100 Tage Quarantäne: Strenge Maßnahmen, Nüchternes Ergebnis
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24. Juni 2020 Länderbüro Peru 100 Tage Quarantäne: Strenge Maßnahmen, Nüchternes Ergebnis Nicole Stopfer, Ximena Docarmo, Andrés Hildebrandt Seit 100 Tagen herrscht in Peru eine aufgrund des Coronavirus verhängte strenge Quarantäne. Die Ausgangssperre hat vor allem die komplexe Lage des Landes mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Lücken und geographischen und kulturellen Unterschieden ans Licht gebracht. Trotz aller auf internationaler Ebene anfangs gelobten Bemühungen hat die Pandemie institutionelle Schwächen Perus aufgezeigt, welche nun auch zunehmend Auswirkungen auf die Mittelschicht des Landes haben. Status Quo an Tag 100 Trotzdem zeigen die Zahlen an Tag 100 ein nüchternes Bild: die Gesamtzahl der Infizierten Auf internationaler Ebene war Peru eines der liegt bei 257.447, die Zahl der Todesfälle bei ersten Länder Lateinamerikas, das strenge 1 8.223. Damit ist das Andenland hinter Brasilien Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung das am schlimmsten von der Corona-Krise von COVID-19 traf. Am 16. März war eine betroffene Land in der Region; weltweit liegt es Pflichtquarantäne verhängt und sukzessive durch 2 auf Platz 7. weitere restriktive Maßnahmen ergänzt worden.
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht 24. Juni 2020 2 Die durch die peruanische Regierung ergriffenen denen die Vorgabe des „social distancing“ Maßnahmen haben ihre geplanten Ziele aufgrund von Platzmangel schlichtweg nicht scheinbar verfehlt. Der Grund dafür liegt jedoch 8 möglich ist; von den knapp drei Prozent der in nicht nur in der schwierigen globalen Konjunktur; extremer Armut lebenden Bevölkerung lebt die die Ursache ist vor allem in den seit Jahren Mehrheit in ländlichen, abgeschotteten Gebieten; bestehenden und nun erneut zu Tage getretenen und weitere 25% identifizieren sich als indigene strukturellen Probleme zu suchen. 9 Bevölkerungsgruppe, welche ohnehin beschränkten Zugang zu ärztlicher Versorgung Peru vor COVID-19: ideale Bedingungen für und grundlegenden Dienstleistungen wie Wasser das Scheitern? oder Strom besitzt. Mit Einzug der Pandemie in Peru ist dieser Teil der Bevölkerung nicht nur Im Jahr 2014 erhielt Peru die Einladung, an einem dem Virus sondern auch mangelhaften Länderprojekt der OECD teilzunehmen, welches Informationen zu Mitteln über passende den Weg für eine permanente Mitgliedschaft Präventionsmaßnahmen ausgesetzt. 3 ebnen sollte. Zahlreiche von der OECD in Auftrag gegebene Studien stellten postwendend Neben den sozioökonomischen Bedingungen erste wirtschaftliche Fortschritte fest. Unter erschweren institutionelle Altlasten der anderem konnte die Armutsrate bis zum Jahr peruanischen Demokratie die aktuelle Fähigkeit 2018 dank eines stabilen Anstiegs des des Staates, den Herausforderungen der Bruttoinlandsproduktes auf 20.5 % gesenkt Pandemie gerecht zu werden. werden. Dennoch blieben dem Land zahlreiche Vor allem Korruption ist ein endemisches Hausaufgaben zu erfüllen: Problem in Peru. Laut Transparency International Produktivitätssteigerung, Verringerung sozialer belegt das Land Platz 101 von 180 auf einer zu Ungleichheit sowie die Stabilisierung einer 10 prekären Mittelschicht. Letztere, so eine der Korruption geführten Liste und sticht vor allem OECD Studien, könne bei einer Verlangsamung im öffentlichen Sektor hervor: Korruption kostet der Wirtschaft, “sehr leicht erneut in Armut den peruanischen Staat circa 4,3 Milliarden 4 11 zurückfallen”. Eine solche Situation scheint mit Euro, was etwa zehn Prozent des jährlichen der Coronoa-Pandemie nun gegeben zu sein. Die Haushalts ausmacht. Im aktuellen Corona- Mittelschicht, zu der im Jahr 2019 immerhin 5 Kontext wurden seit Anfang der Quarantäne bis 42,9% der Peruaner zählten, droht von der zum 4. Juni 700 Ermittlungsverfahren eingeleitet, aktuellen Konjunkturabschwächung schwer wovon etwa die Hälfte Fälle von Veruntreuung getroffen zu werden. 12 öffentlicher Gelder sind. Ein weiterer Faktor, der die rasante Verbreitung der Pandemie erklären kann, ist die hohe Nicht zuletzt befindet sich Peru in einem Informalität des peruanischen Arbeitsmarktes. unvollendeten Dezentralisierungsprozess. Im Jahr 6 Ende 2019 arbeiteten 71,1% der Peruaner im 2002 wurden 25 Regionen mit politischer und informellen Sektor. Vor diesem Hintergrund wirtschaftlicher Autonomie und je eigener scheinen die Erfolgsaussichten der getroffenen Verwaltung geschaffen. Im Laufe der Jahre und Isolierungsmaßnahmen im Vorhinein fragwürdig nun im Kontext der Pandemie der COVID-19 gewesen zu sein. Je länger die Quarantäne Pandemie lassen diese jedoch Zweifel an ihren dauerte, desto größer war die Zahl der tatsächlichen Fähigkeiten, die Ansteckungen zu Menschen, die gezwungen war ihre Wohnungen verhindern und Wirtschaft zu reaktivieren, zu verlassen um ihr tägliches Brot zu verdienen. aufkommen. Schon im Jahr 2019 verfehlten die Regionen das Ziel, 80% ihres geplanten Haushalts Gleichzeitig haben die strengen Ausgangssperren tatsächlich auszuführen. Im Durchschnitt führten die ohnehin bereits von Ungleichheit geprägten 7 die Regionen nur 59.2% ihres jährlichen Budgets Bevölkerungsgruppen getroffen. Ungefähr zwölf Prozent der Peruaner leben in Haushalten in
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht 24. Juni 2020 3 aus. Bei den Gemeinden belief sich der Anteil auf Verteilung der Beihilfen von Hackern angegriffen 13 17 61.7%. worden sein. Eine Quarantäne mit guten Absichten Dies sind nur einige der Faktoren die erklären, warum die von der Regierung im März Die strikten Quarantänemaßnahmen sowie das verabschiedeten Maßnahmen trotz ihrer strikten beachtliche wirtschaftliche Hilfspaket waren Vorschriften – besonders in den ersten Wochen – einzigartig in Lateinamerika. Präsident Martin nur nüchterne Ergebnisse erzielt haben. Vizcarra signalisierte dadurch seit März die Absicht seiner Regierung, die Gesundheit der ¿Bleibt nur die Reaktivierung? Peruaner jeglichen wirtschaftlichen Herausforderungen vorzuziehen. Drei Monate strikter Quarantäne haben sich erheblich auf die peruanische Wirtschaft Dank der im Laufe der letzten Jahrzehnte ausgewirkt. Wirtschaftsexperten rechnen gewonnenen makroökonomischen Stabilität mittlerweile mit einem Rückgang des BIP um 15% standen der Regierung die entsprechenden für 2020. Erst im Jahr 2022 könne die Wirtschaft finanziellen Mittel zur Verfügung, welche die das Wachstumsniveau von 2019 wieder 18 potenziellen Auswirkungen des wirtschaftlichen erreichen. Abschwungs auf die schwächsten Angesichts der düsteren Wirtschaftsaussichten Gesellschaftsgruppen zu lindern versuchte. beschloss die peruanische Regierung eine schrittweise Reaktivierung der Die von Wirtschaftsexperten oft gelobte Wirtschaftstätigkeiten in vier Phasen, welche die makroökonomische Stabilität, welche sich vor allem durch die internationalen Reserven und Einhaltung strenger Hygienemaßnahmen zu peruanische Währungsstabilität auszeichnet, jeder Zeit garantieren sollte. Die zwei ersten zeigt jedoch erhebliche Mängel wenn es um Phasen wurden bereits umgesetzt. Die dritte soll Investitionen beim Gesundheitssystem, der 19 Ende Juli initiiert werden. Die anfänglichen Infrastruktur sowie den Dienstleistungen geht; erheblichen Verzögerungen können sowohl auf diese Lücken haben ohne Zweifel zur Zuspitzung die strukturelle Langsamkeit der peruanischen der Pandemie beigetragen. So hat beispielsweise Verwaltungskultur als auch auf die übertriebenen lediglich ein Drittel der Haushalte Zugang zu bürokratischen Hürden in der Planung der ersten Wasser und Kanalisation und besitzt einen 14 Phase zurückgeführt werden. Dabei muss gesagt Kühlschrank. werden, dass die Genehmigungsprozesse für Auch die Verteilung der finanziellen Beihilfen lief Unternehmen und Branchen in der zweiten 20 nicht komplett reibungslos. Familien in extremer Phase erheblich erleichtert wurden. Armut und andere Gruppen waren oftmals in den 15 Generell ist zu beobachten, dass die Debatte um Datenbanken nicht registriert, was zumindest die Reaktivierung der peruanischen Wirtschaft teilweise auf die bürokratisierte Aufgabenteilung eine auf technische Fragen konzentrierte für das Registrierungsverfahren und gewesen ist, welche stetig versucht, ein entsprechende Verifizierung zwischen den Gleichgewicht zwischen der Eindämmung der nationalen, regionalen und lokalen Behörden Krankheit und der Wiederherstellung der zurückzuführen ist. Ebenfalls wurden wirtschaftlichen Stabilität für Millionen von Korruptionsfälle – staatliche Beamte kassierten 16 Peruanern zu finden. Dennoch ließen die ein unrechtmäßig Beihilfen ab – gemeldet. Auch oder anderen unwahrscheinlichen und soll laut Medienberichten die Webseite für die ideologisch geprägten Vorschläge sowohl von
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht 24. Juni 2020 4 Exekutive als auch von Seiten des Kongresses, aufgedeckt hat. Angesichts dieser Situation nicht auf sich warten. scheint es wenig sinnvoll, blind für eine Rückkehr zur Normalität zu plädieren. Vielmehr ist es an Andererseits und trotz der Herausforderungen der Zeit, Strukturen zu erarbeiten und zu fördern, für das peruanische Bildungssystem, das den die eine gerechtere soziale Teilhabe aller präsenziellen Schulunterricht auf unbestimmte Bevölkerungsschichten in der Gesellschaft Zeit verschieben musste, kann die neue in Radio ermöglichen. und TV ausgestrahlte Fernsehsendung „Aprendo Gleichzeitig betonen einige Experten wiederholt, en Casa“ (Ich lerne von zu Hause) als ein Beispiel dass die Zahl der Todesfälle ohne strenge schneller Implementierung und praktischer Quarantäne nach 100 Tagen durchaus bei Umsetzung gesehen werden. Gleichzeitig erinnert 100,000 und die der Infizierten allein in Lima bei die Entscheidung der Regierung, den 23 900,000 gelegen hätte. Und dank der Schulunterricht in ländlichen Gebieten ohne finanziellen Beihilfen und der schrittweisen Zugang zum Internet und in denen es kein Reaktivierung der Wirtschaft wurde der totale Ansteckungsrisiko durch die COVID-19 gibt, Kollaps verhindert. Dennoch: 100 Tage später hat wiederaufzunehmen, deutlich daran, dass in Peru sich Peru noch lange nicht von den Auswirkungen 21 immer noch riesige Ungleichheiten bestehen. der Corona-Krise erholt, das Land steckt vielmehr mittendrin. Auch ist eine Fortsetzung der Trotz aller Bemühungen hat die peruanische strengen Quarantänemaßnahmen Regierung an Popularität eingebüßt. Während die unwahrscheinlich, nicht zuletzt da diese Zustimmungsraten für Präsident Vizcarra im zunehmend im direkten Widerspruch zur März und April bei fast 90% lagen, sanken seine weiteren Reaktivierung der Wirtschaft steht. Zustimmungswerte im Juni und liegen derzeit bei 70%. Dabei sind 42% der Peruaner der Meinung, Jenseits der aktuellen Herausforderungen „dass die Regierung in Bezug auf das scheinen im Andenland, zurecht auch mit Blick Gesundheitssystem tut, was sie im Rahmen auf die Wahlen im Jahr 2021, Themen wie eine seiner begrenzten Möglichkeiten eben kann.“ In gerechtere Verteilung von Wohlstand, Zugänge Bezug auf die Reaktivierung der Wirtschaft zu grundlegenden Dienstleistungen sowie die stimmen 39% den bisherigen Maßnahmen zu, Regulierung wenngleich ein klares Bewusstsein für die bestimmter wirtschaftlicher Praktiken eine 22 gemachten Fehler besteht. zunehmend wichtigere Rolle zu spielen. ¿Eine neue Normalität? Peru ist nur ein Beispiel in Lateinamerika dafür, wie die Corona-Pandemie seit langem bestehende, strukturelle Probleme wieder
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