Afghanistan-Friedensgespräche noch in den Startlöchern

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Afghanistan-Friedensgespräche
noch in den Startlöchern
Nach 19 Jahren Krieg haben Afghanistans Konfliktparteien
den langen Weg begonnen, nach einer friedlichen
Beendigung des Konflikts zu suchen. Von Thomas Ruttig

19 Jahre und einen Tag nach den                  Von dort kam nun Anfang März eine
9/11-Terroranschlägen in den USA, die ei-   völlig neue Idee. Nach dem Muster der
ne US-geführte Militärintervention im von   Bonner Afghanistan-Konferenz 2001 will
den Taleban kontrollierten Afghanistan      die US-Regierung nun eine weitere inter-
auslösten, begannen am 12. September        nationale Konferenz einberufen, bei der
2020 in Katars Hauptstadt Doha Friedens-    die beiden afghanischen Parteien ein Frie-
verhandlungen zwischen einer aus Regie-     densabkommen schließen und eine „Über-
rungs- und Oppositionsvertreter*innen       gangsfriedensregierung“ bilden sollen.
bestehenden Delegation aus Kabul und        Stattfinden soll sie in der Türkei. Pakistan,
den Taleban. Nach zähem Beginn versan-      Iran, China, Indien, Russland und die USA
deten sie Mitte Dezember 2020, bis sich     würden Beobachter*innen stellen – und
die Verhandler*innen Ende Februar wieder    wohl auch als Garantiemächte fungieren.
trafen. Denn alle afghanischen Kriegspar-   Damit könnten die intra-afghanischen Ge-
teien schauen gebannt in Richtung           spräche in Doha obsolet oder – im besten
Washington, ob der neue Präsident Joe Bi-   Falle – zu Gesprächen über die Umsetzung
den das vorausgegangene US-Taleban-Ab-      eines solchen Abkommens werden, wenn
kommen vom Februar 2020 revidiert.          es denn dazu kommt.

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     Unabhängige               Verhaltene Reaktion auf neue                  gehen umschwenken. Dann käme es da-
     Sicherheitsspezialis-     US-Vorschläge                                 rauf an, ob die Garantiemächte tatsächlich
     t*innen haben im drit-
     ten Quartal 2020 die      Bisher ist unklar, wie die beiden afgha-      etwas unternehmen – und dass sie sich auf
     höchste je registrierte   nischen Parteien darauf reagieren werden. ein einheitliches Vorgehen verständigen
     Zahl an Zwischenfällen
                               Die Taleban haben bisher auf die Einhal-      können. Das könnte angesichts der zahl-
     verzeichnet.
                               tung ihres Abkommens mit Washington           reichen Spannungen zwischen ihnen (Paki-
                               (also den Truppenabzug bis Ende April) ge- stan-Indien; USA-Iran; Iran-Pakistan; USA-
                               pocht. Sie dürften wenig Interesse daran      Russland-China) schwierig werden.
                               haben, dieses Paket noch einmal aufzu-            Nach der Idee aus Washington soll die
                               schnüren. In Kabul hat Präsident Ashraf       UNO die Umsetzung des Abkommens
                               Ghani bisher jede Form von Übergangsre-       überwachen. Auch das sieht danach aus,
                               gierung und eine Machtübergabe ohne           dass die USA die Verantwortung für Afgha-
                               Wahlen abgelehnt. Die Opposition im Land      nistan gern abgeben möchten.
                               findet die Idee gut, denn es würde sie wie-       Fortschritte gab es bei den Doha-Ge-
                               der (mit) an die Regierung bringen. Ghani     sprächen bis dahin nur wenige, und das
                               dürfte am leichtesten zu überzeugen sein,     war auch der Grund für den neuen Vorstoß
                               denn seine Regierung hängt völlig von US-     aus Washington. Eine Einigung wurde nur
                               Militär- und Finanzhilfe ab. Das Problem an in Verfahrensfragen erzielt, eine verein-
                               solch einer Konferenz: Sollte dabei tatsäch- barte Agenda für die weiteren Gespräche
                               lich ein Abkommen herauskommen und            gibt es noch nicht. Über die Themen sind
                               die restlichen westlichen Soldat*innen ab-    sich beide Seiten mehr oder weniger einig:
                               ziehen, bleiben grundlegende Konflikte im     Es soll eine „neue islamische Regierung“
                               Land trotzdem bestehen, und die Taleban       geben und einen Waffenstillstand – sprich
                               könnten doch wieder auf militärisches Vor- ein Ende des Krieges. Nur wollen die Tale-

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ban zuerst eine solche Regierung bilden         Bei der Eröffnung in Doha, die live aus
und erst nach Klärung aller Detailfragen    einem Luxushotel gestreamt wurde, legten
zur künftigen staatlichen Ordnung einer     beide afghanische Konfliktparteien in Er-
Waffenruhe zustimmen. Die Delegation        klärungen ihre Grundpositionen dar. Der
aus Kabul möchte eine Waffenruhe gleich     Chef des afghanischen Versöhnungsrates,
zu Beginn. Das lehnen die Taleban ab,       Abdullah Abdullah, würdigte die nach dem
denn damit würden sie ein wichtiges         Sturz des Taleban-Regimes 2001 erzielten
Druckmittel aufgeben – eines, dass sie      „Errungenschaften“ wie „Demokratie,
überhaupt erst an den Verhandlungstisch     Wahlen, Redefreiheit, Frauenrechte, Min-
gebracht hatte, nachdem die USA erfahren derheitenrechte, den Rechtsstaat,
mussten, dass sie militärisch nicht zu      Bürger*innen- und Menschenrechte“, die
schlagen sind.                              in der gegenwärtigen Verfassung ver-
                                            brieft, wenn auch nur in Ansätzen verwirk-
Erstmals direkte Gespräche                  licht sind. Er vermied aber zu sagen, dass
Beide afghanische Seiten sitzen sich in     diese vollständig bewahrt werden
Doha zum ersten Mal offiziell direkt gegen- müssten. Im Vorfeld hatte die Regierung
über. Während die international anerkann- den Taleban eine „Verfassungsreform“ an-
te Regierung von Präsident Ashraf Ghani     geboten. Jetzt hieß es aus Kabul, man best-
seit langem auf Direktgespräche gedrun-     ehe einzig auf die „Wahrung demokra-
gen hatte, verweigerten die Taleban dies    tischer Werte“.
bis dahin.                                      Abdullah, ein erfahrener Diplomat,
     Es hatte bisher lediglich eine Reihe   setzte auch einen neuen Akzent in Bezug
indirekter und geheimer Kontakte gege-      auf die bisherige Forderung Kabuls, dass      Über die Themen sind
ben. Bemerkenswert in dieser Hinsicht war mit Gesprächsbeginn eine landesweite            sich beide Seiten mehr
                                                                                          oder weniger einig:
ein von Norwegen veranstaltetes Treffen     Waffenruhe erklärt werden müsse. Nun          Es soll eine „neue isla-
im Sommer 2015, in dem in Oslo hochran-     sprach er davon, dass Kabul eine „humani-     mische Regierung“
gige Taleban-Vertreter erstmals afgha-      täre Waffenruhe“ anstrebe und ein umfas-      geben und einen
                                                                                          Waffenstillstand –
nischen Politiker*innen und zivilgesell-    sender Waffenstillstand „so bald wie mög-     sprich ein Ende des
schaftlichen Aktivist*innen begegneten.     lich“ folgen solle. Die Taleban beharren      Krieges.

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     Einflussreiche          bisher darauf, dass darüber erst verhan-       Abhängigkeit von westlicher
     Regierungsmitglieder    delt werden müsse.                             Unterstützung
     lehnen den gesamten
     Friedensprozess ab             Mulla Baradar, eigentlich Abdul Ghani   Die Rolle der USA bleibt selbst als Beobach-
     und versuchen, ihn zu   (nicht mit dem afghanischen Präsidenten        ter stark. Der damalige Außenminister
     unterminieren.          verwandt), der Taleban-Vizechef für poli-      Mike Pompeo, der zu diesem Treffen nach
                             tische Fragen, fasste sich kürzer. Er versi-   Doha gereist war, sagte den Versammel-
                             cherte, seine Bewegung sei „in aller Ehr-      ten, beide Parteien sollten bei ihrer Ent-
                             lichkeit“ an den Verhandlungstisch gekom- schlussfindung die Interessen Washingtons
                             men und beschränkte sich auf deren             im Blick haben, wenn sie an weiterer Un-
                             Hauptforderung, dass eine „islamische          terstützung interessiert seien. Auch mit
                             Ordnung“ für das Land am Ende der Ver-         den Taleban in der Regierung ist Afgha-
                             handlungen stehen müsse.                       nistan ohne externe Finanzhilfe nicht über-
                                    Abdullah und Baradar sind nicht die     lebensfähig.
                             jeweiligen Verhandlungsführer, sondern              Den Weg für dieses Treffen hatte erst
                             deren Vorgesetzte. Für Kabul hat der           das Doha-Abkommen zwischen den USA
                             frühere Geheimdienstchef Massum Sta-           und den Taleban freigemacht. Der von
                             nakzai diese Rolle übernommen, der seit        den USA darin zugesagte – und inzwi-
                             einem Taleban-Anschlag am Stock geht.          schen durch Trumps Befehl beschleunigte
                             Die Aufständischen ernannten noch kurz         – vollständige Truppenabzug, der auch
                             vor Gesprächsbeginn einen neuen                die Verbündeten einschließt, also auch die
                             Chefunterhändler. Abdul Hakim Haqqani          Truppen der anderen NATO- und alliierten
                             Eshaqzai ist der Chef ihres Rates der Is-      Staaten, soll bis Ende April 2021 abge-
                             lam-Geistlichen und gilt als konservativ.      schlossen werden. Das war das politische
                             Das wird die Gespräche nicht leichter ma-      Hauptziel der Taleban, die danach auch
                             chen, gibt der Taleban-Delegation aber         ihre Ablehnung von Direktgesprächen be-
                             mehr Gewicht und Entscheidungsbefug-           endeten. Allerdings bestehen sie immer
                             nis.                                           noch darauf, dass sie nicht direkt mit der

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von ihnen nach wie vor nicht aner-              Militärs geben zu, dass sich die Erfüllung
kannten Regierung sprechen, und in der          dieser Forderungen an die Taleban schwer
Tat schließt das „Kabuler“ Verhandlungs-        verifizieren lasse.
team auch Mitglieder oppositioneller
Gruppen sowie solche mit zivilgesell-           Verbesserte Ausgangslage für die
schaftlichem Hintergrund ein. Offiziell         Taleban
heißt es „Verhandlungsteam der ‚Isla-           Zweitens wird den Taleban vorgeworfen,
mischen Republik Afghanistan‘“.                 dass sie seit dem Doha-Abkommen die Ge-
     Bedingung für den Abzug ist aller-         walt im Land eskaliert haben. Laut US-Mili-
dings, dass die Taleban im Gegenzug ver-        tär wurde im letzten Quartal mehr ge-
hindern, dass Terrororganisationen wie          kämpft als im Vergleichszeitraum 2019.
al-Qaeda und der Islamische Staat von Af-       Unabhängige Sicherheitsspezialist*innen
ghanistan aus operieren können. Zwar            haben im dritten Quartal 2020 die höchste
verpflichteten sich die Taleban, es solchen     je registrierte Zahl an Zwischenfällen – also
Gruppen zu verwehren, „Afghanistans Bo-         direkten Kampfhandlungen, Anschlägen,
den zu nutzen, um die Sicherheit der Ver-       Bombardierungen u.a. – verzeichnet. Laut
einigten Staaten und ihrer Alliierten zu be-    UNO gehen fast 90 Prozent aller Kampf-
drohen“, und nicht mit ihnen zu kooperie-       handlungen von den Taleban aus. Formal
ren. Ausdrücklich nicht erwähnt ist eine        verletzt das aber das Abkommen gar nicht.
Ausweisung oder Verhaftung solcher
Kämpfer oder ihrer Familien, wenn sie sich
– wie bei vielen der Fall – nicht an Kämp-
fen beteiligen. Gleichzeitig tauchten zuletzt   Laut US-Militärwurde im letzten
wiederholt Berichte der afghanischen Re-
gierung über eine anhaltende Taleban-al-        Quartal mehr gekämpft als im
Qaeda-Kooperation auf. Einflussreiche Re-
gierungsmitglieder lehnen den gesamten
                                                Vergleichszeitraum 2019.
Friedensprozess ab und versuchen, ihn zu
unterminieren. Dazu gehört Vizepräsident
Amrullah Saleh, ein früherer Geheim-            Sie sollen sich nur verpflichtet haben, nicht
dienstchef, aus dessen früherem Haus            mehr die US- und verbündete westliche
viele der schwer zu überprüfenden Be-           Truppen sowie Bevölkerungszentren anzu-
richte stammen. Die Abgrenzung zwischen greifen. (Dieser Teil des Abkommens ist
beiden Gruppen ist in der Tat unscharf,         geheim.) Hingegen hielten sie sich diese
aber nicht jede*r Araber*in in Afghanistan      Option für die afghanischen Streitkräfte
gehört zu al-Qaeda. Zudem tendiert die          offen. Die USA akzeptierten das. Umstrit-
strategische Bedeutung der durch US-Luft- ten ist, ob die inzwischen fast täglichen
schläge erheblich geschwächten Gruppe           gezielten Mordanschläge auf militärische
für die Taleban gegen Null. Sie dürften so-     und zivile Regierungsvertreter*innen in
gar daran interessiert sein, al-Qaeda loszu- den Städten unter das Abkommen fallen.
werden, denn ihre Anwesenheit und et-           Oft übernimmt keine Gruppe dafür die
waige Vorwürfe der Kooperation sind die         Verantwortung.
wichtigsten Hürden für die eigene Rück-              Im Resultat gab es seither keine groß-
kehr an die Macht. Selbst hochrangige US-       en Taleban-Anschläge mehr in den Städ-

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                           ten. (Der Islamische Staat, der weiter        dessen Leben für Frauenrechte zu riskie-
                           bombt, wie zuletzt in der bisher friedlichen ren“.
                           Provinz Bamian und gegen die Universität           Teile der afghanischen Regierung und
                           sowie ein Bildungszentrum in Kabul, ist       Zivilgesellschaft hoffen jetzt darauf, dass
                           nicht Partei des Abkommens.) Gleichzeitig     Biden das Doha-Abkommen noch einmal
                           rückten die Taleban aber auf mehrere Pro-     aufschnürt – allerdings ohne sagen zu
                           vinzhauptstädte zu, darunter Kandahar         können, wie sie den Krieg unter solchen
                           und Kundus. Nach offiziellen afghanischen     Umständen beenden wollen. Böse gesagt,
                           Regierungsangaben sollen sie seit Unter-      repräsentieren diese Stimmen vor allem
                           zeichnung des Abkommens mit den USA           die städtischen Eliten, die vom Krieg weni-
                           auch 50 der etwa 400 Distriktzentren des      ger abbekommen (obwohl die häufigen
                           Landes attackiert haben – was sie selbst      Anschläge schlimm genug sind), während
                           bestreiten. Sie zerstören mit Autobomben      die schwersten Kämpfe abseits der Medi-
                           afghanische Armeebasen und Polizeipo-         enberichterstattung in den Landgebieten
                           sten und unterbrechen immer wieder            toben. Unterdessen hat die internationale
                           wichtige Straßenverbindungen. Die Moral       Staatengemeinschaft auf der Afghanistan-
                           bei den Regierungskräften bröckelt. In        Geberkonferenz am 23./24. November in
                           mehreren Provinzen räumten sie ohne Be-       Genf der Kabuler Regierung nicht nur fi-
                           fehl Stützpunkte, weil sie nicht mehr ver-    nanziell (wenn auch mit um 20 % gegen-
                           sorgt wurden. Offenbar schaffen die Tale-     über dem Vergleichszeitraum 2016-20 ge-
                           ban sich Ausgangspositionen für eine Situ-    sunkenen Zusagen), sondern auch politisch
                           ation, in der die Friedensgespräche mit Ka- den Rücken gestärkt und deren Forderung
                           bul zusammenbrechen.                          nach einem umfassenden und sofortigen
                               Trumps Truppenreduzierungsbe-             Waffenstillstand, den die Taleban zu Be-
                           schluss von Mitte November 2020, der die      ginn der Gespräche ablehnten, übernom-
                           Zahl der US-Truppen in Afghanistan bis        men.
                           Mitte Januar von 4.500 auf 2.500 redu-             Eines ist klar: Die Positionen beider
                           zierte, schwächt also die Verhandlungspo-     Seiten stehen einander diametral gegen-
                           sition der afghanischen Regierung weiter      über, und es wird viel Kompromissbereit-
                           und erweitert die Optionen der Taleban.       schaft erfordern, sich einander bis auf eine
                           Sie könnten so bei Verhandlungen mehr         Lösung anzunähern. Der Weg dahin wird
                           herausholen oder, sollten diese kollabie-     kompliziert und wohl viel Zeit benötigen.
                           ren, militärisch in die Offensive gehen. Ob   Insofern ist es immerhin gut, dass der un-
                           2.500 US-Soldat*innen sie dann noch stop-     berechenbare Hausherr im Weißen Haus
                           pen könnten, ist nicht sicher. In beiden      nun einem Realpolitiker gewichen ist.
                           Szenarien könnten konservative Elemente
                           im derzeitigen Kabuler politischen System
                           zu den Taleban überlaufen und das poli-
                           tische System kippen lassen. Demokra-
                           tische Freiheiten und Menschenrechte
                           stünden zur Disposition. Das aber ist
                           Washington nicht mehr wichtig. Selbst Bi-
                           den hat 2010 erklärt, er würde seinen
                           Sohn nicht nach Afghanistan schicken, „um

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