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Berliner Debatte Initial 21. Jg. 2010 2 Europäische Integration und EU-Kritik Beichelt EU-Kritik als Aneignung Neyer Supranationalität und Legitimität Lechevalier Europäische Wielgohs Sozialpolitik Gissendanner Integration 2.0 Varga Wahlen Freyberg-Inan elektronische Sonderausgabe ISBN 978-3-936382-68-6 in Ungarn © www.berlinerdebatte.de
Berliner Debatte Initial 21 (2010) 2 1 Europäische Integration und EU-Kritik – Zusammengestellt von Timm Beichelt und Jan Wielgohs – Editorial 2 *** Europäische Integration Michael Dellwing und EU-Kritik Frenemies und das „wahre Selbst“. Eine Soziologie echter Identitäten Timm Beichelt und feindlicher Freunde 94 EU-Skepsis als Aneignung europäischer Politik 3 Markus Linden Kein Ende der Demokratie. Jürgen Neyer Eine Einordnung und Kritik der Das Recht auf Rechtfertigung und Erosionsthese Michael Th. Grevens 105 die Legitimität von Supranationalität 17 Johannes Peisker Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs Zwischen den Fronten EU-Sozialpolitik und die Debatte humanitärer Interventionen 116 um das Europäische Sozialmodell 29 Stephan Beetz Gert-Rüdiger Wegmarshaus Ist das Land anders? EU-Integration: Demokratische Neue räumliche Ordnungen Legitimation durch Deliberation und ihre gesellschaftlichen Diskurse 123 und Partizipation? 45 Matthias Finster, Uwe Krähnke Ungarn nach den Wahlen Wie elitär war das Ministerium für Staatssicherheit? 136 Mihai Varga, Annette Freyberg-Inan Ungarn 2010 60 Besprechungen und Rezensionen Máté Szabó Ungarn hat gewählt – aber wie? 67 Raj Kollmorgen Transformation für alle(s)? Integration von Minderheiten Zu Rolf Reißigs Entwurf eines neuen sozialen Wandlungskonzepts Scott Stock Gissendanner für das 21. Jahrhundert 147 Integration 2.0 73 Harald Simons: Mathias Lindenau Transfers und Wirtschaftswachstum Öffnet die Schweizerische Volkspartei Rezensiert von Ulrich Busch 156 die Büchse der Pandora? 82 Edelbert Richter: Michael Bloch Die Linke im Epochenumbruch Das Schweizer Minarett-Verbot 90 Besprochen von Rolf Reißig 158
2 Berliner Debatte Initial 21 (2010) 2 Editorial Noch vor wenigen Jahren galt grundsätzliche deuten, und plädiert dafür, die Zunahme von Kritik an der Europäischen Union in den EU-Kritik als einen Prozess der Aneignung Öffentlichkeiten ihrer Mitgliedsländer weit- europäischer Politik durch die kritischen Ak- gehend als tabu. Unmittelbar nach dem Ende teure zu interpretieren. des Kalten Krieges, zwischen 1989 und 1994, Die weiteren Schwerpunktbeiträge befassen fand EU-Mitgliedschaft die ausdrückliche Zu- sich mit ausgewählten Problembereichen, die stimmung von über 60, zeitweise 70 Prozent Beichelt als spezifische Anlässe neuerer EU- der Unionsbürger/innen. Der Bevölkerungs- Kritik identifiziert. Jürgen Neyer und Gert- anteil der Gegner schien mit unter 10 Prozent Rüdiger Wegmarshaus setzen sich mit dem in vernachlässigbar, und Politiker beschränkten der Literatur häufig thematisierten „Demokra- EU-kritische Äußerungen auf Detailaspekte tiedefizit“ der EU auseinander. Während Neyer der Unionspolitik, wollten sie nicht der Ver- den deklarierten Anspruch der EU, demokrati- letzung des politischen Anstands beschuldigt schen Prinzipien zu genügen, für grundsätzlich werden. Diese Konstellation des „permissiven verfehlt hält und die Legitimationschancen Konsensus“ ist inzwischen Geschichte. Nicht supranationalen Regierens in der EU eher in nur in der breiteren Bevölkerung ist der An- einem Geltungsgewinn argumentationsba- teil der EU-Skeptiker in den letzten Jahren sierter und gerechtigkeitsorientierter Politik dramatisch gestiegen. Auch von politischen sieht, prüft Wegmarshaus diverse Ansätze Eliten der Mitgliedsstaaten und selbst von direkter und partizipativer Demokratie auf Intellektuellen, die einst zu den Protagonisten ihre Eignung, die Legitimationsprobleme der des europäischen Einigungsprojekts zählten, ist EU zu beheben. inzwischen zunehmend vehemente Grundsatz- Die wachsende Diskrepanz zwischen der kritik am Modus der europäischen Integration Forcierung der Integration des europäischen zu vernehmen. So ist EU-Skepsis in den letz- Binnenmarktes (negative Integration) und dem ten eineinhalb Jahrzehnten zum Gegenstand gleichzeitigen Geltungsverlust von Projekten intensiver Forschung geworden. positiver, auf Marktregulierung basierender Timm Beichelt, der im Wintersemester Integrationspolitik gilt als eine weitere zentrale 2009/10 an der Europa-Universität Viadrina in Ursache für zunehmende Unzufriedenheit mit Frankfurt (Oder) die Ringvorlesung veranstaltet und Kritik an der EU, deren Wahrnehmung hat, auf welche die Beiträge zum thematischen schon Jacques Delors dazu motiviert hat, für Schwerpunkt dieser Ausgabe zurückgehen, sy- eine Stärkung der „sozialen Dimension“ der stematisiert einleitend die diversen Phänomene EU zu werben. Arnaud Lechevalier und Jan der neueren EU-Skepsis und EU-Kritik nach Wielgohs liefern einen Überblick über die Trägergruppen und Themen und unterbreitet Entwicklungsphasen der Sozialpolitik der EU verschiedene Erklärungsangebote. Insbeson- und thematisieren eine Reihe von Faktoren, dere problematisiert er die in der politischen die der Verwirklichung der Kernideen des Öffentlichkeit wie in der Forschung noch „Europäischen Sozialmodells“ auf absehbare immer verbreitete Gewohnheit, substanzielle zeit im Wege stehen werden. Kritik an der europäischen Integration als für die weitere Entwicklung der EU destruktiv zu Jan Wielgohs
Berliner Debatte Initial 21 (2010) 2 29 Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell Timm Beichelt stellt in seinem Beitrag zu rationsfortschritte, die seit der Gründung der diesem Heftschwerpunkt fest, dass EU-Skepsis EG 1957 erreicht worden sind. in den letzten Jahren an Breite und Intensität Der Diskurs über die „soziale Dimension“ gewonnen hat, und macht dabei insbesondere der EU bzw. das Europäische Sozialmodell Identitätsbedrohungen, den Verlust an nationa- (ESM), der den Gegenstand dieses Aufsatzes ler Souveränität, die EU-Bürokratie sowie den bildet, ist in seiner Entstehung selbst eine marktzentrierten Modus der Integration und Reaktion auf Konsequenzen von Integrati- den damit verbundenen Verlust an allgemeiner onsfortschritten, die in den Öffentlichkeiten politischer Steuerungsfähigkeit als Gegenstände der Mitgliedsländer wie unter den Akteuren kritischer Diskurse aus. Er konstatiert nicht der EU-Politik seit Anfang der 1990er Jahre schlechthin die Zunahme von Kritik an der umstritten sind. EU, sondern bezeichnet diese als Aneignung Im Folgenden werden wir auf den Begriff europäischer Politik und charakterisiert sie des ESM und markante Veränderungen in der damit faktisch als Resultat von Prozessen, in politischen Debatte eingehen. Anschließend denen sich die Akteure der verschiedenen werden wir einige markante Tendenzen der Ebenen – die Bürger, die Parteien und die po- Sozialpolitik der EU überblicksartig darstellen litischen Eliten – die europäische Integration und die gegenwärtige Konstellation bewerten. und ihre Resultate „zu eigen machen“. EU-Kritik Abschließend werfen wir einen Ausblick auf die erscheint damit selbst als ein Ausdruck des Zukunft der „sozialen Dimension“ der EU. Integrationsfortschritts – und es hängt von ihrer politischen Bearbeitung ab, ob sie die Integration weiter befördert oder desintegrative Entstehung und Entwicklung Tendenzen beflügelt. des ESM-Diskurses Vor diesem Hintergrund verstehen wir die Probleme, die Anlass zu EU-Skepsis und Kritik Worum geht es in der Debatte um das ESM? geben, nicht einfach als „Mängel“ oder, um mit Der Begriff „Europäisches Sozialmodell“ bzw. Lenin zu sprechen, als „Kinderkrankheiten“, die „Europäisches Gesellschaftsmodell“ hat in der dem Umstand geschuldet wären, dass sich die zweiten Hälfte der 1980er Jahre Eingang in die europäische Integration noch in einem histo- Sprache der europäischen Integrationsdebatten risch frühen Stadium befindet, und die durch gefunden und gehört heute zum festen Reper- eine „Vervollkommnung“ des eingeschlagenen toire der offiziellen EU-Rhetorik. Er fungiert Integrationsmodus quasi organisch überwun- dort als eine Formel, die den normativen den werden könnten. Vielmehr betrachten wir Anspruch der EU verkörpert, ökonomische sie als durch die Europäisierung selbst bedingt Dynamik und sozialen Ausgleich systematisch als Konsequenzen des spezifischen Modus, in miteinander zu verkoppeln (Aust et al. 2002: welchem die Integration bisher vorangetrieben 273). Der Kontext, in dem die Rede vom ESM wurde, gleichsam als „Kehrseiten“ der Integ- aufkam, war die Kritik von Kirchen, Wohl-
30 Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs fahrtsverbänden, Gewerkschaften und linken Gesellschaftsmodell, einer besonderen Kapi- Parteien an dem Umstand, dass das in der talismusvariante, rechtfertigen würden, ist in Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 der Literatur allerdings umstritten (siehe u.a. verankerte Binnenmarktprogramm einseitig Baldwin 2003; Crouch 2000; Offe 2001), worauf auf Deregulierung und Liberalisierung setzte, wir hier aber nicht näher eingehen können. aber keine sozialpolitischen Akzente enthielt Delors Vorstellung jedenfalls, die Anfang der (Schulte 2004: 86). Bis Mitte der 1990er Jahre 1990er Jahre von der Mehrheit der Regierungen setzte sich dann in der politischen Klasse der der EU-Mitgliedsländern zumindest rhetorisch EU die insbesondere auch vom damaligen unterstützt wurde, lief daraus hinaus, durch Kommissionspräsidenten Jacques Delors den Ausbau einer europäischen Staatlichkeit, vertretene Auffassung durch, dass eine Inte- d.h. eine stärkere Verlagerung von politischen grationsstrategie, die ausschließlich auf die Regelungskompetenzen auf die EU-Ebene und Integration und Liberalisierung der Märkte die systematische Einbeziehung der europäi- setzt, den EU-Bürgern gegenüber nicht be- schen Sozialpartner die Marktintegration durch gründungsfähig wäre und daher mit einem eine „soziale Dimension“ zu ergänzen. Es ging chronischen Legitimationsdefizit belastet faktisch darum, den sich andeutenden Verlust bleiben würde (Aust et al. 2002: 286). In den der Nationalstaaten an sozialpolitischer Steue- europäischen Gesellschaften, so die weitere rungsfähigkeit durch einen Kompetenzgewinn Argumentation, seien neben Demokratie und auf der supranationalen Ebene zu kompensie- persönlichen Freiheitsrechten auch solche ren, um so die sozialen Errungenschaften der Werte wie Tariffreiheit, Chancengleichheit Nachkriegsjahrzehnte unter den veränderten für alle, soziale Sicherheit und Solidarität tief Bedingungen des gemeinsamen Marktes zu verwurzelt – Werte, die, wie Delors betonte, bewahren. „der Markt als solcher nicht schaffen noch be- Mit dem globalen Hegemoniegewinn wahren kann“ (zit. ebd.). „Die Klammer, die alle marktliberalen Denkens hat sich im Laufe der diese […] Grundwerte miteinander verbindet“, 1990er Jahre jedoch auch in dieser Debatte so heißt es schließlich im Weißbuch Sozialpo- ein Paradigmenwechsel vollzogen, in dessen litik der Kommission, „ist die Überzeugung, Ergebnis solche Vorstellungen von positiver dass wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt Integration (Scharpf 1999: 49) und „euro- Hand in Hand gehen müssen“ (Europäische keynesianische“ Positionen an den Rand des Kommission 1994: 5). politischen Diskurses geraten sind. Mit der Forciert wurde die Debatte nicht zuletzt Lissabon-Strategie vom Jahr 2000 hat die Idee, durch die Einsicht, dass die einsetzende Glo- den Herausforderungen der Globalisierung balisierung des Kapitalverkehrs auf Dauer die durch den Umbau der sozialen Marktwirt- Fähigkeit der einzelnen (westeuropäischen) schaften der Nachkriegsära zu „aktivierenden“ Wohlfahrtsstaaten zu unterminieren droht, Wohlfahrtsstaaten zu begegnen, wie sie in der durch Marktregulierung und Umverteilung Rede von der „Modernisierung des Europäi- soziale Ungleichheit zu begrenzen und sozialen schen Gesellschaftsmodells“ (Europäischer Frieden zu bewahren. Die Errungenschaften Rat 2000; zur Diskussion vgl. Giddens 2006) der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten der symbolisiert ist, den Charakter einer offiziellen Nachkriegjahrzehnte, die in der Formel vom Doktrin erfahren. Dieser Paradigmenwechsel ESM als ein spezifisches Merkmal reklamiert lässt sich – stark vereinfacht und zugespitzt in werden, durch das sich die europäische Kapi- folgenden Punkten zusammenfassen: talismusvariante von der US-amerikanischen (1) Der „Markt“ wird nicht mehr vorrangig und ostasiatischen unterscheide, würden damit als eine Organisationsform kapitalistischer aufs Spiel gesetzt. Ob die westeuropäischen Wirtschaft angesehen, die politisch reguliert Gesellschaften tatsächlich genügend Gemein- werden muss, weil sie Krisen und soziale samkeiten und gemeinsame Unterschiede Ungleichheit produziert, sondern primär als gegenüber den USA und Japan aufweisen, die ein Instrument der effizienten Allokation von die Rede von einem spezifisch europäischen Produktionsfaktoren. Als zentrales Merkmal
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell 31 des herkömmlichen Wohlfahrtsstaates gilt nicht ist in der EU bislang ebenso wenig gangbar mehr dessen Fähigkeit zur Gewährleistung wie der über steuerliche Finanzierung. So sozialer Kohäsion, sondern seine vermeintliche kann die EU bis heute keine spending power Wirkung als Wachstumsbremse, insofern leis- dazu einsetzen, Einfluss auf die Ausgestaltung tungsunabhängige Sozialleistungen (d.h. soziale der Sozialprogramme der Mitgliedsstaaten zu Bürgerrechte) die Anreize zur Erwerbstätigkeit nehmen (Leibfried/ Obinger 2008: 14). minimieren. Da sie keine Kompetenzen zur Erhebung (2) Das vorrangige Ziel wohlfahrtsstaatlicher von Steuern oder Beiträgen hat und nur über Politik besteht nicht mehr darin, die Bürger einen geringen Etat verfügt (1 Prozent des vor den Risiken des Marktes zu schützen, EU-Bruttonationaleinkommens im Vergleich sondern sie für den Markt „fit“ zu machen. zu etwa 20 Prozent in den Mitgliedsstaaten), Die Begrenzung sozialer Ungleichheit wird fehlt ihr eine autonome finanzielle Grundlage tendenziell auf die Gewährleistung gleicher für die Entwicklung eigenständiger redistri- Lebenschancen reduziert, was sich in einer butiver Sozialpolitik. Es überrascht daher zumindest rhetorischen Favorisierung von Hu- nicht, dass die Fortschritte, die in den letzten mankapitalinvestitionen gegenüber Ausgaben beiden Jahnzehnten in der EU-Sozialpolitik zur sozialen Sicherung ausdrückt (Stichwort erzielt worden sind, praktisch ausschließlich Rekommodifizierung versus Dekommodifi- die regulative Sozialpolitik betreffen. Zudem zierung). hat die Rechtsprechung des Europäischen (3) Als zentrale Handlungsebene dieser Gerichtshofes maßgeblich zur Asymmetrie Reformen gilt wieder der Nationalstaat, d.h. zwischen negativer und positiver Integration Projekte der positiven Integration spielen – der EU beigetragen (vgl. Scharpf 2009). im Unterschied zur Delorschen Vision – im Konzept des „neuen“ ESM keine wesentliche Entwicklungsphasen des „sozialen Europa“ Rolle mehr. Vor dem Hintergrund dieser Neubewertung In der Geschichte der Sozialpolitik der EU von Markt, Wohlfahrtsstaat und Handlungsebe- können drei Phasen unterscheiden werden. ne werden im Folgenden einige markante Ent- Die erste Phase verlief von 1958 bis 1986. Für wicklungen der EU-Sozialpolitik dargestellt. die Gründung der Europäischen Wirtschafts- gemeinschaft (EWG) spielten bekanntlich sicherheitspolitische und ökonomische Motive Sozialpolitik der EU – Fortschritte, die ausschlaggebende Rolle. Die Römischen Reichweite und Grenzen Verträge favorisierten zunächst eine Integration der Märkte und beließen die Zuständigkeit Wie Leibfried et al. (2005) zeigen, haben beim für die Sozialpolitik bei den Mitgliedsstaaten. historischen Durchbruch zum Wohlfahrtsstaat Supranationale Sozialpolitik wurde damit als in allen Bundesstaaten „Strategien“ zur Um- ein Nebenprodukt der Integration konzipiert schiffung von Vetopunkten eine wichtige Rolle und auf zwei Aufgaben begrenzt: gespielt. Doch die Wege, die föderalistische –– Erstens wurden im Zusammenhang mit der Nationalstaaten üblicherweise gegangen sind, Arbeitnehmerfreizügigkeit Maßnahmen um Solidargemeinschaften aufzubauen, sind zur Koordinierung der nationalen Sozial- der EU bislang versperrt. In herkömmlichen versicherungssysteme getroffen, um dem Bundesstaaten wurden sozialpolitisch bedingte Grundsatz des Gleichbehandlungsprinzips Finanzierungskonflikte zwischen Gebiets- Geltung zu verschaffen, nach dem Arbeit- körperschaften über den Aufbau autonomer nehmer aus einem anderen Mitgliedsstaat Sozialversicherungen und die Beitragsfinan- im Beschäftigungsland nicht schlechter als zierung von Sozialleistungen gelöst. D.h., die einheimische Beschäftigte gestellt werden Kosten sozialer Sicherung wurden zum großen dürfen (Verordnung von 19711, erneut Teil Dritten aufgebürdet - den Arbeitsnehmern 2004). und Arbeitgebern. Dieser Weg über Parafiski –– Zweitens übernahm die EU-Sozialpolitik
32 Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs über die Sozialfonds eine Pufferfunktion die Sozialpolitik im Vertrag von Amsterdam für die wirtschaftliche Umstrukturierung, umgesetzt wurde. Die Charta der Grundrechte, insbesondere für Regionen mit alten die am 7. Dezember 2000 in Nizza verkündet Indust rien. Parallel dazu schreibt der wurde, greift unter anderem die in dieser EWG-Vertrag die Gleichstellung von Frauen Sozialcharta erklärten Rechte auf. Die Charta und Männern auf dem Arbeitsmarkt vor. der Grundrechte ist durch den Vertrag von Diese Regelung hat seitdem Anlass zu einer Lissabon rechtskräftig geworden (Art. 6 Abs. 1 weitreichenden Antidiskriminierungsge- EUV mit Opt-out-Klausel für Großbritannien, setzgebung und -rechtsprechung gegeben, Polen und Tschechien). die einen der wichtigsten Beiträge zum Der Eckpfeiler der EU-Sozialpolitik ist seit „sozialen Europa“ darstellt. 1993 der Vertrag von Maastricht (Vertrag über Die zweite Phase von 1986 bis 2003 kann mit die Europäische Union/ EUV vom 7.2.1992). Jean-Claude Barbier (2008) als das „goldene Zum einen, weil er auch für die Sozialpolitik Zeitalter“ des „sozialen Europa“ betrachtet das Subsidiaritätsprinzip festschreibt, nach werden. Mit der Einheitlichen Europäischen dem nur solche Aufgaben vergemeinschaftet Akte von 1986 gewann die EU zum ersten Mal werden sollen, die von den Mitgliedsstaaten Regelungskompetenzen im Bereich des Arbeits- allein nicht bewältigt werden können, zum und Gesundheitsschutzes für Arbeitnehmer. anderen, weil er die Verteilung der Kompeten- Zudem wurde den Sozialpartnern eine legitime zen zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten Rolle auf der EU-Ebene eingeräumt. Nach dem festlegt (Tabelle 1). Beitritt von Spanien und Portugal wurden 1988 Die Felder, in denen die Souveränität der die Strukturfonds und der Kohäsionsfonds Nationalstaaten über das Mitentscheidungs- und damit die Finanzierungsinstrumente der recht des Europäischen Rats (bei qualifizierter Regionalpolitik der EU spürbar aufgestockt. Mehrheit) und des Europäischen Parlaments 1989 haben die Mitgliedsstaaten (mit Aus- (EP) eingeschränkt werden kann, konzentrie- nahme von Großbritannien) der Gemeinschaft- ren sich auf Arbeits- und Gesundheitsschutz, scharta der sozialen Grundrechte der Arbeit- Arbeitsbedingungen, berufliche Eingliederung nehmer zugestimmt, die als Abkommen über und ähnliches. Es sind die sozialpolitischen Tabelle 1: Die Kompetenzen der EU auf dem Gebiet der Sozialpolitik Mitentscheidungsverfahren (EU-Rat und EP) mit qualifizierter Mehrheit: –– Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer –– Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer –– Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbe- handlung am Arbeitsplatz –– Bekämpfung sozialer Ausgrenzung –– Modernisierung der Sozialschutzsysteme Mitentscheidungsverfahren mit Einstimmigkeit: –– Soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer –– Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags –– Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinter- essen –– Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder Kompetenzübertragung ausgeschlossen für: –– Arbeitsentgelt –– Koalitionsrecht, Streik- und Aussperrungsrecht
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell 33 Bereiche, die von den 12 Regierungen (darunter und so ist in den letzten Jahren von diesem 11 konservativen), die den Maastricht-Vertrag Verfahren kein intensiver Gebrauch mehr ausgehandelt haben, als zweitrangig betrachtet gemacht worden. wurden. Nichtsdestoweniger können Entschei- Wie ist diese Sozialgesetzgebung der EU dungen in diesen Bereichen brisante Themen insgesamt zu bewerten? Eine generelle Antwort betreffen, wie die langjährigen Debatten über ist schwierig, denn sie hängt von der jeweiligen die Änderung der Direktive von 1993 über die Lage in den verschiedenen Ländern und den Regelung der Arbeitszeit gezeigt haben. betroffenen Gebieten der Sozialpolitik ab. In anderen Bereichen bleibt das Veto-Recht Allgemein könnte man in Anlehnung an Rib- der Mitgliedsstaaten ungetastet. Das betrifft hegge (2008) sagen: Die EU-Sozialgesetzgebung vor allem den Kern des Arbeitsrechts und strebt zwar nicht nach einer Harmonisierung der Sozialpolitik wie Kündigungsregelungen der „best pratices“, aber zumindest begrenzt oder die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer. sie den Wettbewerb zwischen den nationalen In einigen Gebieten schließt der Vertrag von Sozialsystemen durch Mindeststandards. Maastricht eine Kompetenzübertragung an Durch die Integration in den Acquis Commu- die EU explizit aus – in der Lohnpolitik und nautaire sind diese Mindeststandards auch für im Koalitionsrecht (und damit hinsichtlich der die Länder zwingend geworden, die der EU Rechte von Gewerkschaften und der Rolle von erst später beigetreten sind, was namentlich Tarifverträgen). in einigen ostmitteleuropäischen Staaten zu Die Logik dieser Kompetenzverteilung liegt nicht zu vernachlässigenden sozialen Verbes- auf der Hand: Je wichtiger die Sozialbereiche serungen führte. für die Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie Infolge der Einführung eines neuen Kapitels für die Erhaltung der nationalen Sozialord- über die Beschäftigungspolitik in den Vertrag nungen sind, desto weniger wird die Macht von Amsterdam wurde 1997 – in Anlehnung mit der EU-Ebene geteilt. Nichtsdestoweniger an den Koordinierungsmechanismus in der ist dadurch eine wichtige Gesetzgebung über Wirtschaftspolitik – die sogenannte Offene Sozialstandards entstanden. Das betrifft ins- Methode der Koordinierung (OMK) eingeführt. besondere die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Die OMK kam zunächst bei der Koordinierung der Arbeitslosen und sonstigen EU-Bürger, der nationalen Beschäftigungspolitiken zur das Diskriminierungsverbot, Arbeitsschutz Anwendung und wurde später auch auf die und Arbeitsbedingungen, die Europäische Politik der sozialen Inklusion und zum Teil Aktiengesellschaft und den Europäischen auf die Alterssicherung und die Gesundheits- Betriebsrat. versorgung ausgeweitet. Die OMK beruht im Der andere wichtige Aspekt des Maastricht- Kern auf intergouvernementaler Abstimmung, Vertrags ist die Verankerung des sozialen lässt aber die nationalen Zuständigkeiten in den Dialogs im EU-Recht. Seit 1993 muss die EU- betroffenen Gebieten unangetastet. Sie stellt Kommission, wenn sie im sozialpolitischen im Wesentlichen einen Versuch dar, für die Bereich eine Initiative ergreifen bzw. eine nationalen Beschäftigungs- und Sozialpolitiken Direktive verabschieden will, den Tarifparteien einen gemeinsamen Rahmen zu definieren. eine Verhandlungsfrist gewähren. Treffen die Bei diesem Verfahren erarbeitet zunächst Sozialpartner eine Vereinbarung, dann wird die EU-Kommission in Zusammenarbeit mit diese zum Gemeinschaftsrecht, wenn der Rat dem EU-Ministerrat gemeinsame Leitlinien, ihr im Gesetzgebungsverfahren zustimmt. welche die Mitgliedsstaaten in ihrer Politik Über dieses Verfahren sind einige wichtige berücksichtigen sollen, die aber nicht ver- Vereinbarungen in EU-Recht umgesetzt wor- bindlich sind. Die Mitgliedsländer erarbeiten den: im Bereich des Elternurlaubs (1995), der auf dieser Basis nationale Pläne, über deren Teilzeitarbeit (1997), der befristeten Arbeits- Erfüllung im Dreijahresabstand berichtet wird. verhältnisse (1999) und der Telearbeit (2004). Anhand dieser Berichte und gegebenenfalls Allerdings sind die Arbeitsgeberverbände auf mittels eines Benchmarking-Verfahrens nimmt EU-Ebene in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend der EU-Rat dann eine Evaluierung vor und
34 Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs kann auf Empfehlung der Kommission mit anhängen, eine Standortpolitik entwickelt, die qualifizierter Mehrheit Empfehlungen an die mit der eingangs geschilderten Kernidee des Mitgliedsstaaten aussprechen. ESM schwer zu vereinbaren ist. Wie hat sich die Einführung der OMK bisher auf die nationalen Beschäftigungs- und Der Europäische Gerichtshof und die asym- Sozialpolitiken ausgewirkt? In Auswertung der metrische Integration Europas umfangreichen Literatur der letzten Jahre (u. a. Goestschy 2004; Zetlin/ Pochet 2005; Schmid Parallel zum Einflussgewinn marktlibera- 2008, Barbier u.a. 2009; IRES 2009) sind im len Denkens hat auch die Rechtsprechung Wesentlichen drei Effekte auszumachen: des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in –– Erstens ist unter den administrativen Eliten zunehmendem Maße die nationalen Siche- der EU eine neue „kognitive Gemein- rungssysteme, das nationale Arbeitsrecht und schaft“ entstanden, die sich zunehmend die Tarifautonomie beschränkt bzw. in Frage durch gemeinsame Problemdeutungen gestellt. Wie Fritz Scharpf (2009) ausführlich auszeichnet – z. B. über die Ursachen von argumentiert, bewirken die Verteilung der Arbeitslosigkeit und die optimale Art, diese Kompetenzen zwischen der EU und den zu bekämpfen. Mitgliedsstaaten und die damit verbundene –– Zweitens bietet die OMK eine strategische Anreizstruktur eine doppelte Asymmetrie. Machtressource für diverse Akteure, die Die erste Asymmetrie betrifft die Beziehungen auf nationaler Ebene an der Aushandlung zwischen der gesetzgebenden Gewalt und von Zielen und Inhalten der Politik betei- der Judikative. Mit den Urteilen zu den Fällen ligt sind. „Van Gend & Loos“ (1963) und „Costa/ENEL“ –– Drittens hat sich die OMK – und insbesonde- (1964) hat der EuGH nicht nur die Doktrin der re die Europäische Beschäftigungsstrategie Eigenständigkeit des Europarechts entwickelt, (EBS) – als ein „selektiver Verstärker“ (Visser die besagt, dass die Mitgliedsstaaten sich frei- 2004) neoliberaler Reformen erwiesen. Das willig einer Gemeinschaft mit eigenständiger gilt insbesondere für die Arbeitsmarktrefor- Rechtsordnung unterworfen haben, sondern men sowie für die Unterordnung der sozialen auch den Vorrang des Europarechts gegenüber Sicherungspolitik unter das inzwischen dem Recht der Mitgliedsstaaten. Die Wirk- dominierende beschäftigungspolitische samkeit dieser Rechtssprechung, die bei den Ziel, Arbeitsplätze „um jeden Preis“ zu nationalen Verfassungsgerichten (insbesondere schaffen. beim deutschen Bundesverfassungsgericht) nie Seit 2003 ist eine dritte Phase in der EU-Sozi- unumstritten geblieben ist, wird jedoch durch alpolitik auszumachen, die im Wesentlichen hohe Hürden für ihre politische Umkehrung durch einen Reformstau gekennzeichnet ist. gestärkt: Entscheidungen des EuGH können Dazu haben mehrere Faktoren beigetragen, von nur durch Änderungen des EU-Vertragsrechts denen hier nur zwei hervorgehoben werden aufgehoben werden, die einstimmige Beschlüs- sollen. Zum einen haben sich im Laufe der se des Europäischen Rats erfordern, in allen 1990er Jahre die Machtverhältnisse von den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden müssen, Befürwortern einer positiven Integrationspolitik und daher bei Themen, zu denen unter den zu Gunsten von politischen Kräften verschoben, Mitgliedstaaten wenig Einigkeit besteht, kaum die die „soziale Dimension“ der EU bestenfalls Erfolgsaussichten haben. als ein Nebenprodukt der wirtschaftlichen Der EuGH hat von dieser Lage Gebrauch Integration betrachten. Zum anderen hat mit gemacht, um den vier Grundfreiheiten Vorrang der Ost-Erweiterung das ökonomische Gefälle gegenüber den nationalen Sozialordnun- innerhalb der EU massiv zugenommen. Ange- gen einzuräumen: Mit dem Urteil zum Fall sichts der knappen Mittel, die die EU für dessen Dassonville (1974) hat er Artikel 28 EGV2 Überwindung zur Verfügung stellt, haben die so interpretiert, dass „jede Handelsregelung Beitrittsländer, deren Eliten großenteils den der Mitgliedsstaaten, die geeignet ist, den Prinzipien marktliberaler Wirtschaftspolitik innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell 35 oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu im Gegensatz zur üblichen Rechtssprechung behindern, [...] als Maßnahme mit gleicher von Verfassungsgerichten in föderalen Staaten Wirkung wie eine mengenmäßige Beschrän- die Rechtsprechung des EuGH nicht darauf kung anzusehen“ [ist]. Von daher müssen zielt, ein „faires“ Gleichgewicht zwischen den alle nationalen Regelungen, die den Handel Regierungsebenen zu identifizieren und zu hemmen, als „nicht quantitative“ Hindernisse schützen. Üblicherweise haben nämlich in betrachtet werden, die gegen die Warenver- jeder Föderation das Verfassungsrecht und kehrsfreiheit verstoßen. Später hat der EuGH die verfassungsmäßige Rechtsprechung eine mit der Cassis-de-Dijon-Entscheidung von bipolare konzeptuelle Struktur: Die natio- 1979 die Rechtslage präzisiert und entschieden, nalen und regionalen Interessen haben eine dass „Hemmnisse für den Binnenhandel der gleichwertige normative rechtliche Stellung. Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden Auf EU-Ebene dagegen entscheidet der EuGH der nationalen Regelungen über die Vermark- im Alleingang, welche nationalen Interessen tung eines Erzeugnisses ergeben, hinzunehmen als gesetzlich vorgeschriebene „zwingende [sind], soweit diese Bestimmungen notwendig Erfordernisse“ gelten dürfen. Insofern ist der sind, um zwingenden Erfordernissen [wie EuGH ein Instrument zur Förderung eines dem Schutz der öffentlichen Gesundheit oder dynamischen Prozesses – einer Integration, die dem Verbraucherschutz], gerecht zu werden“. zunehmend auf Kosten der nationalstaatlichen Wenn solche nationalen Regelungen nicht Autonomie geht (Scharpf 2009). gerechtfertigt erscheinen, weil sie den vom Obwohl der EVG-Vertrag eine Zuständigkeit EuGH festgesetzten „zwingenden Erforder- der EU im Bereich der Lohnpolitik und des Ko- nissen“ nicht entsprechen, oder weil sie den alitionsrechts explizit ausschließt, hat der EuGH „Proportionalitätstest“ des EuGH (zwischen 2007 und 2008 in mehreren Entscheidungen den deklarierten Zielen und den angewandten (Viking, Laval, Rüffert und Kommission versus Mitteln) nicht bestehen, gilt das Prinzip der Luxembourg) im Namen der Grundfreiheiten gegenseitigen Anerkennung. Insofern hat die das nationale Streikrecht bzw. die Lohnpolitik „Cassis-Doktrin“ die Verhandlungskonstellation und Tarifverträge in Frage gestellt (Höppner und die Anreize, denen die Mitgliedsstaaten 2009; Laulom/ Lefresne 2009). im Gesetzgebungsverfahren gegenüberstehen, Ähnliches gilt für den Gesundheitsbereich. verändert. Während bis dato die nationale Ge- Unter Verweis auf die Dienstleistungs- und setzgebung in Kraft blieb, so lange die nationalen Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH die Regierungen der Harmonisierungsrichtlinie Patientenmobilität entscheidend ausgeweitet nicht zustimmten, findet jetzt das Prinzip der und die Mitgliedsstaaten in ihrer Souverä- gegenseitigen Anerkennung systematische nität über die Sozialversicherungssysteme Anwendung (Scharpf 2009). eingeschränkt. In seiner Rechtsprechung Eine Folge dieser Rechtsprechung ist die stellte er fest, dass, auch wenn der Bereich systematische Liberalisierung des Binnen- der sozialen Sicherheit national geregelt marktes und die Ausweitung der Reichweite wird, die Dienstleistungsfreiheit in diesem der „negativen Integration“ (Scharpf 1999: Bereich Anwendung finden muss. Dem 49). Angesichts des „verfassungsrechtlichen gemäß sieht das Gericht Regelungen, die Charakters“ der Entscheidungen des EuGH für ambulante Leistungen im Ausland eine können politische Versuche, die Reichweite Vorabgenehmigung der einheimischen Kran- dieser Liberalisierung mittels EU-Gesetzgebung kenkasse fordern, als Verstoß gegen die zu beschränken, durch das Veto „liberaler“ Dienstleistungsfreiheit. Der EuGH hat in Regierungen ohne Schwierigkeit blockiert anderen Entscheidungen hinzugefügt, dass werden. Diese Konfiguration unterminiert die Gefährdung des finanziellen Gleichge- die Verhandlungsmacht der Befürworter von wichts des sozialen Sicherungssystems keine Liberalisierungsbeschränkungen und positiver ausreichende Begründung für die Ablehnung Integrationspolitik. der Kostenübernahme für eine Behandlung Die zweite Asymmetrie entsteht daaus, dass im Ausland sei. Die Genehmigungspflicht
36 Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs ist nur noch im stationären Bereich – sofern scher „Schocks“ in der Eurozone zu begren- verhältnismäßig – gerechtfertigt. zen, wie die gegenwärtige Krise eindrücklich bestätigt. Zum anderen bewirkt sie, dass den nationalen Arbeitsmärkten eine Pufferfunk- Die aktuelle Konfiguration der Europäi- tion über die Flexibilisierung der Löhne und schen Wirtschafts- und Währungsunion des Arbeitsrechts zugeschrieben wird. Unter (EWU) und ihre Konsequenzen für ein diesen Umständen verschärft die einheitliche soziales Europa Währung die Anreize zur Lohnzurückhaltung und zum Sozial- und Fiskalwettbewerb zwi- Der institutionelle Rahmen der EWU erzeugt schen den Mitgliedsländern (Fitoussi/ Saraceno für die Sozialpolitik der EU wie die der Mit- 2005; Beier et al. 2006; Creel et al. 2007; De gliedsländer erhebliche Restriktionen. Eine Grauwe 2006). Koordinierung der Wirtschafts- und Lohn- Die internationale Mobilität der Produkti- politik auf EU-Ebene gibt es lediglich durch onsfaktoren schränkt den Umverteilungsspiel- die „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“, die in raum der Regierungen zunehmend ein und Form einer Empfehlung des Rates beschlossen drängt sie, die Abgaben auf die am wenigsten wurden, und den Stabilitätspakt. Der Stabilitäts- mobilen Produktionsfaktoren zu verschieben, pakt soll sicherstellen, dass die Mitgliedsstaaten d. h. den Verbrauch und den Faktor Arbeit. in ihre Bemühungen um Haushaltsdisziplin Wie die Abbildungen 1-3 zeigen, haben die auch ihre Sozialausgaben einbeziehen. In den EU-Mitgliedsstaaten in den letzten Jahren die „Grundzügen der Wirtschaftspolitik“ wird Abgaben auf die mobilsten Faktoren, d.h. auf Sozialpolitik explizit der Wirtschaftspolitik Kapital sowie die höchsten Vermögens- und untergeordnet. Erwerbseinkommen, erheblich gesenkt – auf Diese institutionelle Architektur der EWU, ein Niveau, das deutlich unter dem der meisten die dem sogenannten „Brüssel-Frankfurt- anderen OECD-Länder liegt (Laurent 2007). Konsens“ geschuldet ist, hat weitere negative Die sozialpolitisch kontraproduktive Ten- Folgen für die soziale Entwicklung. Zum einen denz zeigt sich auch im Bereich der Lohnent- erschwert sie es, den Umfang makroökonomi- wicklung. Zwar ist die vielfach befürchtete Abb. 1: Körperschaftssteuern in der EU 1995 bis 2005 in Prozent EU 15 (obere Kurve) EU 10 (untere Kurve) Quelle: Eurostat
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell 37 Abb. 2: Körperschaftsteuersatz in der EU im Vergleich zu anderen OECD-Ländern Quelle: Laurent (2007) Abb. 3: Entwicklung der Spitzen-Einkommensteuersätze und des Körperschaftsteuersatzes in 11 EU-Ländern Quelle: Laurent (2007)
38 Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs race to the bottom hier bislang ausgeblieben. Arbeitskosten zu senken, Sozialleistungen Gleichwohl haben mehrere EWU-Länder reduziert und der kontributive Charakter der – allen voran Deutschland – in den letzten sozialen Sicherungssysteme verstärkt. Zugleich Jahren einen aggressiven „Lohnwettbewerb“ wurden die Mindestleistungen gekürzt, die zu Lasten anderer EU-Mitglieder betrieben das Auffangnetz für die steigende Anzahl von (Abbildung 4). Ein Vergleich der Entwicklung Bürgern bilden, die von Sozialversicherungen der Lohnstückkosten in der deutschen und der ausgeschlossen sind, um den Druck zur Be- französischen Industrie (Abbildung 5) zeigt, schäftigungsaufnahme – auch zu Niedriglöhnen dass die Lohnstückkosten (Arbeitkosten pro – zu erhöhen. Beide Strategien zusammen Kopf/ Produktivität) in Deutschland abneh- verstärken den Trend zur „Zersplitterung“ der men, nicht weil die Produktivität schneller Beschäftigungsnormen und einer Zweigleisig- als in Frankreich wächst, sondern wegen der keit der sozialen Sicherungssysteme. Letzt- Stagnation der Löhne und der indirekten endlich manifestieren sich die Effekte dieser Kosten (Sozialleistungskürzungen, Reform der Entwicklung in einer deutlichen Zunahme Finanzierung der Sozialversicherung). der sozialen Ungleichheit in den Euro-Ländern Zwar haben die Unterschiede in der insti- und der EU generell (Abbildung 6). tutionellen Verfassung der nationalen Beschäf- Fazit: Die institutionelle Architektur der tigungs- und sozialen Sicherungssysteme die Europäischen Wirtschafts- und Währungsuni- von der EWU ausgehenden Impulse zur Kon- on – mit ihren Strafverfahren (Stabilitätspakt), vergenz bislang noch stark gebremst. Dennoch der Harmonisierung (Acquis communautaire macht es sich bemerkbar, dass die Mehrheit und Rechtsprechung), der Konkurrenz (über der Mitgliedsstaaten der Währungsunion die den europäischen Binnenmarkt) und der „trans- gemeinsame Tradition des sogenannten Bis- nationalen Kommunikation“ (insbesondere marckschen Modells der Lohnversicherung mittels der OMK) – forciert die Unterminierung teilen, im Rahmen dessen Sozialleistungen der nationalen Umverteilungssysteme – eine überwiegend über lohnabhängige Beiträge Tendenz, die der ursprünglichen Idee des (Lohnnebenkosten) finanziert werden. Daher Europäischen Sozialmodells, Konvergenz in wurden in den meisten Euro-Ländern, um die Abb. 4: Entwicklung der Lohnstückkosten in der Eurozone 1998-2005 (Arbeitskosten pro Kopf/Produktivität) Quelle: Europäische Kommission: EMU after Five Years, European Economy, Special Report
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell 39 Abb. 5: Entwicklung der Lohnstückkosten in der Industrie in Deutschland und Frankreich 150,00 Arbeitskosten und 140,00 Produktivität in FRANKREICH 130,00 120,00 110,00 Produktivität in DEU 100,00 Arbeitskosten DEU 90,00 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 Quelle: Europäische Kommission: EMU after Five Years, European Economy, Special Report Abb. 6: Entwicklung der Einkommensungleichheit (Veränderungen um Gini-Koeffizient-Punkte) Mid-1980s to Mid-1990s Mid-1990s to Mid-2000s Cumulative change (Mid-1980s to Mid-2000s) - 0,08 - 0,04 0,00 0,04 0,08 - 0,08 - 0,04 0,00 0,04 0,08 - 0,08 - 0,04 0,00 0,04 0,08 AUT BEL CZE DNK FIN FRA DEU ESP GBR GRC HUN IRL ITA LUX NLD PRT SWE CAN JPN USA
40 Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs Richtung höherer Niveaus des sozialen Aus- 69 Prozent3 auf mindestens 75 Prozent zu gleichs zu befördern, entgegen läuft. steigern; Die im Juni 2010 vom Europäischen Rat –– die Schulabbrecherquote von derzeit 15 beschlossene „Strategie für Beschäftigung und auf unter 10 Prozent zu senken und den intelligentes, nachhaltiges und integratives Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit einem Wachstum – Europa 2020“ (Europäischer Rat Hochschulabschluss oder vergleichbarer 2010; Europäische Kommission 2010) lässt in Qualifikation von gegenwärtig 31 auf min- dieser Hinsicht keine grundsätzlichen Kor- destens 41 Prozent zu erhöhen; rekturabsichten erkennen. Das Dokument, –– soziale Integration durch die Verminde- das als Konsequenz der globalen Finanz- und rung der Armut zu fördern, wobei die Wirtschaftskrise vor allem eine Stärkung der konkrete Festlegung der Ziele den Mit- wirtschaftspolitischen Koordination innerhalb gliedsstaaten freigestellt ist (Europäischer der EU, die strengere Überwachung der Haus- Rat 2010: 12). haltspolitiken der Mitgliedsstaaten sowie eine Doch schon die Erfahrungen der Lissabon-Stra- abgestimmte Strategie für den Ausstieg aus tegie zeigen, dass die Annahme: „Ein höheres den temporären staatlichen Maßnahmen zur Bildungsniveau erhöht […] die Beschäftigungs- Krisenbekämpfung ankündigt, folgt in sozial- fähigkeit, und eine erhöhte Beschäftigungsquote politischer Hinsicht der Logik der in weiten hilft, die Armut einzugrenzen“ (Europäische Teilen gescheiterten Lissabon-Strategie aus Kommission 2010, 13) bestenfalls als unter- dem Jahre 2000. „Europa 2020“ sieht vor: komplex zu bewerten ist und dass eine Politik –– die durchschnittliche Beschäftigungsquote der Beschäftigungsförderung „um jeden Preis“ unter den 20- bis 64-Jährigen von derzeit in der Realität vor allem die Ausweitung des Tabelle2: Beschäftigung und Armutsgefährdung in der EU-15, 2001-2008 Beschäftigungsquote* Armutsgefährdung** Armutsgefährdung vor Sozialtransfers nach Sozialtransfers 2001 2008 Veränderung 2001 2008 2001 2008 Ø EU-15 64,1 67,3 +3,3 24,0 24,8 15,0 16,4 Spanien 57,8 64,3 +6,5 23,0 24,1 19,0 19,6 Griechenland 56,3 61,9 +5,6 23,0 23,3 20,0 20,1 Deutschland 65,8 70,7 +4,9 21,0 24,2 11,0 15,2 Italien 54,8 58,7 +3,9 22,0 23,4 19,0 18,7 Österreich 68,5 72,1 +3,6 22,0 24,5 12,0 12,4 Niederlande 74,1 77,2 +3,1 22,0 19,8 11,0 10,5 Finnland 68,1 71,1 +3,0 29,0 27,2 11,0 13,6 Belgien 59,9 62,4 +2,5 23,0 27,0 13,0 14,7 Frankreich 62,8 64,9 +2,1 26,0 23,1 13,0 13,4 Dänemark 76,2 78,1 +1,9 29,0 27,8 10,0 11,8 Irland 65,8 67,6 +1,8 30,0 34,0 21,0 15,4 Luxemburg 63,1 63,4 +0,3 23,0 23,6 12,0 13,4 Schweden 74,0 74,3 +0,3 17,0 28,5 9,0 12,2 Großbritannien 71,4 71,5 +0,1 28,0 29,0 18,0 18,8 Portugal 69,0 68,2 -0,8 24,0 24,9 20,0 18,5 Quelle:Eurostat * AnteilderBeschäftigtenandererwerbsfähigenBevölkerungimAlterzwischen15und64Jahren;AngabeninProzentbzw. ProzentpunktenfürdieVeränderung ** AnteilderPersonenmiteinemEinkommenvonwenigerals60ProzentdesjeweiligennationalenDurchschnittseinkom- mensanderGesamtbevölkerung;AngabeninProzent
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell 41 Niedriglohnsektors stimuliert. Wie Tabelle 2 denen die Problemlösungskapazität der EU zu entnehmen ist, ist in den fünf Ländern der institutionell eng begrenzt ist und gleichzeitig EU-15, die von 2001 bis 2008 den höchsten die der Mitgliedsstaaten sukzessive abnimmt Anstieg der Beschäftigungsquote aufzuweisen (Scharpf 1999: 109). Der Anspruch, der im hatten, im gleichen Zeitraum die Armuts- Diskurs über das ESM erhoben wird – wirt- gefährdung (vor Sozialtransfers) gestiegen. schaftliche Dynamik und sozialen Fortschritt Mit Ausnahme Italiens nahm dabei auch der systematisch zu verkoppeln – scheint daher Bevölkerungsanteil zu, der trotz staatlicher bei aller gegenläufigen offiziellen EU-Rhetorik Transferleistungen von Armut bedroht ist. (auch der ESM-Modernisierer) in den letzten Gleichzeitig zeigt die Tabelle, dass auch in Län- beiden Jahrzehnten deutlich an Geltung ver- dern mit hohen Beschäftigungsraten (über 70 loren zu haben, wie nicht zuletzt die Zunahme Prozent im Jahr 2008) Armutsgefährdung nur der sozialen Ungleichheit und der Armutsge- dort signifikant gemindert wird, wo der Staat fährdung zeigt. vergleichsweise umfangreiche Sozialtransfers Die „alte“ Vorstellung, den Rückgang so- organisiert. Genau diese Fähigkeit wird durch zialpolitischer Problemlösungskapazität der die oben erläuterte institutionelle Verfassung Nationalstaaten durch eine substanzielle Kom- der EU wie auch durch die neue Strategie petenzverlagerung auf die supranationale Ebene „Europa 2020“ in Frage gestellt. zu kompensieren, scheint vorerst gescheitert. Und die Erfolgaussichten der „neuen“ Strategie, mittels unverbindlicher intergouvernementaler Schlussbemerkungen Abstimmung im Rahmen der OMK die negati- ven sozialpolitischen Effekte der Binnenmarkt- Sicherlich wäre es verkürzt, die Entwicklung, regeln und des Wettbewerbsrechts wirksam zu die die EU-Sozialpolitik in den letzten 15 Jah- neutralisieren und soziale Kohäsion innerhalb ren genommen hat, als bloßen Ausdruck des und zwischen den Mitgliedsgesellschaften zu Siegeszuges neoliberaler Ideologie zu deuten. gewährleisten, scheinen eher fraglich. Viel- Wie wir gezeigt haben, sind im Bereich der mehr ist damit zu rechnen, dass Jürgen Neyers supranationalen regulativen Sozialpolitik, d.h. Charakterisierung der EU als eines Gebildes, der Setzung von EU-weiten Standards, in den das sich im sozialpolitischen Bereich durch 1990er Jahren durchaus erkennbare Fortschritte „organisierte Unverantwortlichkeit“ (Neyer erzielt worden, deren Bedeutung namentlich für 2007: 43) auszeichnet, für absehbare Zeit seine einige Beitrittsländer nicht unterschätzt werden Gültigkeit behalten wird. Die Formel vom ESM sollte. Insofern lassen sich die Lissabon-Strategie droht damit, sich von einer identitätsstiften- und „Europa 2020“ nicht nur als Strategien den europäischen Vision in eine bloße Fiktion zur Überwindung der auf Dekommodifizie- bzw. eine Etikette für die Umorientierung rung orientierten Wohlfahrtsregime, sondern der mitgliedsstaatlichen Sozialpolitiken von auch als Versuch der Zurückweisung radikaler Welfare- zu Workfare-Politik (Peck 2001) zu neoliberaler Positionen interpretieren. Zudem verwandeln. kann man die OMK auch als einen Versuch Abschließend sollen noch einige Faktoren interpretieren, im Bereich des Sozialschutzes, anführt werden, die der Entwicklung einer Euro- in dem es der EU an gesetzgeberischer Kom- päischen Sozialpolitik, die dem ursprünglichen petenz fehlt, gemeinschaftliches Handeln aber Anspruch eines spezifischen Europäischen geboten bzw. wünschenswert ist, zumindest Sozialmodells im eingangs erläuterten Sinne eine politische Strategie zu finden, die den gerecht werden könnte, entgegenstehen: Trend zu einer race to the bottom bremst (vgl. Erstens, mit der fortschreitenden Ver- Schulte 2004: 89). lagerung wichtiger Kompetenzen in den Gleichwohl reichen diese Fortschritte Zuständigkeitsbereich der EU – namentlich nicht annähernd, um das Grundproblem auch in der Außenhandels-, Wettbewerbs- und nur im Ansatz zu bewältigen, dass nämlich Währungspolitik – gehört die Sozialpolitik Sozialpolitik zu den Politikfeldern gehört, in zu den wenigen zentralen Politikfeldern, in
42 Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs denen die Regierungen der Mitgliedsstaaten effizient, positive Integrationspolitik dagegen noch Gestaltungskompetenzen besitzen, die wenig attraktiv. einen gehaltvollen programmatischen Partei- Viertens haben mit der Osterweiterung enwettbewerb ermöglichen. Ungeachtet der das ökonomische Gefälle und die kulturel- vorteilhaften Möglichkeit, die Schuld für die le Heterogenität innerhalb der EU massiv Gründe gesellschaftlicher Unzufriedenheit zugenommen, was die länderübergreifende der EU zuzuschreiben, würde ein weiterer Einigungsfähigkeit in diesem für die nationalen sozialpolitischer Kompetenzabtritt den de- Legitimationszusammenhänge substanziellen mokratischen Wettbewerb weiter entleeren Politikfeld zusätzlich beschränkt. und die heute schon bestehenden Legitimati- Fünftens sind auch die Erwartungshaltungen onsprobleme der nationalen politischen Eliten der EU-Bürger an eine supranationale europä- weiter verschärfen. ische Sozialpolitik heterogen und ambivalent. Zweitens bietet die traditionelle Vielfalt der Einerseits befürwortet insgesamt eine Mehrheit national spezifischen Ausgestaltungen der eu- der EU-Bürger – wie Abbildung 7 zeigt – eine ropäischen Sozialstaaten (vgl- Esping-Andersen aktivere sozialpolitische Rolle der EU, was 1990) dank deren institutioneller Trägheit zwar interventionistische Positionen und positive einen gewissen Puffer gegen marktliberale Integrationspolitik durchaus legitimieren Reformstrategien. Aber gleichzeitig erschwert würde. Andererseits deuten die Befunde dieser sie auch eine länderübergreifende Einigung auf und anderer Meinungsumfragen (Dehousse sozial progressive und Konvergenz fördernde 2008) auf eine tendenzielle Spaltung der öf- supranationale Lösungen. fentlichen Meinung zwischen wie in den ein- Drittens, auch wenn im Bereich der zelnen Gesellschaften hin: In den ökonomisch Wirtschaftspolitik marktliberales Denkens leistungsstärkeren Ländern und unter den in den letzten Jahren und namentlich im einkommensstärkeren Bevölkerungsgruppen Zuge der Weltwirtschaftkrise von 2008/9 fällt die Zustimmung zu einer stärker harmoni- an Attraktivität verloren zu haben scheint, sierenden Rolle der EU vergleichsweise gering dominieren hinsichtlich der europäischen aus. Damit korrespondieren auch Analysen der Sozialpolitik weiterhin Orientierungen auf re- Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in kommodifizierende Reformstrategien. Aus der Frankreich und den Niederlanden. Diejenigen, Perspektive liberal orientierter nationalstaat- die gegen den Vertrag gestimmt haben, haben licher wie EU-Eliten aber ist die gegenwärtige ein gemeinsames soziales Profil: Es waren über- Konfiguration fast optimal: Der Wettbewerb wiegend Arbeiter, Menschen mit niedrigem zwischen den nationalen Systemen scheint Bildungsniveau und Teile der Mittelschichten, Abb. 7: Zustimmung der Bevölkerung zu einer Harmonisierung der sozialen Sicherungssysteme in der EU (2006) 100 80 EU-25 60 40 20 0 H GR T LV CY A IE UK CZ D SK EE B P S E DK NL LT F SF PL L SI I M Quelle: Quelle:Eurobarometer (2006a: 43) Eurobarometer (2006a: 43)
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell 43 die die EU vornehmlich als großen Markt wahr- (Hofbauer 2007). Statt dessen ist eher damit nehmen und die marktliberale Konstruktion zu rechnen, dass Gruppen, deren EU-Kritik der Union als Bedrohung empfinden (ebd.: bislang einen Aneignungsanspruch artikuliert, 6), oder die die Präkarisierung wachsender sukzessive in Richtung eines grundsätzlicheren Bevölkerungsgruppen und den Abbau öffent- „Euro-Skeptizismus“ (siehe Beichelt in diesem licher Dienstleistungen aus sozialethischen Heft) tendieren werden. Für die Legitimation Gründen ablehnen. Aber es sind genau diese des europäischen Integrationsprojekts stellt Gruppen, die vergleichsweise ungünstige Vo- sich damit eine Herausforderung, auf die die raussetzungen haben, um ihre Interessen im politischen Eliten der EU wie die ihrer Mit- demokratischen Wettbewerb zur Geltung zu gliedsstaaten bislang keine Antwort bieten. bringen, und deren Unzufriedenheit daher ein hohes Anomiepotenzial enthält. Man kann die Debatte um die „soziale Anmerkungen Dimension“ der EU und die darin artikulierte 1 VO (EWG) 1408/71 vom 14. Juni 1971; ergänzt durch Kritik an der marktzentrierten Konstruktion der die Durchführungsverordnung (EWG) 574/72, die die Union im Sinne der anfangs angesprochenen praktische Anwendung ersterer regelt. Die Verordnung 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Anregung von Beichelt als einen Prozess der Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie Aneignung europäischer Integrationspolitik deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemein- interpretieren. Aber es handelt sich dabei um schaft zu- und abwandern, stellt eine Art Sozialversi- einen Prozess, in dem rivalisierende Aneig- cherungsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten der EU, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und nungsansprüche geltend gemacht werden, der Schweiz dar, das die Systeme die sozialen Sicherung insofern die Teilnehmer der Debatte kon- koordiniert. Um die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht kurrierende soziale Gruppen und politische zu beschränken, sorgt die Verordnung dafür, dass Arbeitnehmer und Selbstständige bei einer beruf- Akteure sind, die den Anspruch erheben, die lichen Tätigkeit im Ausland sozial abgesichert sind, EU so zu gestalten, dass sich damit ihre jeweils d.h., sie weiterhin ihren Krankenversicherungsschutz eigenen Lebenschancen verbessern bzw. ihren genießen, ihre Rentenansprüche nicht einbüßen, und je spezifischen Präferenzen Rechnung getragen auch im Fall der Arbeitslosigkeit abgesichert sind. Der Geltungsbereich der Verordnung wurde im Laufe der wird. Über die Verwirklichung so verstandener Jahre, nicht zuletzt aufgrund der Rechtsprechung Aneignungsansprüche wird immer wieder neu des EuGH (siehe unten), sukzessive ausgeweitet. Er im demokratischen Wettbewerb oder auch in erstreckt sich nunmehr auch auf Angestellte und Selbstständige, die in anderem Mitgliedstaat einer sozialen Kämpfen entschieden. Deren Ausgang Beschäftigung nachgehen bzw. eine solche suchen, ist trotz der gegenwärtigen Hegemonie markt- sowie auf Rentner (mit Rentenansprüchen), Grenz- liberalen Denkens offen und unterliegt nicht arbeiter und Studenten/Auszubildende (jeweils mit zuletzt auch kontingenten Entwicklungen. Die Angehörigen). 2 „Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle obigen Ausführungen sollten jedoch deutlich Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den gemacht haben, dass in diesem Wettbewerb Mitgliedstaaten verboten“. wenig Chancengleichheit besteht, sondern dass 3 Für „Europa 2020“ werden neue Indikatoren entwickelt. So wird in den Angaben von Eurostat die Beschäfti- soziale Gruppen bzw. politische Akteure, die gungsquote künftig auf die 20- bis 64-Jährigen bezogen, eine stärkere positive Integration im Interesse anstatt wie bisher auf die 15- bis 64- Jährigen. der Verkopplung von ökonomischer Dynamik und sozialem Ausgleich teils aufgrund ihrer unzureichenden Organisationsfähigkeit, teils Literatur durch die institutionelle Architektur der EU Aust, Andreas/ Leitner, Sigrid/ Lessenich, Stephan, 2002: systematisch benachteiligt sind. Dies beschränkt Konjunktur und Krise des Europäischen Sozialmodells. die Aussichten für eine Umkehrung des seit Politische Vierteljahresschrift 43 (2), 272-301. Baldwin, Peter, 2003: Der europäische Wohlfahrtsstaat. dem Maastrichter Vertrag zunehmenden Konstruktionsversuche einer zeitgenössischen For- Trends zur Polarisierung zwischen den in der schung. In: Stephan Lessenich/ Ilona Ostner (Hg.): EU dominierenden Eliten und der öffentlichen Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Frankfurt (Main): Campus, 45-63. Meinung sowie der Erosion des zuvor breiten Barbier, Jean-Claude, 2008 : La longue marche de l’Europe gesellschaftlichen Integrationskonsenses sociale. Paris: Presse Universitaire de France.
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