer sind als die Einstieg ins Arbeitsleben erleichtern. zwischen den Schulsystemen (vgl. Fend 1982, S. 288). Seit- Im Prinzip verweist Allmendinger (2015) auf individu- dem wird, wie Fend später schreiben wird, „die ganze ell zu erzielende Erträge von erfolgreichen Bildungskarrie- Schule als Handlungseinheit in den Blick genommen“ ren, die sich dann auch statistisch belegen lassen: Bildung (2008, S. 162). Rolff (2007) sieht das so: „Spätestens seit lohnt sich. Die Frage ist, ob der Schluss auf die kollektive 1990 gilt die Einzelschule als ‚Motor der Entwicklung‘, für Ebene zulässig ist: „Indem wir mehr an guter Bildung er- den in erster Linie die Lehrpersonen und die Leitung selbst möglichen, geben wir unserer Jugend also auch bessere verantwortlich sind, andere Instanzen eher unterstützende Chancen auf dem Arbeitsmarkt und wirken damit der Un- und ressourcensichernde Funktionen ausüben“ (S. 623). gleichheit entgegen“ (ebd., S. 80). Sie fasst zusammen: Die deutsche Schulpolitik wie auch die deutsche Schul- „Mehr Bildung führt zu mehr Gleichheit. Denn sie ermög- pädagogik favorisierten spätestens seit den 1990er Jahren licht mehr Menschen die Teilhabe am prallen gesellschaft- die Idee der Stärkung der Einzelschule, die zum Beispiel lichen Leben“ (ebd., S. 81). unter den Begriffen Schulautonomie, Teilautonomie oder Allmendinger und Münch kommen zu sehr unter- erweiterte Selbstständigkeit firmierte. Die Politik hat hier schiedlichen Schlussfolgerungen, ob „mehr Bildung“ tat- das damals aktuelle Steuerungsmodell der Dezentralisie- sächlich zu mehr oder zu weniger sozialer Ungleichheit rung aus der betrieblichen Unternehmensführung über- führt. Was beide aber offen lassen, ist die Antwort auf die nommen. Hier werden Kompetenzen von der Unterneh- Frage, was Bildung eigentlich ist. „Bildung“ bleibt unbe- mensspitze an die operativen Subsysteme, Abteilungen, stimmt, so als ob es unbedeutend ist, was unter dem Ver- Module oder Filialen des Unternehmens übertragen. De- weis auf „Bildung“ von den jungen Menschen gefordert zentralisierung in der Bildung klang als demokratische wird. Sind es die Inhalte wert, sich dafür anzustrengen? und pädagogische Alternative zur bürokratischen Steue- Müssten nicht auch die legitimen schulischen Bildungsin- rung attraktiv. halte soziologisch kritisiert werden? Was Allmendinger Im Begriff der ‚Lernenden Organisation‘ gingen die und Münch eint, ist eine gesellschaftliche Einordnung der Anforderungen an Schulen geradezu selbstverständlich Bildung. Bildungspolitik muss flankiert und verzahnt auf. Eine Organisation, deren hauptsächlicher Zweck das werden mit Sozial-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik. Lernen ist, sollte doch wie selbstverständlich eine lernende Damit sind Bildung und Schule nur einige von vielen Organisation sein. Die Schulleitungen und Lehrkräfte der Akteuren. Welche Rolle aber kommt der Einzelschule zu, Einzelschulen sollen nunmehr vieles tun, was die Schulauf- insbesondere im System der „Neuen Steuerung“? Einige sicht von ihnen verlangt: Aufbau von Ganztagsschulen, Gedanken dazu sollen im folgenden Kapitel angestellt Umsetzen von Inklusion und individueller Förderung, Ver- werden. kürzung oder Verlängerung der Schulzeit, Beschulung von Zugewanderten, Selbstevaluation, Auswahl wirkungsvoller Weiterbildungsmaßnahmen und Vernetzung mit anderen Schulen oder anderen Bildungsanbietern. Offensichtlich liefern Schulentwicklungs- und Schulef- fektivitätsforschung Belege dafür, dass die Einzelschule tat- 10 Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? März 2022 FES diskurs
sächlich einen Unterschied machen kann. Dabei wird der muss, damit andere leisten können, was sie sollen: Politik, Schulleitung eine Schlüsselfunktion für Qualitätssicherung Verwaltung, Schulträger, Schulen, Eltern, Schüler_innen? und -entwicklung zugesprochen (u.a. Ehren & Scheerens Das Verhältnis zwischen diesen Ebenen muss selbst Ge- 2015). Gerade im Hinblick auf benachteiligte Schulen wird genstand eines komplexen Managements sein. diese Dynamik betont. Sie verstehen die Kontexte, in de- Das ist das Zwischenfazit: Wer die Einzelschule als Mo- nen sie arbeiten und damit ihre besonderen Anforderun- tor verstehen will, muss auch wissen, wie viel Kraft dieser gen (vgl. Harris et al. 2006; Sammons 2006). Das ist die Motor hat, dass er gewartet werden muss und er den rich- Idee der Dezentralisierung: Einzelschulen und ihre Schul- tigen Brennstoff benötigt. Ansonsten stottert der Motor leitungen können das jeweilige kontextspezifische Wissen – oder er gibt eher früher als später „den Geist auf “. und die Erfahrungen der Regionen sowie auch die regiona- Was brauchen also Schulen, die vergleichsweise wenig len Ressourcen für lösungsbedürftige Probleme nutzen. Chancen haben, ihre Schüler_innen zu hohen Abschlüssen Dennoch muss betont werden, dass bei allen neuen Ge- zu führen, um besser zu werden? Von welcher Ebene benö- staltungschancen, die mit den vermehrten Verfügungs- tigen sie welche Unterstützung? Was weiß die Forschung rechten der Einzelschulen einhergehen, Schulleitungen darüber? nicht die primären Adressierten sein können, wenn es um die Bewältigung strategischer Herausforderungen geht. Hierzu gehört die Frage, wie mit den ungleichen Bedin- gungen der Schulen in dem einen Schulsystem umzugehen ist und wie – allgemein gesagt – die Bildungsungleichheit reduziert werden kann. Auch die Lehrerschaft ist durchaus in der Lage, über guten Unterricht hinausgehend eine gute Schule zu gestalten. Es gibt keinen Grund für die Lehrkräf- te, aus der Verantwortung genommen zu werden oder sich aus der Verantwortung herauszureden. Aber man muss re- alistischer Weise festhalten, dass sie für das Unterrichten akademisch ausgebildet sind, nicht für Organisationsent- wicklung in der ‚lernenden Schule‘. Die Neue Steuerung, gekennzeichnet durch Stärkung der Einzelschule und das Monitoring der Lernergebnisse, ist durchaus eine Chance für pädagogische Innovation. Aber es muss ein Bewusstsein dafür entwickelt werden, dass dieses Steuerungsmodell in hohem Maße komplex und voraussetzungsvoll ist. Die „teil-autonome“ Einheit ist davon abhängig, dass die jeweiligen Führungsebenen im System die Aufgaben erledigen, die nur sie erledigen kön- nen – und in diesem Unternehmensmodell auch müssen. Angesprochen sind hier die Kommunen, die mittlerweile für mehr zuständig sind als für „Tafel und Kreide“, die mittleren administrativen Ebenen, die beaufsichtigen und vor allem aber auch beraten und unterstützen müssen (vgl. Böttcher & Luig 2020) und die Spitze, die Ministerien. Schulintern ist es notwendig, dass Leitungen und das päda- gogische Personal das Gestaltungspotential nutzen. Sie be- nötigen aber die hierfür notwendigen Kompetenzen: Ver- fügungsrechte und das Wissen über die produktive Gestal- tung der Schule als Betrieb. ‚Autonomisierung‘ kann an- dernfalls nicht zu Stärkung oder Freiheit beitragen, son- dern wäre Zumutung und Überforderung. Und der dritte Aspekt ist womöglich der gewichtigste. Die Schule ist ab- hängig von dem, was die Kinder mit in die Schule bringen und was das Umfeld der Schule an Hilfe anbietet. Mit Blick auf Schulen in herausfordernden Lagen wird überdeutlich, dass diese sehr wenig bis keinen Einfluss auf die Auswahl ihrer Schülerschaft und das, was in ihrem Umfeld passiert, haben. Wer Schule und das Schulsystem entwickeln will, muss – trotz der notwendigen Betonung gemeinsamer Verant- wortung – immer belegen, wer Hauptadressat von Forde- rungen zum Handeln ist und wer welchen Beitrag leisten Friedrich-Ebert-Stiftung 11
3. Was sagt die Wissenschaft über die Unterstützung von Schulen in herausfordernden Lagen? Nach einer kritischen Sichtung der Rahmenbedingungen dabei beispielsweise die gesamte pädagogische Handlungs- des Schulsystems kommen wir nun an die Orte, an denen einheit gemeint, die sich vor allem auf schulorganisato- Wettbewerb, Leistung und Bildung realisiert werden: Die rischer Ebene ausgestaltet. Da es häufig allerdings schwer Schulen und die Klassenräume. Wir fragen zunächst da- ist, die Ebenen Einzelschule und Unterricht voneinander nach, welche Angebote die Erziehungswissenschaft einer zu trennen und auf diese Weise die Gefahr der Exklusion Schule macht, die Chancen für ihre benachteiligte Schüler- wichtiger Texte besteht, ist in der Suchstrategie neben der schaft verbessern will. Danach präsentieren wir die Ergeb- Mesoebene der Schule vorerst auch die Mikroebene mit- nisse unserer Recherche und Analyse: Wir stellen verschie- einbezogen worden. Dabei wird kein Unterschied zwischen dene Forschungs- und Entwicklungsprojekte vor, in denen Schularten oder -formen gemacht, und auch alternative Wissenschaftler_innen und Schulentwickler_innen versu- Formen (wie beispielsweise Internate, Waldorfschulen und chen, Schulen in herausfordernder Lage zu unterstützen Montessorischulen) sind integriert. Auch sind sowohl und versuchen eine summative Bewertung. Schulen in öffentlicher als auch kirchlicher oder privater Trägerschaft miteinbezogen. Eine Ausnahme ist lediglich 3.1 Welche MaSSnahmen empfiehlt der Ausbildungsjahrgang des Berufskollegs, der nicht inte- die Wissenschaft der Einzelschule? griert ist, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die sich stärker auf den Ausbildungsbetrieb als auf die Schule kon- Wir fragen in diesem Kapitel, welche datengestützten Maß- zentrieren. nahmen die Erziehungswissenschaft den Schulen bzw. ih- Die Durchsicht von 3396 Titeln und Abstracts, die ren Leitungsgremien anbieten kann, um sie dabei zu unter- durch die systematische Suche im Fachportal Pädagogik stützen, einen Beitrag zur Reduktion von Ungleichheit zu ausgewählt worden sind, ergab 544 Abstracts, die konkret leisten. Im Hinblick auf die Thematisierung von Bildungs- Maßnahmen zur Reduktion sozial bedingter Ungleichheit ungleichheit wird in der jüngeren Forschung häufig Bezug in Schule thematisieren. Ein Großteil der Maßnahmen zielt auf individuelle Bildungsentscheidungen und institutionelle dabei auf die Reduktion sozialer Ungleichheit hinsichtlich Barrieren genommen, innerschulische Prozesse und schul- des Migrationshintergrundes ab, bei denen es in der Mehr- interne Projekte erfahren nach Einschätzung mancher Au- zahl um Sprachförderung ging. tor_innen hingegen wenig Beachtung (Ditton 2016; Berke- Dabei sind Benachteiligungen aufgrund des Migrations- meyer & Meißner 2017). Dabei hatte die Handbuchlitera- hintergrundes hinsichtlich ihrer Ursachen in großen Teilen tur zur Organisationsentwicklung der Einzelschule und kongruent zu den Effekten sozioökonomischer Benachtei- Managementkompetenzen von Schulleitungen Hochkon- ligung. Wenn die Merkmale der sozioökonomischen Stel- junktur. Welche gesicherten Möglichkeiten die Akteure in lung statistisch kontrolliert werden, zeigt sich, dass nicht der Schule überhaupt haben, auf der Einzelschulebene ge- der Migrationshintergrund der Schüler_innen, sondern zielt zu fördern, untersucht Brockmann (2021). Auf diese der sozioökonomische Status ihrer Familien insgesamt die Forschung beziehen wir uns im Folgenden. größte Erklärungskraft für die Bildungsbenachteiligung Mittels einer systematischen Durchsicht von Publika- besitzt. Lediglich die Sprache, die zu Hause gesprochen tionen der Jahre 2000-2018 zu den drei Konzepten sozial wird, liefert einen weiteren Beitrag zur Aufklärung der Un- bedingte Ungleichheit, Maßnahmen und Schule3 und einer terschiede, die nicht gänzlich über die sozioökonomische anschließenden Erstellung einer Systematic Map auf Basis Stellung erklärt werden können (vgl. Weis et al., 2019). So der Vorgaben des EPPI-Centre (2021) sowie Richtlinien stellt auch Butterwegge (2020) fest, dass die Sprachbarriere der Campbell Collaboration (2021) können die Maßnah- zwar als die augenscheinlichste Problemvariable gilt, sie als men, die die Wissenschaft thematisiert, gesammelt und Erklärung für die Bildungsungleichheit allerdings gleich- detailliert betrachtet werden. Mit dem Konzept ‚Schule‘ ist zeitig „maßlos überschätzt wird“ (ebd., S. 242). Im Vergleich zu den Maßnahmen, die sich auf Schüler_in- nen mit Migrationshintergrund beziehen, gibt es nur wenige 3 Als Fachbibliografie für die Suchstrategie diente ausschließlich das Publikationen, die auf Schüler_innen mit geringem sozio- Fachportal Pädagogik, in dem durch einen integrierten Suchraum eine um- ökonomischem Status – unabhängig vom Migrationshin- fassende Suchabfrage durchgeführt werden kann. So konnten sowohl allge- tergrund – eingehen. Trotz der immer wieder aufgegriffe- meine Begriffe (wie beispielsweise *schul*) als auch spezifische Begriffe (wie beispielsweise *internat*) samt Platzhaltern und vorher bestimmten nen und thematisierten Problematik sozioökonomisch be- Suchphrasen aufgenommen werden. dingter Ungleichheit, bleibt eine systematische Bearbei- 12 Was brauchen Schulen in herausfordernden Lagen? März 2022 FES diskurs
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