ADHS-Behandlung Einleitung
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sonderausgabe april 2007 ADHS- Behandlung Einleitung Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/9/9d/Struwwelpeter_2.jpg Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Störungen ICD-10, siehe Abbildung 1). Die Beurteilung dieser Auffäl- (ADHS) gehören zu den häufigsten Vorstellungsgründen, mit ligkeiten unterliegt einer sozialen Bewertung, ab wann sie denen Eltern und ihre Kinder in Kliniken oder Beratungsstel- einen Auffälligkeitsgrad aufweisen, der Störungswertigkeit len kommen und eine umfassende differenzialdiagnostische besitzt oder im Rahmen der Schwankungsbreite kindlicher Abklärung benötigen. Schätzungen gehen davon aus, dass Verhaltensweisen gewertet werden kann. Wegen der breiten zwischen zwei und zehn Prozent aller Kinder unter einer Auf- altersbedingten Normvariation ist das Störungsbild nur dann merksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) leiden. zu diagnostizieren, wenn dadurch das Verhalten und die so- Lange Zeit wurde angenommen, dass Buben rund zehnmal ziale Anpassungsleistungen des Kindes in besonderem Maß häufiger an dieser Störung erkranken als Mädchen, heute beeinträchtigt sind (Döpfner et al.,1997). wird von einem Verhältnis 3:1 ausgegangen. Etwa 50 Prozent (die Schwankungsbreite liegt zwischen 30 und 70 Prozent) Symptome des Aufmerksamkeitsdefizit- leiden auch als Erwachsene an ADHS. Hyperaktivitäts-Syndroms P.b.b. Verlagspostamt 1040 Wien, Zulassungsnummer: 02Z031887W Kernsymptome der Umaufmerksamkeit Mit dem „Zappelphilipp“ beschrieb der Arzt Dr. Heinrich • Schwierigkeiten, Einzelheiten zu beachten, Flüchtigkeitsfehler Hoffmann, dem übrigens nachgesagt wird, selbst an ADHS • Mühe mit der Daueraufmerksamkeit gelitten zu haben, schon vor mehr als 100 Jahren dieses • Schwierigkeiten zuzuhören Krankheitsbild. Er zeichnete in seinem gereimten Märchen • Mühe, Anweisungen oder Aufgaben zu Ende zu bringen vom „Struwwelpeter“ ein recht gutes Bild eines Kindes mit • Schwierigkeiten bei der Organisation von Aufgaben/ ADHS.1 Aktivitäten • Mühe, sich länger geistig anzustrengen ADHS zeichnet sich aus durch ein durchgehendes Muster • Häufiges Verlieren und Verlegen von Gegenständen von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität, das • Leichte Ablenkbarkeit durch äußere Reize in einem für den Entwicklungsstand des betroffenen Kindes • übermässige Vergesslichkeit im Alltag abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftritt. Der Be- Kernsypmtome der Hyperaktivität ginn dieser Symptome liegt bereits im Kindesalter vor dem • Ständige Unruhe in Händen und Füssen 6. Lebensjahr. Die Symptome müssen sehr ausgeprägt sein, • Mühe, ruhig sitzen zu bleiben die persönliche Entwicklung nachhaltig behindern, über • „Zappelphilipp” (bei Erwachsenen innere Unruhe) mindestens sechs Monate hinweg anhalten und sich in unter- • Schwierigkeiten, ruhig zu spielen schiedlichen Lebensbereichen (Kindergarten, Schule, Freizeit, • „Innerlich wie von einem Motor angetrieben” zu Hause) manifestieren und deutlich stärker sein als bei Kin- Kernsypmtome der Impulsivität dern gleichen Alters und gleichen Entwicklungsstandes. Die • Übermäßiges Reden Kardinalsymptome sind Unaufmerksamkeit (Aufmerksam- • Antworten, bevor Frage vollständig gestellt wurde keitsstörung, Ablenkbarkeit), Überaktivität (Hyperaktivität, • Schwierigkeiten abzuwarten, bis man an der Reihe ist motorische Unruhe) und Impulsivität2 (Details DSM IV und • Störendes Verhalten gegenüber anderen ärztemagazin >
Ätiologie bzw. Kindergärtner mit einbezogen werden müssen. Der diag- nostische Prozess richtet sein Augenmerk dabei auf biologische, Aktuell wird von einer Fehlregulation des Dopaminstoffwech- psychische (kognitive wie emotionale) und soziale Bereiche. sels ausgegangen, auch der Serotonin- und der Noradrenalspie- gel spielen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle. Anamnese Dazu kommt die genetische Komponente: Kinder mit ADHS Dabei wird die persönliche und familiäre Lebensgeschichte haben ungefähr viermal häufiger Verwandte mit dieser Erkran- ebenso erhoben wie die störungsspezifische Entwicklungsge- kung als gesunde Kinder. Diskutiert wird zudem der Einfluss schichte. Zur störungsspezifischen Diagnostik sollten sowohl hypoxischer Zustände nach der Geburt, aber auch peripartal; mit den Eltern als auch dem Kind klinische Interviews durchge- Frühgeburten und Schwangerschaftsinfektionen sowie Niko- führt werden. Der Erhebung störungsrelevanter Rahmenbedin- tinabusus spielen ebenfalls eine Rolle. Ungünstige psychosoziale gungen, also der psychosozialen Bedingungen im Elternhaus, Bedingungen sind für die Erkrankung bedeutsam, gelten jedoch sowie dem Blick auf vorhandene Ressourcen, kommt eine große nicht als primäre Ursache von ADHS. Auch inkonsistentes Erzie- Rolle zu. Informationen von Kindergarten/Schule hinsichtlich hungsverhalten kann die Störung nachteilig beeinflussen. der Integration des Kindes in die Gruppe, belastende Bedin- gungen sowie die Beobachtung des betroffenen Kindes in der explorativen Situation runden das anamnestische Bild ab. Diagnostik und Differenzialdiagnose Klinisch-psychologische Diagnostik Eine gesicherte ADHS-Diagnose ist nur in einem multimodalen Die Diagnostik eines ADHS stellt eine hohe Herausforderung dar, Prozess zu stellen, in den sowohl Kind als auch Eltern, Lehrer da die Grundlage der Beurteilung vor allem in der Beobachtung Abbildung 1 Diagnosekriterien nach ICD-10 und DSM IV Diagnosen nach ICD-10 Quelle: http://www.uni-bielefeld.de/psychologie/ae/AE09/HOMEPAGE/Wild/ADHSZusf.pdf situationsübergreifend F 90.0 Aufmerksamkeitsstörung Hyperaktivität Impulsivität Einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung F 90.1 Störung des Sozialverhaltens Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens Diagnosen nach DSM-IV situationsübergreifend Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung: Aufmerksamkeitsstörung Hyperaktivität/Impulsivität Mischtyp situationsübergreifend Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung: Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität/Impulsivität vorwiegend unaufmerksamer Typ situationsübergreifend Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung: Hyperaktivität/Impulsivität ohne Aufmerksamkeitsstörung vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ Prim. Dr. Rainer Fliedl Ass.-Prof. Dr. OA Dr. Wolfgang Kaschnitz Prim. Dr. Werner Leixnering Abt. für Kinder- und Jugend- Brigitte Hackenberg Universitätsklinik für Kinder- Jugendpsychiatrie, Landes- psychol. u. -psychotherapie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medi- nervenklinik Wagner- LK Thermenregion Mödling und Jugendheilkunde, Wien zinische Universität Graz Jauregg, Linz ärztemagazin >
und Bewertung durch den Untersucher liegt und es keinen spe- gesondert kinder- und jugendpsychiatrisch und -psychothera- zifischen Test zur Erfassung dieser Störung gibt. peutisch diagnostiziert und behandelt werden. Das differenzialdiagnostische Vorgehen sollte folgende Teil- Differenzialdiagnostik schritte umfassen: Nicht alles, was sich wie ADHS präsentiert, ist auch ADHS. Eine • Orientierende Intelligenz- bzw. Entwicklungsdiagnostik ganze Reihe von Differenzialdiagnosen kommt für betroffene • Planung, Arbeitsgedächtnis, Sprechflüssigkeit, selektive Auf- Kinder ebenfalls in Frage und muss abgeklärt werden. In einer merksamkeit, kognitive Flexibilität“ Studie von Reisel und Freilinger (siehe Abbildung 2), die von • Abklärung vorwiegender Teilleistungsprobleme im Bereich 2000 bis 2001 an der Station für Heilpädagogik und Psychoso- der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben und Rechnen) matik der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde • Persönlichkeitsdiagnostik zur Abklärung emotionaler Wien durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass von 59 mit Probleme der Verdachtsdiagnose ADHS vorgestellten Kindern und Ju- • Abklärung komorbider Störungen: gendlichen tatsächlich 30 Betroffene an einer anderen Störung Verhaltensbeobachtung des Kindes bzw. Jugendlichen wäh- erkrankt waren (v.a. umschriebene Entwicklungsstörungen rend der Exploration bzw. während einer psychologischen ICD-10 F80 bis F82 sowie Anpassungsstörungen ICD-10 F43).4 Testsituation (jedoch können ADHS-spezifische Symptome in hochstrukturierten Settings deutlich geringer ausfallen als Abbildung 2 im Alltag des betroffenen Kindes oder sich sogar völlig un- Diagnostisches Vorgehen bei ADHS4 auffällig präsentieren) 59 Anzahl der Patienten 50 Zur Klärung der weiteren Behandlungsoptionen ist die Über- 40 weisung an einen Facharzt für Kinder- und Jugend(neuro)- 30 29 psychiatrie, Kinder- und Jugendheilkunde oder für Psychiatrie 30 n2 9 Patienten: zur orientierenden internistischen und neurologischen Unter- tatsächlich ADHS 20 n3 0 Patienten: suchung unerlässlich. keine ADHS 10 Die Diagnose und Behandlung der ADHS erfolgt immer multi- modal, das Team muss daher multidisziplinär sein. Um Doppel- Stationäre Aufnahme von 59 Patienten (6 bis 13 Jahre, 54 männliche, 5 weibliche) mit Verdachtsdiagnose ADHS gleisigkeiten zu verhindern, sollte vorweg ein „Case Manager“ definiert werden, der alle Fäden der Diagnostik und Therapie in seiner Hand behält. In Frage kommen • altersentsprechend hohes Aktivitätsniveau Komorbiditäten • geistige Behinderung oder Minderbegabung mit Überfor- ADHS ist sehr häufig mit anderen psychischen Störungsbildern derungsproblematik vergesellschaftet. Die Ergebnisse der MTA-Studie3, die 1999 pu- • Hochbegabung mit unterstimulierendem Umfeld bliziert worden ist, schloss 579 Kinder mit ADHS ein, von denen • Teilleistungsschwächen nur 31 Prozent ausschließlich an dieser Störung litten. Kinder • milieubedingte und erlebnisreaktive Verhaltungsstörungen mit ADHS können zusätzlich unter Tic-Störungen, Tourette-Syn- (inkonsistentes elterliches Erziehungsverhalten, mangelnde drom, Epilepsie, Depressionen oder Angststörungen erkrankt Wärme in den familiären Beziehungen etc.) sein. Auch das Erlernen von Kulturtechniken wie Lesen, Schrei- • psychische Störungen (Störung des Sozialverhaltens oder ben und Rechnen ist für ADHS-Betroffene häufig erschwert. So der Impulskontrolle, oppositionelles Verhalten, affektive stellten Mayes, Calhoun und Crowell 2000 in einer Studie fest, Störung, Angststörung, dissoziative Störung, Zwangsstörung dass 27 Prozent aller ADHS-Kinder unter einer Lesestörung, 31 und Depressionen) Prozent unter einer Rechenstörung und 65 Prozent unter Lern- • Entwicklungsstörungen störungen litten. 70 Prozent dieser Kinder wiesen eine oder • Tic-Störungen (einschließlich Tourette-Syndrom) mehrere Lernstörungen auf. Grundsätzlich müssen psychische • Epilepsien Störungen, die zusätzlich zur ADHS-Symptomatik vorliegen, • Nebenwirkungen einer medikamentösen Dauertherapie • Persönlichkeitsveränderung durch somatische Erkrankung oder psychotrope Substanzen • Folgen eines Schlafapnoesyndroms • Schilddrüsenüberfunktion • Psychosen (bei Jugendlichen)5 ADHS und Schule Die Symptomatik hat meist in der Schule deutliche Auswir- Dr. Barbara Reisel Dr. Herbert Sailer kungen. Sowohl im Leistungsbereich als auch in den sozialen Klinische Psych. und Gesund- Institut für Sinnes- und Beziehungen kommt es zu Schwierigkeiten. Daher ist es heitspsych., Psychotherapeu- Sprachneurologie, KH der notwendig, den Lehrer möglichst früh in den diagnostischen tin (PP) in freier Praxis, Wien Barmherzigen Brüder, Linz und therapeutischen Prozess zu integrieren, um damit zu einer ärztemagazin >
Kooperation mit der Schule und einer Umdefinition des Ver- als unter Erwachsenen ohne ADHS. Nicht zuletzt ist auch eine haltens des Kindes zu kommen. In der Beratung der Lehrer sind höhere Rate an psychiatrischen Komorbiditäten festzustellen. ähnliche Bereiche wie in der Beratung der Eltern relevant. Therapeutischer Ablauf Die wichtigsten Punkte in der Beratung sind: Steht nach der bereits beschriebenen umfangreichen Diagnostik • Verstehen des Störungsbildes im Rahmen des diagnostischen die Erkrankung ADHS – mit oder ohne Komorbiditäten – mit Prozesses hoher Wahrscheinlichkeit fest, kann die Behandlung wahlweise • Hilfe bei der Arbeitsplatzgestaltung des Kindes und der ambulant oder in einem stationären Setting begonnen werden. Strukturierung des Lernstoffes Die zwingende stationäre/teilstationäre Aufnahme zur allfäl- • Wahrnehmen der sozialen Auswirkungen und Unterstüt- ligen medikamentösen Einstellung von ADHS-Kindern gilt heute zung des Kindes bei der Integration in den Klassenverband nicht mehr als State of the Art, kann aber bei ausgeprägten • Wahrnehmen von Veränderungen (Verbesserungen) im komorbiden Störungen und/oder höhergradigen Verlaufsauf- Behandlungsprozess fälligkeiten indiziert sein. Es ist ein multimodales Behandlungs- konzept erforderlich, das auf jedes Kind bzw. auf jeden Jugend- Diese Kooperation kann direkt mit den Lehrkräften oder lichen individuell adaptiert und ständig neuen, veränderten durch die Eltern oder Beratungslehrer vermittelt sein. Situationen angepasst wird. Umfangreiche Informationen für betroffene Eltern und das pädagogische Umfeld liefert z.B. das Buch „Wackelpeter und Trotzkopf“.6 Dieses Elternbuch enthält Therapie – in leicht verständlicher Weise geschrieben – alles Wissenswerte zu ADHS und ihrer Therapie. Zudem umfasst das Buch eine Analog der Diagnostik fußt auch die ADHS-Therapie auf einem Anleitung für Eltern in 14 Schritten, die Lösungsmöglichkeiten multimodalen Konzept. Ein Case-Manager, sinnvollerweise ein für typische Probleme aufzeigt. Dazu gehört etwa: „Was ma- Kinder- und Jugendpsychiater, koordiniert das therapeutische che ich, wenn mein Kind sich nicht allein beschäftigen kann?“ Vorgehen. Die ADHS-Therapie betrifft und umfasst nicht nur oder „Wie löse ich den täglichen Hausaufgaben-Krieg?“ Ar- das betroffene Kind, sondern auch dessen Erziehungsberech- beitsblätter und Memo-Karten unterstützen die Anleitung. Für tigte, Lehrer bzw. Kindergärtner. Nur wenn die wichtigen das professionelle Betreuungsteam steht – von den gleichen Bezugspersonen für das erkrankte Kind in die Therapie mit Autoren – das Buch „Therapieprogramm für Kinder mit hyper- einbezogen werden, kann ein therapeutischer Erfolg gewähr- kinetischem und oppositionellem Problemverhalten THOP“ zur leistet werden. Sowohl dem Kind als auch den mitbetroffenen Verfügung. Es liefert 21 Bausteine, die auf jedes Kind individuell Bezugspersonen sollte dabei vorweg klar gemacht werden, zugeschnitten werden können. Das Programm bezieht alle be- dass nur eine intensive Mitarbeit sowie eine längerfristige Zu- troffenen Personen in die Behandlung mit ein. Eine mitgeliefer- sammenarbeit zu einem Erfolg führen kann. te CD-Rom ermöglicht das Ausdrucken aller für die Behandlung benötigten Materialien.7 Die Psychoedukation ist ein wesent- Wird ADHS nicht adäquat therapiert, kommt es in vielen licher Bestandteil eines multimodalen Behandlungskonzeptes Fällen zu negativen Konsequenzen. So zeigt eine Studie von der ADHS und bezieht das betroffene Kind und sein gesamtes Russell Barkley aus den USA (2001), dass Umfeld mit ein. Elterntraining ist ein weiterer hocheffizienter • 29% aller ADHS-Kinder eine Klasse wiederholen mussten Schritt in der Behandlung der ADHS. Dazu kommen Verhal- • 46% vorübergehend vom Unterricht suspendiert waren tenstherapie und Selbstinstruktionstraining. • 11% der Schule verwiesen wurden • 10% die Schule abbrachen Viersäulenmodell • 33% eine Sonderklasse für Lernstörungen besuchten Zu Beginn einer ADHS-Behandlung stehen nichtmedika- • 36% eine Sonderschule für Kinder mit Verhaltensstörungen mentöse Strategien im Vordergrund. Die medikamentöse besuchten. Therapie erfolgt in vielen Fällen erst dann, wenn andere The- rapieverfahren bereits etabliert sind. Dazu gehören: Demgegenüber stand die Vergleichsgruppe, in der 1. Die Information über das Störungsbild und die Behand- • 11% eine Klasse wiederholen mussten lungsmöglichkeiten. Informiert werden Eltern und betrof- • 15% vorübergehend suspendiert wurden fenes Kind, soweit dieses die Information bereits verar- • 1,5% der Schule verwiesen wurden beiten kann. Auch Lehrer und Kindergärtner sollten diese • 3% eine Sonderklasse besuchten Informationen erhalten. • 6% eine Sonderschule für Kinder mit Verhaltensstörungen 2. Eingehende Aufklärung und Beratung – Stichwort Psycho- besuchten. edukation von Eltern, Kind und pädagogischem Umfeld. Das Ziel ist ein angemessener und förderlicher Umgang mit Die festgestellten Unterschiede sind hochsignifikant. Dazu dem Kind bzw. Jugendlichen. kommt, dass rund 50 bis 70 Prozent aller Kinder mit ADHS ihre 3. Behandlung des Kindes oder des Jugendlichen einzeln oder Störung, wenn sie unbehandelt bleibt, ins Erwachsenenalter in Gruppen. Das Ziel ist eine Verbesserung der sozialen Re- „mitnehmen“, was ebenfalls durchwegs negative Konse- gulationsfähigkeit und des Selbstmanagements. quenzen zeitigt: So verursachen Jugendliche mit ADHS häufiger 4. Medikamentöse Therapie Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang. Sie verzeichnen ge- nerell geringere Schulabschlüsse, daraus resultiert eine höhere Da das Vorliegen einer ADHS zumeist mit einer oder mehreren Arbeitslosenrate. Auch die Rate an Suchtverhalten und Abhän- zusätzlichen Störungen aus dem Bereich expansiver Verhal- gigkeitsproblemen liegt unter Erwachsenen mit ADHS höher tensstörung oder Angst/Affektstörung bzw. Teilleistungsstö- ärztemagazin >
rungen einhergeht, sind weitere Funktionsbeeinträchtigungen zu viele und komplizierte Regeln aufgestellt werden sollten, im Bereich Selbstwert, Ausbildung und Berufslaufbahn und weil dies zu Verwirrung und einer Verschlechterung des Krank- Sozialkontakte (Freunde und Familie) als sekundäre Folgen heitsbildes führen kann, wenn das betroffene Kind überfordert zu erwarten und ebenso dringend behandlungsbedürftig. Die ist. Im Wesentlichen heißt das für die Eltern, dass sie Behandlung erfordert ein „maßgeschneidertes“ Vorgehen, das • ihr Kind auffordern, nicht bitten, etwas zu tun Aufklärung und Beratung von Patient/Eltern und Lehrern sowie • und sich mit ihren Regeln auf das Wesentliche konzentrieren. Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und unterstützende Fa- milientherapie beinhaltet (Döpfner et al., 1998). Das Elterntraining umfasst in der Anwendung vier Schritte: Ankündigung, Einforderung, Kontrolle und Konsequenz (bei- Psychoedukation spielsweise Lob, wenn eine Einforderung erfüllt wurde). Die im Um den Therapieerfolg zu optimieren, steht am Beginn der Vorhinein festgelegten Regeln sollten für das Kind bzw. den Behandlung die Aufklärung. Das bedeutet, dem Kind und Jugendlichen klar verständlich sein. Diskussionen und ständiges seinem Bezugssystem wird die Kernsymptomatik seiner Er- Hinterfragen sind zu vermeiden. Um den Erfolg des Regelwerks krankung, wie etwa Hyperaktivität, Impulsivität, Aufmerk- zu gewährleisten, sollte dieses gemeinsam mit dem betrof- samkeitsstörung, klar gemacht. In der Familie werden Bezie- fenen Kind erarbeitet werden. Positives Verhalten soll immer hungs- und Erziehungsprobleme sowie systemimmanente Be- sofort verstärkt werden, Nichteinhalten von Regeln muss be- lastungen herausgearbeitet. Die Schule bzw. der Kindergarten nannt und rückgemeldet werden. Das Ziel eines solchen Regel- als wichtiges pädagogisches Instrument sollte ebenfalls in die werks ist nicht Bestrafung, sondern Einübung von Selbststeue- Behandlung mit einbezogen werden. Hier sind Lernschwierig- rung mit klar durchschaubaren Kontrollmöglichkeiten. keiten, Verhaltensauffälligkeiten sowie Beziehungskonflikte zwischen Schüler, Eltern und Lehrer aufzuzeigen. Verhaltenstherapie Eine Verhaltenstherapie setzt es sich zum Ziel, bestimmte – Elterntraining negative – Verhaltensweisen zu verändern bzw. durch positive Die „Zauberworte“ für diesen Teil der Therapie heißen Struk- Verhaltensweisen zu ersetzen. Sie kann dem ADHS-Kind, aber tur, Verlässlichkeit und Abwechslung. Die Regeln sind dabei auch seinem Umfeld Instrumente in die Hand geben, wie es verhältnismäßig einfach. Für die Eltern lauten diese: mit bestimmten Situationen umgehen und klarkommen kann. • Stellen Sie klare Regeln auf. Neben einem durchstrukturierten Alltag (wieder etwas, wo- • Loben Sie ihr Kind oft und unverzüglich. ran sich das Kind „festhalten“ kann) stehen in der Verhaltens- • Seien Sie konsequent verlässlich, was Regeln, positive und therapie Situationen im Vordergrund, die das Kind belasten. negative Konsequenzen anbelangt. Belastende Situationen werden durchgespielt und gemeinsam mit dem betroffenen Kind neue Verhaltensweisen erarbeitet Das betroffene Kind muss, noch mehr als ein gesundes Kind, und eingeübt. Die Verhaltenstherapie kann so ein wichtiger ein stabiles Regelwerk vorfinden, an dem es sich – oft buch- Aspekt der multimodalen Behandlung der ADHS sein. stäblich – festhalten kann. Werden die Regeln ständig geändert oder sind Verstöße gegen diese Regeln ohne Konsequenz, fühlt Medikamentöse Behandlung der ADHS sich das Kind nicht ernst genommen und wird weiterhin an sei- Den vierten Schritt des multimodalen Behandlungskonzeptes ne Grenzen gehen. Regelverstoß ist nicht gleichbedeutend mit bei ADHS bildet die medikamentöse Intervention. Sie kommt „Strafe“. Vielmehr geht es darum, das Kind, wenn es sich an die dann zum Einsatz, wenn sich mit Psychoedukation, Elterntrai- vorgegebenen Regeln hält, sofort zu loben. Es sieht dann auch ning sowie Verhaltenstherapie nicht die gewünschten Erfolge kleinere Fortschritte, was die Motivation enorm erhöhen kann. einstellen bzw. als Primärtherapie dann, wenn eine stark ausgeprägte, situationsübergreifende hyperkinetische Symp- ADHS-Kinder werden von ihrer Umgebung nicht selten total tomatik mit einer hohen Belastungssituation für die Patienten überfordert. Das bedeutet für die Bezugspersonen, dass nicht und deren Umfeld vorliegt. Tabelle 1 Medikamentöse Behandlung der ADHS 8 Quelle: AMWF-Leitlinien zu ADHS; medikamentöse Therapie Psychostimulanzien Wirkungseintritt Wirkdauer mittlere tägliche Dosis Kontraindikationen Methylphenidat ca. 20 Minuten zwei bis vier Stunden Maxi- 0,5 bis 0,8 mg/kg Psychosen, extreme (Ritalin®) mum nach zwei Stunden Körpergewicht Angstzustände DL-Amphetamin 30 bis 60 Minuten drei bis sechs Stunden Maxi- 0,2 bis 0,5mg/kg Psychosen, extreme mum nach eineinhalb Stunden Körpergewicht Angstzustände Methylphenidat in retar- 60 bis 120 Minuten bis zu zwölf Stunden wie nichtretardiertes MPH, Psychosen, extreme dierter Form (Concerta®) Start bei Direkteinstellung Angstzustände mit 18mg (s. SPC)* Atomoxetin (Strattera®) ca. 30 Minuten drei bis vier Stunden Maximum 0,5 bis 1,2mg/kg MAO-Hemmer, Major nach ein bis zwei Stunden Körpergewicht Depression, Angststörung Es besteht keine Korrelation zwischen Körpergewicht und notwendiger Dosis! Die angegebenen mg/kg KG sind Durchschnittswerte und können individuell unter- oder überschritten werden. * aus Fachinformation zu retardiertem Methylphenidat Punkt 5.1. und Swanson et al., J Clin Res; 3: 59–76, 2000 ärztemagazin >
Nur in Ausnahmefällen sollte eine medikamentöse Behand- Methylphenidat einnehmen, beträgt die empfohlene Anfangs- lung bei Kindern unter sieben Jahren angewendet werden. dosis von retardiertem Methylphenidat einmal täglich 18mg. Welche Medikamente kommen zum Einsatz? Tabelle 2 Es werden hauptsächlich zwei Medikamentengruppen unter- Empfohlene Umrechnung der Dosierung schieden, die zur Behandlung der ADHS angewendet werden anderer Methylphenidat-Regime auf Concerta® können. Diese sind: Bisherige tägliche Empfohlene 1. Psychostimulanzien wie Methylphenidat (siehe Tabelle 1) Methylphenidat-Dosis Concerta® Dosis 2. Antidepressiva wie selektive Serotonin- oder Noradrenalin- 5mg Methylphenidat dreimal täglich 18mg einmal täglich Wiederaufnahmehemmer 10mg Methylphenidat dreimal täglich 36mg einmal täglich Was bewirkt die medikamentöse Therapie mit 15mg Methylphenidat dreimal täglich 54mg einmal täglich Psychostimulanzien? Quelle: Fachinformation zu retardiertem Methylphenidat Die Behandlung ist nicht kausal, sondern symptomatisch. Sie bewirkt eine bessere Aufmerksamkeit, Ausdauer und Kon- Ist eine wirksame Dosis erreicht, sollte diese beibehalten zentration der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Das werden. Drug Holidays als notwendige Maßnahme gelten Verständnis für Logik, Zusammenhänge und Ermahnungen heute als obsolet: Die medikamentöse Behandlung soll auch verbessert sich, ebenso wie Schrift und Rechtschreibung, Kör- während der Wochenenden und in den Ferien fortgesetzt perkoordination und die Motivation an der Arbeit. werden. Allerdings sollte diese der jeweiligen Alltagssituation angepasst werden. Ist das Kind, beispielsweise aufgrund von Welche Nebenwirkungen einer psychostimulierenden Ferien, weniger belastenden Situationen ausgesetzt, sollte an Therapie können auftreten? eine Dosisanpassung, gegebenenfalls auch an ein Pausieren Zu den häufiger auftretenden Nebenwirkungen gehören: gedacht werden. Die Therapie ist durchzuführen, solange es Appetitmangel, Schlafstörungen, Dysphorie, Weinerlichkeit, nötig ist. Die Notwendigkeit einer Pharmakotherapie kann Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schwindel, Auslösung von nach Besserung oder Remission durch Absetzversuche über- Tics oder Verstärkung bestehender Tics. prüft werden. Wie wird eingestellt? Eingestellt wird heute – außer in besonders schweren Fällen Zusammenfassung – nicht mehr stationär, sondern ambulant. Für den Einstieg in die medikamentöse Behandlung steht Methylphenidat nach Patienten mit ADHS benötigen ein mehrstufiges Diagnosever- wie vor im Vordergrund, weil mit diesem Medikament eine fahren und ein multimodales Therapiekonzept. Vorrangig in der exaktere Einstellung möglich ist. Um Nebenwirkungen hintan Behandlung sind Psychoedukation, Elterntraining und Verhal- zu halten und zur exakten Dosisfindung, stellen Experten tenstherapie. Danach – bei besonders schweren Fällen bereits Methylphenidat zur Therapieeinstellung in den Vordergrund. früher – sollte an eine medikamentöse Behandlung gedacht werden. Dabei kommen heute hauptsächlich Psychostimulanzien Dosierungsempfehlungen wie Methyphenidat (Ritalin®, Concerta®) und Antidepressiva In der Einstellungsphase wird zunächst am Morgen ½ Tablette wie Atomoxetin (Strattera®) zum Einsatz. n Methylphenidat gegeben, dann erfolgt die Gabe von ½ Tablette Methylphenidat morgens und ½ Tablette mittags, dann eine 1 wöchentliche Steigerung um ¼ bis ½ Tablette, bis eine deut- „Struwwelpeter“ – nachzulesen unter http://de.wikisource.org/wiki/Der_Struw- liche Wirkung zu bemerken ist. Bei größeren Schulkindern welpeter/Die_Geschichte_vom_Zappel-Philipp 2 kann eine dreimal tägliche Gabe notwendig sein. Dies hängt „Stellungnahme zur Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Störung von der individuellen Wirkdauer ab. Eine Steigerung bis maxi- (ADHS)” – Langfassung der Deutschen Bundesärztekammer, 2005 3 mal 1mg/kg Körpergewicht pro Tag ist möglich. Sollte bis dahin MTA Coop. Group: A 14-month randomized clinical trial of treatment strategies noch immer keine Besserung eingetreten sein, ist die Überprü- for ADHD. Arch Gen Psychiat 1999;56:1073–86. 4 fung der Diagnose angezeigt. Kontrollen sollten eine und vier Reisel B.: „Diagnostisches Vorgehen bei ADHS“ 5 Wochen nach der Therapieeinstellung erfolgen. aus http://www.docs4you.at/Content.Node/Spezialbereiche/Entwicklungs-_und_ Sozialpaediatrie/ADHS_Standards_zur_Diagnostik_und_Therapie_Vavrik_2005.pdf 6 Ist die richtige Dosierung gefunden, kann auf retardiertes Döpfner M., Schürmann St., Lehmkuhl G.: „Wackelpeter und Trotzkopf“, Verlag Methylphenidat umgestellt werden. Auch eine Kombination Beltz PVU, 2006; ISBN 3621275673 7 der beiden Medikamente zur optimalen Einstellung über den Döpfner M., Schürmann St., Frölich J.: „Therapieprogramm für Kinder mit hyperkine- ganzen Tag ist möglich und sinnvoll. Für Patienten, die zur- tischen und oppositionellen Problemverhalten“; BeltzPVU, 2002; ISBN 3621274642 8 zeit kein Methylphenidat oder aber andere Stimulanzien als aus http://www.uni-duesseldorf.de/awmf/ll/071-006.htm n Impressum Verleger: Medizin Medien Austria GmbH DVR Nr.: 0753211 Verlags- und Redaktionsadresse: Wiedner Hauptstraße 120-124, 1050 Wien, Tel.: 01/546 00-0, Fax: DW 730, E-Mail: medizin@medizin-medien.at Geschäftsführung: Thomas Zembacher DW 110 Für den Inhalt verantwortlich: Prim. Dr. Rainer Fliedl, Ass-Prof. Dr. Brigitte Hackenberg, OA Dr. Wolfgang Kaschnitz, Prim. Dr. Werner Leixnering, Dr. Barbara Reisel, Dr. Herbert Sailer Lektorat: Eva Posch Art Direction: Karl J. Kuba Layout und DTP: Johannes Spandl Druck: Friedrich VDV, 4020 Linz Auflage: 5.000 Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung von Medizin Medien Austria GmbH. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. 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