Alles wird anders - Wie die Pandemie die EU-Finanzarchitektur verändert
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Zeitgespräch DOI: 10.1007/s10273-021-2848-y Ende des vorherigen Zeitgesprächsartikels Lucas Guttenberg, Johannes Hemker, Sander Tordoir* Alles wird anders – Wie die Pandemie die EU-Finanzarchitektur verändert Vor der Pandemie bewegte sich die Diskussion zur Zu- wieder tot. Das letzte unrühmliche Beispiel hierfür war kunft der Eurozone und der EU-Finanzarchitektur in ein- das deutsch-französische Projekt eines Eurozonenhaus- gefahrenen Bahnen. Seit der Eurokrise war Fortschritt halts, das unmittelbar vor der Pandemie zu einem mak- allenfalls im Bereich Bankenunion erkennbar. Debatten zu roökonomisch bedeutungslosen Symbolprojekt zusam- einer engeren Fiskalunion oder zu verbindlicherer Koordi- mengeschrumpft wurde. nation im Bereich der Wirtschaftspolitik liefen sich immer Die Pandemie hat die Ausgangslage für diese Diskussion © Der/die Autor:in(nen) 2021. Open Access: Dieser Artikel wird unter der vom Kopf auf die Füße gestellt. Binnen Monaten stand die Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröf- Einigung auf ein gemeinsames Wiederaufbauinstrument fentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) . (WI), über das die EU in kurzer Zeit zusätzliche Ausgaben Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert. in dreistelliger Milliardenhöhe finanzieren kann. Die Mittel dafür nimmt sie als EU-Schulden an den Finanzmärkten * Dieser Artikel stellt die persönliche Meinung der Autoren dar. auf. Dieser vor Jahresfrist noch völlig undenkbare Schritt ist zeitlich und inhaltlich auf die Folgen der Pandemie be- schränkt. Und trotzdem ändert er alles. Lucas Guttenberg ist stellvertretender Direktor des Die alte Reformagenda für die Eurozone setzte im We- Jacques Delors Centre an der Berliner Hertie School. sentlichen alle Hoffnungen auf die Banken- und Kapital- marktunion und schob fiskalpolitische Fragen auf die lan- ge Bank und damit ins politische Abseits. Sie ist von der Dr. Johannes Hemker ist Affiliate Policy Fellow am Wirklichkeit überholt worden. Das letzte Jahr hat uns fünf Jacques Delors Centre an der Berliner Hertie School. Lektionen erteilt, die grundlegende Fragen aufwerfen und eine systematische Neuaufstellung der Reformagenda Sander Tordoir ist Ökonom in der Generaldirektion notwendig machen, will man nicht wieder in politisches Internationale und Europäische Beziehungen der Klein-Klein zurückfallen. Es bietet sich nun die Möglich- Europäischen Zentralbank. keit, das Funktionsmodell des „Ausnahmeföderalismus als Dauerzustand“ (Enderlein und Guttenberg, 2020) end- lich hinter sich zu lassen. Wirtschaftsdienst 2021 | 2 90
Zeitgespräch Lektion 1: EU-Schulden sind möglich und werden Lektion 2: Die EU hat jetzt eine Fiskalkapazität und Realität muss über deren Zukunft entscheiden Wir wissen nun, dass sich die Europäische Union in er- Seit der Einführung des Euro währt die Diskussion über heblichem Umfang zum Zweck zusätzlicher gemeinsamer ein fiskalisches Gegenstück zur gemeinsamen Geld- Ausgaben verschulden kann. Diese Frage war jahrzehnte- politik der EZB. Unter dem Namen „Fiskalkapazität“, lang unter Expert:innen umstritten, und es herrschte die „Arbeitslosen(rück)versicherung“ oder „Eurozonenhaus- irrige Meinung vor, die EU könne überhaupt keine Schul- halt“ wurden verschiedene Modelle für ein Instrument den aufnehmen (vgl. Grund et al., 2020). Diese Frage ist diskutiert, das konjunkturelle Unterschiede in der EU ab- abschließend geklärt. Dabei ist nicht maßgeblich, dass federn und so die EZB-Politik passgenauer machen sollte der jetzige Schritt zeitlich und inhaltlich begrenzt ist. Die (Funke et al., 2019). Konsens bestand nur darüber, dass vertraglichen Grundlagen, die jetzt genutzt werden, sind der EU-Haushalt diese Aufgabe aufgrund seiner rigiden eben nicht an diese Pandemie gebunden. Einfacher aus- Struktur nicht würde erfüllen können (Lindner und Tordoir, gedrückt: Was man einmal machen kann, kann man auch 2020). zweimal machen. Das Wiederaufbauinstrument, genauer sein Herzstück, Damit ergibt sich unmittelbar die zentrale politische die Recovery and Resilience Facility, ist nun die Antwort Frage für die kommenden Jahre: Unter welchen Bedin- auf die Frage, wie eine solche Fiskalkapazität das Licht gungen soll die Finanzierung von EU-Ausgaben durch der Welt erblicken würde. Es stellt Mitgliedstaaten in er- Schulden in Zukunft möglich sein? In der Beantwortung heblichem Maße zusätzliche Mittel für Ausgaben in einer werden ökonomische, politische und rechtliche Argu- Krise zur Verfügung und berücksichtigt bei der Verteilung mente abzuwägen sein. Aber die Frage steht nun unaus- die asymmetrischen Auswirkungen eines symmetrischen weichlich im Raum. Schocks. Es stabilisiert, und es stabilisiert unterschiedlich stark. Die Tatsache, dass 13 % der Mittel zu Beginn als Mit dem Wissen darum, dass EU-Schulden grundsätzlich Vorschüsse gezahlt werden, unterstreicht die Bedeutung, möglich sind, relativieren sich eine Reihe anderer Fragen: die Mitgliedstaaten und Parlament dem Stabilisierungsef- Wenn man eine sichere EU-Anleihe möchte, muss man fekt zugeschrieben haben. Die Europäische Union ist zu dafür keine komplizierten synthetischen Produkte bauen einer makroökonomischen Spielerin geworden. (Brunnermeier et al., 2016). Man kann EU-Anleihen bege- ben. Wenn die EU in einer Krise ihre Ausgaben hochfah- Natürlich ist die makroökonomische Stabilisierungswir- ren möchte, sei es regional begrenzt oder in der ganzen kung dieses Instruments deutlich schwächer als die eines EU, dann sind dafür weder eine neue zwischenstaatliche quasi im Labor gebauten Stabilisierungsinstruments. Die Konstruktion noch ein präventiv gefüllter Schlechtwetter- Vorstellung, die EU-Mitgliedstaaten würden sich irgend- fonds notwendig (Arnold et al., 2018). Man kann EU-Anlei- wann auf ein möglichst klinisch-präzises Instrument allein hen begeben. zur makroökonomischen Stabilisierung einigen, war aller- dings nie besonders realistisch (Guttenberg und Hemker, Schließlich gilt: Nicht nur das Wissen um die Möglichkeit 2018). Historisch gesehen war makroökonomische Stabi- der Verschuldung wird die Debatte grundsätzlich verän- lisierung – in Europa wie auch in den USA – stets Neben- dern, sondern auch die Verschuldung selbst. Die EU wird produkt politisch gewollter öffentlicher Ausgaben. So ist über das Wiederaufbauinstrument und das Kreditpro- es nun auch in diesem Fall gekommen. gramm SURE bis zu 850 Mrd. Euro an EU-Anleihen aus- geben. Diese werden im Markt eine neue Realität schaf- Für die Reformagenda hat dies zweierlei Implikationen: fen: Europäische wie internationale Investoren werden Erstens hat das Wiederaufbauinstrument das Rennen diese Anleihen halten, die EZB wird sie für ihre geldpoliti- zwischen möglichen Gestaltungsformen einer Fiskalka- schen Operationen verwenden. pazität entschieden, und zwar zugunsten eines gemein- samen Ausgabenvehikels und gegen Versicherungslö- Die EU wird sich in den nächsten Jahren entscheiden sungen. Das mag man bedauern. Aber es ist illusorisch müssen, ob sie diese sicheren Anleihen dem Markt wie anzunehmen, dass man diesen gemeinsamen Schritt in geplant durch eine zügige Rückzahlung wieder entziehen Richtung gemeinsamer Fiskalpolitik nun wieder unge- möchte und so Investoren zwingt, ihre Portfolios entspre- schehen machen könnte und im selben Atemzug die Dis- chend zu renationalisieren bzw. in Dollar zu transferieren. kussion zu einer Fiskalkapazität wieder aufleben würde. Eine solche Entscheidung stünde in direktem Gegensatz Die EU und damit auch die Eurozone haben nun ihre erste zum erklärten Ziel von EU-Kommission und Mitgliedstaa- Fiskalkapazität, und ihre spezifische Struktur wird langle- ten, die internationale Rolle des Euro zu stärken. bige politische Konsequenzen haben. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 91
Zeitgespräch Das führt zur zweiten Implikation: Ohne politisches Han- Einhaltung der Aufbau- und Resilienzpläne (ARP) der Mit- deln wird diese Fiskalkapazität wieder verschwinden. Es gliedstaaten überwachen. Die ARP sind allerdings hoch- braucht nun eine Diskussion, ob und unter welchen Be- politische Dokumente, die dieses Frühjahr in langwieri- dingungen das Wiederaufbauinstrument verstetigt wer- gen Verhandlungen zwischen Kommission und den ein- den kann, mit welchen Einnahmen es zukünftig ausge- zelnen Mitgliedstaaten entstehen werden. Damit wird in stattet werden soll, und welche Ausgaben darüber finan- der Folge auch die Evaluierung der Durchführung dieser ziert werden können. Pläne zu einem politischen Akt – denn anders als die Fort- schrittsevaluierung der LSE hängt von ihr die Auszahlung Hier hilft eine weitere Erkenntnis des vergangenen Jah- der Gelder an die Mitgliedstaaten ab. Das schafft neue res. Der reguläre EU-Haushalt hat sich wieder einmal in Möglichkeiten. Aus einem technokratischen Ritual wird seiner Grundstruktur als schwer reformierbar erwiesen. ein politischer Prozess. Entscheidend für die mittelfristi- Dafür sind die Interessen aller Mitgliedstaaten zu stark ge Zukunft dieses Prozesses wird sein, wie glaubwürdig mit dem Status quo traditioneller Ausgabenprogramme die Kommission die Mitgliedstaaten zum einen zur Auf- wie der Agrar- und Strukturpolitik verwoben. Vor diesem stellung ambitionierter Pläne und zum anderen zur konse- Hintergrund scheint es, als sei eine Modernisierung der quenten Umsetzung anhalten kann. EU-Finanzen insgesamt noch am ehesten über eine Ver- stetigung des Wiederaufbauinstruments erreichbar. Eine Der Aufbau dieser Art von Glaubwürdigkeit wird dabei ei- Umschichtung im normalen EU-Haushalt zulasten der ne zentrale Voraussetzung für eine mögliche Verstetigung traditionellen Ausgabenbereiche erscheint jedenfalls in des Wiederaufbauinstruments sein. Hier wird es auch da- relevanter Größenordnung politisch wenig plausibel, zu- rauf ankommen, ob die erstmalige Verknüpfung von LSE mal ab dem nächsten Finanzrahmen zusätzlich noch ca. mit finanziellen Anreizen den Reformeifer der Mitglied- 15 Mrd. Euro pro Jahr für die Rückzahlung der Kredite im staaten tatsächlich zu steigern vermag. Insbesondere die Haushalt untergebracht werden müssen. Gleichzeitig gilt Sympathisant:innen einer tieferen fiskalischen Integration dann aber auch: Ein verstetigtes Wiederaufbauinstrument sollten daher Interesse an einer klaren Linie der Kommis- sollte konsequent für gemeinsame Zukunftsinvestitionen sion beim Thema Reformen haben. In den kommenden z. B. zur Umsetzung des Green Deal sowie zur Stabilisie- Jahren muss es dann darum gehen, diesen Prozess in ein rung von durch Krisen besonders betroffenen Mitglied- dauerhaftes politisches Verfahren zur wirtschaftspoliti- staaten verwendet werden. schen Koordinierung zu überführen und eine (Re-)Tech- nokratisierung zu verhindern. Lektion 3: Das Europäische Semester ist Geschichte Zweitens fällt der fiskalische Fallout der Pandemie zusam- Als Konsequenz aus der Eurokrise schuf die EU das Eu- men mit der ohnehin anstehenden Überprüfung der An- ropäische Semester – einen strukturierten Prozess zur wendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, dem so- Überwachung und Koordinierung der Finanz- und Wirt- genannten Six/Two Pack Review. Dieser Übung hätte man schaftspolitiken der Mitgliedstaaten (Tordoir et al., 2020). im Normalbetrieb angesichts der diametralen Meinungsun- Das Semester blieb weitgehend zahnlos: Die Länderspe- terschiede unter den Mitgliedstaaten über die Anwendung zifischen Empfehlungen (LSE), die die Kommission und des Pakts wohl wenig Aussicht auf Erfolg beschieden. Nun der Rat an die Mitgliedstaaten richteten, wurden selten sind die Mitgliedstaaten durch die Folgewirkungen der beachtet (Efsthatiou and Wolff, 2018). Es fehlte dem Eu- Pandemie faktisch gezwungen, sich mit dem Regelwerk ropäischen Semester an Instrumenten und am politischen eingehender zu beschäftigen: Der Schuldenstand der Eu- Willen der Mitgliedstaaten, für die Umsetzung der Emp- rozone wird nach der Pandemie absehbar oberhalb von fehlungen zu sorgen. So blieb der Prozess weitgehend 100 % des Eurozonen-BIP und damit weit entfernt von der technokratisch. Allenfalls die Empfehlungen zur Fiskal- primärrechtlich gesetzten Zielmarke von 60 % liegen. Acht politik im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts Eurostaaten werden Schuldenstände von teils weit jenseits entfalteten eine gewisse politische Bindungswirkung. der 100 % aufweisen, darunter die Schwergewichte Spani- en, Italien und Frankreich mit 120 % bis 160 %. Die Pandemie im Allgemeinen und das Wiederaufbauins- trument im Speziellen werden auch das Europäische Se- Eine buchstabengetreue Wiederanwendung des Regel- mester völlig umkrempeln, und zwar gleich doppelt: werks würde diese Mitgliedstaaten auf lange Zeit hin- aus verpflichten, jährlich ein Zwanzigstel ihres Abstands Erstens wird der Bewilligungsprozess für die Gelder aus zur 60 %-Marke abzubauen. Im Falle Italiens liefe dies dem Wiederaufbauinstrument die Überwachung im Be- auf einen jährlichen Abbau des Schuldenstands um ca. reich der Strukturreformen vollständig ersetzen. Die fünf Prozentpunkte hinaus. Trotz der Notwendigkeit, die Kommission wird in den nächsten Jahren vor allem die Schuldenstände der Eurostaaten einander wieder stärker Wirtschaftsdienst 2021 | 2 92
Zeitgespräch anzugleichen, wäre ein derart einschneidender Konsoli- an den ESM zu spät gestellt wird. Dies würde Anpas- dierungskurs ökonomisches Harakiri. Das gilt erst recht, sungsprogramme unnötig teuer und schmerzhaft ma- wenn er simultan in mehreren großen Volkswirtschaften chen, was wiederum in niemandes Interesse sein kann. der Eurozone vollzogen würde. Außerdem wäre er auch politisch nicht durchsetzbar. Gleichzeitig zeigt die Pandemie, dass Kredite von Seiten der EU nicht grundsätzlich politisch problematisch sind. Damit stehen die Mitgliedstaaten vor einer Entscheidung: Das als EU-Kurzarbeitergeld firmierende Kreditprogramm Entweder zwingen sie die Europäische Kommission, SURE wurde mit fast 100 Mrd. Euro innerhalb von Mo- durch weitere, häufig willkürlich anmutende Ausnahme- naten nahezu vollständig ausgeschöpft; 18 Mitgliedstaa- regelungen, zu einer politisch und ökonomisch umsetz- ten stellten Anträge. Und es steht zu erwarten, dass auch baren Anwendung der Regeln zu kommen. Dies untermi- der Kreditanteil des Wiederaufbauinstruments rege in nierte allerdings weiter die Glaubwürdigkeit der Regeln Anspruch genommen wird. Daraus gilt es, die richtigen insgesamt wie auch die Rolle der Kommission als Hüterin Schlüsse zu ziehen: Eine Kreditunterstützung in Krisen- der Verträge. Oder sie ergreifen eben doch die Chance fällen ist im EU-Rechtsrahmen offensichtlich rechtlich wie des anstehenden Review-Prozesses, um zu einer grund- politisch mit qualifizierter Mehrheitsabstimmung mög- legenden Reform und Vereinfachung des Regelwerks zu lich. Entsprechend sollte ein neuer Versuch unternom- kommen. Wünschenswert wäre Letzteres. men werden, den ESM unter das Dach der EU-Verträge zu bringen und seine Instrumente mit einem möglichen Lektion 4: Die Krisenarchitektur ist politisch infrage Nachfolgeinstrument für SURE in einer Hand zu konsoli- gestellt dieren (Guttenberg, 2020). Von allen Hilfsinstrumenten, die Europa zur Verfügung ge- Lektion 5: Die Eurozone verliert als politische stellt hat, wird absehbar gerade dasjenige nicht zur An- Dimension an Relevanz wendung kommen, das dauerhaft für finanzielle Krisen ge- schaffen wurde: der Europäische Stabilitätsmechanismus Die Pandemie hat die Fokussierung auf die Eurozone als (ESM). Obwohl die Mitgliedstaaten bereit waren, die Aus- zentralen Rahmen für Reformen der EU-Finanzarchitek- nahmesituation der Pandemie als eine nicht selbstverschul- tur infrage gestellt. Das ist zum einen die Konsequenz dete Krise anzuerkennen und die Zugangsbedingungen aus dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU. Der zum ESM erheblich zu erleichtern, erwies sich ein mögli- Raum für schnelle Lösungen, die in irgendeiner Weise den cher Antrag als innenpolitischer Sprengstoff in einer Reihe EU-Haushalt mit einbezogen, war vor dem Brexit extrem betroffener Mitgliedstaaten. In der Folge stellte kein einzi- begrenzt. Das Wiederaufbauinstrument wäre mit Großbri- ges Land einen solchen Antrag. Wenn rationale politische tannien sicher nicht möglich gewesen. Debatten über ESM-Hilfen in einigen Mitgliedstaaten nicht mehr möglich sind, mag man das hierzulande skurril finden. Gleichzeitig haben sich die politischen Gewichte ver- Faktisch bedeutet es aber eine potenzielle Gefährdung der schoben: Die Nicht-Euroländer haben durch den Brexit europäischen Finanzstabilität und mithin ein Problem für al- erheblich an Bedeutung verloren. Das führte bereits vor le, das auch gemeinschaftlich angegangen werden sollte. der Pandemie in der sogenannten Hansegruppe zu poli- tischen Bündnissen zwischen Euro- und Nichteurostaaten Die kürzlich nach jahrelangen Verhandlungen verab- in Fragen der Eurozonenarchitektur. Auch deswegen tagen schiedete ESM-Reform vermag dieses Problem nicht zu Eurogruppe und Eurogipfel nun in wesentlichen Fragen im lösen. Sie ergänzt zwar den ESM um die unbedingt be- „inklusiven Format“, also unter Teilnahme der Nichteuro- nötigte Letztsicherung für den europäischen Bankenab- länder. Damit verschwimmt die Grenze zwischen Eurozo- wicklungsfonds. Allerdings verschärft sie faktisch den ne und EU27 weiter. Nicht zuletzt die kurzfristig absehbare Zugang zu präventiven ESM-Kreditlinien und stärkt die Erweiterung der Eurozone auf 21 Mitgliedstaaten stellt die Rolle des ESM in der Programmüberwachung, was in vie- Eurogruppe als Format zusätzlich infrage. len Ländern als noch direktere Kontrolle durch Länder wie Deutschland wahrgenommen wird. Die Pandemie war und ist primär ein Schock für die Real- wirtschaft, der EU27-Rahmen damit der richtige Ort für Es ist zwar möglich, dass sich dieses Reputationspro- die politische Reaktion. Das Agieren in diesem Format blem des ESM auf Dauer abmildert und der ESM in der und damit ausschließlich im Rahmen des Unionsrechts Zwischenzeit seine Funktionen als Letztsicherung und hat aber zusätzlich den entscheidenden integrationspo- womöglich im Fall von asymmetrischen Schocks bei ein- litischen Vorteil, dass vielfach mit Mehrheitsentscheidun- zelnen kleineren Mitgliedstaaten erfüllt. Allerdings ist die gen gearbeitet werden kann. Dies gilt beispielsweise für Gefahr groß, dass selbst in diesen Fällen ein Hilfegesuch die Vergabe der Mittel aus dem Wiederaufbauinstrument, ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 93
Zeitgespräch das kaum steuerbar wäre, würde es der Einstimmigkeit In den nächsten 18 Monaten finden sowohl die Bundes- und womöglich noch der jeweiligen Zustimmung durch tagswahl als auch die französischen Präsidentschafts- nationale Parlamente unterliegen. Während es im Einzel- und Parlamentswahlen statt. In diesem Zeitraum sind fall für einzelne Mitgliedstaaten ein erhebliches Interesse politische Fortschritte zu umstrittenen Themen sehr un- an Aufrechterhaltung eines Vetorechts geben mag, so ist wahrscheinlich. Umso mehr bieten diese 18 Monate jetzt dieses abzuwägen gegenüber der Handlungsfähigkeit der den europäische Institutionen die Chance, eine umfas- Gemeinschaft und dem übergeordneten Interesse an ef- sende Reformdiskussion auf der Basis dieser fünf Lekti- fizienten Institutionen, das eine konsequente Zurückdrän- onen inhaltlich vorzubereiten und einen geeigneten Pro- gung von Einstimmigkeitserfordernissen auf europäischer zess vorzuschlagen, um zu tragfähigen Ergebnissen zu Ebene eindeutig nahelegt. kommen. Die Zeit läuft. Das Eurozonenformat hat also bereits an Bedeutung ver- loren; und es gibt gute Gründe dafür, dass es sie nicht Literatur zurückgewinnen sollte. An Stelle der Eurozonenreform- Arnold, N., B. Barkbu, E. Ture, H. Wang und J. Yao (2018), A central fis- agenda sollte eine Reformagenda für die EU-Finanzarchi- cal stabilisation capacity for the euro area, IMF staff discussion notes, 18/03. tektur treten. Selbstverständlich gibt es weiterhin Berei- Brunnermeier, M., S. Langfield, M. Pagano, R. Reis, S. Van Nieuwerburgh che, insbesondere in Bezug auf die Finanzstabilität und und D. Vayanos (2016), ESBies: Safety in Tranches, ESRB Working Pa- das Zusammenspiel mit der gemeinsamen Geldpolitik, per, 21. Efstathiou, K. und G. Wolff (2018), Is the European Semester effective and die gemeinsames Handeln für die Eurozonenländer zu- useful?, Bruegel Policy Contribution, 9. sätzlich wichtig und attraktiv machen. Aber es gibt keinen Enderlein, H. und L. Guttenberg (2020), Ausnahmeföderalismus als Grund, dieses gemeinsame Handeln nicht, wo immer es Dauerzustand, Wirtschaftsdienst, 100(6), 400-404, https://www.wirt- schaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/6/beitrag/ausnahmefoedera- geht, in den Rahmen der Unionsinstitutionen zu verlegen lismus-als-dauerzustand.html (2. Februar 2021). und zumindest für die Nichteurostaaten zu öffnen, die ein Funke, O., L. Guttenberg, J. Hemker und S. Tordoir (2019), Finding Com- ernsthaftes Interesse an gemeinsamem Handeln haben. mon Ground: A Pragmatic Budgetary Instrument for the Euro Area, Jacques Delors Institut – Bertelsmann Stiftung Policy Paper. Grund, S., L. Guttenberg und C. Odendahl (2020), Die Lasten der Krise Wie weiter? teilen, Jacques Delors Institut – Bertelsmann Stiftung Policy Paper. Guttenberg, L. (2020), Time to come home: If the ESM is to stay relevant, it should be reinvented inside the EU, Jacques Delors Institut – Bertels- Die fünf Lektionen aus der Pandemie führen zu dem mann Stiftung Policy Paper. Schluss, dass die bisherige Eurozonenreformagenda Guttenberg, L. und J. Hemker (2018), No Escape from Politics: Four tests nicht mehr zu halten ist, weil sie nicht zur Beantwortung for a successful fiscal instrument in the euro area, Jacques Delors Ins- titut – Bertelsmann Stiftung Policy Paper. der drängenden Fragen der kommenden Jahre beitragen Lindner, J. und S. Tordoir (2020), Euro Area Macroeconomic Stabilisation wird. Stattdessen braucht es eine neue Reformagenda and the EU budget: A Primer, in B. Laffan und A. de Feo (Hrsg.), EU für die EU-Finanzarchitektur. Diese sollte rechtzeitig vor financing for next decade: beyond the MFF 2021-2027 and the next ge- neration EU, European University Institute. dem Beginn der Detailarbeit zum nächsten Mehrjährigen Tordoir, S., J. Carmassi, S. Hauptmeier und M. Jahning (2020), The state Finanzrahmen zu Grundsatzeinigungen darüber führen, of play regarding the deepening agenda for Economic and Monetary wohin die Reise gehen soll. Union, ECB Economic Bulletin, 2. Wirtschaftsdienst 2021 | 2 94
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