Alles klar?! Vom Leben unter Wasser - GEO-Tag der Natur
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13. Geo-TaG der arTenvielfalT Alles klar?! Vom Leben unter Wasser Flüsse und Seen machen 2,4 Prozent der deutschen Landesfläche aus. Was bewegt sich in ihnen, was wächst in ihnen? Eine Frage für Experten des Leibniz- Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Sie tauchten ab zu den Seerosen im Stechlinsee, in die Löcknitzaue im Osten Berlins. Und besuchten auf dem Darß Forscher, die Störe züchten. Gelingt es, diese Urfische wieder anzusiedeln, steigen auch die Überlebenschancen anderer Süßwasserarten Von Carsten Jasner (TEXT) und Solvin Zankl (FOtOS) 106 GEO 09|2011
Bewegungshilfe: Damit Wanderfische wieder flussaufwärts schwimmen können, wurde an der Löcknitz ein Wehr zur zwölf- stufigen Fischtreppe umgebaut. Bei der Aktion zum GEO-Tag der Artenvielfalt ein perfekter Ort für Elektrokescher 108 GEO 09|2011
Mini-Barsch mit roter Brust- und Bauchflosse: Perca fluviatilis Taucherbrille für trockene Studien: Durch ihr Aquaskop kann ... ... Botanikerin Sabine Hilt vom Boot aus in die Tiefe schauen Ihr Kollege Jürgen Schreiber wirbelt Biomasse per pedes auf
Auf dem dArss An der Ostsee fischen vier Män ein Experiment beginnen, das die europäischen Ge ner im Trüben. Knietief waten sie durch ein recht wässer von Grund auf verändern könnte. Die Rettung eckiges Becken, das zum Glück breit genug ist, damit des imposanten Störs, der je nach Art zwischen drei ein großer Mann der Länge nach hineinpasst, wenn und sechs Meter messen kann, gilt als „Leuchtturm er auf dem schlickigen Grund ausrutscht. So wie Jörn projekt“, das auf die Güte aller Binnengewässer Geßner: Er landet klatschend im Wasser. Um ihn her ausstrahlen soll. Sollte es gelingen, den Stör wieder um winden sich graubraune, an die zwei Meter lange einzubürgern und ihm gesunde Lebensräume zu Gestalten durch die grüne Brühe, die vom Bodden schaffen, würden auch andere Fische profitieren, die hierher gepumpt wird. Die spitzen Höcker eines ebenfalls verschwunden sind; vor allem sogenannte gepanzerten Rückens tauchen auf, gefolgt von einer Wanderfische, von denen einige zur Laichzeit vom Schwanzflosse, die an jene eines Hais erinnert. Mit Salzwasser ins Süßwasser wechseln: Lachse, Meer einem einzigen Schwanzhieb könnte der Stör die forellen, Maifische, Schnäpel. Knochen des Gestürzten brechen. „Was wir für den Stör tun“, sagt Geßner, „ist gut Prustend richtet sich Geßner auf, seine Kollegen für alle.“ feixen. Sie sind sich ziemlich sicher, dass die Fische ihnen nichts tun: „Je größer das Tier“, sagt Geßner, „desto gelassener. Sie fühlen sich nicht bedroht.“ Ein Drittel aller Wirbeltierarten Weltweit existieren 27 Störarten. Alle sind gefähr dieser Welt lebt im Süßwasser det, manche stehen kurz vor dem Aussterben. Das GEO hat den 13. Tag der Artenvielfalt dem „Lebens LeibnizInstitut für Gewässerökologie und Binnen raum Süßwasser“ gewidmet, der Forschung auf dem fischerei (IGB) in Berlin hat sich einer ehrgeizigen Darß und in einem exemplarischen Untersuchungs Aufgabe verschrieben: Es will zwei Störarten retten. gebiet in der Nähe Berlins. Denn Flüsse und Seen, Die Tiere im Boddenwasser sind Atlantische Störe, Bäche und Teiche bedecken zwar nur ein Prozent der wissenschaftlich: Acipenser oxyrinchus. Mit ihnen soll Erdoberfläche, beherbergen aber zehn Prozent aller Panzerkreuzer der flüsse: störe lebten, gemeinsam mit dino sauriern, schon vor 200 millionen Jahren. In ihrer knöchrigen schnauze verbergen sich Geruchs sinn und elektrorezepto ren; mit den Barteln können sie tasten und schmecken
Tierarten, sogar ein Drittel aller Wirbeltierarten. Frag- lich ist allerdings, wie lange noch: Der Rückgang der Artenvielfalt schreitet in diesen Habitaten besonders schnell voran. Weil Wasser nun mal fließt, wirken sich Störungen an einem Ort rasch anderswo aus. Binnengewässer sind vernetzt auf natürliche Weise und zudem durch Kanäle; sie stehen in un- mittelbarer Wechselwirkung mit Grundwasser, und weil sie immer am topographisch tiefsten Punkt einer Landschaft liegen, „sind sie Sammelbecken für alles, was in ihrer Umgebung passiert“, erläutert Hans- Peter Grossart, Mikrobiologe am IGB. Im Süßwasser landen Pflanzen- und Insektengifte sowie Dünger aus der Landwirtschaft, Abwässer aus Industrie und Haushalten, abgeschwemmte Substan- rhombischer Panzerstückchen durchsetzt und wirkt Reif für den Fluss? zen aus verseuchten Böden und Mülldeponien. wie ein Kettenhemd. Der lange knochige Fortsatz Biologe Jörn Geßner Den Rest besorgt die ingenieurtechnische Regulie- an der Schnauze, in dem auch Geruchs- und Tastsinn züchtet die hierzulande rung der Flüsse; sie werden begradigt und ausgebag- sitzen, erinnert an einen Rammbock. Derart gerüstet ausgestorbenen Störe, um sie in Elbe und gert, ihre Funktion reduziert auf Wasserstraße und konnte nur ein Wesen dem Stör Ärger machen: der Oder auszusetzen. Im Energielieferant. Mensch. Aquarium werden die Hoffnung macht dagegen eine Initiative der Euro- Im glitschigen Becken auf dem Darß bereiten Geß- Fische bis zu andert- päischen Union: Bis zum Jahr 2015 sollen alle euro- ner und sein Team einen winzigen Eingriff vor. Sie halb Meter lang; in der päischen Binnengewässer einen „guten ökologischen dirigieren die Weibchen unter Wasser auf eine Trage Natur wachsen sie, und chemischen Zustand“ erreichen. Zwar fallen mit Seitenwänden und hieven sie auf zwei Holzböcke. je nach Art, auf die allein in Deutschland die Hälfte aller Gewässer, Ka- 80 Kilogramm Fisch schlagen krachend gegen die vierfache Länge näle etwa, unter eine Ausnahmeregelung, weil für Kiste. Die Männer drehen das Tier auf den Rücken – sie ein naturnaher Zustand als unmöglich gilt. Und es erstarrt. Hinter vier langen Barten schnappt das für die übrigen Gewässer kann die Frist bis 2027 ver- zahnlose Maul nach Sauerstoff. längert werden. Doch immerhin arbeiten erstmals Geßner ist schnell. Ein knapp ein Zentimeter lan- Wasserbehörden aller EU-Nationen zusammen – über ger Schnitt in die Flanke zwischen die Knochenplat- Grenzen hinweg, an die sich natürliche Fluss-Sys- ten, dann schiebt er einen Trokar, der in der Human- teme noch nie gehalten haben. Die Oder etwa hat als medizin für Punktionen verwendet wird, durch Haut vielfältiger Lebensraum nur eine Zukunft, wenn man und Muskeln in einen Eierstock. Als er das Instru- sie – und ihre zahlreichen Zuflüsse – grenzüberschrei- ment wieder herauszieht, kleben an der stählernen tend (wieder)belebt. Damit sich in ihr eines Tages, Spitze rund zwei Dutzend zwei Millimeter kleine, vielleicht in 15 Jahren, der Stör wieder wohlfühlt. dunkelgraue Kügelchen. Der Fisch darf zurück in sein Element. In drei bis vier Wochen, den Zeitpunkt wird die Größe der ent- Die Evolution hat den Stör nommenen Eier anzeigen, können die Forscher eine hervorragend ausgestattet neue Stör-Generation zum Leben erwecken. Dann Die Heldenrolle in der Kampagne zur Rettung brauchen sie die übrigen 450 000, die noch im Bauch europäischer Gewässer besetzt mit dem Stör ein des Weibchens lagern. Kulinarischer Marktwert: eigentümliches Urvieh: Der Fisch ist uralt. Vor 200 Tausende Euro. „Wertlos“, findet Geßner, „verglichen Millionen Jahren existierte er Seite an Seite mit Dino- mit einem einzigen Ei, aus dem sich ein Tier entwi- sauriern. Die meisten Tiere aus dieser Zeit kennen wir ckelt, das irgendwann Nachkommen produziert.“ nur aus Fossilienfunden – der Stör aber lebt immer Das ist das Ziel. Oder ein Traum? noch. Einigermaßen jedenfalls. Massen von Stören zogen bis vor rund 100 Jahren Die Evolution hat ihn hervorragend ausgestattet. jeden Sommer die europäischen Flüsse hinauf. Sie An den fünf Knochenplatten-Reihen entlang Bauch, leben im Meer, zum Laichen aber streben sie ins Süß- Flanken und Rücken beißen sich Räuber die Zähne wasser der Flüsse, weil ihr Nachwuchs im Larvensta- aus. Die sandpapierartige Haut wird von einem Netz dium kein Salz verträgt. Die Störe der Ostsee bogen in 09|2011 GEO 111
Der Stechlin, einer der klarsten Seen Deutschlands, beheimatet Hechte ... ... und kleine Moostierchen, die in kunstvollen Kolonien schwärmen Für Farbe sorgen Bitterlinge, die zur Laichzeit violett schimmern Gesellige Kerlchen: Die Kaulquappen der Erdkröte weiden im Pulk Algen von der Wasseroberfläche ab. Nach etwa drei Monaten Und ein Buchenblatt bietet Mikroorganismen Siedlungsraum ist ihre Metamorphose abgeschlossen
die Oder ein; ihre Verwandten, die Europäische Störe zeigen sich die ersten Umrisse der Larven in den (Acipenser sturio), kämpften sich durch Elbe und Rhein Eiern, vergleichbar mit Kaulquappen, knapp einen Hunderte von Kilometern stromaufwärts und in Sei- Zentimeter kurz. Bereit zum Aussetzen. tenarme, um zu laichen. Nur wo? Um das herauszufinden, wurden die Biologen zu Historikern. Sie studierten alte Fischereiberichte aus Gesunde Süßwasserhabitate sind der Oderregion, die auf gute Fänge an traditionel- in Deutschland fast verschwunden len Laichplätzen hinwiesen. Die Forscher prüften, ob So wehrhaft der „Panzerkreuzer der Unterwasser- diese Abschnitte inzwischen kanalisiert wurden oder welt“ aussieht, so empfindlich und anspruchsvoll der Weg dorthin versperrt ist. Falls nicht, schauten sie ist er. Erst nach zehn bis 15 Jahren im salzigen Ozean sich mit polnischen Kollegen vor Ort um: Zogen vom ist der Stör bereit zur Fortpflanzung. Dann sucht das Boot aus eine Videokamera über das Flussbett und Weibchen klares, sauerstoffreiches Wasser mit Kies- hofften auf Bilder von sauberem, algenfreiem Kies. betten und Vertiefungen auf, in denen es zwischen Maßen Wassertiefe, Sauerstoffgehalt, ph-Wert und murmelgroßen Steinchen seine Ei-Fracht abstreift. Strömungsgeschwindigkeit. Die Männchen besamen das Gelege, nach drei bis vier Tagen schlüpfen Larven. Die brauchen nicht nur Als Treffer erwiesen sich die Warthe unterhalb sauberes Wasser, sondern auch viele kleine Krebse, von Poznań, die Drawa an ihrer Mündung in die um sich den Bauch vollzuschlagen, wenn sie nach Noteć unweit von Gorzów sowie die Oder westlich zehn Tagen ihren Dottersack aufgezehrt haben. von Wroclaw, Breslau. Solche gesunden Habitate aber sind weitgehend Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich verschwunden. Darum hätte es keinen Sinn, die Tiere die Rettung des Störs auf historische Fangberichte irgendwo in einem Fluss auszusetzen. Zudem stam- stützt. Niemand kannte Seen und Flüsse besser als die men die Störe auf dem Darß nicht aus der Ostsee. „Die Berufsfischer, ihr Zeugnis ist heute Gold wert. Jedoch würden umdrehen, ihren Turbo anwerfen und zurück sorgten sie auch dafür, dass die Gewässer sich leerten. nach Nordamerika schwimmen“, sagt Geßner. Denn Der schleichende Tod des Störs ist besonders gut für dort hat er sie gefangen, in den Oberläufen des St.-Lo- die Elbe dokumentiert. renz-Stroms und des St.-John-Flusses, wo der Baltische Mitte des 19. Jahrhunderts schießen Störe an der Stör ursprünglich herkommt. Erst vor rund 1000 Jah- Nordseemündung aus dem Wasser – das Zeichen zum ren wanderte eine Gruppe nach Osteuropa aus. Sammeln. Den Fischern kündigen sie damit ihr Kom- Um die Art dort wieder anzusiedeln, müssen die men an, zehntausendfach ziehen Störe zwischen April Forscher die Tiere an ausgewählten Stellen aussetzen, und August den Strom hinauf. Fischer klagen über wenn sie wenige Tage bis Wochen jung sind: In die- zerfetzte Netze, so viele drängen zugleich hinein. In sem Stadium prägen sie sich die Gerüche ihres Hei- einer Stör-Auktionshalle in Altona werden jährlich matgewässers ein, um sie später wiederzufinden. 8000 Tiere umgesetzt. Mit dem Störhandel finanziert Also werden Geßner und sein Team den Erwachse- Gottfried Hagenbeck den Grundstock seines Tier- nen in ungefähr drei Wochen, wenn Eier und Sperma parks. Der Rogen wird zum Spottpreis an Aalfischer reif sind, Hormone spritzen. Und dann Wache schie- verkauft, die ihn als Köder in ihre Reusen stecken. ben. Mit Keschern das Becken durchkämmen. Und Störfleisch ist Massenware. nach ein paar Stunden die ersten flottierenden Eier Gegen Ende des Jahrhunderts fallen die Beute- erhaschen. Das ist das Startsignal. Rasch werden sie züge immer ärmer aus. 1894 berichtet ein Fischer aus die Tiere erneut auf die Holzböcke hieven, dieses Mal Altenwerder, sein Großvater und sein Vater hätten in allerdings, um ihnen die Bäuche zu massieren. Bis aus jeder Saison rund 1000 Störe erbeutet, er selbst aber den Geschlechtsöffnungen Eier und Sperma quellen. im Jahr 1875 nur 160; inzwischen seien es bloß noch Im Labor vermengen sie beides in einer Schüssel, zwei. Ab dieser Zeit werden die Elbe und ihre Neben- wie es in der Natur auf einem Kiesbett geschehen flüsse immer mehr zu Wasserstraßen umgebaut. würde. Sie geben ein wenig Wasser hinzu, und so- Seither stauen Wehre Saale, Mulde und Schwarze gleich pulst in den Spermien das wilde Leben. „Sieht Elster. In der Elbe bremsen steinerne Buhnen die aus wie Tokio zur Rushhour“, sagt Geßner. Die be- Strömung an den Seiten und beschleunigen sie in der fruchteten Eier landen in Glaszylindern, durch die Mitte. Dort gräbt sich der Strom in den Grund, spült sauerstoffreiches Wasser sprudelt. Nach zwei Tagen Steine und Sandbänke fort, ebnet die Sohle. 114 GEO 09|2011
Was sonst noch wächst Tagpfauenauge und gedeiht: Fledermäuse im Raupenstadium Sibirische Schwertlilie Tagfalterforscher als Landeplatz für Insekten in einer Feuchtwiese Ein Tal unter der Lupe 30 Kilometer trennen das Löcknitztal vom Zentrum Berlins. Gefühlte Distanz: Welten Ein kleiner Fluss, der in Schlangenlinien läuft – kaum ein anderer in Deutschland, der ursprünglicher wäre als die Löcknitz. An ihren Ufern: Erlenbrüche, Weidenbrüche, Feuchtwiesen, Trockenwiesen, Wäldchen. In diese Mosaik-Landschaft zogen am 13. GEO-Tag der Artenvielfalt 80 Biologen aus, um die heimischen Tiere und Pflanzen zu identifizieren. Der diesjährige Partner der Hauptveranstaltung, das Leibniz-Institut für Gewässeröko- logie und Binnenfischerei (IGB), stellte zahlreiche Experten für im und am Wasser lebende Arten. 650 solcher Spezies zählten sie, darunter selten gewordene Süßwasserfische wie den Schlammpeitzger. Die üppige Flora am Uferrand Seerosen wuchern, wo die zieht besonders Schmetterlinge an: 375 Falterarten fanden Löcknitz langsam fließt sich im Löcknitztal. Insgesamt entdeckten die Wissen- schaftler in dem zwei Quadratkilometer großen Areal rund 2000 Arten. Auf eine hätten sie gern verzichtet: Mitglieder der Familie Tabanidae – Bremsen. Weitere Informationen zum GEO-Tag der Artenvielfalt finden sich in dem diesem Heft beiliegenden 28-seitigen Extra sowie unter www.geo.de/artenvielfalt
Störe, aber auch Lachse, Maifische und Schnäpel, Als er Moose, Erde und Steinchen behutsam aus angewiesen auf Mulden, Untiefen und Kiese, weichen einanderschiebt, entwickelt sich das Bild einer aqua zunächst auf Räume zwischen den Buhnen aus. Doch tischen Kleintierwelt an einer mitteleuropäischen als diese verlängert und erhöht werden, versanden die Stromschnelle. In der Lache krümmen sich zwei Laichgründe. Zugleich werden Altarme abgeschnitten Zentimeter kleine Bachflohkrebse, dümpeln Larven und zugeschüttet. Wo früher der Fluss mäanderte und von Köcherfliegen mit ihren Behausungen aus Schilf bei Hochwasser Land eroberte, gewinnen nun die rohrstückchen und Eintagsfliegenlarven mit langen Bauern Land – auf Kosten von Fisch und Fischern. Schwanzfäden. „Diese Arten zeigen einen hohen Ungefiltert sammeln sich Fäkalschlamm und in Sauerstoffgehalt an“, sagt Brauns. „Oberhalb der dustrielle Abwässer vor den Wehren. In den 1930er Kaskaden, wo das Wasser langsamer fließt, würden und 1940er Jahren krepieren Fische massenhaft. wir die nicht finden.“ Die wenigen, die man lebend herausholt, schmecken Dort steht ein Elektrofischer. Vor seinem Bauch nach Phenol. Die Letzten ihrer Art werden von Fluss ein Kasten, ein Kabel hängt im Wasser – die Kathode; fischern an Staustufen abgefangen – damit versetzen das andere führt durch den Stiel eines Keschers in sie ihrem eigenen Berufsstand den Todesstoß. 1969 dessen metallenen Rahmen – die Anode. Christian zieht einer den letzten Stör aus der Eider. Schomaker, Biologe am IGB, dreht an einem Knopf, Ohne Süßwasser können sich diese Wanderfische um Spannung zu erzeugen, die Fische in einem Ra nicht vermehren, ein paar StörVeteranen allerdings dius von etwa anderthalb Metern anzieht. Plötzlich stromern noch durch die Meere. 1993 wird ein rund ploppen ein knappes Dutzend Tiere an die Oberflä 50 Jahre altes und 2,85 Meter langes Exemplar aus der che, darunter Döbel, Aal und Hecht. Solange die Tiere Ostsee gefischt und in der Kantine des Bonner Innen bewegungsunfähig sind, etwa zwei Minuten lang, ministeriums in 250 Portionen zerlegt. Da steht der werden sie vermessen. Auch der seltene Schlamm Fisch längst unter Naturschutz. peitzger und der Steinbeißer gehen ins Netz. Über 20 Fischarten haben sich in der Löcknitz wie In wenigen Jahren können sich der angesiedelt. Kleintiere bieten ihnen ausreichend verseuchte Flüsse gut erholen Nahrung. Für klares Wasser sorgen Wasserpflanzen Nachwendezeit: Das Ausmaß der Gewässerverseu wie Froschbiss, Tausendblatt und Schwimmendes chung, das die ostdeutsche Industrie angerichtet hat, Laichkraut: Sie produzieren Sauerstoff, filtern Nähr zeichnet sich immer deutlicher ab. Kläranlagen sind stoffe und hemmen so das Wachstum von Kleinalgen; miserabel oder fehlen ganz. Flüsse, Bäche, Seen kip und dienen Fischen als Versteck und zur Eiablage. pen, weil LPGs und Fischzuchtbetriebe rund ums Jahr Der Fluss ist allerdings kein reines Werk der Natur. viel zu viel Dünger und Nährstoffe ausbringen. Der besonders idyllisch anmutende Abschnitt, wo die 30 Kilometer östlich von Berlin verseuchen Abwäs Löcknitz sturzbachartig über kleine Findlinge springt, ser einer Forellenmastanlage das Flüsschen Löcknitz. ist ein Kunstprodukt: eine Fischtreppe, unterlegt mit Faulschlamm erstickt alle mehrzelligen Lebenformen. einer riesigen Vliesplane. Früher lag hier ein Wehr, Als der Betrieb nach der Wende schließt, erholt sich das 2001 wurde es durch zwölf Becken ersetzt. Statt an Tal überraschend in nur wenigen Jahren. Sodass am eine steile, unüberwindbare Staumauer gelangen die GEOTag der Artenvielfalt Experten für Flora und Fau Fische nun an eine sanft ansteigende Beckenkaskade. na in nur 24 Stunden rund 2000 Arten auf dem zwei Durch versetzte Lücken schlüpfen sie Stufe für Stufe Quadratkilometer großen Areal kartieren können. in den Oberlauf. Die Löcknitz schlängelt sich 27 Kilometer weit Durchschnittlich alle zwei Kilometer stellt sich durch eine Niedermoorlandschaft um gestürzte deutschen Bächen und Flüssen ein „Querbauwerk“ Baumstämme, beschattet von Röhricht und Erlenbrü in den Weg. Dabei brauchen alle Fische, nicht nur chen, gespeist von Quellwasser, das sich aus Hängen die Wanderer, freie Bahn. Fischtreppen spielen des Wege durch morastigen Grund bahnt. An einer Stelle halb eine Schlüsselrolle bei der Wiederbelebung rauscht der Bach kaskadenartig über Findlinge etwa der Binnengewässer. Die größte Europas wurde 2010 einen Meter abwärts. Mario Brauns vom Umweltfor in der Elbe am Wehr Geesthacht errichtet. Über einen schungszentrum in Leipzig wälzt einen der unteren halben Kilometer winden sich in einer Schleife 45 Be Steine um. Was er findet, schaufelt er mit den Händen cken. Jedes ist neun Meter lang – nach Maß angelegt in eine Plastikwanne. für den Europäischen Stör. 116 GEO 09|2011
Die Elbe ist wieder offen für die großen Wanderer. Der Fluss ist eine der wichtigsten europäischen Schiff- fahrtsstraßen und der aussichtsreichste Kandidat, einen naturnahen Zustand wiederzuerlangen. Der Fischwanderweg reicht nun bis Tschechien. Im Mit- telteil, zwischen Magdeburg und Torgau, werden in den kommenden Jahren Deiche rückverlegt und Altarme wieder angeschlossen; so sollen über 1000 Hektar Überschwemmungsfläche gewonnen werden. Die meisten anderen Schifffahrtswege allerdings sind dermaßen verbaut, dass sie wohl niemals jenen „guten ökologischen Zustand“ erreichen werden, wie ihn die EU definiert hat. Fast zehn Milliarden Euro, so das Bundesumwelt- Dickschädel: Der benutzt die Treppe – elbaufwärts jedenfalls. ministerium, werden die geplanten „50 000 bis Gleich mehrere Kno- Während Jörn Geßner auf dem Darß die Vermehrung 100 000 Einzelmaßnahmen“ an Flüssen und Seen kos- chenpanzer schützen der Störe vorbereitet, verfolgen Frank Fredrich und ten. Wie viele es genau werden, kann niemand vor- den Stör vor Attacken Jan Hallermann einen Fisch mit Namen „3020“, dem hersehen. Denn trotz aller Anstrengung, trotz aller größerer Raubfische. sie sieben Tage zuvor bei Magdeburg die Freiheit ge- Erfolge: Nur zehn Prozent der deutschen Gewässer Sein einziger Feind ist schenkt haben. Der Fisch schwimmt nun elbabwärts, sind derzeit in einem „guten ökologischen Zustand“. der Mensch mit seinem Appetit auf Kaviar. das Ziel: die Nordsee. Seine Eltern stammen von den Experten erwarten, dass ungefähr noch einmal so Der Stör selbst verhält letzten Europäischen Stören aus der Gironde an der viele Teiche, Seen, Bäche und Flüsse diese Qualität bis sich meist friedlich französischen Atlantikküste ab. 2015 erreichen, nach allen Maßnahmen. Hoffnung setzen sie dabei in den zuverlässigsten und billigsten Bauherrn, die Natur selbst. Treppen statt Wehre, damit Wan- Denn oft reicht ein kleiner Anstoß: Der Mensch derfische wieder wandern können entfernt Beton und Steinschüttungen und verzichtet 3020 trägt einen Sender im Bauch, den Fredrich und auf das jährliche radikale Mähen der Ufer. Pflanzt Hallermann per Telemetrie auf einem Motorboot Büsche, befestigt hier und da tote Stämme unterhalb verfolgen. Während die Forscher den Geesthachter der Wasseroberfläche. Das drängt die Strömung aus Schleusenkanal passieren, nimmt der Stör die Abkür- ihrer erzwungenen Schusslinie und bremst. Dann zung und stürzt sich das Wehr hinab. Einen Tag später schwemmt sie nicht länger Sedimente fort, beginnt erreichen Fisch und Forscher den Hamburger Hafen. zu schlingern und baut mit dem Schwung kommen- Der Stör biegt in die Süderelbe ein. Das Hafenwasser der Hochwasser Kurven abseits des alten Strom- kann arm an Sauerstoff sein, vor allem am Grund, wo strichs. Wasserpflanzen und Schilf, Weiden, Schwarz- der Fisch bevorzugt schwimmt. Wird er umkehren? pappeln und Erlen wachsen. Fische und Amphibien, Er kehrt um. Für ein paar Stunden, solange die Flut Rohrsänger, Biber und Otter kehren zurück. in die Elbe drückt; auf ihrem Weg ins Meer orientie- Viel Wasser wird Bäche und Flüsse hinunterflie- ren sich Störe an der Strömung – auch wenn die vor- ßen, bis irgendwann der Stör hinaufschwimmt; Jörn übergehend stromaufwärts fließt. Beim nächsten Ti- Geßner wird demnächst seine Jungstöre an einem denwechsel erneute Kehrtwende. Die Forscher heften der Oderzuflüsse aussetzen, seit 2006 hat er 200 000 sich an die Flossen von 3020 und wagen sich bis in Fische in die Freiheit entlassen. den Containerhafen vor. Gefährlich: Große Pötte sind Und am Ufer will er auf einer Bank sitzen, im April unterwegs, das Kajütboot muss häufig die Fahrrinne des Jahres 2025, wenn die Tiere aus der Zucht auf dem queren, um den Fisch nicht zu verlieren, und es ist Darß erstmals zum Laichen in ihre Heimat zurück- Nacht. Schließlich warnt sie die Wasserschutzpolizei: kehren könnten: „Dann schauen wir mal.“ P Ein Containerschiff kommt auf sie zu, die Forscher GEO-Autor Carsten Jasner, Berliner, war vollkommen erstaunt über müssen die Verfolgung aufgeben. das Naturidyll vor den Toren seiner Stadt. Solvin Zankl, seit Jahren mit Den gefährlichsten Teil seiner Wanderung hat der der Kamera beim GEO-Tag dabei, ging dieses Jahr mit Tauchausrüstung Stör hinter sich. Von Hamburg aus wird 3020 wahr- auf Fotosafari. An Land fotografierten außerdem Friederike Branden- burg, You Chenxue und Heiner Müller-Elsner. scheinlich seinen Weg in die Nordsee finden. Mehr zum GEO-Tag der Artenvielfalt sowie ein Film 118 GEO 09|2011 G de zum Projekt im Löcknitztal: www.geo.de/artenvielfalt
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