Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur

Die Seite wird erstellt Horst-Peter Mayer
 
WEITER LESEN
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
13. Geo-TaG der arTenvielfalT

Alles klar?!
Vom Leben
unter Wasser
Flüsse und Seen machen 2,4 Prozent der deutschen
Landesfläche aus. Was bewegt sich in ihnen, was
wächst in ihnen? Eine Frage für Experten des Leibniz-
Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei.
Sie tauchten ab zu den Seerosen im Stechlinsee,
in die Löcknitzaue im Osten Berlins. Und besuchten
auf dem Darß Forscher, die Störe züchten. Gelingt
es, diese Urfische wieder anzusiedeln, steigen auch
die Überlebenschancen anderer Süßwasserarten
Von Carsten Jasner (TEXT) und Solvin Zankl (FOtOS)

106 GEO 09|2011
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
Bewegungshilfe: Damit Wanderfische
wieder flussaufwärts schwimmen können,
wurde an der Löcknitz ein Wehr zur zwölf-
stufigen Fischtreppe umgebaut. Bei der
Aktion zum GEO-Tag der Artenvielfalt ein
perfekter Ort für Elektrokescher

    108 GEO 09|2011
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
Mini-Barsch mit roter Brust- und Bauchflosse: Perca fluviatilis

Taucherbrille für trockene Studien: Durch ihr Aquaskop kann ...

... Botanikerin Sabine Hilt vom Boot aus in die Tiefe schauen

Ihr Kollege Jürgen Schreiber wirbelt Biomasse per pedes auf
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
Auf dem dArss An der Ostsee fischen vier Män­            ein Experiment beginnen, das die europäischen Ge­
                   ner im Trüben. Knietief waten sie durch ein recht­       wässer von Grund auf verändern könnte. Die Rettung
                   eckiges Becken, das zum Glück breit genug ist, damit     des imposanten Störs, der je nach Art zwischen drei
                   ein großer Mann der Länge nach hineinpasst, wenn         und sechs Meter messen kann, gilt als „Leuchtturm­
                   er auf dem schlickigen Grund ausrutscht. So wie Jörn     projekt“, das auf die Güte aller Binnengewässer
                   Geßner: Er landet klatschend im Wasser. Um ihn her­      ausstrahlen soll. Sollte es gelingen, den Stör wieder
                   um winden sich graubraune, an die zwei Meter lange       einzubürgern und ihm gesunde Lebensräume zu
                   Gestalten durch die grüne Brühe, die vom Bodden          schaffen, würden auch andere Fische profitieren, die
                   hierher gepumpt wird. Die spitzen Höcker eines           ebenfalls verschwunden sind; vor allem sogenannte
                   gepanzerten Rückens tauchen auf, gefolgt von einer       Wanderfische, von denen einige zur Laichzeit vom
                   Schwanzflosse, die an jene eines Hais erinnert. Mit      Salzwasser ins Süßwasser wechseln: Lachse, Meer­
                   einem einzigen Schwanzhieb könnte der Stör die           forellen, Maifische, Schnäpel.
                   Knochen des Gestürzten brechen.                             „Was wir für den Stör tun“, sagt Geßner, „ist gut
                      Prustend richtet sich Geßner auf, seine Kollegen      für alle.“
                   feixen. Sie sind sich ziemlich sicher, dass die Fische
                   ihnen nichts tun: „Je größer das Tier“, sagt Geßner,
                   „desto gelassener. Sie fühlen sich nicht bedroht.“
                                                                            Ein Drittel aller Wirbeltierarten
                      Weltweit existieren 27 Störarten. Alle sind gefähr­   dieser Welt lebt im Süßwasser
                   det, manche stehen kurz vor dem Aussterben. Das          GEO hat den 13. Tag der Artenvielfalt dem „Lebens­
                   Leibniz­Institut für Gewässerökologie und Binnen­        raum Süßwasser“ gewidmet, der Forschung auf dem
                   fischerei (IGB) in Berlin hat sich einer ehrgeizigen     Darß und in einem exemplarischen Untersuchungs­
                   Aufgabe verschrieben: Es will zwei Störarten retten.     gebiet in der Nähe Berlins. Denn Flüsse und Seen,
                      Die Tiere im Boddenwasser sind Atlantische Störe,     Bäche und Teiche bedecken zwar nur ein Prozent der
                   wissenschaftlich: Acipenser oxyrinchus. Mit ihnen soll   Erdoberfläche, beherbergen aber zehn Prozent aller

Panzerkreuzer
der flüsse: störe lebten,
gemeinsam mit dino­
sauriern, schon vor 200
millionen Jahren. In ihrer
knöchrigen schnauze
verbergen sich Geruchs­
sinn und elektrorezepto­
ren; mit den Barteln
können sie tasten und
schmecken
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
Tierarten, sogar ein Drittel aller Wirbeltierarten. Frag-
lich ist allerdings, wie lange noch: Der Rückgang der
Artenvielfalt schreitet in diesen Habitaten besonders
schnell voran. Weil Wasser nun mal fließt, wirken
sich Störungen an einem Ort rasch anderswo aus.
   Binnengewässer sind vernetzt auf natürliche
Weise und zudem durch Kanäle; sie stehen in un-
mittelbarer Wechselwirkung mit Grundwasser, und
weil sie immer am topographisch tiefsten Punkt einer
Landschaft liegen, „sind sie Sammelbecken für alles,
was in ihrer Umgebung passiert“, erläutert Hans-
Peter Grossart, Mikrobiologe am IGB.
   Im Süßwasser landen Pflanzen- und Insektengifte
sowie Dünger aus der Landwirtschaft, Abwässer aus
Industrie und Haushalten, abgeschwemmte Substan-            rhombischer Panzerstückchen durchsetzt und wirkt         Reif für den Fluss?
zen aus verseuchten Böden und Mülldeponien.                 wie ein Kettenhemd. Der lange knochige Fortsatz          Biologe Jörn Geßner
   Den Rest besorgt die ingenieurtechnische Regulie-        an der Schnauze, in dem auch Geruchs- und Tastsinn       züchtet die hierzulande
rung der Flüsse; sie werden begradigt und ausgebag-         sitzen, erinnert an einen Rammbock. Derart gerüstet      ausgestorbenen Störe,
                                                                                                                     um sie in Elbe und
gert, ihre Funktion reduziert auf Wasserstraße und          konnte nur ein Wesen dem Stör Ärger machen: der
                                                                                                                     Oder auszusetzen. Im
Energielieferant.                                           Mensch.                                                  Aquarium werden die
   Hoffnung macht dagegen eine Initiative der Euro-            Im glitschigen Becken auf dem Darß bereiten Geß-      Fische bis zu andert-
päischen Union: Bis zum Jahr 2015 sollen alle euro-         ner und sein Team einen winzigen Eingriff vor. Sie       halb Meter lang; in der
päischen Binnengewässer einen „guten ökologischen           dirigieren die Weibchen unter Wasser auf eine Trage      Natur wachsen sie,
und chemischen Zustand“ erreichen. Zwar fallen              mit Seitenwänden und hieven sie auf zwei Holzböcke.      je nach Art, auf die
allein in Deutschland die Hälfte aller Gewässer, Ka-        80 Kilogramm Fisch schlagen krachend gegen die           vierfache Länge
näle etwa, unter eine Ausnahmeregelung, weil für            Kiste. Die Männer drehen das Tier auf den Rücken –
sie ein naturnaher Zustand als unmöglich gilt. Und          es erstarrt. Hinter vier langen Barten schnappt das
für die übrigen Gewässer kann die Frist bis 2027 ver-       zahnlose Maul nach Sauerstoff.
längert werden. Doch immerhin arbeiten erstmals                Geßner ist schnell. Ein knapp ein Zentimeter lan-
Wasserbehörden aller EU-Nationen zusammen – über            ger Schnitt in die Flanke zwischen die Knochenplat-
Grenzen hinweg, an die sich natürliche Fluss-Sys-           ten, dann schiebt er einen Trokar, der in der Human-
teme noch nie gehalten haben. Die Oder etwa hat als         medizin für Punktionen verwendet wird, durch Haut
vielfältiger Lebensraum nur eine Zukunft, wenn man          und Muskeln in einen Eierstock. Als er das Instru-
sie – und ihre zahlreichen Zuflüsse – grenzüberschrei-      ment wieder herauszieht, kleben an der stählernen
tend (wieder)belebt. Damit sich in ihr eines Tages,         Spitze rund zwei Dutzend zwei Millimeter kleine,
vielleicht in 15 Jahren, der Stör wieder wohlfühlt.         dunkelgraue Kügelchen.
                                                               Der Fisch darf zurück in sein Element. In drei bis
                                                            vier Wochen, den Zeitpunkt wird die Größe der ent-
Die Evolution hat den Stör                                  nommenen Eier anzeigen, können die Forscher eine
hervorragend ausgestattet                                   neue Stör-Generation zum Leben erwecken. Dann
Die Heldenrolle in der Kampagne zur Rettung                 brauchen sie die übrigen 450 000, die noch im Bauch
europäischer Gewässer besetzt mit dem Stör ein              des Weibchens lagern. Kulinarischer Marktwert:
eigentümliches Urvieh: Der Fisch ist uralt. Vor 200         Tausende Euro. „Wertlos“, findet Geßner, „verglichen
Millionen Jahren existierte er Seite an Seite mit Dino-     mit einem einzigen Ei, aus dem sich ein Tier entwi-
sauriern. Die meisten Tiere aus dieser Zeit kennen wir      ckelt, das irgendwann Nachkommen produziert.“
nur aus Fossilienfunden – der Stör aber lebt immer             Das ist das Ziel. Oder ein Traum?
noch. Einigermaßen jedenfalls.                              Massen von Stören zogen bis vor rund 100 Jahren
   Die Evolution hat ihn hervorragend ausgestattet.         jeden Sommer die europäischen Flüsse hinauf. Sie
An den fünf Knochenplatten-Reihen entlang Bauch,            leben im Meer, zum Laichen aber streben sie ins Süß-
Flanken und Rücken beißen sich Räuber die Zähne             wasser der Flüsse, weil ihr Nachwuchs im Larvensta-
aus. Die sandpapierartige Haut wird von einem Netz          dium kein Salz verträgt. Die Störe der Ostsee bogen in

                                                                                                                     09|2011 GEO 111
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
Der Stechlin, einer der klarsten Seen Deutschlands, beheimatet Hechte ...

... und kleine Moostierchen, die in kunstvollen Kolonien schwärmen

Für Farbe sorgen Bitterlinge, die zur Laichzeit violett schimmern

                                                                            Gesellige Kerlchen: Die Kaulquappen
                                                                            der Erdkröte weiden im Pulk Algen von der
                                                                            Wasseroberfläche ab. Nach etwa drei Monaten
Und ein Buchenblatt bietet Mikroorganismen Siedlungsraum                    ist ihre Metamorphose abgeschlossen
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
09|2011 GEO 113
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
die Oder ein; ihre Verwandten, die Europäische Störe      zeigen sich die ersten Umrisse der Larven in den
                  (Acipenser sturio), kämpften sich durch Elbe und Rhein    Eiern, vergleichbar mit Kaulquappen, knapp einen
                  Hunderte von Kilometern stromaufwärts und in Sei-         Zentimeter kurz. Bereit zum Aussetzen.
                  tenarme, um zu laichen.                                      Nur wo?
                                                                               Um das herauszufinden, wurden die Biologen zu
                                                                            Historikern. Sie studierten alte Fischereiberichte aus
                  Gesunde Süßwasserhabitate sind                            der Oderregion, die auf gute Fänge an traditionel-
                  in Deutschland fast verschwunden                          len Laichplätzen hinwiesen. Die Forscher prüften, ob
                  So wehrhaft der „Panzerkreuzer der Unterwasser-           diese Abschnitte inzwischen kanalisiert wurden oder
                  welt“ aussieht, so empfindlich und anspruchsvoll          der Weg dorthin versperrt ist. Falls nicht, schauten sie
                  ist er. Erst nach zehn bis 15 Jahren im salzigen Ozean    sich mit polnischen Kollegen vor Ort um: Zogen vom
                  ist der Stör bereit zur Fortpflanzung. Dann sucht das     Boot aus eine Videokamera über das Flussbett und
                  Weibchen klares, sauerstoffreiches Wasser mit Kies-       hofften auf Bilder von sauberem, algenfreiem Kies.
                  betten und Vertiefungen auf, in denen es zwischen         Maßen Wassertiefe, Sauerstoffgehalt, ph-Wert und
                  murmelgroßen Steinchen seine Ei-Fracht abstreift.         Strömungsgeschwindigkeit.
                  Die Männchen besamen das Gelege, nach drei bis
                  vier Tagen schlüpfen Larven. Die brauchen nicht nur       Als Treffer erwiesen sich die Warthe unterhalb
                  sauberes Wasser, sondern auch viele kleine Krebse,        von Poznań, die Drawa an ihrer Mündung in die
                  um sich den Bauch vollzuschlagen, wenn sie nach           Noteć unweit von Gorzów sowie die Oder westlich
                  zehn Tagen ihren Dottersack aufgezehrt haben.             von Wroclaw, Breslau.
                      Solche gesunden Habitate aber sind weitgehend            Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich
                  verschwunden. Darum hätte es keinen Sinn, die Tiere       die Rettung des Störs auf historische Fangberichte
                  irgendwo in einem Fluss auszusetzen. Zudem stam-          stützt. Niemand kannte Seen und Flüsse besser als die
                  men die Störe auf dem Darß nicht aus der Ostsee. „Die     Berufsfischer, ihr Zeugnis ist heute Gold wert. Jedoch
                  würden umdrehen, ihren Turbo anwerfen und zurück          sorgten sie auch dafür, dass die Gewässer sich leerten.
                  nach Nordamerika schwimmen“, sagt Geßner. Denn            Der schleichende Tod des Störs ist besonders gut für
                  dort hat er sie gefangen, in den Oberläufen des St.-Lo-   die Elbe dokumentiert.
                  renz-Stroms und des St.-John-Flusses, wo der Baltische       Mitte des 19. Jahrhunderts schießen Störe an der
                  Stör ursprünglich herkommt. Erst vor rund 1000 Jah-       Nordseemündung aus dem Wasser – das Zeichen zum
                  ren wanderte eine Gruppe nach Osteuropa aus.              Sammeln. Den Fischern kündigen sie damit ihr Kom-
                      Um die Art dort wieder anzusiedeln, müssen die        men an, zehntausendfach ziehen Störe zwischen April
                  Forscher die Tiere an ausgewählten Stellen aussetzen,     und August den Strom hinauf. Fischer klagen über
                  wenn sie wenige Tage bis Wochen jung sind: In die-        zerfetzte Netze, so viele drängen zugleich hinein. In
                  sem Stadium prägen sie sich die Gerüche ihres Hei-        einer Stör-Auktionshalle in Altona werden jährlich
                  matgewässers ein, um sie später wiederzufinden.           8000 Tiere umgesetzt. Mit dem Störhandel finanziert
                      Also werden Geßner und sein Team den Erwachse-        Gottfried Hagenbeck den Grundstock seines Tier-
                  nen in ungefähr drei Wochen, wenn Eier und Sperma         parks. Der Rogen wird zum Spottpreis an Aalfischer
                  reif sind, Hormone spritzen. Und dann Wache schie-        verkauft, die ihn als Köder in ihre Reusen stecken.
                  ben. Mit Keschern das Becken durchkämmen. Und             Störfleisch ist Massenware.
                  nach ein paar Stunden die ersten flottierenden Eier          Gegen Ende des Jahrhunderts fallen die Beute-
                  erhaschen. Das ist das Startsignal. Rasch werden sie      züge immer ärmer aus. 1894 berichtet ein Fischer aus
                  die Tiere erneut auf die Holzböcke hieven, dieses Mal     Altenwerder, sein Großvater und sein Vater hätten in
                  allerdings, um ihnen die Bäuche zu massieren. Bis aus     jeder Saison rund 1000 Störe erbeutet, er selbst aber
                  den Geschlechtsöffnungen Eier und Sperma quellen.         im Jahr 1875 nur 160; inzwischen seien es bloß noch
                      Im Labor vermengen sie beides in einer Schüssel,      zwei. Ab dieser Zeit werden die Elbe und ihre Neben-
                  wie es in der Natur auf einem Kiesbett geschehen          flüsse immer mehr zu Wasserstraßen umgebaut.
                  würde. Sie geben ein wenig Wasser hinzu, und so-             Seither stauen Wehre Saale, Mulde und Schwarze
                  gleich pulst in den Spermien das wilde Leben. „Sieht      Elster. In der Elbe bremsen steinerne Buhnen die
                  aus wie Tokio zur Rushhour“, sagt Geßner. Die be-         Strömung an den Seiten und beschleunigen sie in der
                  fruchteten Eier landen in Glaszylindern, durch die        Mitte. Dort gräbt sich der Strom in den Grund, spült
                  sauerstoffreiches Wasser sprudelt. Nach zwei Tagen        Steine und Sandbänke fort, ebnet die Sohle.

114 GEO 09|2011
Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
Was sonst noch wächst           Tagpfauenauge
                               und gedeiht: Fledermäuse        im Raupenstadium

                               Sibirische Schwertlilie         Tagfalterforscher
                               als Landeplatz für Insekten     in einer Feuchtwiese

Ein Tal unter der Lupe
30 Kilometer trennen das Löcknitztal vom
Zentrum Berlins. Gefühlte Distanz: Welten
Ein kleiner Fluss, der in Schlangenlinien läuft – kaum
ein anderer in Deutschland, der ursprünglicher wäre als die
Löcknitz. An ihren Ufern: Erlenbrüche, Weidenbrüche,
Feuchtwiesen, Trockenwiesen, Wäldchen.
In diese Mosaik-Landschaft zogen am 13. GEO-Tag der
Artenvielfalt 80 Biologen aus, um die heimischen Tiere und
Pflanzen zu identifizieren. Der diesjährige Partner der
Hauptveranstaltung, das Leibniz-Institut für Gewässeröko-
logie und Binnenfischerei (IGB), stellte zahlreiche Experten
für im und am Wasser lebende Arten. 650 solcher Spezies
zählten sie, darunter selten gewordene Süßwasserfische
wie den Schlammpeitzger. Die üppige Flora am Uferrand          Seerosen wuchern, wo die
zieht besonders Schmetterlinge an: 375 Falterarten fanden      Löcknitz langsam fließt
sich im Löcknitztal. Insgesamt entdeckten die Wissen-
schaftler in dem zwei Quadratkilometer großen Areal rund
2000 Arten. Auf eine hätten sie gern verzichtet: Mitglieder
der Familie Tabanidae – Bremsen.

Weitere Informationen zum GEO-Tag der Artenvielfalt
finden sich in dem diesem Heft beiliegenden 28-seitigen
Extra sowie unter www.geo.de/artenvielfalt
Störe, aber auch Lachse, Maifische und Schnäpel,           Als er Moose, Erde und Steinchen behutsam aus­
                  angewiesen auf Mulden, Untiefen und Kiese, weichen         einanderschiebt, entwickelt sich das Bild einer aqua­
                  zunächst auf Räume zwischen den Buhnen aus. Doch           tischen Kleintierwelt an einer mitteleuropäischen
                  als diese verlängert und erhöht werden, versanden die      Stromschnelle. In der Lache krümmen sich zwei
                  Laichgründe. Zugleich werden Altarme abgeschnitten         Zentimeter kleine Bachflohkrebse, dümpeln Larven
                  und zugeschüttet. Wo früher der Fluss mäanderte und        von Köcherfliegen mit ihren Behausungen aus Schilf­
                  bei Hochwasser Land eroberte, gewinnen nun die             rohrstückchen und Eintagsfliegenlarven mit langen
                  Bauern Land – auf Kosten von Fisch und Fischern.           Schwanzfäden. „Diese Arten zeigen einen hohen
                     Ungefiltert sammeln sich Fäkalschlamm und in­           Sauerstoffgehalt an“, sagt Brauns. „Oberhalb der
                  dustrielle Abwässer vor den Wehren. In den 1930er          Kaskaden, wo das Wasser langsamer fließt, würden
                  und 1940er Jahren krepieren Fische massenhaft.             wir die nicht finden.“
                  Die wenigen, die man lebend herausholt, schmecken             Dort steht ein Elektrofischer. Vor seinem Bauch
                  nach Phenol. Die Letzten ihrer Art werden von Fluss­       ein Kasten, ein Kabel hängt im Wasser – die Kathode;
                  fischern an Staustufen abgefangen – damit versetzen        das andere führt durch den Stiel eines Keschers in
                  sie ihrem eigenen Berufsstand den Todesstoß. 1969          dessen metallenen Rahmen – die Anode. Christian
                  zieht einer den letzten Stör aus der Eider.                Schomaker, Biologe am IGB, dreht an einem Knopf,
                     Ohne Süßwasser können sich diese Wanderfische           um Spannung zu erzeugen, die Fische in einem Ra­
                  nicht vermehren, ein paar Stör­Veteranen allerdings        dius von etwa anderthalb Metern anzieht. Plötzlich
                  stromern noch durch die Meere. 1993 wird ein rund          ploppen ein knappes Dutzend Tiere an die Oberflä­
                  50 Jahre altes und 2,85 Meter langes Exemplar aus der      che, darunter Döbel, Aal und Hecht. Solange die Tiere
                  Ostsee gefischt und in der Kantine des Bonner Innen­       bewegungsunfähig sind, etwa zwei Minuten lang,
                  ministeriums in 250 Portionen zerlegt. Da steht der        werden sie vermessen. Auch der seltene Schlamm­
                  Fisch längst unter Naturschutz.                            peitzger und der Steinbeißer gehen ins Netz.

                                                                             Über 20 Fischarten haben sich in der Löcknitz wie­
                  In wenigen Jahren können sich                              der angesiedelt. Kleintiere bieten ihnen ausreichend
                  verseuchte Flüsse gut erholen                              Nahrung. Für klares Wasser sorgen Wasserpflanzen
                  Nachwendezeit: Das Ausmaß der Gewässerverseu­              wie Froschbiss, Tausendblatt und Schwimmendes
                  chung, das die ostdeutsche Industrie angerichtet hat,      Laichkraut: Sie produzieren Sauerstoff, filtern Nähr­
                  zeichnet sich immer deutlicher ab. Kläranlagen sind        stoffe und hemmen so das Wachstum von Kleinalgen;
                  miserabel oder fehlen ganz. Flüsse, Bäche, Seen kip­       und dienen Fischen als Versteck und zur Eiablage.
                  pen, weil LPGs und Fischzuchtbetriebe rund ums Jahr            Der Fluss ist allerdings kein reines Werk der Natur.
                  viel zu viel Dünger und Nährstoffe ausbringen.             Der besonders idyllisch anmutende Abschnitt, wo die
                     30 Kilometer östlich von Berlin verseuchen Abwäs­       Löcknitz sturzbachartig über kleine Findlinge springt,
                  ser einer Forellenmastanlage das Flüsschen Löcknitz.       ist ein Kunstprodukt: eine Fischtreppe, unterlegt mit
                  Faulschlamm erstickt alle mehrzelligen Lebenformen.        einer riesigen Vliesplane. Früher lag hier ein Wehr,
                  Als der Betrieb nach der Wende schließt, erholt sich das   2001 wurde es durch zwölf Becken ersetzt. Statt an
                  Tal überraschend in nur wenigen Jahren. Sodass am          eine steile, unüberwindbare Staumauer gelangen die
                  GEO­Tag der Artenvielfalt Experten für Flora und Fau­      Fische nun an eine sanft ansteigende Beckenkaskade.
                  na in nur 24 Stunden rund 2000 Arten auf dem zwei          Durch versetzte Lücken schlüpfen sie Stufe für Stufe
                  Quadratkilometer großen Areal kartieren können.            in den Oberlauf.
                     Die Löcknitz schlängelt sich 27 Kilometer weit              Durchschnittlich alle zwei Kilometer stellt sich
                  durch eine Niedermoorlandschaft um gestürzte               deutschen Bächen und Flüssen ein „Querbauwerk“
                  Baumstämme, beschattet von Röhricht und Erlenbrü­          in den Weg. Dabei brauchen alle Fische, nicht nur
                  chen, gespeist von Quellwasser, das sich aus Hängen        die Wanderer, freie Bahn. Fischtreppen spielen des­
                  Wege durch morastigen Grund bahnt. An einer Stelle         halb eine Schlüsselrolle bei der Wiederbelebung
                  rauscht der Bach kaskadenartig über Findlinge etwa         der Binnengewässer. Die größte Europas wurde 2010
                  einen Meter abwärts. Mario Brauns vom Umweltfor­           in der Elbe am Wehr Geesthacht errichtet. Über einen
                  schungszentrum in Leipzig wälzt einen der unteren          halben Kilometer winden sich in einer Schleife 45 Be­
                  Steine um. Was er findet, schaufelt er mit den Händen      cken. Jedes ist neun Meter lang – nach Maß angelegt
                  in eine Plastikwanne.                                      für den Europäischen Stör.

116 GEO 09|2011
Die Elbe ist wieder offen für die großen Wanderer.
                                                                                     Der Fluss ist eine der wichtigsten europäischen Schiff-
                                                                                     fahrtsstraßen und der aussichtsreichste Kandidat,
                                                                                     einen naturnahen Zustand wiederzuerlangen. Der
                                                                                     Fischwanderweg reicht nun bis Tschechien. Im Mit-
                                                                                     telteil, zwischen Magdeburg und Torgau, werden
                                                                                     in den kommenden Jahren Deiche rückverlegt und
                                                                                     Altarme wieder angeschlossen; so sollen über 1000
                                                                                     Hektar Überschwemmungsfläche gewonnen werden.
                                                                                     Die meisten anderen Schifffahrtswege allerdings sind
                                                                                     dermaßen verbaut, dass sie wohl niemals jenen
                                                                                     „guten ökologischen Zustand“ erreichen werden,
                                                                                     wie ihn die EU definiert hat.
                                                                                        Fast zehn Milliarden Euro, so das Bundesumwelt-
        Dickschädel:           Der benutzt die Treppe – elbaufwärts jedenfalls.      ministerium, werden die geplanten „50 000 bis
    Gleich mehrere Kno-     Während Jörn Geßner auf dem Darß die Vermehrung          100 000 Einzelmaßnahmen“ an Flüssen und Seen kos-
   chenpanzer schützen      der Störe vorbereitet, verfolgen Frank Fredrich und      ten. Wie viele es genau werden, kann niemand vor-
  den Stör vor Attacken     Jan Hallermann einen Fisch mit Namen „3020“, dem         hersehen. Denn trotz aller Anstrengung, trotz aller
   größerer Raubfische.     sie sieben Tage zuvor bei Magdeburg die Freiheit ge-     Erfolge: Nur zehn Prozent der deutschen Gewässer
 Sein einziger Feind ist
                            schenkt haben. Der Fisch schwimmt nun elbabwärts,        sind derzeit in einem „guten ökologischen Zustand“.
der Mensch mit seinem
      Appetit auf Kaviar.   das Ziel: die Nordsee. Seine Eltern stammen von den      Experten erwarten, dass ungefähr noch einmal so
 Der Stör selbst verhält    letzten Europäischen Stören aus der Gironde an der       viele Teiche, Seen, Bäche und Flüsse diese Qualität bis
     sich meist friedlich   französischen Atlantikküste ab.                          2015 erreichen, nach allen Maßnahmen. Hoffnung
                                                                                     setzen sie dabei in den zuverlässigsten und billigsten
                                                                                     Bauherrn, die Natur selbst.
                            Treppen statt Wehre, damit Wan-                             Denn oft reicht ein kleiner Anstoß: Der Mensch
                            derfische wieder wandern können                          entfernt Beton und Steinschüttungen und verzichtet
                            3020 trägt einen Sender im Bauch, den Fredrich und       auf das jährliche radikale Mähen der Ufer. Pflanzt
                            Hallermann per Telemetrie auf einem Motorboot            Büsche, befestigt hier und da tote Stämme unterhalb
                            verfolgen. Während die Forscher den Geesthachter         der Wasseroberfläche. Das drängt die Strömung aus
                            Schleusenkanal passieren, nimmt der Stör die Abkür-      ihrer erzwungenen Schusslinie und bremst. Dann
                            zung und stürzt sich das Wehr hinab. Einen Tag später    schwemmt sie nicht länger Sedimente fort, beginnt
                            erreichen Fisch und Forscher den Hamburger Hafen.        zu schlingern und baut mit dem Schwung kommen-
                            Der Stör biegt in die Süderelbe ein. Das Hafenwasser     der Hochwasser Kurven abseits des alten Strom-
                            kann arm an Sauerstoff sein, vor allem am Grund, wo      strichs. Wasserpflanzen und Schilf, Weiden, Schwarz-
                            der Fisch bevorzugt schwimmt. Wird er umkehren?          pappeln und Erlen wachsen. Fische und Amphibien,
                               Er kehrt um. Für ein paar Stunden, solange die Flut   Rohrsänger, Biber und Otter kehren zurück.
                            in die Elbe drückt; auf ihrem Weg ins Meer orientie-        Viel Wasser wird Bäche und Flüsse hinunterflie-
                            ren sich Störe an der Strömung – auch wenn die vor-      ßen, bis irgendwann der Stör hinaufschwimmt; Jörn
                            übergehend stromaufwärts fließt. Beim nächsten Ti-       Geßner wird demnächst seine Jungstöre an einem
                            denwechsel erneute Kehrtwende. Die Forscher heften       der Oderzuflüsse aussetzen, seit 2006 hat er 200 000
                            sich an die Flossen von 3020 und wagen sich bis in       Fische in die Freiheit entlassen.
                            den Containerhafen vor. Gefährlich: Große Pötte sind        Und am Ufer will er auf einer Bank sitzen, im April
                            unterwegs, das Kajütboot muss häufig die Fahrrinne       des Jahres 2025, wenn die Tiere aus der Zucht auf dem
                            queren, um den Fisch nicht zu verlieren, und es ist      Darß erstmals zum Laichen in ihre Heimat zurück-
                            Nacht. Schließlich warnt sie die Wasserschutzpolizei:    kehren könnten: „Dann schauen wir mal.“                              P
                            Ein Containerschiff kommt auf sie zu, die Forscher
                                                                                     GEO-Autor Carsten Jasner, Berliner, war vollkommen erstaunt über
                            müssen die Verfolgung aufgeben.
                                                                                     das Naturidyll vor den Toren seiner Stadt. Solvin Zankl, seit Jahren mit
                               Den gefährlichsten Teil seiner Wanderung hat der      der Kamera beim GEO-Tag dabei, ging dieses Jahr mit Tauchausrüstung
                            Stör hinter sich. Von Hamburg aus wird 3020 wahr-        auf Fotosafari. An Land fotografierten außerdem Friederike Branden-
                                                                                     burg, You Chenxue und Heiner Müller-Elsner.
                            scheinlich seinen Weg in die Nordsee finden.

                                                                                           Mehr zum GEO-Tag der Artenvielfalt sowie ein Film
         118 GEO 09|2011                                              G de                 zum Projekt im Löcknitztal: www.geo.de/artenvielfalt
Sie können auch lesen