2018/19 Schauspielhaus Zürich - Schauspielhaus Zürich

 
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2018/19
                                                                                                       Schauspielhaus
                                                                                                       Zürich

                                                              ≈ Schauspielhaus Zürich Saison 2018/19
Ensemble 2018/19           Katrija Lehmann*
                           Michael Maertens
Christian Baumbach         Miriam Maertens
Benito Bause               Lisa-Katrina Mayer
Ludwig Boettger            Isabelle Menke
Gottfried Breitfuss        Michael Neuenschwander
Klaus Brömmelmeier         Matthias Neukirch
Jan Bülow                  Elisa Plüss
Inga Busch                 Nicolas Rosat
Carolin Conrad             Markus Scheumann
Fritz Fenne                Lena Schwarz
Vera Flück                 Edmund Telgenkämper
Dominic Hartmann*          Marie Rosa Tietjen
Robert Hunger-Bühler       Friederike Wagner
Henrike Johanna Jörissen   Susanne-Marie Wrage
Claudius Körber            Jirka Zett
Hans Kremer
Julia Kreusch              * Mitglied des Schauspielstudios
8    Programm 2018/19
 13   Premieren
58    Gastspiele
62    Wiederaufnahmen
65    Extra
73    Junges Schauspielhaus
78    Wiederaufnahmen/Extra
 81   Theater & Schule
85    Mehr als Zuschauen
93    Karten/Preise/Angebote
99    Abonnements
105   Service
109   MitarbeiterInnen
116   Förderer, Paten, Freunde
117   Dank
119   Kontakt
Liebes Publikum                                 berstenden Köpfe, der explodierenden
                                                Gedanken und bohrenden Zweifel. Die Götter
Ein junger Mann verliert seinen Vater und       haben sich verzogen, das Individuum muss
trauert über dessen Tod, herbeigeführt          den Lebenssinn selbst stiften, sich reiben
durch einen Schlangenbiss, wie allgemein        und abarbeiten an den politischen, ökonomi-
erzählt wird. Dann erscheint ihm des Nachts     schen und gesellschaftlichen Verhältnissen
sein Vater, der frühere König von Dänemark,     und das unaufhörliche Hämmern der Gedan-
als Geist und erzählt ihm, er sei in Wahrheit   ken, der guten, wie der bösen, aushalten,
von seinem Bruder, dem jetzigen König,          das unter der Schädeldecke pocht.
im Schlaf vergiftet worden. Zwei Forderungen    Georg Büchner, der Frühvollendete,
gibt der Geist des Toten seinem Sohn mit        der Revolutionär, aber auch der zarteste
auf den Weg: er möge den hinterhältigen         Dichterkopf seiner Zeit, porträtierte den
Mord rächen und sich an seinen Vater            Stürmer und Dränger Jakob Michael
erinnern.                                       Reinhold Lenz und gleich in den ersten
Die Begegnung Hamlets mit seinem er-            Zeilen seines Fragment gebliebenen Textes
mordeten Vater ist die berühmteste Geister-     steht ein seltsamer, unerhörter Satz. Lenz
stunde des Theaters und durch Hamlets           wandert durch eine nasskalte Gebirgsland-
Kopf schiesst fortan ein gewaltiger Ge-         schaft: „Müdigkeit spürte er keine, nur war
dankenstrom aus Wut, Zweifeln, Skrupeln,        es ihm manchmal unangenehm, dass er
Melancholie, wilder Entschlossenheit und        nicht auf dem Kopf gehen konnte.“ Der Satz
Todessehnsucht. Und der Strom fliesst           hat einen lakonischen Tonfall – trotzdem
weiter, quer durch die Jahrhunderte, durch      blitzt der entscheidende und schockierende
die Köpfe unzähliger weiterer Dramen-           Gedanke kurz auf: die Welt steht auf dem
und Romanfiguren. Hamlet hat sie alle           Kopf, sie ist umgekippt. Das macht das
angesteckt.                                     Gehen beschwerlich und so müsste man
„Hamlet ist ein Drama der aufgezwungenen        zwischendurch, um wenigstens für Momente
Situationen“, schrieb Jan Kott und drückte      wieder die eigene Perspektive zu gewinnen,
damit die schlichte Bühnenwahrheit aus:         auf dem Kopf wandeln können. Das aber
nur der Widerstand macht das Drama;             geht nicht und so bleibt nur ein permanentes
die Zwänge ermöglichen den freien Willen        Gegen-die-Welt-Andenken.
des denkenden Subjekts.                         Das kann auch hin und wieder zu einer
Die Theatergeschichte der Neuzeit, seit         radikalen Befreiung führen. In Ibsens
Shakespeare, ist auch eine Geschichte der       „Nora“ sagt die Titelheldin kurz vor ihrem

                                                                                          3
endgültigen Abgang aus der verlogenen             schaft mit der bemerkenswerten Frage,           ganz unschuldig, ihre Skepsis gegenüber          Erkenntnis zu tun haben und schon gar nichts
Familienidylle zu ihrem Mann, der nicht           ob der Teufel nicht eine Fiktion Gottes sei,    seiner Annahme, es gäbe so etwas wie             mit Erfahrung. Die „schnellen Lösungen“,
glauben will, dass es mit der Liebe vorbei        „um seine missratene Schöpfung zu recht-        ein vollkommen aufgeklärtes, bewusstes           auf die man in allen Lebensbereichen pocht,
ist: „Oh, es tut mir ja so leid, Torvald,         fertigen?“ In Mary Shelleys „Frankenstein“      Denken, das zu ausschliesslich vernünftigen      sind Ausdruck eines tiefen Misstrauens
wirklich; denn du warst immer so nett zu          ist es schwer auszumachen, ob wir es mit        Lösungen führe. Eduard wird sich später          gegen das Leben selbst.
mir.“ Natürlich vernichtet diese monströs         einem schöpferischen Monstrum oder              der jungen Ottilie zuwenden, Charlotte dem       Das Theater ist eine Kunst der Entschleu-
distanzierte Äusserung sämtliche gelebten         einem monströsen Schöpfer zu tun haben.         Hauptmann Otto; man wird sich nach               nigung. Das hat nichts mit forcierter Lang-
Ehejahre und die Szene kippt für einen            Das Werk, in der Tradition der Gothic Novel     Kräften um eine glückliche Situation für alle    samkeit zu tun, sondern damit, dass man
Moment gar ins Komische. Liebe hat nie            verfasst, ist eher Science Fiction: es geht     vier bemühen. Aber die Geschichte endet          gemeinsam einen Weg gehen und eine
existiert. Man war lediglich „nett“ zueinander.   weder um das Entfesseln teuflischer Kräfte      nicht nur traurig, sie endet tödlich. Alles      Erfahrung machen kann. Und sei es jene,
„Zu denken heisst das Ziel verfehlen, heisst,     noch um die Beschwörung von Geistern,           Denken, Verhandeln und Hoffen führt nicht        für Momente darüber nachzudenken, wie
danebenliegen“, schreibt George Steiner           sondern um ein wissenschaftliches Ex-           zu praktikablen Lebensentwürfen, obwohl          es wäre, auf dem Kopf zu wandeln.
und für die Noras dieser Welt bedeutet dies:      periment und den Zusammenhang von               alle die besten Absichten hatten. Man kann
am Ende lieber eine Ausgestossene sein,           Forschung und Verantwortung. Die Frau           Gärten pflegen und Landschaften gestalten,       Ich freue mich auf meine letzte Spielzeit
als sich dem Denken zu verweigern und den         wird kurzerhand aus dem Schöpfungsakt           wie die Schicksalsgemeinschaft es in den         am Schauspielhaus Zürich und ich freue
bürgerlichen Konventionen zu ergeben.             verbannt; neues Leben entsteht, sozusagen       „Wahlverwandtschaften“ unablässig tut,           mich auf Sie!
In Dürrenmatts labyrinthischem Krimi              als Kopfgeburt, in einer rein männlichen        aber alles Zurechtstutzen, Domestizieren
„Justiz“ muss der mittellose Anwalt Spät          Sphäre. Frankensteins neugeschaffene            und Dekorieren der Natur führt nicht dazu,       Ihre Barbara Frey
neu nachdenken über Gut und Böse, denn            Kreatur ist gleichermassen gefühlsbetont        die Nachtseite der menschlichen Vernunft
er bekommt vom verurteilten und inhaftier-        wie vernunftbegabt – und zeigt sich so          zu bändigen.
ten Mörder Kohler den merkwürdigen                gewaltbereit wie der Mensch. Shelleys           Der Denkkraft des Menschen sind scheinbar
Auftrag, den schon abgeschlossenen Fall           Entwurf eines wissenschaftlichen Projekts,      keine Grenzen gesetzt, was so faszinierend
neu zu untersuchen unter der Annahme, er,         das ausser Kontrolle gerät, weist voraus in     wie verheerend ist. Rührt die seelische
Kohler, sei nicht der Mörder: „Das Wirkliche      unsere Zeit: mit der enormen Geschwindig-       und geistige Erschöpfung, die wir im Zeit-
ist nur ein Sonderfall des Möglichen und          keit der Erforschung und Erschaffung            alter der Digitalisierung bisweilen empfinden,
deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt,        „Künstlicher Intelligenz“ vermögen ethische,    von der kaum mehr zu bewältigenden Ge-
dass wir das Wirkliche umzudenken haben,          moralische und ökonomische Fragestellungen      schwindigkeit her, in der zu denken und zu
um ins Mögliche vorzustossen“, erklärt            heutzutage kaum mehr Schritt zu halten.         handeln wir uns selbst auferlegt haben?
Kohler dem erstaunten Anwalt, der irgend-         „Das Bewusstsein (...) ist keine hinlängliche   Hat der Umstand, dass heutzutage Welt-
wann, viel später, an diesem Auftrag              Waffe, ja manchmal eine gefährliche, für        politik auch per Twitter gestaltet werden
zugrunde gehen wird. Am Ende des ver-             den, der sie führt“, sagt Charlotte ganz zu     kann, noch etwas zu tun mit Denken? Mit
worrenen, beunruhigenden Plots wendet             Beginn von Goethes „Wahlverwandtschaften“       Menschenwürde? Das vielbeschworene
sich der Dichter persönlich an die Leser-         zu ihrem Mann Eduard und offenbart dabei,       „resultatorientierte Denken“ muss nichts mit

                                                                                            4                                                                                                  5
Programm
2018/19
Pfauen                                                                         Schiffbau/                                   Pfauen/
15

Hamlet
                                    37

                                    Totart Tatort
                                                                               Box                                          Kammer
von William Shakespeare             von Herbert Fritsch                        16                                           49
Regie Barbara Frey
Premiere am 13. September 2018
                                    Regie Herbert Fritsch
                                    Uraufführung im Februar 2019
                                                                               Lenz                                         Eine Version
                                                                               nach der Erzählung von Georg Büchner         der Geschichte
19                                  41                                         Regie Werner Düggelin
                                                                                                                            von Simone Kucher
                                                                               Premiere am 15. September 2018
Die                                 Justiz                                                                                  Regie Marco Milling
                                                                                                                            Uraufführung am Deutschen Theater Berlin
Wahlverwandtschaften                nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt    25
                                                                                                                            am 22. Juni 2018
nach dem Roman von
                                    Regie Frank Castorf
                                    Premiere im April 2019
                                                                               Nora oder                                    Zürcher Premiere im Oktober 2018
Johann Wolfgang von Goethe
Regie Felicitas Brucker
                                                                               Ein Puppenhaus                               50
                                    45                                         von Henrik Ibsen
Premiere am 29. September 2018
                                    Die Toten                                  Regie Timofej Kuljabin                       Versetzung
20                                                                             Premiere am 16. November 2018                von Thomas Melle
                                    nach der Erzählung von James Joyce
                                                                                                                            Regie Clara Isabelle Dobbertin
Endstation Sehnsucht                Regie Barbara Frey
                                                                               32                                           Premiere im Januar 2019
                                    Premiere im Mai 2019
von Tennessee Williams
Regie Bastian Kraft
                                                                               Man bittet um                                53
Premiere am 20. Oktober 2018                                                   schonendes Anhalten                          Die zweite Frau
                                                                               Eine musiktheatralische

                                    Schiffbau/
23                                                                                                                          von Nino Haratischwili
                                                                               Zusammenkunft von Ruedi Häusermann
                                                                                                                            Regie Maximilian Enderle
Der satanarchäolü-                                                             Regie Ruedi Häusermann
                                                                                                                            Schweizer Erstaufführung im März 2019

                                    Halle
                                                                               Uraufführung im Januar 2019
genialkohöllische
                                                                                                                            55
Wunschpunsch                                                                   38

von Michael Ende                                                               Die Verlobung in                             Der Reisende
                                    26
                                                                               St. Domingo
Regie Christina Rast                                                                                                        nach dem Roman von
Premiere am 10. November 2018       44 Harmonies from                          von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist
                                                                                                                            Ulrich Alexander Boschwitz
                                                                                                                            Regie Manon Pfrunder
29
                                    Apartment House 1776                       Koproduktion mit dem                         Uraufführung im Mai 2019
                                    von Christoph Marthaler und Ensemble       Maxim Gorki Theater Berlin
Ich weiss nicht, was ein            Regie Christoph Marthaler                  Regie Sebastian Nübling
Ort ist, ich kenne nur              Premiere am 6. Dezember 2018               Uraufführung im April 2019

seinen Preis (Manzini-Studien)      42
von René Pollesch
Regie René Pollesch                 Die grosse Gereiztheit

                                                                                                                   n  -
Uraufführung am 14. Dezember 2018   Ein Projekt im Schiffbau
                                    nach Motiven des Romans

                                                                                                         S a i s o                st
                                                                                                                            s f e
                                    „Der Zauberberg“ von Thomas Mann

                                                                                                                          g
30

Frankenstein oder                   Regie Karin Henkel

                                                                                                            ö  f f n u  n
                                                                                                         er
                                    Premiere im Mai 2019
Der moderne Prometheus
                                                                                                                   f a u e n !
                                                                                                         im P                        r
nach dem Roman von Mary Shelley
Regie Stefan Pucher

                                                                                                                       p t e m   b e
                                                                                                               .  S  e
Premiere am 10. Januar 2019

                                                                           8                              23                                                        9
                                                                                                          2018
Gastspiele                                 Junges
58

Die Welt im Rücken
                                           Schauspiel-
nach dem Roman von Thomas Melle
Produktion des Burgtheaters Wien
                                           haus
Regie Jan Bosse
November 2018                              75

                                           Casa 18
59                                         Regie Enrico Beeler
Unendlicher Spass                          1. bis 24. Dezember 2018
von David Foster Wallace
Produktion von Thorsten Lensing            76
Regie Thorsten Lensing                     Apropos …
12. /13. Januar 2019                       Junges Literaturlabor
                                           trifft Junges Schauspielhaus
59

Drei Schwestern                            Teil 1 Tanzhaus Zürich
                                           Choreografie Buz
von Anton Tschechow                        Premiere im Januar 2019
Produktion des Teatr Krasnyi Fackel,
Nowosibirsk                                Teil 2 Schiffbau/Matchbox
Regie Timofej Kuljabin                     Regie Enrico Beeler
7./8. März 2019                            Premiere im Februar 2019

                                           Teil 3 Externer Spielort
                                           Regie Daniel Kuschewski
                                           Premiere im Mai 2019

Extra
67

Fluchtpunkt Schweiz
Exilliteratur in der Kammer
Mit Beatrice von Matt, Ursula Amrein,
Elisabeth Bronfen und Eveline Hasler

68

Zürcher Gespräche
Dialoge über Gesellschaft, Philosophie
und Politik von und mit Lukas Bärfuss,
Miriam Meckel, Stefan Zweifel und Gästen

71

Meet Your Enemy at
the Social Muscle Club
Konzept Benedikt Wyss
und Social Muscle Club
Koproduktion mit ZH-REFORMATION.CH
5./6. Oktober 2018                                                        10   Markus Scheumann
Premieren

12               13
Hamlet
                         Pfauen
                         Premiere am 13. September 2018

                         von William Shakespeare

                         Regie Barbara Frey
                         Bühne Bettina Meyer
                         Kostüme Esther Geremus
                         Musik Iñigo Giner Miranda

                         Ein Land im empfindlichen Alarmzustand –          für ihn ist, und schickt den „Verrückten“
                         „etwas ist faul im Staate Dänemark“ –             umgehend nach England, um seine Hinrich-
                         Fremdherrschaft droht dem auf Gewalt ge-          tung einzufädeln. Ophelia zerbricht am herr-
                         gründeten, maroden Staat: Claudius hat            schenden Irrsinn, Hamlet kann seine Hin-
                         seinen Bruder, König Hamlet, im Schlaf er-        richtung abwenden und kehrt rachehungrig
                         mordet, um dessen Thron und Gemahlin zu           zurück nach Dänemark. Der bis dahin
                         übernehmen. Doch der Geist des ermorde-           nahezu handlungsunfähige, sensibel an
                         ten Kriegers ruht nicht, er erscheint seinem      der Maskerade der Gegenwart Zweifelnde
                         Sohn, enthüllt dem rechtmässigen Thron-           zeigt sich nun als entschlossener Täter. Auf
                         folger das intrigante Verbrechen und fordert      einem Fest im Thronsaal nimmt das Rache-
                         ihn zur Rache auf. Prinz Hamlet, hellwach         gemetzel einen unvorhergesehenen Lauf.
                         in seinem Wahrnehmungsvermögen, gelobt            Hamlets Figur bleibt bis zuletzt widersprüch-
                         Vergeltung für seinen geliebten Vater. Um         lich; seine existenziellen Fragen zu Identität
                         die Wahrheit ans Licht zu bringen, setzt er       und Spiel, Wahrheit und Maskerade bleiben
                         die Maske des Verwirrten auf und vertraut         in einer Zeit, die „aus den Fugen“ ist, unge-
                         auf die Kraft der Imagination: vor den Augen      löst: „Will und Geschick sind stets im Streit
                         seiner Mutter und seinem Stiefvater lässt         befangen. Was wir ersinnen, ist des Zufalls
                         er ein Stück aufführen, in dem ein König          Spiel, nur der Gedank ist unser, nicht das
                         ermordet wird und der Mörder die Königin          Ziel.“ Die Tragödie des Prinzen Hamlet ist
                         heiratet. Tatsächlich offenbart König Claudius’   ein theaterbesessenes Stück. Die Ursprünge
                         Reaktion sogleich seine Schuld, doch ver-         des berühmtesten und umfangreichsten
                         mag ihn Hamlet nicht zu töten. Hamlet spürt,      Stücks Shakespeares sind dunkel, das Phä-
                         dass das „Geschwür“ dieser dem Untergang          nomen der vom Stück losgelösten Gestalt
                         geweihten Gesellschaft tiefer in der Ver-         „Hamlet“ einzigartig.
                         gangenheit liegt und komplexer ist. Doch
                         der Boden unter den Füssen des wahrheits-         Barbara Frey, die zum sechsten Mal
                         suchenden Prinzen schwindet, seine Jugend-        Shakespeare inszeniert, wird in „Hamlet“
                         freunde Rosenkranz und Güldenstern ent-           der Präsenz des Abwesenden nachgehen,
                         puppen sich als Spitzel des Königsmörders,        welche gleich zu Beginn des Stücks mit der
                         selbst seine Geliebte Ophelia scheint Teil        beunruhigend faszinierenden Erscheinung
                         eines Komplotts gegen ihn zu sein. Wahn           des Untoten König Hamlet alles Folgende
                         mutiert zu Wirklichkeit, Hamlet tötet, in der     auslöst.
                         Annahme, es handle sich um König Claudius,
                         schliesslich den Falschen: Polonius, Ophelias     Unterstützt von Swiss Re
                         Vater. König Claudius jedoch durchschaut,
Matthias Neukirch   14   wie gefährlich der fantasiebegabte Hamlet                                                   15
Lenz
                                                 Schiffbau/Box
                                                 Premiere am 15. September 2018

                                                 nach der Erzählung von Georg Büchner

                                                 Regie Werner Düggelin
                                                 Bühne Raimund Bauer
                                                 Kostüme Sabrina Bosshard

„ Jetzt ist es mir so eng, so eng, sehn Sie,     nach Strassburg bringen musste. Büchner
es ist mir manchmal, als stiess’ ich mit den     selbst hat die moderne Erzählung von einem
Händen an den Himmel …“ Georg Büchner            in sich zerfallenden Menschen auf der Flucht
                                                 geschrieben. Nachdem die Hoffnung auf
Georg Büchners Erzählung beginnt mit der         eine Revolution in Deutschland zerschlagen
Wanderung eines jungen Mannes durchs             war, floh Büchner am 9. März 1835 nach
Gebirge. Die Natur empfindet er als ab-          Strassburg, am 13. Juni wurde der Steck-
weisend und unwirklich. Die karge Gebirgs-       brief gegen ihn herausgegeben: Gesucht
landschaft spiegelt sein Innenleben, seinen      wurde wegen seiner „Teilnahme an staats-
inneren Zustand wider. Der Nebel, die Kälte      verräterischen Handlungen“ ein 21-jähriger
und Nässe greifen ihn an. Raum und Zeit          Student der Medizin, blond und mit „sehr
beginnen sich aufzulösen zwischen Traum          gewölbter Stirn“. Grund war die Abfassung
und Wachen. Eine grosse Angst besetzt            eines Flugblatts, das zum gewaltsamen Auf-
ihn, der Wahnsinn ist ihm dicht auf den          stand in Hessen aufrief, und Georg Büchners
Fersen. Endlich erreicht er das Dorf, wo ihn     Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung
der Pfarrer Oberlin und seine Familie herzlich   namens „Gesellschaft für Menschenrechte“.
empfangen. Für kurze Zeit kann er Ruhe
finden und beginnt von seinem Zuhause zu         Werner Düggelin war einer der ersten
erzählen. Doch später allein in seinem           Theatermacher, der den Stücken von
Zimmer kehren die Angst und auch der Wahn        Samuel Beckett, Albert Camus oder Eugène
zurück. Immer wieder gelingt es dem Pfarrer,     Ionesco im deutschsprachigen Raum zu
den Aufgewühlten und Getriebenen durch           Bekanntheit verhalf. Von 1968 bis 1975 war
Gespräche zu beruhigen. Aber sobald er mit       er Künstlerischer Direktor des Theater Basel,
sich allein ist, verfinstert sich sein Gemüt,    seitdem arbeitet er als freier Regisseur. Mit
Verlorenheit und Leere machen sich breit,        dem Schauspielhaus Zürich verbindet ihn
eine fremde Macht ergreift ihn. Der Riss         eine lange Geschichte, „Lenz“ ist seine
durch die Welt lässt sich nicht aufhalten.       mittlerweile 55. Inszenierung am Hause. Zu-
Die posthum erschienene und als Fragment         letzt waren von ihm „Glückliche Tage“ von
erhaltene Erzählung „Lenz“ geht auf einen        Samuel Beckett und „Texte von Jacques Brel“
Bericht des Sozialreformers und Pfarrers         im Schiffbau zu sehen.
Johann Friedrich Oberlin zurück, bei dem
der Sturm-und-Drang-Schriftsteller Jakob
Michael Reinhold Lenz vom 20. Januar bis
8. Februar 1778 gewohnt hatte, bis der
Pfarrer ihn schliesslich aufgrund der Ver-
schlechterung seines psychischen Zustands                                                 16      Lena Schwarz
Die Wahl-
             Pfauen
             Premiere am 29. September 2018

             nach dem Roman von
             Johann Wolfgang von Goethe                     verwandt-
             Regie Felicitas Brucker
             Bühne Viva Schudt
                                                            schaften
             Kostüme Sara Schwartz
             Musik Marcel Blatti

             Goethe empfand sich selbst als Naturwissen-    Menschen. Das Ehepaar Eduard und
             schaftler bedeutender denn als Dichter.        Charlotte, beide in zweiter Ehe miteinander
             Er beschäftigte sich mit der Farbenlehre,      verheiratet, lädt zwei Gäste ein. Auf der
             schliesslich sogar mit der Wolkenkunde.        Suche nach freundschaftlicher Ergänzung
             Die Erkenntnis der Natur verhelfe dem          und Geselligkeit soll der beherrschte, ent-
             Menschen zur Erkenntnis der eigenen natür-     schlossen handelnde Hauptmann dem eher
             lichen Anlagen. Lebenslang dauere diese        lustbetonten, schnell gelangweilten Eduard
             Arbeit, durch wissenschaftliches und künst-    Gesellschaft leisten. Die verträumte, sensible
             lerisches Handwerk seine sinnlichen und        Ottilie darf sich mit der tatkräftigen Charlotte
             geistigen Organe zu schulen. Wäre das nicht    amüsieren. Doch es kommt ganz anders.
             auch zweihundert Jahre später eine schöne      Eduard verliebt sich hemmungslos in Ottilie
             Vorstellung vom Menschsein? Teil einer         und der Hauptmann und Charlotte kommen
             natürlichen Ordnung zu sein, seinen Ge-        sich ebenfalls nah. In einer letzten Liebes-
             fühlen nicht entfremdet, verbunden mit-        nacht zeugt das Ehepaar Charlotte und
             einander und mit allen Lebensformen der        Eduard einen Sohn, beide denken sich aber
             Umgebung?                                      jeweils in die Arme ihrer Geliebten. Ein ver-
             Doch Goethe schaut ebenso leidenschaftlich     nünftiges Arrangement wird gesucht: Wer soll
             in den Abgrund: In seinem rätselhaften, 1809   zusammenleben, wer zieht das Kind gross?
             veröffentlichten Roman „Die Wahlverwandt-      Obwohl alle Beteiligten offen ihre Argumente
             schaften“ wendet er ein chemisches Ex-         tauschen und vorgeben, entscheidungsfähig
             periment der damaligen Zeit auf menschliche    zu sein, kommt es zur tödlichen Katastrophe.
             Beziehungen an: Was geschieht, wenn be-        Nur eines der Paare überlebt.
             stimmte Stoffe eine so starke Affinität zu-
             einander aufweisen, dass sie eine neue         Die Regisseurin Felicitas Brucker, die u.a.
             Verbindung eingehen müssen? Gibt es Selbst-    am Theater Basel, am Theater Freiburg und
             bestimmung und individuelle Freiheit oder      am Schauspielhaus Wien gearbeitet hat,
             folgen wir Menschen einer höheren Natur-       interessiert sich für vielschichtige Psycho-
             gewalt, die starke Zweifel an unserer emp-     gramme von Figuren, die immer auch ein
             fundenen Autonomie aufkommen lassen?           Spiegel von gesellschaftlichen Zuständen
             Vier Personen sind Teil seines Versuchs,       sind. Mit dieser ersten Inszenierung am
             einer Art Katastrophe in Zeitlupe, der die     Schauspielhaus Zürich stellt sie sich dem
             immer wieder gesuchte Ordnung von (Liebes-)    hiesigen Publikum vor.
             Beziehungen wild durcheinanderwirbelt.
             Am Ende sterben in diesem Konflikt zwischen    Unterstützt von der Hans Imholz Stiftung
             Natur und Kultur, zwischen Harmonie und
Jirka Zett   Anarchie, zwischen Freiheit und Zwang drei                                                19
Endstation
                                                 Pfauen
                                                 Premiere am 20. Oktober 2018

Sehnsucht                                        von Tennessee Williams

                                                 Regie Bastian Kraft
                                                 Bühne Peter Baur
                                                 Kostüme Sabin Fleck
                                                 Musik Arthur Fussy
                                                 Video Jonas Link

„Das Stück erzählt vom Untergang einer           hat sie eingeholt, sie schreitet der End-
Gesellschaft. Blanche und Stella sind die        station ihrer Sehnsucht entgegen.
letzten Überlebenden einer Dynastie und          Im Originaltitel „A Streetcar Named Desire“
müssen einsehen, dass sich die Welt um           deutet das englische Wort „desire“, das
sie herum verändert hat. Der Glanz ihrer         ausser Sehnsucht auch Begierde heissen
Herkunft zählt in der neuen Realität nicht       kann, auf den zentralen Gegensatz des
mehr. Stanley ist Blanche an Lebenstüchtig-      Stücks: auf der einen Seite die zarte, über-
keit haushoch überlegen. Mich interessieren      kultivierte Blanche DuBois – die traditions-
die Parallelen zwischen Blanches Lebens-         bewusste, leicht affektierte Englischlehrerin,
lage und dem angeschlagenen Selbst-              der aber die realen Verhältnisse völlig ent-
bewusstsein Europas. Beide müssen                gleiten, auf der anderen Seite der grob-
schmerzlich erfahren, dass sich die Welt         schlächtige, aber zupackende Stanley
immer weniger um sie schert, sie quasi           Kowalski, Sohn aus Arbeiterverhältnissen,
überholt und zu anachronistischen Figuren        der in der gnadenlosen Wettbewerbsgesell-
macht.“ Bastian Kraft                            schaft des 20. Jahrhunderts erfolgreich
                                                 seinen Weg macht.
Die blanke Wahrheit scheut Blanche ebenso        Der Dramatiker Tennessee Williams, 1911 in
wie grelles Licht, das der zarten, alternden     Mississippi geboren, schrieb das Stück
Schönheit die Falten ins Gesicht wirft: „Und     unter dem Eindruck einer neu aufsteigenden
mach das Licht aus. Ich lass mich nicht          Arbeiterklasse, die dem verfallenden Süd-
ansehen in diesem unbarmherzig grellen           staatenadel den Rang ablief. Das kultur-
Licht!“ Trotz Schwindeleien muss sie ihrer       kritische Stück, das 1949 am Schauspielhaus
Schwester kurz nach der Ankunft bei ihr          Zürich seine deutschsprachige Erstaufführung
gestehen, dass das Familienanwesen „Belle        erlebte, war einer der grössten Erfolge des
Rêve“ unter ihrer Hand „verloren ging“.          Autors.
Stellas Ehemann Stanley deckt auf, dass
Blanche ausserdem auch ihre Anstellung           „Endstation Sehnsucht“ ist die mittlerweile
verloren hat. Daraufhin lebte sie in schäbigen   siebte Inszenierung des Regisseurs Bastian
Hotels und betäubte ihren Schmerz mit            Kraft am Schauspielhaus Zürich. Zuletzt
Männergeschichten und Alkohol. Stanley           waren von ihm im Pfauen „Homo faber“
will wissen, was dabei aus Stellas Erbteil       und „Buddenbrooks“ zu sehen.
geworden ist. Eine beginnende Affäre
zu Stanleys Freund Mitch lässt Hoffnung          Unterstützt von der Zürcher Kantonalbank
aufglimmen. Doch als er von Blanches
Verhältnissen erfährt, beendet Mitch die
Beziehung abrupt. Blanches Vergangenheit                                                  20                    21
                                                                                                  Friederike Wagner
Der satan-
                   Pfauen
                   Premiere am 10. November 2018

                   von Michael Ende
                   Familienstück ab 6 Jahren                        archäolü-
                   Regie Christina Rast
                   Bühne und Kostüme Franziska Rast
                                                                    genial-
                                                                    kohöllische
                                                                    Wunsch-
                                                                    punsch
                   Es ist Silvesterabend und im wahrsten            zu sein, bis er durch das Verspeisen eines
                   Sinne des Wortes schlägt es gleich zwölf         Fischs aus einem vergifteten Fluss seine
                   für die beiden Bösewichte Prof. Dr. Beelze-      Stimme verlor. Beide Tiere kommen
                   bub Irrwitzer und seine Tante, die Geldhexe      Tyrannja und Beelzebub auf die Schliche
                   Tyrannja Vamperl. Sie haben es versäumt,         und behindern ihre teuflischen Pläne. Doch
                   ihren Vertrag mit dem Minister der Äus-          Tyrannja hat noch einen grandiosen Einfall.
                   sersten Finsternis zu erfüllen. Ihr Soll an      Sie findet das Rezept für den satanarchäo-
                   bösen Taten ist für dieses Jahr nicht erfüllt.   lügenialkohöllischen Wunschpunsch, der
                   Der Gerichtsvollzieher Maledictus Made           all ihre Probleme vor Mitternacht lösen
                   steht bereits im Haus und droht mit der          soll. Maurizio und Jakob müssen handeln.
                   Pfändung. Der Vertrag mit den Mächten der        Vielleicht lassen sich die totale Zerstörung
                   Finsternis gibt dem Zauberer und der Hexe        der Natur durch den Zauberer und der
                   zwar besondere Macht über Mensch und             Ausverkauf der Welt durch die Geldhexe
                   Natur, besagt aber auch, dass sie sich           doch noch abwenden. Ein Wettlauf gegen
                   verpflichten, jedes Jahr mehrere Tierarten       die Zeit beginnt.
                   auszurotten, fünf Flüsse zu vergiften, min-      „Der satanarchäolügenialkohöllische
                   destens zehntausend Bäume zum Absterben          Wunschpunsch“ ist eines der letzten grossen
                   zu bringen und so weiter und so fort.            Werke des Autors Michael Ende, der so
                   Beelzebub hat an der Universität von Stinkfurt   bekannte Kinderbuchklassiker wie „Die
                   Höhere Diabolik studiert und Tyrannja ist        unendliche Geschichte“ oder „Jim Knopf
                   Präsidentin der Internationalen Bosnickel-       und Lukas, der Lokomotivführer“ schuf. Es
                   Aktien-Gesellschaft, trotzdem finden sie         handelt sich gleichzeitig um seinen vielleicht
                   keine Lösung für ihre scheinbar verhexte         dramatischsten und komödiantischsten
                   Lage. „Beim sauren Regen!“ Es bleiben nur        Stoff, mit schrillen Charakteren und einem
                   wenige Stunden bis Mitternacht. Gäbe es          rasanten Plot.
                   doch nur irgendein Zaubermittel, um die
                   Zeit anzuhalten und den Rückstand an             Christina Rast inszenierte u. a. am
                   schlimmen Taten doch noch aufzuholen.            Residenztheater München und am Thalia
                   Hinzu kommt, dass der Hohe Rat der Tiere         Theater Hamburg sowie immer wieder
                   durch die Zerstörung der Natur und das           am Schauspielhaus Zürich, wo zuletzt von
                   Sterben der Arten seit längerem Verdacht         ihr „Das doppelte Lottchen“ zu sehen war.
                   geschöpft und zwei Spione zur Aufklärung
                   entsandt hat: den klugen Raben Jakob
                   Krakel und den kleinen Kater mit Namen
                   Maurizio di Mauro, der behauptet, vor
             22
Michael Maertens   seiner Tätigkeit als Spion Sänger gewesen                                                 23
Nora oder
                            Schiffbau/Box
                            Premiere am 16. November 2018

                            von Henrik Ibsen

                            Regie Timofej Kuljabin
                                                                             Ein Puppen-
                            Bühne und Kostüme Oleg Golovko
                                                                             haus

                            Mit seiner Beförderung zum Bankdirektor          feministische Proklamation dargestellt.
                            scheint Noras Mann, Torvald Helmer, auf          Das Stück erzählt auch von der Befreiung
                            dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen         des Individuums gegenüber gesellschaft-
                            zu sein. Wie viel Nora dazu beigetragen          lichen Zuschreibungen, von Lebenslügen,
                            hat, weiss er nicht. Am Anfang ihrer Ehe         Schuld und Abhängigkeiten in Beziehungen
                            wurde er schwer krank und sie trieb, hoch-       sowie von der ethischen Verantwortung
                            schwanger, heimlich Geld für seine Kur           jedes Einzelnen.
                            auf. Nicht kreditwürdig als Frau, fälschte sie
                            den Schuldschein mit der Unterschrift ihres      Der Regisseur Timofej Kuljabin, einer der
                            soeben verstorbenen Vaters. Während sie          talentiertesten Vertreter einer jungen Gene-
                            die Schulden mittlerweile nahezu abgetragen      ration russischer Theatermacher, wählt
                            hat, wiegt die juristische Schuld der Ur-        für seinen Regiezugriff häufig Texte aus dem
                            kundenfälschung noch schwer – besonders          klassischen Repertoire, um auf diese einen
                            in den Händen der falschen Person. Der           neuen Blick zu eröffnen. Bekannt wurde er
                            Rechtsanwalt Krogstad, der ihr das Geld          u.a. mit der Inszenierung von Tschechows
                            einst lieh, ist nun selbst in Not und erpresst   „Drei Schwestern“, welche er konsequent
                            sie. Als Torvald die Wahrheit erfährt, erkennt   in russischer Gebärdensprache spielen liess.
                            er in seiner Frau nicht die kämpferische         Er stellte mit der gefeierten Aufführung die
                            Partnerin, sondern sieht einzig seine Karriere   Frage, welche Rolle das gesprochene Wort
                            und männliche Ehre gefährdet. Wutentbrannt       noch einnimmt, und zeigte brillant, wie
                            wendet er sich von der „Verbrecherin“ ab.        jenseits dessen Kommunikation stattfindet.
                            Das Blatt scheint sich noch zu wenden, als       In der Inszenierung „Nora oder Ein Puppen-
                            Krogstad Nora das Beweismittel, den Schuld-      haus“ werden die Figuren fast ausschliesslich
                            schein, unverhofft aushändigt. Als Torvald       das digitale Wort verwenden, per Handy,
                            deshalb im Handumdrehen wieder zur Tages-        Tablet und Computer, ganz so wie es unse-
                            ordnung der Familienidylle zurückkehren          rem gegenwärtigen Alltag der polyphonen
                            will, trifft Nora eine radikale Entscheidung,    Kommunikation entspricht. Timofej Kuljabin
                            denn die Verstellung in ihrer Ehe kann           inszeniert erstmals am Schauspielhaus
                            sie nicht mehr leben. Sie verlässt nicht nur     Zürich, im März werden hier auch seine
                            ihren Mann, sondern auch ihre Kinder.            „Drei Schwestern“ als Gastspiel zu sehen
                            Ibsen bearbeitet mit der sogenannten             sein (S. 59).
                            „Frauenfrage“ ein brennendes gesellschaft-
                            liches Thema im Norwegen des 19. Jahr-
                            hunderts und bis heute wird der Ausbruch
                            Noras aus der Puppenhauswelt ihrer Ehe –
Robert Hunger-Bühler   24   „Dies ist eine Abrechnung, Torvald!“ – als                                               25
44
                                                 Schiffbau/Halle
                                                 Premiere am 6. Dezember 2018

Harmonies                                        von Christoph Marthaler und Ensemble

                                                 Regie Christoph Marthaler

from                                             Bühne und Kostüme Anna Viebrock

Apartment
House 1776
Der Titel von Christoph Marthalers und Anna      Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler
Viebrocks erster Inszenierung in der Halle       begann seine Theaterlaufbahn als Musiker
seit über zehn Jahren klingt ein wenig rätsel-   und kreierte in den späten 1980er Jahren
haft? Ja und Nein. Denn erste Knoten könnten     kritisch-ironische Liederabende und Perfor-
sich lösen, wenn sich herumspricht, dass         mances im öffentlichen Raum. Erste inter-
der Titel gar nicht von Marthaler, sondern       nationale Aufmerksamkeit für seine neu-
von John Cage erfunden wurde. Und das            artige Theatersprache erregte Marthaler,
bereits 1976. Cage wählte diese Überschrift      als er 1993 an der Volksbühne am Rosa-
für eine Komposition, die von der Gleich-        Luxemburg-Platz in Berlin „Murx den Euro-
zeitigkeit sehr verschiedener musikalischer      päer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx
Räume handelt sowie von heftigen Auf-            ihn ab! Ein patriotischer Abend“ inszenierte.
lösungserscheinungen hinsichtlich der Wahr-      Seitdem zeigt Marthaler seine Arbeiten an
nehmung von Raum und Zeit. Dies beden-           zahlreichen grossen Theatern im deutsch-
kend erschliesst sich die grosse Vorfreude,      und französischsprachigen Raum und
mit der Marthaler und seine Ensemble-            inszenierte überdies zahlreiche Opern in
mitglieder dem Betreten der frei schweben-       Salzburg, Paris, Frankfurt, Hamburg und
den Klanglandschaften des amerikanischen         Madrid. 2018 erhielt er mit dem Internatio-
Komponisten entgegensehen. Inklusive einer       nalen Ibsen-Preis einen der weltweit be-
eigensinnigen Fortführung all derjenigen         deutendsten Theaterpreise. Von 2000 bis
Forschungen über den Zusammenhang                2004 war Christoph Marthaler Intendant
von Zufall, Alltag und Erleben, denen            des Schauspielhauses Zürich, an das er in
Cage sein gesamtes Denken und Handeln            der vergangenen Saison mit der Inszenierung
widmete. Letzteres übrigens nicht allein         „Mir nämeds uf öis“ nach längerer Abwesen-
auf dem Feld der Musik. Denn Cage wirkte         heit zurückgekehrt ist.
auch als Schriftsteller. Und als Pilzexperte.
Angesichts dieser Bandbreite an Kompe-
tenzen lässt sich dann auch nicht ganz
ausschliessen, dass John Cage in der Halle
höchstpersönlich in Erscheinung treten
könnte. Natürlich nur dann, wenn der Zufall
mitspielt. Aber darauf liesse sich in solchen
Zusammenhängen bedenkenlos wetten.
Mit äusserst niedrigen Gewinnquoten.

                                                                                         26                       27
                                                                                                 Susanne-Marie Wrage
Ich weiss
                       Pfauen
                       Uraufführung am 14. Dezember 2018

                       von René Pollesch
                                                                        nicht, was
                                                                        ein Ort ist,
                       Regie René Pollesch
                       Bühne Barbara Steiner
                       Kostüme Sabin Fleck

                                                                        ich kenne
                                                                        nur seinen
                                                                        Preis              (Manzini-Studien)

                       „M: Das, was hier gesagt wird, ist nun mal       wobei auch die Spieler laufend involviert sind.
                       an einem Ort entstanden. Und wenn man            Klassische Spielformen und Rollen sind auf-
                       das sagt, dann wird von der anderen Seite        gelöst. Die Texte umkreisen immer wieder die
                       eine Meinung dazu formuliert. Unterschrie-       künstlerische Arbeitspraxis selbst, weshalb
                       ben von mehreren Leuten. Und wie darf            auch häufig das Theater als Referenz auf-
                       man sich das vorstellen, wie hat das aus-        taucht. Die Inszenierungen bearbeiten kollek-
                       gesehen? Auf welcher Party haben die sich        tiv vorinstallierte Strukturen von Sprecher und
                       getroffen? Wo haben sie sich ausgetauscht?       Adressat sowie Denkmuster, die einen gesell-
                       Was für ein Gebäude ist das gewesen? Was         schaftlichen Konsens unterlaufen.
                       für ein Ort? Gibts den? Haben die an einem
                       Tisch gesessen? Gibts überhaupt einen            Am Schauspielhaus Zürich entwickelte
                       Ort, von dem aus die schreiben? Nein, es         René Pollesch während der Intendanz von
                       gibt was ganz anderes. Einen ganz anderen        Barbara Frey seit 2009 jährlich eine Ur-
                       Zusammenhang. Also das ist erst mal              aufführung. Unter anderem fanden seine
                       kein Ort, von dem aus die sprechen, kein         Stücke mit Chor „Love/No Love“ (2014),
                       physischer Ort. Da äussert sich nämlich eine     „Bühne frei für Mick Levčik!“ (2016) und
                       Klasse. Und zwar jenseits eines unmittel-        „High (du weisst wovon)“ (2017) grosse
                       baren Interesses an dem Vorgang. Es ist die      Beachtung. Pollesch prägte als Regisseur
                       Äusserung einer Klasse, die das, was hier        und als Leiter des Prater (2001– 2007) bis
                       an einem bestimmten Ort gesagt wird,             zum Ende der Intendanz von Frank Castorf
                       sofort markieren kann als zu einer anderen       über viele Jahre die Berliner Volksbühne
                       Klasse gehörend.“ René Pollesch                  am Rosa-Luxemburg-Platz. Er arbeitet ausser-
                                                                        dem regelmässig am Wiener Burgtheater
                       René Polleschs Uraufführungen sind Text-         und am Schauspielhaus Hamburg.
                       kompositionen aus überraschenden Dialogen,
                       sprunghaften Identitäten und einem ständigen
                       Wirbel an Ideen. Collagenartig tauchen
                       Zitate aus Popkultur, Detektiv- und Kultfilmen
                       auf. Der Motor dieser modernen Komödien
                       ist nicht eine durchgehende Geschichte,
                       sondern das direkte Spiel und der charakte-
                       ristische Ton, beeinflusst vom philosophisch-
                       materialistischen Denken eines Slavoj Žižek
                       oder Robert Pfaller. Bei der Entstehung
                       von Polleschs Texten gehen inszenatorische
Ludwig Boettger   28   und schreibende Arbeit Hand in Hand,                                                       29
Frankenstein
                                                    Pfauen
                                                    Premiere am 10. Januar 2019

oder                                                nach dem Roman von Mary Shelley

Der moderne
                                                    Regie Stefan Pucher
                                                    Bühne Barbara Ehnes
                                                    Kostüme Annabelle Witt

Prometheus                                          Video Chris Kondek
                                                    Musik Christopher Uhe

„If I cannot inspire love, I will cause fear“,     200 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung
ruft das gedemütigte namenlose Monster             beschreibt Mary Shelleys berühmter Schauer-
in Mary Shelleys „gothic novel“. 1818 ist          roman immer noch messerscharf den
das „Jahr ohne Sommer“, die Natur ist              Moment eines albtraumhaften Kontroll-
nach einem Vulkanausbruch völlig aus den           verlustes. Wissensdurst, Kreativität und die
Fugen. Mary Shelley, die erst 19-jährige           Vision einer besseren Welt kippen in nicht
Autorin, findet in „Frankenstein“ kraftvolle       mehr steuerbare Gewalt und Zerstörung.
Bilder für den grössten menschlichen Tabu-
bruch: Der Naturwissenschaftler Victor             Der in Zürich durch bildstarke Arbeiten wie
Frankenstein verschiebt eigenmächtig die           „Woyzeck“, „Ein Volksfeind“ und „Am Königs-
Grenze zwischen Leben und Tod, indem               weg“ bekannte Regisseur Stefan Pucher
er aus Leichenteilen ein neuartiges Wesen          nähert sich dem Stoff vor dem Hintergrund
montiert und mit einem Stromstoss zum              unserer heutigen wissenschaftlichen
Leben erweckt. Er will ein „Licht über die         Schöpfungen. Unsere Maschinen lernen
finstere Welt giessen“, dem Menschen einen         immer schneller, sie werden fühlen und
guten Gefährten schaffen, die Sterblichkeit        sie sind kreativ – aber ob sie uns lieben
überlisten. Die Kreatur soll lernen, lesen,        können und wir sie, das wissen wir nicht.
sogar lieben. Doch die Schöpfung misslingt
und wird zur Bedrohung für ihren Schöpfer.
Frankenstein kann seiner Kreatur weder
entfliehen, noch sich vor ihren Ansprüchen
schützen, denn das Wesen lernt tatsächlich
blitzschnell. Es will geliebt werden und fordert
ein weibliches Pendant. Auf die Ablehnung
seiner Person und seiner Wünsche reagiert
es bösartig und begeht einen ersten Mord.
Frankensteins Bruder, seine Braut, sein bester
Freund, sein Vater, alle kommen schliesslich
durch die Gewalt des Monsters ums Leben.
Viel zu spät geht Victor Frankenstein auf
die Jagd und verfolgt sein Geschöpf bis
zum Nordpol – wo es in der eisigen Nacht
verschwindet.

                                                                                           30     Marie Rosa Tietjen   31
Man
                                               Schiffbau/Box
                                               Uraufführung im Januar 2019

bittet um                                      Eine musiktheatralische Zusammenkunft
                                               von Ruedi Häusermann

schonendes                                     Regie und Komposition Ruedi Häusermann
                                               Bühne Bettina Meyer

Anhalten
                                               Kostüme Barbara Maier

„Wir sind nicht zusammen!“ – „Doch doch,       Komposition und Themenfindung, woraus
ich schon.“ (aufgeschnappt)                    während der Proben ein poetischer,
                                               vieldeutiger Mikrokosmos voller Humor
„Das Streichquartett eröffnet den Abend.       und Hinwendung zum Detail entsteht.
Der instrumentale Klang bleibt zunächst
undurchdringlich offen, wie eine ‚ ge-         Ruedi Häusermann, 1948 in Lenzburg ge-
schlossene Gesellschaft‘. Im szenischen        boren, studierte Ökonomie und klassische
Spiel der Schauspieler rückt nach und          Querflöte. Ausgehend von seiner engen
nach die Innenwelt der Musiker in den          Verbundenheit mit dem Jazz und der freien
Blick. Lebensweltliches wird erforscht,        Improvisation entwickelte er erste szenische
Biografisches, Anekdotisches, scheinbar        Arbeiten und begann damit, seine eigene
Nebensächliches. Nachbarschaften               theatrale Sprache im Zwischenraum von
zeichnen sich ab. Vom Einzelnen kehrt          Konzert und Theater zu entwickeln. Dafür
der Blick zurück zum Ensemble, das Spiel       hat er mehrfach Auszeichnungen erhalten,
hat sich fortentwickelt, schliesslich ver-     zuletzt den Kunstpreis der Stadt Zürich
zichtet man schweren Herzens auch auf          (2012) sowie den Schweizer Theaterpreis
den Halt des Taktes. Jetzt sind Verbündete     (2018). Häusermann zeigte am Schauspiel-
gefragt!“ Ruedi Häusermann                     haus Zürich quer durch den Schiffbau
                                               „Vielzahl leiser Pfiffe. Umwege zum Konzert“
Ruedi Häusermanns Arbeiten sind künstle-       (2012), im Pfauen die musiktheatralische
rische Forschungsreisen zwischen Theater       Durchwanderung „Robert Walser“ (2014)
und Konzert. Auf gezielten Umwegen wird        und in der Box „piano forte – Über das
das Unscheinbare, das Unspektakuläre in        Abschweifen der Gedanken beim Hören
diesen zarten und komischen Arbeiten unter     der Musik“ (2016) sowie den riskanten
die Lupe genommen. Mit seinen Komposi-         Unterhaltungsabend „Kapelle Eidg. Moos“
tionen erfand er mehrfach musikalische         (mit Herwig Ursin und Jan Ratschko).
Welten um Texte von AutorInnen wie Elfriede
Jelinek, Robert Walser, Peter Bichsel oder     Unterstützt von der Stiftung Corymbo
Händl Klaus. Und immer wieder drehen sich
seine theatralen Recherchen um das Konzert
selbst. Die Musik steckt ihre Welt ab und
während man Einblicke gewinnt, erhält die
Aufführung etwas Vertrautes. Es entsteht ein
Abend über die Kunst, auf dem Weg zum
Ziel einen Haken zu schlagen. Noch vor der
Probenzeit beginnt in langen Phasen die                                               32             33
                                                                                              Jan Bülow
34   35
Totart
                   Pfauen
                   Uraufführung im Februar 2019

                   von Herbert Fritsch

                   Regie und Bühne Herbert Fritsch
                                                                         Tatort
                   Kostüme Victoria Behr

                   Tod tot tot tot tot tot tot tot tot tot tot tot tot   tötet träumt Tatschertötungstat taumelt
                   tot tot Toter tat totale Tat Totales Tabu tarnt       todglücklich trägt Tod tanzend der Täter
                   Tat tödliche Tod tötet tötenden Geist tot Tod         tatscht Tatortkriminologe tappt traurig da
                   tötet total trötet total tolle Tat Totart totaler     tote Spur der Täter tatscht Tatortkrimino-
                   Art Toter tat tatsächlich tote Tatsachen total        loge tappt der Täter tatscht tiktaktiktak
                   tapfer terminiert Totaltat toller Art totally art     Todesursache totale Tatschertat tat dem
                   Totart total brutal Brutaltat tötet Tod tötet         Täter teuflischen Taumel der Tatschertöter
                   Täter total tatsächlicher Tod tat Tötungs-            Tatortkriminologe taumelt total toll Tatscher-
                   delikt trat tatsächlicher Tötungszeitpunkt            täter tanzt Töter tarnt Todesspur tote Spur
                   total terminierend treffsicher zu taktisch toll-      tja Tatortkriminologe tappt tattriger tauft
                   wütiger Tod determiniert diagnostiziert:              Töter tatsächlich treffsicheren Tatscher
                   Tötung total toter Tatort tatsächlich toter           Tatscher tanzt teuflischer Tat tatsächlich
                   Tartar tot tödliche Tests testen Tod treffen          Totart Tatort: treffsicherer Tatscher tötet
                   Todesterminologie treffsicher Todesursache            tattrigen Tatortkommissar total tatscht
                   totale Tat tat dem Täter teuflischen Taumel           tatsächlich total tötend tödlich tatschende
                   totally art tatsächlich tolle Tötungslust             Tat traf Todesopfer Todesopfer Tatort-
                   totaler Tatsachen treffen Todesrecht trotz            kommissar taumelte tödlich Tatscher tat-
                   Totschlag tabuisiert technokratisierter Töter         kräftig am Totlachen tat total gut trotzdem
                   tarnt Todesspur tote Spur tja Teleskop taugt          Tatschertäter tot da totgelacht. Tatütata.
                   Tatortteilhabe Tötungstätigkeiten telegrafiert
                   Töter als Tatscher tanzender Tatscher                 Nach der Entdeckung der Grimm’schen
                   Todesnachweis Todesbeweis tatschendes                 Märchenwelt („Grimmige Märchen“ 2017),
                   Tatmittel treffsicherer Tod tauscht Termin            mit der er zum Schweizer Theatertreffen
                   tödlich Todtragender Täter taktiert Tatort-           2018 eingeladen wurde, begibt sich Herbert
                   kriminologe tappt tatsächlich total tangiert          Fritsch mit „Totart Tatort“ nun auf die
                   Tötungsgründe total staatstragend totes               kriminologische Spurensuche nach einem
                   Tartar brutal tot tauscht tattrigen Täter tat-        vermeintlichen Täter und entfesselt
                   sächlich tapst Tod todesuntrainiert total             dabei ein Panoptikum an detektivischem
                   traurig tadelt Tankwarts Tagträume trotz              Wahnwitz.
                   totaler Tötungsmaschinen tastet tattrig
                   träumt tatschenden Tod Tod tötet: Tötung              Unterstützt vom Förder-Circle
                   total toter Tatort tatsächlich totally art            des Schauspielhauses Zürich
                   terminierender Totaltod tödliche Tests
                   testen Tod Todesursache totale Tat tat dem
                   Täter teuflischen Taumel traurige Tat tat-
Fritz Fenne   36   sächlich tot der Täter tatscht total tanzt                                                     37
Die Ver-
                                                Schiffbau/Box
                                                Uraufführung im April 2019

lobung in                                       von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist

                                                Koproduktion mit dem

St. Domingo                                     Maxim Gorki Theater Berlin

                                                Regie Sebastian Nübling
                                                Bühne Muriel Gerstner

Auf Haiti tobt die Revolution. Nach über        In seiner Überschreibung attackiert Necati
hundert Jahren der Sklaverei brennen die        Öziri alles vermeintlich Eindeutige und lässt
Tabak- und Zuckerrohrplantagen der franzö-      alle Figuren zu ihrem Recht kommen. Sein
sischen Kolonialherren und die versklavte       Debütstück „Vorhaut“ wurde 2014 am Ball-
Bevölkerung Haitis kämpft für ihre Freiheit.    haus Naunynstraße uraufgeführt. 2014 bis
Eines Nachts klopft plötzlich ein junger        2017 war er Dramaturg am Maxim Gorki
Mann an der Haustür von Toni, der Tochter       Theater in Berlin und künstlerischer Leiter
eines der Anführer der Revolution. Gustav,      des Studio . Seit 2017 ist er Dramaturg
ein Adeliger aus der französischsprachigen      beim Theatertreffen der Berliner Festspiele
Schweiz, bittet um Schutz. Er ist auf der       und leitet das Internationale Forum.
Flucht vor den Truppen der Revolutionäre.
Die junge Toni, die Zuhause alleine mit ihrer   Sebastian Nübling arbeitet seit vielen
Mutter Babekan ist, hat für solche Fälle eine   Jahren regelmässig in Zürich und inszeniert
klare Anweisung von ihrem Vater: „Behaltet      häufig Uraufführungen zeitgenössischer
fliehende Kolonialherren solange im Haus,       Autoren wie Sibylle Berg, Händl Klaus oder
bis ich zurück bin!“ Doch Toni und Gustav       Simon Stephens. Mit „Die Verlobung in
verlieben sich in dieser Nacht. Ihre Mutter     St. Domingo“ bringt Sebastian Nübling zum
Babekan wittert den Verrat. Toni muss eine      zweiten Mal ein Stück von Necati Öziri
Entscheidung treffen, allerdings rennt die      zur Uraufführung; 2017 feierte „get deutsch
Zeit. Denn bei Morgengrauen kehrt ihr Vater     or die tryin’“ am Maxim Gorki Theater
heim von seinem Feldzug.                        in Berlin Premiere (eingeladen zum Heidel-
                                                berger Stückemarkt 2018).
In seiner kurz nach der französischen Revo-
lution erschienenen Novelle „Die Verlobung
in St. Domingo“ (1811) macht Heinrich von
Kleist klare Fronten auf: Weiss gegen
Schwarz, Gut gegen Böse, Ordnung gegen
Anarchie. Doch wie geht die Geschichte,
wenn die Guten doch nicht so gut und
die Bösen nicht so böse sind? Wenn nicht
eindeutig ist, wer Freund und wer Feind der
Werte der Aufklärung ist?

                                                                                         38                    39
                                                                                                Christian Baumbach
Justiz
                      Pfauen
                      Premiere im April 2019

                      nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt

                      Regie Frank Castorf
                      Bühne Aleksandar Denić
                      Kostüme Adriana Braga-Peretzki

                      „Dieser Bericht ist nicht nur die Begründung,   Spät wittert zwar einen Teufelspakt, die
                      sondern auch die Vorbereitung zu einem          Aussicht auf Karriere ist jedoch so reizvoll,
                      Mord. Zu einem gerechten Mord. Die Ge-          dass er zu seiner eigenen Erschütterung
                      rechtigkeit lässt sich nur noch durch ein       tatsächlich einen Revisionsprozess erwirkt,
                      Verbrechen wiederherstellen.“ Mit diesen        infolge dessen Kohler freigesprochen wird
                      Worten eröffnet der desillusionierte Anwalt     und der stattdessen Verdächtigte sich
                      Spät in stockbetrunkenem Zustand seine          erhängt.
                      Memoiren, die den Auftakt zu Dürrenmatts        Dürrenmatt entlarvt in „Justiz“ mit bitterbösem
                      Kriminalroman bilden. Zwei Jahre vorher,        Humor, wie Rachemord zur Antwort auf
                      im März 1955, ereignet sich inmitten des        ein gesellschaftliches System wird, in dem
                      Zürcher Establishments Folgendes: Der Kan-      zwar das Gesetz, Gerechtigkeit hingegen
                      tonsrat Dr. Kohler steigt aus seinem Rolls-     keine Rolle spielt. Mit einer umfassenden
                      Royce, betritt gelassen das von Politikern,     Frage endet der Roman: „Wer ist der Schul-
                      Finanzmanagern und Künstlern besuchte           dige? Jener, der die Gesetze erlässt, oder
                      Restaurant „Du Théâtre“ und erschiesst          jener, der sie bricht?“ Der Autor erweist sich
                      vor aller Augen den Germanistikprofessor        einmal mehr als gnadenloser Kritiker der
                      Winter. Kohler, der nach dem Mord vorerst       Schweiz, ironisch lässt er seinen Ich-Erzähler
                      Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in          resümieren: „Die Welt wird entweder unter-
                      der Tonhalle geniesst, lässt sich daraufhin     gehen oder verschweizern.“
                      bestens gelaunt festnehmen. Im folgenden
                      Schauprozess wird er trotz unauffindbarer       Frank Castorfs 25-jährige Intendanz an der
                      Tatwaffe und ohne Erkenntnis über sein          Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin
                      Motiv zu zwanzig Jahren Zuchthaus verur-        hat das deutschsprachige Theater im letzten
                      teilt, da kein Zweifel an seiner Tat besteht.   Vierteljahrhundert fundamental geprägt. In
                      Vom Gefängnis aus beauftragt der Multi-         Zürich hat der vielfach ausgezeichnete Regis-
                      millionär und passionierte Billardspieler       seur zuletzt „Die fremde Frau und der Mann
                      Kohler den jungen, erfolglosen Anwalt Spät,     unter dem Bett“ nach F. M. Dostojewski insze-
                      seinen Fall erneut – unter der Annahme, er      niert. Im Zuge seiner sechsten Inszenierung
                      sei nicht der Mörder gewesen – zu unter-        am Schauspielhaus wird sich Frank Castorf
                      suchen: „Sehn Sie, lieber Spät, die Wirklich-   zum ersten Mal künstlerisch mit dem Autor
                      keit kennen wir ja nun, dafür sitze ich hier    Friedrich Dürrenmatt auseinandersetzen.
                      und flechte Körbe, aber das Mögliche kennen
                      wir kaum. Das Mögliche ist beinahe un-          Unterstützt von der
                      endlich, das Wirkliche streng begrenzt. Da-     Charlotte Kerr Dürrenmatt Stiftung
                      raus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken
Carolin Conrad   40   haben, um ins Mögliche vorzustossen.“                                                     41
Die grosse
                                               Schiffbau/Halle
                                               Premiere im Mai 2019

Gereiztheit                                    Ein Projekt im Schiffbau nach
                                               Motiven des Romans „Der Zauberberg“
                                               von Thomas Mann

                                               Regie Karin Henkel
                                               Bühne Muriel Gerstner

Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs    (Martin Heidegger). Hans Castorp, Clawdia
zeichnet sich das Ende eines rätselhaften      Chauchat, Ludovico Settembrini, Doktor
Rückzugs ab, der sich Jahre zuvor ereignete:   Behrens, Frau Stöhr und die anderen – sie
Hans Castorp, die Hauptfigur in Thomas         werden von globalen Schmerzen heimge-
Manns „Der Zauberberg“, steigt zu Beginn       sucht, die sie, wie ihre wirklichen und
des tausendseitigen Romans als „des            eingebildeten Krankheiten, nicht zur Ruhe
Lebens treuherziges Sorgenkind“ in eine        kommen lassen. Daher bleibt „Der Zauber-
Eisenbahn, die ihn ins Davoser Sanatorium      berg“ bis heute „eine Sensibilitätsschulung
Berghof führt. Eine vergiftete Lunge (oder     für das Eintreten unerwarteter Ereignisse“
ein vergifteter Kopf?) machen aus dem          (Frank Schirrmacher).
geplanten dreiwöchigen Besuch eine sieben
Jahre andauernde Verzauberung. Ursprüng-       Basierend auf Motiven des Romans ent-
lich wollte Thomas Mann ein humoristi-         wickelt die Regisseurin Karin Henkel ihre
sches Gegenstück zum „Tod in Venedig“          mittlerweile vierte Produktion in der Halle.
schreiben. Er begann 1913 daran zu arbeiten,   Mit „Elektra“ (2013), „Die zehn Gebote“
in eben dem Jahr, in dem auch das zweit-       (2016) und „BEUTE FRAUEN KRIEG“ (ein-
letzte Kapitel des Romans, „Die grosse         geladen zum Berliner Theatertreffen 2018)
Gereiztheit“, spielt. Darin wird die lungen-   schuf Henkel aufsehenerregende Theater-
kranke Gesellschaft in den Schweizer Alpen     erzählungen, die Narrationen, Bühnenräume
von einer Nervosität erfasst. Meisterhaft      und Zuschauerperspektiven in ungewohnte
beschreibt Thomas Mann eine Stimmung           Spannungsverhältnisse setzten.
aus Aufgewühltheit und plötzlich hervor-
brechender Wut: „Was gab es denn?
Was lag in der Luft? Zanksucht. Kriselnde
Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine
allgemeine Neigung zu giftigem Wort-
wechsel, zum Wutausbruch, ja zum Hand-
gemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin-
und Hergeschrei (…) Man erblasste und
bebte“. Trotz Wolldecken und Liegestühlen
erfasst ein Unbehagen die Luxuswesen und
macht den der Welt Abhandengekommenen
deutlich, dass ihre Isolation eine Fiktion
ist: das Leben auf dem Zauberberg ist ein
„Dasein“, das „von seiner Umwelt gelebt
wird und nur vermeintlich selbst lebt“                                                42      Nicolas Rosat
Die Toten
                    Pfauen
                    Deutschsprachige Erstaufführung
                    im Mai 2019

                    nach der Erzählung von James Joyce

                    Regie Barbara Frey
                    Bühne Martin Zehetgruber
                    Kostüme Bettina Walter

                    „Seine Seele hatte sich jener Region ge-           Flügelsaal ein tragisches Lied singt. Gretta
                    nähert, wo die unermesslichen Heerscharen          horcht gebannt im Schatten des Treppen-
                    von Toten ihre Wohnung haben. Er war               absatzes und ihr Mann, der sie während-
                    sich ihrer unsteten und flackernden Existenz       dessen betrachtet wie ein Maler ein Bild,
                    bewusst, aber er konnte sie nicht fassen.“         erkennt, dass seine Frau ein Geheimnis mit
                    James Joyce                                        sich trägt, welches ein überwältigendes
                                                                       Begehren in ihm auslöst. Im Hotelzimmer
                    Miss Kate und Miss Julia, zwei ledige Damen        erfährt er von seiner abwesend erscheinen-
                    einer vergehenden Generation, richten zum          den Frau, dass sie zutiefst erschüttert ist
                    Jahresausklang traditionell einen nächtlichen      von einer schuldhaften Erinnerung, die das
                    Ball in Dublin aus. Draussen fällt unaufhör-       Lied in ihr wachgerufen hat. Ein Junge, mit
                    lich Schnee. Zur geladenen Gesellschaft aus        dem sie verbunden war, als sie selbst noch
                    dem irischen Mittelstand zählen Familien-          ein Mädchen war, hatte eben dieses Lied
                    angehörige, Mitglieder aus Miss Julias Chor,       häufig für sie gesungen. Schwer erkrankt
                    juvenile Klavierschüler von Miss Kate, alte        holte er sich den Tod, nachdem er Gretta im
                    Freunde der Familie, ein bekannter Opern-          Winterregen ein letztes Mal aufgesucht hat.
                    tenor der Stadt und auch Gabriel und seine         Gabriel wird zunächst von rasender Eifersucht
                    Frau Gretta. Gabriel ist der Lieblingsneffe        erfasst aufgrund der Präsenz des Toten in
                    der Gastgeberinnen und er befindet sich            Grettas Leben. Doch die Grenze zwischen
                    in nervöser Stimmung, denn er wurde als            Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird
                    Schriftsteller auserkoren, die Festrede zu         porös und der Schnee fällt ohne Unterschied
                    halten: „Gabriels warme zitternde Finger           auf die Lebenden wie auf die Toten.
                    pochten gegen die kalte Fensterscheibe. Wie
                    kühl musste es draussen sein. Wie angenehm         James Joyce schrieb „The Dead“ 1907 im
                    wäre es, allein hinauszugehen, erst den Fluss      Alter von 25 Jahren; die metaphysische
                    entlang und dann durch den Park! Schnee            Erzählung bildet den Schwerpunkt seines
                    läge auf den Zweigen und bildete eine helle        Prosawerks „Dubliner“. „Die Toten“ enthält
                    Kappe oben auf dem Wellington-Denkmal.             autobiografische Bezüge und steht thema-
                    Wie viel angenehmer wäre es dort als an der        tisch in Beziehung zu seinen späteren
                    Abendtafel!“ Das gesellschaftliche, künstle-       bedeutenden Romanen „Ulysses“ und
                    rische Ereignis von Rang ist eine gut insze-       „Finnegans Wake“. Der irische Autor, der
                    nierte, sich bereits im Verfall befindende Illu-   zu den wichtigsten Vertretern der literari-
                    sion, die Gabriel wie ein Fremder wahrnimmt.       schen Moderne zählt, wurde 1941 in Zürich
                    Im Morgengrauen wollen die letzten Gäste           begraben.
                    das Fest verlassen, als die heisere Stimme
Benito Bause   44   des Tenors erklingt, der zurückgelassen im                                                  45
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