2018/19 Schauspielhaus Zürich - Schauspielhaus Zürich
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2018/19 Schauspielhaus Zürich ≈ Schauspielhaus Zürich Saison 2018/19 Ensemble 2018/19 Katrija Lehmann* Michael Maertens Christian Baumbach Miriam Maertens Benito Bause Lisa-Katrina Mayer Ludwig Boettger Isabelle Menke Gottfried Breitfuss Michael Neuenschwander Klaus Brömmelmeier Matthias Neukirch Jan Bülow Elisa Plüss Inga Busch Nicolas Rosat Carolin Conrad Markus Scheumann Fritz Fenne Lena Schwarz Vera Flück Edmund Telgenkämper Dominic Hartmann* Marie Rosa Tietjen Robert Hunger-Bühler Friederike Wagner Henrike Johanna Jörissen Susanne-Marie Wrage Claudius Körber Jirka Zett Hans Kremer Julia Kreusch * Mitglied des Schauspielstudios
8 Programm 2018/19 13 Premieren 58 Gastspiele 62 Wiederaufnahmen 65 Extra 73 Junges Schauspielhaus 78 Wiederaufnahmen/Extra 81 Theater & Schule 85 Mehr als Zuschauen 93 Karten/Preise/Angebote 99 Abonnements 105 Service 109 MitarbeiterInnen 116 Förderer, Paten, Freunde 117 Dank 119 Kontakt
Liebes Publikum berstenden Köpfe, der explodierenden Gedanken und bohrenden Zweifel. Die Götter Ein junger Mann verliert seinen Vater und haben sich verzogen, das Individuum muss trauert über dessen Tod, herbeigeführt den Lebenssinn selbst stiften, sich reiben durch einen Schlangenbiss, wie allgemein und abarbeiten an den politischen, ökonomi- erzählt wird. Dann erscheint ihm des Nachts schen und gesellschaftlichen Verhältnissen sein Vater, der frühere König von Dänemark, und das unaufhörliche Hämmern der Gedan- als Geist und erzählt ihm, er sei in Wahrheit ken, der guten, wie der bösen, aushalten, von seinem Bruder, dem jetzigen König, das unter der Schädeldecke pocht. im Schlaf vergiftet worden. Zwei Forderungen Georg Büchner, der Frühvollendete, gibt der Geist des Toten seinem Sohn mit der Revolutionär, aber auch der zarteste auf den Weg: er möge den hinterhältigen Dichterkopf seiner Zeit, porträtierte den Mord rächen und sich an seinen Vater Stürmer und Dränger Jakob Michael erinnern. Reinhold Lenz und gleich in den ersten Die Begegnung Hamlets mit seinem er- Zeilen seines Fragment gebliebenen Textes mordeten Vater ist die berühmteste Geister- steht ein seltsamer, unerhörter Satz. Lenz stunde des Theaters und durch Hamlets wandert durch eine nasskalte Gebirgsland- Kopf schiesst fortan ein gewaltiger Ge- schaft: „Müdigkeit spürte er keine, nur war dankenstrom aus Wut, Zweifeln, Skrupeln, es ihm manchmal unangenehm, dass er Melancholie, wilder Entschlossenheit und nicht auf dem Kopf gehen konnte.“ Der Satz Todessehnsucht. Und der Strom fliesst hat einen lakonischen Tonfall – trotzdem weiter, quer durch die Jahrhunderte, durch blitzt der entscheidende und schockierende die Köpfe unzähliger weiterer Dramen- Gedanke kurz auf: die Welt steht auf dem und Romanfiguren. Hamlet hat sie alle Kopf, sie ist umgekippt. Das macht das angesteckt. Gehen beschwerlich und so müsste man „Hamlet ist ein Drama der aufgezwungenen zwischendurch, um wenigstens für Momente Situationen“, schrieb Jan Kott und drückte wieder die eigene Perspektive zu gewinnen, damit die schlichte Bühnenwahrheit aus: auf dem Kopf wandeln können. Das aber nur der Widerstand macht das Drama; geht nicht und so bleibt nur ein permanentes die Zwänge ermöglichen den freien Willen Gegen-die-Welt-Andenken. des denkenden Subjekts. Das kann auch hin und wieder zu einer Die Theatergeschichte der Neuzeit, seit radikalen Befreiung führen. In Ibsens Shakespeare, ist auch eine Geschichte der „Nora“ sagt die Titelheldin kurz vor ihrem 3
endgültigen Abgang aus der verlogenen schaft mit der bemerkenswerten Frage, ganz unschuldig, ihre Skepsis gegenüber Erkenntnis zu tun haben und schon gar nichts Familienidylle zu ihrem Mann, der nicht ob der Teufel nicht eine Fiktion Gottes sei, seiner Annahme, es gäbe so etwas wie mit Erfahrung. Die „schnellen Lösungen“, glauben will, dass es mit der Liebe vorbei „um seine missratene Schöpfung zu recht- ein vollkommen aufgeklärtes, bewusstes auf die man in allen Lebensbereichen pocht, ist: „Oh, es tut mir ja so leid, Torvald, fertigen?“ In Mary Shelleys „Frankenstein“ Denken, das zu ausschliesslich vernünftigen sind Ausdruck eines tiefen Misstrauens wirklich; denn du warst immer so nett zu ist es schwer auszumachen, ob wir es mit Lösungen führe. Eduard wird sich später gegen das Leben selbst. mir.“ Natürlich vernichtet diese monströs einem schöpferischen Monstrum oder der jungen Ottilie zuwenden, Charlotte dem Das Theater ist eine Kunst der Entschleu- distanzierte Äusserung sämtliche gelebten einem monströsen Schöpfer zu tun haben. Hauptmann Otto; man wird sich nach nigung. Das hat nichts mit forcierter Lang- Ehejahre und die Szene kippt für einen Das Werk, in der Tradition der Gothic Novel Kräften um eine glückliche Situation für alle samkeit zu tun, sondern damit, dass man Moment gar ins Komische. Liebe hat nie verfasst, ist eher Science Fiction: es geht vier bemühen. Aber die Geschichte endet gemeinsam einen Weg gehen und eine existiert. Man war lediglich „nett“ zueinander. weder um das Entfesseln teuflischer Kräfte nicht nur traurig, sie endet tödlich. Alles Erfahrung machen kann. Und sei es jene, „Zu denken heisst das Ziel verfehlen, heisst, noch um die Beschwörung von Geistern, Denken, Verhandeln und Hoffen führt nicht für Momente darüber nachzudenken, wie danebenliegen“, schreibt George Steiner sondern um ein wissenschaftliches Ex- zu praktikablen Lebensentwürfen, obwohl es wäre, auf dem Kopf zu wandeln. und für die Noras dieser Welt bedeutet dies: periment und den Zusammenhang von alle die besten Absichten hatten. Man kann am Ende lieber eine Ausgestossene sein, Forschung und Verantwortung. Die Frau Gärten pflegen und Landschaften gestalten, Ich freue mich auf meine letzte Spielzeit als sich dem Denken zu verweigern und den wird kurzerhand aus dem Schöpfungsakt wie die Schicksalsgemeinschaft es in den am Schauspielhaus Zürich und ich freue bürgerlichen Konventionen zu ergeben. verbannt; neues Leben entsteht, sozusagen „Wahlverwandtschaften“ unablässig tut, mich auf Sie! In Dürrenmatts labyrinthischem Krimi als Kopfgeburt, in einer rein männlichen aber alles Zurechtstutzen, Domestizieren „Justiz“ muss der mittellose Anwalt Spät Sphäre. Frankensteins neugeschaffene und Dekorieren der Natur führt nicht dazu, Ihre Barbara Frey neu nachdenken über Gut und Böse, denn Kreatur ist gleichermassen gefühlsbetont die Nachtseite der menschlichen Vernunft er bekommt vom verurteilten und inhaftier- wie vernunftbegabt – und zeigt sich so zu bändigen. ten Mörder Kohler den merkwürdigen gewaltbereit wie der Mensch. Shelleys Der Denkkraft des Menschen sind scheinbar Auftrag, den schon abgeschlossenen Fall Entwurf eines wissenschaftlichen Projekts, keine Grenzen gesetzt, was so faszinierend neu zu untersuchen unter der Annahme, er, das ausser Kontrolle gerät, weist voraus in wie verheerend ist. Rührt die seelische Kohler, sei nicht der Mörder: „Das Wirkliche unsere Zeit: mit der enormen Geschwindig- und geistige Erschöpfung, die wir im Zeit- ist nur ein Sonderfall des Möglichen und keit der Erforschung und Erschaffung alter der Digitalisierung bisweilen empfinden, deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, „Künstlicher Intelligenz“ vermögen ethische, von der kaum mehr zu bewältigenden Ge- dass wir das Wirkliche umzudenken haben, moralische und ökonomische Fragestellungen schwindigkeit her, in der zu denken und zu um ins Mögliche vorzustossen“, erklärt heutzutage kaum mehr Schritt zu halten. handeln wir uns selbst auferlegt haben? Kohler dem erstaunten Anwalt, der irgend- „Das Bewusstsein (...) ist keine hinlängliche Hat der Umstand, dass heutzutage Welt- wann, viel später, an diesem Auftrag Waffe, ja manchmal eine gefährliche, für politik auch per Twitter gestaltet werden zugrunde gehen wird. Am Ende des ver- den, der sie führt“, sagt Charlotte ganz zu kann, noch etwas zu tun mit Denken? Mit worrenen, beunruhigenden Plots wendet Beginn von Goethes „Wahlverwandtschaften“ Menschenwürde? Das vielbeschworene sich der Dichter persönlich an die Leser- zu ihrem Mann Eduard und offenbart dabei, „resultatorientierte Denken“ muss nichts mit 4 5
Programm 2018/19
Pfauen Schiffbau/ Pfauen/ 15 Hamlet 37 Totart Tatort Box Kammer von William Shakespeare von Herbert Fritsch 16 49 Regie Barbara Frey Premiere am 13. September 2018 Regie Herbert Fritsch Uraufführung im Februar 2019 Lenz Eine Version nach der Erzählung von Georg Büchner der Geschichte 19 41 Regie Werner Düggelin von Simone Kucher Premiere am 15. September 2018 Die Justiz Regie Marco Milling Uraufführung am Deutschen Theater Berlin Wahlverwandtschaften nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt 25 am 22. Juni 2018 nach dem Roman von Regie Frank Castorf Premiere im April 2019 Nora oder Zürcher Premiere im Oktober 2018 Johann Wolfgang von Goethe Regie Felicitas Brucker Ein Puppenhaus 50 45 von Henrik Ibsen Premiere am 29. September 2018 Die Toten Regie Timofej Kuljabin Versetzung 20 Premiere am 16. November 2018 von Thomas Melle nach der Erzählung von James Joyce Regie Clara Isabelle Dobbertin Endstation Sehnsucht Regie Barbara Frey 32 Premiere im Januar 2019 Premiere im Mai 2019 von Tennessee Williams Regie Bastian Kraft Man bittet um 53 Premiere am 20. Oktober 2018 schonendes Anhalten Die zweite Frau Eine musiktheatralische Schiffbau/ 23 von Nino Haratischwili Zusammenkunft von Ruedi Häusermann Regie Maximilian Enderle Der satanarchäolü- Regie Ruedi Häusermann Schweizer Erstaufführung im März 2019 Halle Uraufführung im Januar 2019 genialkohöllische 55 Wunschpunsch 38 von Michael Ende Die Verlobung in Der Reisende 26 St. Domingo Regie Christina Rast nach dem Roman von Premiere am 10. November 2018 44 Harmonies from von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist Ulrich Alexander Boschwitz Regie Manon Pfrunder 29 Apartment House 1776 Koproduktion mit dem Uraufführung im Mai 2019 von Christoph Marthaler und Ensemble Maxim Gorki Theater Berlin Ich weiss nicht, was ein Regie Christoph Marthaler Regie Sebastian Nübling Ort ist, ich kenne nur Premiere am 6. Dezember 2018 Uraufführung im April 2019 seinen Preis (Manzini-Studien) 42 von René Pollesch Regie René Pollesch Die grosse Gereiztheit n - Uraufführung am 14. Dezember 2018 Ein Projekt im Schiffbau nach Motiven des Romans S a i s o st s f e „Der Zauberberg“ von Thomas Mann g 30 Frankenstein oder Regie Karin Henkel ö f f n u n er Premiere im Mai 2019 Der moderne Prometheus f a u e n ! im P r nach dem Roman von Mary Shelley Regie Stefan Pucher p t e m b e . S e Premiere am 10. Januar 2019 8 23 9 2018
Gastspiele Junges 58 Die Welt im Rücken Schauspiel- nach dem Roman von Thomas Melle Produktion des Burgtheaters Wien haus Regie Jan Bosse November 2018 75 Casa 18 59 Regie Enrico Beeler Unendlicher Spass 1. bis 24. Dezember 2018 von David Foster Wallace Produktion von Thorsten Lensing 76 Regie Thorsten Lensing Apropos … 12. /13. Januar 2019 Junges Literaturlabor trifft Junges Schauspielhaus 59 Drei Schwestern Teil 1 Tanzhaus Zürich Choreografie Buz von Anton Tschechow Premiere im Januar 2019 Produktion des Teatr Krasnyi Fackel, Nowosibirsk Teil 2 Schiffbau/Matchbox Regie Timofej Kuljabin Regie Enrico Beeler 7./8. März 2019 Premiere im Februar 2019 Teil 3 Externer Spielort Regie Daniel Kuschewski Premiere im Mai 2019 Extra 67 Fluchtpunkt Schweiz Exilliteratur in der Kammer Mit Beatrice von Matt, Ursula Amrein, Elisabeth Bronfen und Eveline Hasler 68 Zürcher Gespräche Dialoge über Gesellschaft, Philosophie und Politik von und mit Lukas Bärfuss, Miriam Meckel, Stefan Zweifel und Gästen 71 Meet Your Enemy at the Social Muscle Club Konzept Benedikt Wyss und Social Muscle Club Koproduktion mit ZH-REFORMATION.CH 5./6. Oktober 2018 10 Markus Scheumann
Premieren 12 13
Hamlet Pfauen Premiere am 13. September 2018 von William Shakespeare Regie Barbara Frey Bühne Bettina Meyer Kostüme Esther Geremus Musik Iñigo Giner Miranda Ein Land im empfindlichen Alarmzustand – für ihn ist, und schickt den „Verrückten“ „etwas ist faul im Staate Dänemark“ – umgehend nach England, um seine Hinrich- Fremdherrschaft droht dem auf Gewalt ge- tung einzufädeln. Ophelia zerbricht am herr- gründeten, maroden Staat: Claudius hat schenden Irrsinn, Hamlet kann seine Hin- seinen Bruder, König Hamlet, im Schlaf er- richtung abwenden und kehrt rachehungrig mordet, um dessen Thron und Gemahlin zu zurück nach Dänemark. Der bis dahin übernehmen. Doch der Geist des ermorde- nahezu handlungsunfähige, sensibel an ten Kriegers ruht nicht, er erscheint seinem der Maskerade der Gegenwart Zweifelnde Sohn, enthüllt dem rechtmässigen Thron- zeigt sich nun als entschlossener Täter. Auf folger das intrigante Verbrechen und fordert einem Fest im Thronsaal nimmt das Rache- ihn zur Rache auf. Prinz Hamlet, hellwach gemetzel einen unvorhergesehenen Lauf. in seinem Wahrnehmungsvermögen, gelobt Hamlets Figur bleibt bis zuletzt widersprüch- Vergeltung für seinen geliebten Vater. Um lich; seine existenziellen Fragen zu Identität die Wahrheit ans Licht zu bringen, setzt er und Spiel, Wahrheit und Maskerade bleiben die Maske des Verwirrten auf und vertraut in einer Zeit, die „aus den Fugen“ ist, unge- auf die Kraft der Imagination: vor den Augen löst: „Will und Geschick sind stets im Streit seiner Mutter und seinem Stiefvater lässt befangen. Was wir ersinnen, ist des Zufalls er ein Stück aufführen, in dem ein König Spiel, nur der Gedank ist unser, nicht das ermordet wird und der Mörder die Königin Ziel.“ Die Tragödie des Prinzen Hamlet ist heiratet. Tatsächlich offenbart König Claudius’ ein theaterbesessenes Stück. Die Ursprünge Reaktion sogleich seine Schuld, doch ver- des berühmtesten und umfangreichsten mag ihn Hamlet nicht zu töten. Hamlet spürt, Stücks Shakespeares sind dunkel, das Phä- dass das „Geschwür“ dieser dem Untergang nomen der vom Stück losgelösten Gestalt geweihten Gesellschaft tiefer in der Ver- „Hamlet“ einzigartig. gangenheit liegt und komplexer ist. Doch der Boden unter den Füssen des wahrheits- Barbara Frey, die zum sechsten Mal suchenden Prinzen schwindet, seine Jugend- Shakespeare inszeniert, wird in „Hamlet“ freunde Rosenkranz und Güldenstern ent- der Präsenz des Abwesenden nachgehen, puppen sich als Spitzel des Königsmörders, welche gleich zu Beginn des Stücks mit der selbst seine Geliebte Ophelia scheint Teil beunruhigend faszinierenden Erscheinung eines Komplotts gegen ihn zu sein. Wahn des Untoten König Hamlet alles Folgende mutiert zu Wirklichkeit, Hamlet tötet, in der auslöst. Annahme, es handle sich um König Claudius, schliesslich den Falschen: Polonius, Ophelias Unterstützt von Swiss Re Vater. König Claudius jedoch durchschaut, Matthias Neukirch 14 wie gefährlich der fantasiebegabte Hamlet 15
Lenz Schiffbau/Box Premiere am 15. September 2018 nach der Erzählung von Georg Büchner Regie Werner Düggelin Bühne Raimund Bauer Kostüme Sabrina Bosshard „ Jetzt ist es mir so eng, so eng, sehn Sie, nach Strassburg bringen musste. Büchner es ist mir manchmal, als stiess’ ich mit den selbst hat die moderne Erzählung von einem Händen an den Himmel …“ Georg Büchner in sich zerfallenden Menschen auf der Flucht geschrieben. Nachdem die Hoffnung auf Georg Büchners Erzählung beginnt mit der eine Revolution in Deutschland zerschlagen Wanderung eines jungen Mannes durchs war, floh Büchner am 9. März 1835 nach Gebirge. Die Natur empfindet er als ab- Strassburg, am 13. Juni wurde der Steck- weisend und unwirklich. Die karge Gebirgs- brief gegen ihn herausgegeben: Gesucht landschaft spiegelt sein Innenleben, seinen wurde wegen seiner „Teilnahme an staats- inneren Zustand wider. Der Nebel, die Kälte verräterischen Handlungen“ ein 21-jähriger und Nässe greifen ihn an. Raum und Zeit Student der Medizin, blond und mit „sehr beginnen sich aufzulösen zwischen Traum gewölbter Stirn“. Grund war die Abfassung und Wachen. Eine grosse Angst besetzt eines Flugblatts, das zum gewaltsamen Auf- ihn, der Wahnsinn ist ihm dicht auf den stand in Hessen aufrief, und Georg Büchners Fersen. Endlich erreicht er das Dorf, wo ihn Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung der Pfarrer Oberlin und seine Familie herzlich namens „Gesellschaft für Menschenrechte“. empfangen. Für kurze Zeit kann er Ruhe finden und beginnt von seinem Zuhause zu Werner Düggelin war einer der ersten erzählen. Doch später allein in seinem Theatermacher, der den Stücken von Zimmer kehren die Angst und auch der Wahn Samuel Beckett, Albert Camus oder Eugène zurück. Immer wieder gelingt es dem Pfarrer, Ionesco im deutschsprachigen Raum zu den Aufgewühlten und Getriebenen durch Bekanntheit verhalf. Von 1968 bis 1975 war Gespräche zu beruhigen. Aber sobald er mit er Künstlerischer Direktor des Theater Basel, sich allein ist, verfinstert sich sein Gemüt, seitdem arbeitet er als freier Regisseur. Mit Verlorenheit und Leere machen sich breit, dem Schauspielhaus Zürich verbindet ihn eine fremde Macht ergreift ihn. Der Riss eine lange Geschichte, „Lenz“ ist seine durch die Welt lässt sich nicht aufhalten. mittlerweile 55. Inszenierung am Hause. Zu- Die posthum erschienene und als Fragment letzt waren von ihm „Glückliche Tage“ von erhaltene Erzählung „Lenz“ geht auf einen Samuel Beckett und „Texte von Jacques Brel“ Bericht des Sozialreformers und Pfarrers im Schiffbau zu sehen. Johann Friedrich Oberlin zurück, bei dem der Sturm-und-Drang-Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz vom 20. Januar bis 8. Februar 1778 gewohnt hatte, bis der Pfarrer ihn schliesslich aufgrund der Ver- schlechterung seines psychischen Zustands 16 Lena Schwarz
Die Wahl- Pfauen Premiere am 29. September 2018 nach dem Roman von Johann Wolfgang von Goethe verwandt- Regie Felicitas Brucker Bühne Viva Schudt schaften Kostüme Sara Schwartz Musik Marcel Blatti Goethe empfand sich selbst als Naturwissen- Menschen. Das Ehepaar Eduard und schaftler bedeutender denn als Dichter. Charlotte, beide in zweiter Ehe miteinander Er beschäftigte sich mit der Farbenlehre, verheiratet, lädt zwei Gäste ein. Auf der schliesslich sogar mit der Wolkenkunde. Suche nach freundschaftlicher Ergänzung Die Erkenntnis der Natur verhelfe dem und Geselligkeit soll der beherrschte, ent- Menschen zur Erkenntnis der eigenen natür- schlossen handelnde Hauptmann dem eher lichen Anlagen. Lebenslang dauere diese lustbetonten, schnell gelangweilten Eduard Arbeit, durch wissenschaftliches und künst- Gesellschaft leisten. Die verträumte, sensible lerisches Handwerk seine sinnlichen und Ottilie darf sich mit der tatkräftigen Charlotte geistigen Organe zu schulen. Wäre das nicht amüsieren. Doch es kommt ganz anders. auch zweihundert Jahre später eine schöne Eduard verliebt sich hemmungslos in Ottilie Vorstellung vom Menschsein? Teil einer und der Hauptmann und Charlotte kommen natürlichen Ordnung zu sein, seinen Ge- sich ebenfalls nah. In einer letzten Liebes- fühlen nicht entfremdet, verbunden mit- nacht zeugt das Ehepaar Charlotte und einander und mit allen Lebensformen der Eduard einen Sohn, beide denken sich aber Umgebung? jeweils in die Arme ihrer Geliebten. Ein ver- Doch Goethe schaut ebenso leidenschaftlich nünftiges Arrangement wird gesucht: Wer soll in den Abgrund: In seinem rätselhaften, 1809 zusammenleben, wer zieht das Kind gross? veröffentlichten Roman „Die Wahlverwandt- Obwohl alle Beteiligten offen ihre Argumente schaften“ wendet er ein chemisches Ex- tauschen und vorgeben, entscheidungsfähig periment der damaligen Zeit auf menschliche zu sein, kommt es zur tödlichen Katastrophe. Beziehungen an: Was geschieht, wenn be- Nur eines der Paare überlebt. stimmte Stoffe eine so starke Affinität zu- einander aufweisen, dass sie eine neue Die Regisseurin Felicitas Brucker, die u.a. Verbindung eingehen müssen? Gibt es Selbst- am Theater Basel, am Theater Freiburg und bestimmung und individuelle Freiheit oder am Schauspielhaus Wien gearbeitet hat, folgen wir Menschen einer höheren Natur- interessiert sich für vielschichtige Psycho- gewalt, die starke Zweifel an unserer emp- gramme von Figuren, die immer auch ein fundenen Autonomie aufkommen lassen? Spiegel von gesellschaftlichen Zuständen Vier Personen sind Teil seines Versuchs, sind. Mit dieser ersten Inszenierung am einer Art Katastrophe in Zeitlupe, der die Schauspielhaus Zürich stellt sie sich dem immer wieder gesuchte Ordnung von (Liebes-) hiesigen Publikum vor. Beziehungen wild durcheinanderwirbelt. Am Ende sterben in diesem Konflikt zwischen Unterstützt von der Hans Imholz Stiftung Natur und Kultur, zwischen Harmonie und Jirka Zett Anarchie, zwischen Freiheit und Zwang drei 19
Endstation Pfauen Premiere am 20. Oktober 2018 Sehnsucht von Tennessee Williams Regie Bastian Kraft Bühne Peter Baur Kostüme Sabin Fleck Musik Arthur Fussy Video Jonas Link „Das Stück erzählt vom Untergang einer hat sie eingeholt, sie schreitet der End- Gesellschaft. Blanche und Stella sind die station ihrer Sehnsucht entgegen. letzten Überlebenden einer Dynastie und Im Originaltitel „A Streetcar Named Desire“ müssen einsehen, dass sich die Welt um deutet das englische Wort „desire“, das sie herum verändert hat. Der Glanz ihrer ausser Sehnsucht auch Begierde heissen Herkunft zählt in der neuen Realität nicht kann, auf den zentralen Gegensatz des mehr. Stanley ist Blanche an Lebenstüchtig- Stücks: auf der einen Seite die zarte, über- keit haushoch überlegen. Mich interessieren kultivierte Blanche DuBois – die traditions- die Parallelen zwischen Blanches Lebens- bewusste, leicht affektierte Englischlehrerin, lage und dem angeschlagenen Selbst- der aber die realen Verhältnisse völlig ent- bewusstsein Europas. Beide müssen gleiten, auf der anderen Seite der grob- schmerzlich erfahren, dass sich die Welt schlächtige, aber zupackende Stanley immer weniger um sie schert, sie quasi Kowalski, Sohn aus Arbeiterverhältnissen, überholt und zu anachronistischen Figuren der in der gnadenlosen Wettbewerbsgesell- macht.“ Bastian Kraft schaft des 20. Jahrhunderts erfolgreich seinen Weg macht. Die blanke Wahrheit scheut Blanche ebenso Der Dramatiker Tennessee Williams, 1911 in wie grelles Licht, das der zarten, alternden Mississippi geboren, schrieb das Stück Schönheit die Falten ins Gesicht wirft: „Und unter dem Eindruck einer neu aufsteigenden mach das Licht aus. Ich lass mich nicht Arbeiterklasse, die dem verfallenden Süd- ansehen in diesem unbarmherzig grellen staatenadel den Rang ablief. Das kultur- Licht!“ Trotz Schwindeleien muss sie ihrer kritische Stück, das 1949 am Schauspielhaus Schwester kurz nach der Ankunft bei ihr Zürich seine deutschsprachige Erstaufführung gestehen, dass das Familienanwesen „Belle erlebte, war einer der grössten Erfolge des Rêve“ unter ihrer Hand „verloren ging“. Autors. Stellas Ehemann Stanley deckt auf, dass Blanche ausserdem auch ihre Anstellung „Endstation Sehnsucht“ ist die mittlerweile verloren hat. Daraufhin lebte sie in schäbigen siebte Inszenierung des Regisseurs Bastian Hotels und betäubte ihren Schmerz mit Kraft am Schauspielhaus Zürich. Zuletzt Männergeschichten und Alkohol. Stanley waren von ihm im Pfauen „Homo faber“ will wissen, was dabei aus Stellas Erbteil und „Buddenbrooks“ zu sehen. geworden ist. Eine beginnende Affäre zu Stanleys Freund Mitch lässt Hoffnung Unterstützt von der Zürcher Kantonalbank aufglimmen. Doch als er von Blanches Verhältnissen erfährt, beendet Mitch die Beziehung abrupt. Blanches Vergangenheit 20 21 Friederike Wagner
Der satan- Pfauen Premiere am 10. November 2018 von Michael Ende Familienstück ab 6 Jahren archäolü- Regie Christina Rast Bühne und Kostüme Franziska Rast genial- kohöllische Wunsch- punsch Es ist Silvesterabend und im wahrsten zu sein, bis er durch das Verspeisen eines Sinne des Wortes schlägt es gleich zwölf Fischs aus einem vergifteten Fluss seine für die beiden Bösewichte Prof. Dr. Beelze- Stimme verlor. Beide Tiere kommen bub Irrwitzer und seine Tante, die Geldhexe Tyrannja und Beelzebub auf die Schliche Tyrannja Vamperl. Sie haben es versäumt, und behindern ihre teuflischen Pläne. Doch ihren Vertrag mit dem Minister der Äus- Tyrannja hat noch einen grandiosen Einfall. sersten Finsternis zu erfüllen. Ihr Soll an Sie findet das Rezept für den satanarchäo- bösen Taten ist für dieses Jahr nicht erfüllt. lügenialkohöllischen Wunschpunsch, der Der Gerichtsvollzieher Maledictus Made all ihre Probleme vor Mitternacht lösen steht bereits im Haus und droht mit der soll. Maurizio und Jakob müssen handeln. Pfändung. Der Vertrag mit den Mächten der Vielleicht lassen sich die totale Zerstörung Finsternis gibt dem Zauberer und der Hexe der Natur durch den Zauberer und der zwar besondere Macht über Mensch und Ausverkauf der Welt durch die Geldhexe Natur, besagt aber auch, dass sie sich doch noch abwenden. Ein Wettlauf gegen verpflichten, jedes Jahr mehrere Tierarten die Zeit beginnt. auszurotten, fünf Flüsse zu vergiften, min- „Der satanarchäolügenialkohöllische destens zehntausend Bäume zum Absterben Wunschpunsch“ ist eines der letzten grossen zu bringen und so weiter und so fort. Werke des Autors Michael Ende, der so Beelzebub hat an der Universität von Stinkfurt bekannte Kinderbuchklassiker wie „Die Höhere Diabolik studiert und Tyrannja ist unendliche Geschichte“ oder „Jim Knopf Präsidentin der Internationalen Bosnickel- und Lukas, der Lokomotivführer“ schuf. Es Aktien-Gesellschaft, trotzdem finden sie handelt sich gleichzeitig um seinen vielleicht keine Lösung für ihre scheinbar verhexte dramatischsten und komödiantischsten Lage. „Beim sauren Regen!“ Es bleiben nur Stoff, mit schrillen Charakteren und einem wenige Stunden bis Mitternacht. Gäbe es rasanten Plot. doch nur irgendein Zaubermittel, um die Zeit anzuhalten und den Rückstand an Christina Rast inszenierte u. a. am schlimmen Taten doch noch aufzuholen. Residenztheater München und am Thalia Hinzu kommt, dass der Hohe Rat der Tiere Theater Hamburg sowie immer wieder durch die Zerstörung der Natur und das am Schauspielhaus Zürich, wo zuletzt von Sterben der Arten seit längerem Verdacht ihr „Das doppelte Lottchen“ zu sehen war. geschöpft und zwei Spione zur Aufklärung entsandt hat: den klugen Raben Jakob Krakel und den kleinen Kater mit Namen Maurizio di Mauro, der behauptet, vor 22 Michael Maertens seiner Tätigkeit als Spion Sänger gewesen 23
Nora oder Schiffbau/Box Premiere am 16. November 2018 von Henrik Ibsen Regie Timofej Kuljabin Ein Puppen- Bühne und Kostüme Oleg Golovko haus Mit seiner Beförderung zum Bankdirektor feministische Proklamation dargestellt. scheint Noras Mann, Torvald Helmer, auf Das Stück erzählt auch von der Befreiung dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen des Individuums gegenüber gesellschaft- zu sein. Wie viel Nora dazu beigetragen lichen Zuschreibungen, von Lebenslügen, hat, weiss er nicht. Am Anfang ihrer Ehe Schuld und Abhängigkeiten in Beziehungen wurde er schwer krank und sie trieb, hoch- sowie von der ethischen Verantwortung schwanger, heimlich Geld für seine Kur jedes Einzelnen. auf. Nicht kreditwürdig als Frau, fälschte sie den Schuldschein mit der Unterschrift ihres Der Regisseur Timofej Kuljabin, einer der soeben verstorbenen Vaters. Während sie talentiertesten Vertreter einer jungen Gene- die Schulden mittlerweile nahezu abgetragen ration russischer Theatermacher, wählt hat, wiegt die juristische Schuld der Ur- für seinen Regiezugriff häufig Texte aus dem kundenfälschung noch schwer – besonders klassischen Repertoire, um auf diese einen in den Händen der falschen Person. Der neuen Blick zu eröffnen. Bekannt wurde er Rechtsanwalt Krogstad, der ihr das Geld u.a. mit der Inszenierung von Tschechows einst lieh, ist nun selbst in Not und erpresst „Drei Schwestern“, welche er konsequent sie. Als Torvald die Wahrheit erfährt, erkennt in russischer Gebärdensprache spielen liess. er in seiner Frau nicht die kämpferische Er stellte mit der gefeierten Aufführung die Partnerin, sondern sieht einzig seine Karriere Frage, welche Rolle das gesprochene Wort und männliche Ehre gefährdet. Wutentbrannt noch einnimmt, und zeigte brillant, wie wendet er sich von der „Verbrecherin“ ab. jenseits dessen Kommunikation stattfindet. Das Blatt scheint sich noch zu wenden, als In der Inszenierung „Nora oder Ein Puppen- Krogstad Nora das Beweismittel, den Schuld- haus“ werden die Figuren fast ausschliesslich schein, unverhofft aushändigt. Als Torvald das digitale Wort verwenden, per Handy, deshalb im Handumdrehen wieder zur Tages- Tablet und Computer, ganz so wie es unse- ordnung der Familienidylle zurückkehren rem gegenwärtigen Alltag der polyphonen will, trifft Nora eine radikale Entscheidung, Kommunikation entspricht. Timofej Kuljabin denn die Verstellung in ihrer Ehe kann inszeniert erstmals am Schauspielhaus sie nicht mehr leben. Sie verlässt nicht nur Zürich, im März werden hier auch seine ihren Mann, sondern auch ihre Kinder. „Drei Schwestern“ als Gastspiel zu sehen Ibsen bearbeitet mit der sogenannten sein (S. 59). „Frauenfrage“ ein brennendes gesellschaft- liches Thema im Norwegen des 19. Jahr- hunderts und bis heute wird der Ausbruch Noras aus der Puppenhauswelt ihrer Ehe – Robert Hunger-Bühler 24 „Dies ist eine Abrechnung, Torvald!“ – als 25
44 Schiffbau/Halle Premiere am 6. Dezember 2018 Harmonies von Christoph Marthaler und Ensemble Regie Christoph Marthaler from Bühne und Kostüme Anna Viebrock Apartment House 1776 Der Titel von Christoph Marthalers und Anna Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler Viebrocks erster Inszenierung in der Halle begann seine Theaterlaufbahn als Musiker seit über zehn Jahren klingt ein wenig rätsel- und kreierte in den späten 1980er Jahren haft? Ja und Nein. Denn erste Knoten könnten kritisch-ironische Liederabende und Perfor- sich lösen, wenn sich herumspricht, dass mances im öffentlichen Raum. Erste inter- der Titel gar nicht von Marthaler, sondern nationale Aufmerksamkeit für seine neu- von John Cage erfunden wurde. Und das artige Theatersprache erregte Marthaler, bereits 1976. Cage wählte diese Überschrift als er 1993 an der Volksbühne am Rosa- für eine Komposition, die von der Gleich- Luxemburg-Platz in Berlin „Murx den Euro- zeitigkeit sehr verschiedener musikalischer päer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx Räume handelt sowie von heftigen Auf- ihn ab! Ein patriotischer Abend“ inszenierte. lösungserscheinungen hinsichtlich der Wahr- Seitdem zeigt Marthaler seine Arbeiten an nehmung von Raum und Zeit. Dies beden- zahlreichen grossen Theatern im deutsch- kend erschliesst sich die grosse Vorfreude, und französischsprachigen Raum und mit der Marthaler und seine Ensemble- inszenierte überdies zahlreiche Opern in mitglieder dem Betreten der frei schweben- Salzburg, Paris, Frankfurt, Hamburg und den Klanglandschaften des amerikanischen Madrid. 2018 erhielt er mit dem Internatio- Komponisten entgegensehen. Inklusive einer nalen Ibsen-Preis einen der weltweit be- eigensinnigen Fortführung all derjenigen deutendsten Theaterpreise. Von 2000 bis Forschungen über den Zusammenhang 2004 war Christoph Marthaler Intendant von Zufall, Alltag und Erleben, denen des Schauspielhauses Zürich, an das er in Cage sein gesamtes Denken und Handeln der vergangenen Saison mit der Inszenierung widmete. Letzteres übrigens nicht allein „Mir nämeds uf öis“ nach längerer Abwesen- auf dem Feld der Musik. Denn Cage wirkte heit zurückgekehrt ist. auch als Schriftsteller. Und als Pilzexperte. Angesichts dieser Bandbreite an Kompe- tenzen lässt sich dann auch nicht ganz ausschliessen, dass John Cage in der Halle höchstpersönlich in Erscheinung treten könnte. Natürlich nur dann, wenn der Zufall mitspielt. Aber darauf liesse sich in solchen Zusammenhängen bedenkenlos wetten. Mit äusserst niedrigen Gewinnquoten. 26 27 Susanne-Marie Wrage
Ich weiss Pfauen Uraufführung am 14. Dezember 2018 von René Pollesch nicht, was ein Ort ist, Regie René Pollesch Bühne Barbara Steiner Kostüme Sabin Fleck ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien) „M: Das, was hier gesagt wird, ist nun mal wobei auch die Spieler laufend involviert sind. an einem Ort entstanden. Und wenn man Klassische Spielformen und Rollen sind auf- das sagt, dann wird von der anderen Seite gelöst. Die Texte umkreisen immer wieder die eine Meinung dazu formuliert. Unterschrie- künstlerische Arbeitspraxis selbst, weshalb ben von mehreren Leuten. Und wie darf auch häufig das Theater als Referenz auf- man sich das vorstellen, wie hat das aus- taucht. Die Inszenierungen bearbeiten kollek- gesehen? Auf welcher Party haben die sich tiv vorinstallierte Strukturen von Sprecher und getroffen? Wo haben sie sich ausgetauscht? Adressat sowie Denkmuster, die einen gesell- Was für ein Gebäude ist das gewesen? Was schaftlichen Konsens unterlaufen. für ein Ort? Gibts den? Haben die an einem Tisch gesessen? Gibts überhaupt einen Am Schauspielhaus Zürich entwickelte Ort, von dem aus die schreiben? Nein, es René Pollesch während der Intendanz von gibt was ganz anderes. Einen ganz anderen Barbara Frey seit 2009 jährlich eine Ur- Zusammenhang. Also das ist erst mal aufführung. Unter anderem fanden seine kein Ort, von dem aus die sprechen, kein Stücke mit Chor „Love/No Love“ (2014), physischer Ort. Da äussert sich nämlich eine „Bühne frei für Mick Levčik!“ (2016) und Klasse. Und zwar jenseits eines unmittel- „High (du weisst wovon)“ (2017) grosse baren Interesses an dem Vorgang. Es ist die Beachtung. Pollesch prägte als Regisseur Äusserung einer Klasse, die das, was hier und als Leiter des Prater (2001– 2007) bis an einem bestimmten Ort gesagt wird, zum Ende der Intendanz von Frank Castorf sofort markieren kann als zu einer anderen über viele Jahre die Berliner Volksbühne Klasse gehörend.“ René Pollesch am Rosa-Luxemburg-Platz. Er arbeitet ausser- dem regelmässig am Wiener Burgtheater René Polleschs Uraufführungen sind Text- und am Schauspielhaus Hamburg. kompositionen aus überraschenden Dialogen, sprunghaften Identitäten und einem ständigen Wirbel an Ideen. Collagenartig tauchen Zitate aus Popkultur, Detektiv- und Kultfilmen auf. Der Motor dieser modernen Komödien ist nicht eine durchgehende Geschichte, sondern das direkte Spiel und der charakte- ristische Ton, beeinflusst vom philosophisch- materialistischen Denken eines Slavoj Žižek oder Robert Pfaller. Bei der Entstehung von Polleschs Texten gehen inszenatorische Ludwig Boettger 28 und schreibende Arbeit Hand in Hand, 29
Frankenstein Pfauen Premiere am 10. Januar 2019 oder nach dem Roman von Mary Shelley Der moderne Regie Stefan Pucher Bühne Barbara Ehnes Kostüme Annabelle Witt Prometheus Video Chris Kondek Musik Christopher Uhe „If I cannot inspire love, I will cause fear“, 200 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ruft das gedemütigte namenlose Monster beschreibt Mary Shelleys berühmter Schauer- in Mary Shelleys „gothic novel“. 1818 ist roman immer noch messerscharf den das „Jahr ohne Sommer“, die Natur ist Moment eines albtraumhaften Kontroll- nach einem Vulkanausbruch völlig aus den verlustes. Wissensdurst, Kreativität und die Fugen. Mary Shelley, die erst 19-jährige Vision einer besseren Welt kippen in nicht Autorin, findet in „Frankenstein“ kraftvolle mehr steuerbare Gewalt und Zerstörung. Bilder für den grössten menschlichen Tabu- bruch: Der Naturwissenschaftler Victor Der in Zürich durch bildstarke Arbeiten wie Frankenstein verschiebt eigenmächtig die „Woyzeck“, „Ein Volksfeind“ und „Am Königs- Grenze zwischen Leben und Tod, indem weg“ bekannte Regisseur Stefan Pucher er aus Leichenteilen ein neuartiges Wesen nähert sich dem Stoff vor dem Hintergrund montiert und mit einem Stromstoss zum unserer heutigen wissenschaftlichen Leben erweckt. Er will ein „Licht über die Schöpfungen. Unsere Maschinen lernen finstere Welt giessen“, dem Menschen einen immer schneller, sie werden fühlen und guten Gefährten schaffen, die Sterblichkeit sie sind kreativ – aber ob sie uns lieben überlisten. Die Kreatur soll lernen, lesen, können und wir sie, das wissen wir nicht. sogar lieben. Doch die Schöpfung misslingt und wird zur Bedrohung für ihren Schöpfer. Frankenstein kann seiner Kreatur weder entfliehen, noch sich vor ihren Ansprüchen schützen, denn das Wesen lernt tatsächlich blitzschnell. Es will geliebt werden und fordert ein weibliches Pendant. Auf die Ablehnung seiner Person und seiner Wünsche reagiert es bösartig und begeht einen ersten Mord. Frankensteins Bruder, seine Braut, sein bester Freund, sein Vater, alle kommen schliesslich durch die Gewalt des Monsters ums Leben. Viel zu spät geht Victor Frankenstein auf die Jagd und verfolgt sein Geschöpf bis zum Nordpol – wo es in der eisigen Nacht verschwindet. 30 Marie Rosa Tietjen 31
Man Schiffbau/Box Uraufführung im Januar 2019 bittet um Eine musiktheatralische Zusammenkunft von Ruedi Häusermann schonendes Regie und Komposition Ruedi Häusermann Bühne Bettina Meyer Anhalten Kostüme Barbara Maier „Wir sind nicht zusammen!“ – „Doch doch, Komposition und Themenfindung, woraus ich schon.“ (aufgeschnappt) während der Proben ein poetischer, vieldeutiger Mikrokosmos voller Humor „Das Streichquartett eröffnet den Abend. und Hinwendung zum Detail entsteht. Der instrumentale Klang bleibt zunächst undurchdringlich offen, wie eine ‚ ge- Ruedi Häusermann, 1948 in Lenzburg ge- schlossene Gesellschaft‘. Im szenischen boren, studierte Ökonomie und klassische Spiel der Schauspieler rückt nach und Querflöte. Ausgehend von seiner engen nach die Innenwelt der Musiker in den Verbundenheit mit dem Jazz und der freien Blick. Lebensweltliches wird erforscht, Improvisation entwickelte er erste szenische Biografisches, Anekdotisches, scheinbar Arbeiten und begann damit, seine eigene Nebensächliches. Nachbarschaften theatrale Sprache im Zwischenraum von zeichnen sich ab. Vom Einzelnen kehrt Konzert und Theater zu entwickeln. Dafür der Blick zurück zum Ensemble, das Spiel hat er mehrfach Auszeichnungen erhalten, hat sich fortentwickelt, schliesslich ver- zuletzt den Kunstpreis der Stadt Zürich zichtet man schweren Herzens auch auf (2012) sowie den Schweizer Theaterpreis den Halt des Taktes. Jetzt sind Verbündete (2018). Häusermann zeigte am Schauspiel- gefragt!“ Ruedi Häusermann haus Zürich quer durch den Schiffbau „Vielzahl leiser Pfiffe. Umwege zum Konzert“ Ruedi Häusermanns Arbeiten sind künstle- (2012), im Pfauen die musiktheatralische rische Forschungsreisen zwischen Theater Durchwanderung „Robert Walser“ (2014) und Konzert. Auf gezielten Umwegen wird und in der Box „piano forte – Über das das Unscheinbare, das Unspektakuläre in Abschweifen der Gedanken beim Hören diesen zarten und komischen Arbeiten unter der Musik“ (2016) sowie den riskanten die Lupe genommen. Mit seinen Komposi- Unterhaltungsabend „Kapelle Eidg. Moos“ tionen erfand er mehrfach musikalische (mit Herwig Ursin und Jan Ratschko). Welten um Texte von AutorInnen wie Elfriede Jelinek, Robert Walser, Peter Bichsel oder Unterstützt von der Stiftung Corymbo Händl Klaus. Und immer wieder drehen sich seine theatralen Recherchen um das Konzert selbst. Die Musik steckt ihre Welt ab und während man Einblicke gewinnt, erhält die Aufführung etwas Vertrautes. Es entsteht ein Abend über die Kunst, auf dem Weg zum Ziel einen Haken zu schlagen. Noch vor der Probenzeit beginnt in langen Phasen die 32 33 Jan Bülow
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Totart Pfauen Uraufführung im Februar 2019 von Herbert Fritsch Regie und Bühne Herbert Fritsch Tatort Kostüme Victoria Behr Tod tot tot tot tot tot tot tot tot tot tot tot tot tötet träumt Tatschertötungstat taumelt tot tot Toter tat totale Tat Totales Tabu tarnt todglücklich trägt Tod tanzend der Täter Tat tödliche Tod tötet tötenden Geist tot Tod tatscht Tatortkriminologe tappt traurig da tötet total trötet total tolle Tat Totart totaler tote Spur der Täter tatscht Tatortkrimino- Art Toter tat tatsächlich tote Tatsachen total loge tappt der Täter tatscht tiktaktiktak tapfer terminiert Totaltat toller Art totally art Todesursache totale Tatschertat tat dem Totart total brutal Brutaltat tötet Tod tötet Täter teuflischen Taumel der Tatschertöter Täter total tatsächlicher Tod tat Tötungs- Tatortkriminologe taumelt total toll Tatscher- delikt trat tatsächlicher Tötungszeitpunkt täter tanzt Töter tarnt Todesspur tote Spur total terminierend treffsicher zu taktisch toll- tja Tatortkriminologe tappt tattriger tauft wütiger Tod determiniert diagnostiziert: Töter tatsächlich treffsicheren Tatscher Tötung total toter Tatort tatsächlich toter Tatscher tanzt teuflischer Tat tatsächlich Tartar tot tödliche Tests testen Tod treffen Totart Tatort: treffsicherer Tatscher tötet Todesterminologie treffsicher Todesursache tattrigen Tatortkommissar total tatscht totale Tat tat dem Täter teuflischen Taumel tatsächlich total tötend tödlich tatschende totally art tatsächlich tolle Tötungslust Tat traf Todesopfer Todesopfer Tatort- totaler Tatsachen treffen Todesrecht trotz kommissar taumelte tödlich Tatscher tat- Totschlag tabuisiert technokratisierter Töter kräftig am Totlachen tat total gut trotzdem tarnt Todesspur tote Spur tja Teleskop taugt Tatschertäter tot da totgelacht. Tatütata. Tatortteilhabe Tötungstätigkeiten telegrafiert Töter als Tatscher tanzender Tatscher Nach der Entdeckung der Grimm’schen Todesnachweis Todesbeweis tatschendes Märchenwelt („Grimmige Märchen“ 2017), Tatmittel treffsicherer Tod tauscht Termin mit der er zum Schweizer Theatertreffen tödlich Todtragender Täter taktiert Tatort- 2018 eingeladen wurde, begibt sich Herbert kriminologe tappt tatsächlich total tangiert Fritsch mit „Totart Tatort“ nun auf die Tötungsgründe total staatstragend totes kriminologische Spurensuche nach einem Tartar brutal tot tauscht tattrigen Täter tat- vermeintlichen Täter und entfesselt sächlich tapst Tod todesuntrainiert total dabei ein Panoptikum an detektivischem traurig tadelt Tankwarts Tagträume trotz Wahnwitz. totaler Tötungsmaschinen tastet tattrig träumt tatschenden Tod Tod tötet: Tötung Unterstützt vom Förder-Circle total toter Tatort tatsächlich totally art des Schauspielhauses Zürich terminierender Totaltod tödliche Tests testen Tod Todesursache totale Tat tat dem Täter teuflischen Taumel traurige Tat tat- Fritz Fenne 36 sächlich tot der Täter tatscht total tanzt 37
Die Ver- Schiffbau/Box Uraufführung im April 2019 lobung in von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist Koproduktion mit dem St. Domingo Maxim Gorki Theater Berlin Regie Sebastian Nübling Bühne Muriel Gerstner Auf Haiti tobt die Revolution. Nach über In seiner Überschreibung attackiert Necati hundert Jahren der Sklaverei brennen die Öziri alles vermeintlich Eindeutige und lässt Tabak- und Zuckerrohrplantagen der franzö- alle Figuren zu ihrem Recht kommen. Sein sischen Kolonialherren und die versklavte Debütstück „Vorhaut“ wurde 2014 am Ball- Bevölkerung Haitis kämpft für ihre Freiheit. haus Naunynstraße uraufgeführt. 2014 bis Eines Nachts klopft plötzlich ein junger 2017 war er Dramaturg am Maxim Gorki Mann an der Haustür von Toni, der Tochter Theater in Berlin und künstlerischer Leiter eines der Anführer der Revolution. Gustav, des Studio . Seit 2017 ist er Dramaturg ein Adeliger aus der französischsprachigen beim Theatertreffen der Berliner Festspiele Schweiz, bittet um Schutz. Er ist auf der und leitet das Internationale Forum. Flucht vor den Truppen der Revolutionäre. Die junge Toni, die Zuhause alleine mit ihrer Sebastian Nübling arbeitet seit vielen Mutter Babekan ist, hat für solche Fälle eine Jahren regelmässig in Zürich und inszeniert klare Anweisung von ihrem Vater: „Behaltet häufig Uraufführungen zeitgenössischer fliehende Kolonialherren solange im Haus, Autoren wie Sibylle Berg, Händl Klaus oder bis ich zurück bin!“ Doch Toni und Gustav Simon Stephens. Mit „Die Verlobung in verlieben sich in dieser Nacht. Ihre Mutter St. Domingo“ bringt Sebastian Nübling zum Babekan wittert den Verrat. Toni muss eine zweiten Mal ein Stück von Necati Öziri Entscheidung treffen, allerdings rennt die zur Uraufführung; 2017 feierte „get deutsch Zeit. Denn bei Morgengrauen kehrt ihr Vater or die tryin’“ am Maxim Gorki Theater heim von seinem Feldzug. in Berlin Premiere (eingeladen zum Heidel- berger Stückemarkt 2018). In seiner kurz nach der französischen Revo- lution erschienenen Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“ (1811) macht Heinrich von Kleist klare Fronten auf: Weiss gegen Schwarz, Gut gegen Böse, Ordnung gegen Anarchie. Doch wie geht die Geschichte, wenn die Guten doch nicht so gut und die Bösen nicht so böse sind? Wenn nicht eindeutig ist, wer Freund und wer Feind der Werte der Aufklärung ist? 38 39 Christian Baumbach
Justiz Pfauen Premiere im April 2019 nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt Regie Frank Castorf Bühne Aleksandar Denić Kostüme Adriana Braga-Peretzki „Dieser Bericht ist nicht nur die Begründung, Spät wittert zwar einen Teufelspakt, die sondern auch die Vorbereitung zu einem Aussicht auf Karriere ist jedoch so reizvoll, Mord. Zu einem gerechten Mord. Die Ge- dass er zu seiner eigenen Erschütterung rechtigkeit lässt sich nur noch durch ein tatsächlich einen Revisionsprozess erwirkt, Verbrechen wiederherstellen.“ Mit diesen infolge dessen Kohler freigesprochen wird Worten eröffnet der desillusionierte Anwalt und der stattdessen Verdächtigte sich Spät in stockbetrunkenem Zustand seine erhängt. Memoiren, die den Auftakt zu Dürrenmatts Dürrenmatt entlarvt in „Justiz“ mit bitterbösem Kriminalroman bilden. Zwei Jahre vorher, Humor, wie Rachemord zur Antwort auf im März 1955, ereignet sich inmitten des ein gesellschaftliches System wird, in dem Zürcher Establishments Folgendes: Der Kan- zwar das Gesetz, Gerechtigkeit hingegen tonsrat Dr. Kohler steigt aus seinem Rolls- keine Rolle spielt. Mit einer umfassenden Royce, betritt gelassen das von Politikern, Frage endet der Roman: „Wer ist der Schul- Finanzmanagern und Künstlern besuchte dige? Jener, der die Gesetze erlässt, oder Restaurant „Du Théâtre“ und erschiesst jener, der sie bricht?“ Der Autor erweist sich vor aller Augen den Germanistikprofessor einmal mehr als gnadenloser Kritiker der Winter. Kohler, der nach dem Mord vorerst Schweiz, ironisch lässt er seinen Ich-Erzähler Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in resümieren: „Die Welt wird entweder unter- der Tonhalle geniesst, lässt sich daraufhin gehen oder verschweizern.“ bestens gelaunt festnehmen. Im folgenden Schauprozess wird er trotz unauffindbarer Frank Castorfs 25-jährige Intendanz an der Tatwaffe und ohne Erkenntnis über sein Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin Motiv zu zwanzig Jahren Zuchthaus verur- hat das deutschsprachige Theater im letzten teilt, da kein Zweifel an seiner Tat besteht. Vierteljahrhundert fundamental geprägt. In Vom Gefängnis aus beauftragt der Multi- Zürich hat der vielfach ausgezeichnete Regis- millionär und passionierte Billardspieler seur zuletzt „Die fremde Frau und der Mann Kohler den jungen, erfolglosen Anwalt Spät, unter dem Bett“ nach F. M. Dostojewski insze- seinen Fall erneut – unter der Annahme, er niert. Im Zuge seiner sechsten Inszenierung sei nicht der Mörder gewesen – zu unter- am Schauspielhaus wird sich Frank Castorf suchen: „Sehn Sie, lieber Spät, die Wirklich- zum ersten Mal künstlerisch mit dem Autor keit kennen wir ja nun, dafür sitze ich hier Friedrich Dürrenmatt auseinandersetzen. und flechte Körbe, aber das Mögliche kennen wir kaum. Das Mögliche ist beinahe un- Unterstützt von der endlich, das Wirkliche streng begrenzt. Da- Charlotte Kerr Dürrenmatt Stiftung raus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken Carolin Conrad 40 haben, um ins Mögliche vorzustossen.“ 41
Die grosse Schiffbau/Halle Premiere im Mai 2019 Gereiztheit Ein Projekt im Schiffbau nach Motiven des Romans „Der Zauberberg“ von Thomas Mann Regie Karin Henkel Bühne Muriel Gerstner Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs (Martin Heidegger). Hans Castorp, Clawdia zeichnet sich das Ende eines rätselhaften Chauchat, Ludovico Settembrini, Doktor Rückzugs ab, der sich Jahre zuvor ereignete: Behrens, Frau Stöhr und die anderen – sie Hans Castorp, die Hauptfigur in Thomas werden von globalen Schmerzen heimge- Manns „Der Zauberberg“, steigt zu Beginn sucht, die sie, wie ihre wirklichen und des tausendseitigen Romans als „des eingebildeten Krankheiten, nicht zur Ruhe Lebens treuherziges Sorgenkind“ in eine kommen lassen. Daher bleibt „Der Zauber- Eisenbahn, die ihn ins Davoser Sanatorium berg“ bis heute „eine Sensibilitätsschulung Berghof führt. Eine vergiftete Lunge (oder für das Eintreten unerwarteter Ereignisse“ ein vergifteter Kopf?) machen aus dem (Frank Schirrmacher). geplanten dreiwöchigen Besuch eine sieben Jahre andauernde Verzauberung. Ursprüng- Basierend auf Motiven des Romans ent- lich wollte Thomas Mann ein humoristi- wickelt die Regisseurin Karin Henkel ihre sches Gegenstück zum „Tod in Venedig“ mittlerweile vierte Produktion in der Halle. schreiben. Er begann 1913 daran zu arbeiten, Mit „Elektra“ (2013), „Die zehn Gebote“ in eben dem Jahr, in dem auch das zweit- (2016) und „BEUTE FRAUEN KRIEG“ (ein- letzte Kapitel des Romans, „Die grosse geladen zum Berliner Theatertreffen 2018) Gereiztheit“, spielt. Darin wird die lungen- schuf Henkel aufsehenerregende Theater- kranke Gesellschaft in den Schweizer Alpen erzählungen, die Narrationen, Bühnenräume von einer Nervosität erfasst. Meisterhaft und Zuschauerperspektiven in ungewohnte beschreibt Thomas Mann eine Stimmung Spannungsverhältnisse setzten. aus Aufgewühltheit und plötzlich hervor- brechender Wut: „Was gab es denn? Was lag in der Luft? Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wort- wechsel, zum Wutausbruch, ja zum Hand- gemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei (…) Man erblasste und bebte“. Trotz Wolldecken und Liegestühlen erfasst ein Unbehagen die Luxuswesen und macht den der Welt Abhandengekommenen deutlich, dass ihre Isolation eine Fiktion ist: das Leben auf dem Zauberberg ist ein „Dasein“, das „von seiner Umwelt gelebt wird und nur vermeintlich selbst lebt“ 42 Nicolas Rosat
Die Toten Pfauen Deutschsprachige Erstaufführung im Mai 2019 nach der Erzählung von James Joyce Regie Barbara Frey Bühne Martin Zehetgruber Kostüme Bettina Walter „Seine Seele hatte sich jener Region ge- Flügelsaal ein tragisches Lied singt. Gretta nähert, wo die unermesslichen Heerscharen horcht gebannt im Schatten des Treppen- von Toten ihre Wohnung haben. Er war absatzes und ihr Mann, der sie während- sich ihrer unsteten und flackernden Existenz dessen betrachtet wie ein Maler ein Bild, bewusst, aber er konnte sie nicht fassen.“ erkennt, dass seine Frau ein Geheimnis mit James Joyce sich trägt, welches ein überwältigendes Begehren in ihm auslöst. Im Hotelzimmer Miss Kate und Miss Julia, zwei ledige Damen erfährt er von seiner abwesend erscheinen- einer vergehenden Generation, richten zum den Frau, dass sie zutiefst erschüttert ist Jahresausklang traditionell einen nächtlichen von einer schuldhaften Erinnerung, die das Ball in Dublin aus. Draussen fällt unaufhör- Lied in ihr wachgerufen hat. Ein Junge, mit lich Schnee. Zur geladenen Gesellschaft aus dem sie verbunden war, als sie selbst noch dem irischen Mittelstand zählen Familien- ein Mädchen war, hatte eben dieses Lied angehörige, Mitglieder aus Miss Julias Chor, häufig für sie gesungen. Schwer erkrankt juvenile Klavierschüler von Miss Kate, alte holte er sich den Tod, nachdem er Gretta im Freunde der Familie, ein bekannter Opern- Winterregen ein letztes Mal aufgesucht hat. tenor der Stadt und auch Gabriel und seine Gabriel wird zunächst von rasender Eifersucht Frau Gretta. Gabriel ist der Lieblingsneffe erfasst aufgrund der Präsenz des Toten in der Gastgeberinnen und er befindet sich Grettas Leben. Doch die Grenze zwischen in nervöser Stimmung, denn er wurde als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird Schriftsteller auserkoren, die Festrede zu porös und der Schnee fällt ohne Unterschied halten: „Gabriels warme zitternde Finger auf die Lebenden wie auf die Toten. pochten gegen die kalte Fensterscheibe. Wie kühl musste es draussen sein. Wie angenehm James Joyce schrieb „The Dead“ 1907 im wäre es, allein hinauszugehen, erst den Fluss Alter von 25 Jahren; die metaphysische entlang und dann durch den Park! Schnee Erzählung bildet den Schwerpunkt seines läge auf den Zweigen und bildete eine helle Prosawerks „Dubliner“. „Die Toten“ enthält Kappe oben auf dem Wellington-Denkmal. autobiografische Bezüge und steht thema- Wie viel angenehmer wäre es dort als an der tisch in Beziehung zu seinen späteren Abendtafel!“ Das gesellschaftliche, künstle- bedeutenden Romanen „Ulysses“ und rische Ereignis von Rang ist eine gut insze- „Finnegans Wake“. Der irische Autor, der nierte, sich bereits im Verfall befindende Illu- zu den wichtigsten Vertretern der literari- sion, die Gabriel wie ein Fremder wahrnimmt. schen Moderne zählt, wurde 1941 in Zürich Im Morgengrauen wollen die letzten Gäste begraben. das Fest verlassen, als die heisere Stimme Benito Bause 44 des Tenors erklingt, der zurückgelassen im 45
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