2 X 360 : MUSEUMSOBJEKTE UND VIRTUAL REALITY
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2 X 360°: MUSEUMSOBJEKTE UND VIRTUAL REALITY EIN NEUARTIGES KUL TURVERMITTLUNGSPROJEKT DES L ANDESMUSEUMS WÜRTTEMBERG Von INGRID-SIBYLLE HOFFMANN UND KATHARINA WILKE Das Landesmuseum Württemberg setzt mit dem Vermittlungsprojekt Heilige und Halunken. Eine VR-Reise ins Mittelalter auf innovatives Storytelling. Seit Februar 2019 können die Besucher*innen anhand eines in die Schausammlung integrierten Virtual-Reality-Moduls auf neuartige Weise ins Spätmittelalter eintauchen. Ausgangspunkt des 360°-Films ist ein Museumsobjekt, ein um 1465 gefertigter Altaraufsatz. Das Publikum erlebt eine mit- reißende Geschichte rund um die Auftraggeberin und den Maler des Altaraufsatzes. Zudem wird für Schulklassen ein stärker dokumentarischer 360°-Film angeboten, der Teil eines mediale Vermittlung und spätmittelalterliche Originale verbindenden Führungsangebots ist. Da Abb. 1: 360°-Kamera bei den Dreharbeiten. © Landesmuseum Württemberg. MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
Vi rt ual -Re al it y al s Brüc ke nb auer üb er d ie Das Medium Film und der Einsatz von Virtual-Reality- Ze i t e n und zur Pop ul ärk ult ur Technik greifen mediale Erfahrungen auch von Seit Februar 2019 bereichert im Landesmuseum Zielgruppen auf, die durch traditionelle Vermittlungs- Württemberg erstmals eine Virtual-Reality-Station die ansätze kaum erreicht werden. Um jüngere Menschen Schausammlung und ergänzt die spätmittelalterlichen und auch Personen anzusprechen, die bislang wenig Originale durch eine virtuelle Zeitreise. Anlass für die Bezüge zu kulturhistorischen Fragestellungen und zu Erprobung des neuartigen Vermittlungsformats war die christlichen Kontexten haben, orientieren sich Konzept Beobachtung, dass die stark vom christlichen Glauben und Bildsprache des 360°-Filmes teilweise an geprägten Bild- und Lebenswelten des Spätmittelalters populären Spielfilmen und Serien wie Game of Thrones vielen Besucher*innen zunehmend fremd sind. oder auch Mittelalterfesten, die in fiktive Welten mit Die ursprünglichen Entstehungs- und Benutzungs- hohem Unterhaltungswert entführen. Die große Beliebt- kontexte mittelalterlicher Objekte erschließen sich in heit der im weitesten Sinne mittelalterlichen Settings in der musealen Präsentation, die Objekte in Vitrinen oder der Populärkultur soll um eine nachhaltige Faszination auf Podeste gestellt und professionell ausgeleuchtet für originale Objekte und historisch korrekt verortete zeigt, nicht intuitiv, sondern sie müssen für die Kulturgeschichte(n) ergänzt werden. Daher konzipierte Besucher*innen durch zusätzliche Informationen das Landesmuseum Württemberg den Film Heilige und rekonstruiert werden. Gerade bei den nicht in erster Halunken. Eine VR-Reise ins Mittelalter als kurzen Linie als Kunstwerke gefertigten Objekten des späten Spielfilm mit Krimihandlung. Dieser entwirft eine nach Mittelalters, stoßen textbasierte Vermittlungsformate an aktuellem wissenschaftlichen Forschungsstand gestal- ihre Grenzen. Die meist aus sakralen Kontexten tete virtuelle spätmittelalterliche Welt und lässt die stammenden Exponate hatten vielfältige Funktionen im Besucher*innen anhand einer mitreißenden Geschichte Alltag der Menschen und waren teils an kirchlichen in die Entstehungszeit eines Museumsobjekts ein- Feiertagen in synästhetische Inszenierungen integriert. tauchen. Diese konnten den Gläubigen wie etwa die jährlichen Prozessionen am Palmsonntag, die an den Einzug in Grund i d ee und Ums e tzung d es 360° - Jerusalem erinnerten, längst vergangene Ereignisse Fi l m es anschaulich vor Augen führen oder sie machten wie die Ausgangspunkt des vom Landesmuseum Württemberg aufwendigen Inszenierungen an Christi Himmelfahrt in Zusammenarbeit mit der Storz Medienfabrik GmbH himmlisches Wirken erlebbar. Heute ermöglichen neue entwickelten 360°-Filmes ist ein Altaraufsatz, der um Medien ähnlich immersive Erlebnisse und können 1465 von der Äbtissin des Zisterzienserinnenkloster emotionale Zugänge zur Vergangenheit eröffnen: Was Lichtenstern bei Heilbronn in Auftrag gegeben wurde. früher ein auf Rädern gezogener hölzerner Palmesel Das Lichtensterner Hochaltarretabel, das 2020 nach leistete, bietet – unter anderen Vorzeichen, nämlich umfassender Restaurierung erstmals seit vielen Jahren denen der Kultur- statt der Religionsvermittlung – heute wieder in der Schausammlung präsentiert wird, ist das ein 360°-Film. älteste großformatige Retabel der überregional bedeutenden Mittelaltersammlung des Landesmuseums MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
Württemberg. Es eignet sich aufgrund seines Der VR-Film Heilige und Halunken entführt die vergleichsweise gut dokumentierten Entstehungs- Besucher*innen in eine zwölfminütige Kriminal- kontexts hervorragend als „Zeitmaschine“. geschichte: Ein Reliquienraub bringt die Äbtissin und Der VR-Film erzählt eine fiktive Geschichte rund um die Nonnen im Kloster Lichtenstern aus der Fassung. das Altarretabel und lässt die Besucher*innen Wird der dreiste Dieb rechtzeitig vor der Fertigstellung Begebenheiten miterleben, die sich kurz vor seiner des Retabels gefasst? Welche Rolle spielen Aufstellung im Kloster Lichtenstern zugetragen haben Malermeister Lienhard und seine Mitarbeiter? An drei könnten. Dabei erlaubt es die Virtual-Reality-Technik, Schauplätzen erzählt der VR-Film nicht nur von unmittelbar in das Geschehen einzutauchen und sich in „Heiligen und Halunken“, sondern ermöglicht den den inszenierten Räumen umzusehen. Blick in einen spätmittelalterlichen Handwerksbetrieb, Das Grundkonzept der virtuellen Mittelalter- lässt einen Markt lebendig werden und bettet durch Rekonstruktion ist, dass an echten, möglichst authen- Einblicke in die Klosterkirche das Museumsobjekt in tischen Schauplätzen mit realen, entsprechend seinen ursprünglichen Verwendungskontext ein. ausgestatteten Darsteller*innen gedreht wurde. Dabei Nach Abschluss der durch die Ernst von Siemens stellt gerade die Produktion eines 360°-Films eine Kunststiftung geförderten Restaurierung wird das besondere Herausforderung dar. Die Filmsets müssen in Original im Zentrum des VR-Raumes stehen. Bis dahin 360° funktionieren, da die Nutzer*innen im Film jeden zeigt eine Projektion das sich wandelnde Altarretabel. Winkel in Augenschein nehmen können. Das Kamera- Texteinblendungen erklären Fachbegriffe wie Predella team darf beim Dreh nicht im Raum sein, weil es keine und erläutern die Szenen des Bildprogramms. späteren Schnittmöglichkeiten gibt. Die gesamte Szene muss an einem Stück gedreht werden, weshalb die D e r 360° -Fi lm für Sc hul kl as se n und für Schauspieler*innen wie auf einer Theaterbühne d e n d i gi t al e n R aum agieren. Erstmalig kommt dabei auch eine aufwendige Für Schulklassen ab Klasse 7 wird ein 360°-Film- 360°-Tonaufnahme zum Einsatz. Erlebnis mittels Smartphone-Cardboard-Brillen angeboten, das, in eine Führung eingebettet, vielfältige D e r 360° -Fil m für Ei nze l be s uc he r*i nne n Anknüpfungspunkte zum Bildungsplan der weiter- Als Erweiterung der Schausammlung Legendäre führenden Schulen in Baden-Württemberg bietet. Der MeisterWerke – Kulturgeschichte(n) aus Württemberg, speziell für dieses kombinierte Angebot entwickelte die als chronologischer Rundgang durchs Alte Schloss 360°-Film hat dokumentarischen Charakter und dauert führt, ist der 360°-Film unmittelbar an die Mittelalter- rund 4 Minuten. An drei Schauplätzen – Klosterkirche, Sektion angeschlossen. Auf vier drehbaren Stühlen Malerwerkstatt und Markt –, wenden sich drei liegen kabellose Oculus-Go-Brillen für Einzelbesucher Protagonist*innen direkt an die Schüler*innen und bereit. Vier weitere Oculus-Go-Brillen können bei geben zentrale Informationen zum jeweiligen Ort und hohem Besucheraufkommen zusätzlich ausgegeben den dort handelnden Personen. Danach haben die werden. Schüler*innen Zeit, sich in den spätmittelalterlichen Räumen umzusehen, womit der Film einem bei MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
Befragungen von Fokusgruppen geäußertem Bedürfnis R e s üme e nachkommt. Ein solches Kulturvermittlungsprojekt am Puls der Zeit Bei der Konzeption der Führung anhand von Originalen zu bestreiten, ist herausfordernd und bedeutet zunächst und des 360°-Filmes stand die Kontextualisierung einmal einen großen personellen und finanziellen kulturhistorischer Objekte anhand unterschiedlicher Aufwand. Das Kernteam im Landesmuseum Vermittlungsmethoden im Zentrum. In der Schau- Württemberg umfasste fünf Kolleg*innen, darüber sammlung werden in einer Einführung durch hinaus waren zahlreiche weitere punktuell ins Projekt Kulturvermittler*innen Hintergrundinformationen zu eingebunden. Das Team, das an den Drehtagen im den ursprünglichen Funktionen charakteristischer Einsatz war, bestand aus über 30 Personen im Bereich spätmittelalterlicher Exponate gegeben. Im Fokus Technik, Logistik und Regie sowie 52 Schau- stehen dabei die spätmittelalterliche Gesellschaft und spieler*innen und Statist*innen am Set. Ermöglicht das Alltagsleben. Forschungsaufträge, die im Anschluss wurde die aufwändige Virtual-Reality-Produktion in Kleingruppen bearbeitet und im Plenum besprochen durch die Förderlinie Digitale Wege ins Museum I des werden, helfen den Schüler*innen bei der eigen- Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst ständigen Erkundung der Originale und bereiten Baden-Württemberg und eine öffentlich private inhaltlich auf den 360°-Film vor. Der oben beschriebene Partnerschaft mit der Storz Medienfabrik Gmbh. kurze Film wird dann im VR-Raum, der Hardware und Die Arbeit der am Landesmuseum Württemberg mit Platz für Gruppen von bis zu 30 Personen bietet, dem Projekt befassten Kolleg*innen war stärker von angesehen. Die gemeinsame Auswertung sieht nicht nur interdisziplinärem und an der Technik orientiertem einen kulturhistorischen Fokus vor, sondern beinhaltet Denken geprägt als bei herkömmlichen Museums- mit Blick auf die Stärkung der Medienkompetenz auch projekten. Für uns als fachwissenschaftlich Verant- einen Austausch zu technischen Fragen sowie zur wortliche bedeutete die Konzeption eines solchen Mediennutzung. So sollen beispielsweise die digitalen Kulturvermittlungsangebots eine Erweiterung Schüler*innen das suggestive Potenzial von Virtual- der Arbeitsfelder: Die an kulturhistorischen Frage- Reality-Anwendungen erfahren und durch die stellungen orientierte Konzeption wurde unter anderem anschließende Diskussion auch kritisch hinterfragen um das Verfassen der Drehbücher, die arbeitsintensive können. Recherche der Drehorte und die Organisation der Der 360°-Film, der für die Nutzung über Smartphones Requisiten ergänzt. optimiert ist, dient außerdem dazu, die Produktion in Aufgrund der sich rasant weiterentwickelnden Technik, den digitalen Raum zu tragen und die Reichweite zu die bei der hier beschriebenen Virtual-Reality- erhöhen. Er kann unabhängig vom Museumsbesuch Anwendung innerhalb nur eines Jahrs beachtliche über Youtube angesehen werden; entweder als Neuerungen sowohl im Bereich Hardware als auch bei herkömmlicher 360°-Film mit Navigationsmöglichkeit der Software ergab, ist eine große Flexibilität bei allen oder mit der eigenen Cardboard-Virtual-Reality-Brille Beteiligten gefragt. Für eine Institution wie das dem Filmerlebnis im Museum entsprechend. Landesmuseum Württemberg, das seine großen Sonderausstellungen meist mehrere Jahre im Voraus MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
plant und nach bewährten Abläufen organisiert, Beschreiten neuer Wege Flexibilität und Bereitschaft bedeutet dies eine Umstellung. So muss es beim Einsatz zum interdisziplinären Arbeiten erfordert. Wir sehen das innovativer Technik selbstverständliche Heraus- neuartige Angebot als Bereicherung für die forderung sein, dass die technische Entwicklung auch Besucher*innen des Landesmuseums Württemberg und zu Unwägbarkeiten innerhalb des Projektplans führen haben auch unsere Mitwirkung als solche empfunden. kann. Zum Projektstart im November 2017 war beispielsweise noch keine kabellose Virtual-Reality- Li nk s : Brille auf dem Markt erhältlich, sodass zunächst mit an Der 360°-Film für Gruppen, insbesondere Schul- Computer-Terminals angeschlossenen Brillen geplant klassen: wurde, und auch die benutzer*innenfreundliche www.youtube.com/watch?v=KAhTzhoMUY4&feature Handhabung ohne Controller konnte erst kurz vor der =youtu.be Inbetriebnahme des VR-Raumes durch aufwendige Softwarearbeiten gelöst werden. Ratsam ist es, einen Weitere Informationen zu den Hintergründen des längeren Zeitraum für die Postproduktion des 360°- Virtual-Reality-Projektes finden sich im Blog des Filmes sowie die Abstimmung der Endversion zwischen Landesmuseums Württemberg sowie auf der ausführender Medienfirma und Museum einzuplanen Projektseite der STORZ Medienfabrik GmbH: (zwischen Drehende und Übergabe an die blog.landesmuseum-stuttgart.de/tag/lichtenstern/ Öffentlichkeit lagen rund sechs Monate). Ebenfalls als www.vr-im-landesmuseum.de positiv erwiesen hat sich eine längere Testphase, in der mit unterschiedlichen Besucher*innen-Gruppen, ins- besondere Schüler*innen, die Nutzung der Virtual- Dr. Ingrid-Sibylle Hoffmann Reality-Brillen getestet und die Abläufe optimiert Sammlungsleiterin/Kuratorin Kunst und Kunsthandwerk des Mittelalters wurden. Ingrid-Sibylle.Hoffmann@Landesmuseum-Stuttgart.de 360°-Produktionen sind im Trend. Aus der Perspektive kulturhistorischer Museen hat die Virtual-Reality- Katharina Wilke M. A. Technik ein ganz besonderes Potenzial, weil sie die Registrarin Möglichkeit bietet, die Zuschauer*innen komplett in StadtPalais – Museum für Stuttgart eine andere Welt eintauchen zu lassen, sie in eine katharina.wilke@stuttgart.de fremde, ferne oder vergangene Zeit mitzunehmen und Landesmuseum Württemberg so Geschichte lebendig werden zu lassen. Ein 360°- Dorotheenstraße 4, 70173 Stuttgart Film kann eine lohnende Ergänzung zur Präsentation der Originale darstellen, mit denen die Medien- anwendung allerdings eng verschränkt werden sollte. Bevor ein Museum sich für ein solches Projekt entscheidet, muss neben den personellen und finan- ziellen Ressourcen auch bedacht werden, dass das MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
Abb. 2: Altarretabel aus dem Zisterzienserinnenkloster Lichtenstern, um 1465. © Landesmuseum Württemberg. Abb. 3: VR-Station in der Schausammlung des Landesmuseums Württemberg. © Landesmuseum Württemberg. MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
Abb. 4: Plakat zur VR-Reise im Landesmuseum Württemberg. © Landesmuseum Württemberg. Abb. 5: Äbtissin Margarethe von Stein. © Landesmuseum Württemberg. MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
Abb. 3: Blick in die Depoträume vom Denkmalamt vor der Überführung in die BWS © GDKE, Direktion Landesarchäologie, Außenstelle Speyer, Foto: Bettina Hünerfauth. Abb. 6: Das VR-Team nach Abschluss des Filmdrehs. © Landesmuseum Württemberg. Abb. 7: Impressionen vom Dreh der Marktszene. © Landesmuseum Württemberg. MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
Abb. 8: Impressionen vom Dreh der Marktszene © Landesmuseum Württemberg. MUSEUMSKUNDE Band 84/2019 – Online Erweiterung
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