Fukushima zwei Jahre nach dem Tsunami - Konsequenzen weltweit
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK Fukushima zwei Jahre nach dem Tsunami – Konsequenzen weltweit Ludger Mohrbach Die Zerstörung von vier Blöcken des Kernkraftwerks Fukushima-Daiichi durch den Tsunami vom 11.3.2011 hat zu erheblichen Auswirkungen auf die Energiepolitik geführt – insbesondere in Deutschland. Umfangreiche Sicherheitsüberprüfungen der Kernkraftwerke in aller Welt haben inzwischen ergeben, dass nirgendwo außerhalb Japans aufgrund von evtl. vergleichbaren Auslegungsdefiziten wie in Fukushima-Daiichi auch nur vorübergehend Anlagen vom Netz genommen werden mussten. Wäh- rend Deutschland als einziges Land der Welt Anlagen stillgelegt und einen kurzfristigen Ausstieg beschlossen hat, werden alle anderen 30 Kernenergie betreibenden Länder der Welt ihre Anlagen bis zum technischen Lebensdauerende von mindestens 40, in den meisten Fällen 60 Jahren weiter betreiben. Die allermeisten dieser Länder werden darüber hinaus ihre Anlagen durch Neubauten ersetzen bzw. ausbauen; mindestens sieben weitere Länder haben beschlossen, in die Kernenergie einzusteigen. Trotz der Kernschmelze von drei Reaktoren und einer Freisetzung von radioaktiven Stof- fen in der Größenordnung von einem Zehn- tel der aus Tschernobyl 1986 freigesetzten Menge waren in Japan keine strahlenbe- dingten Akutschäden zu verzeichnen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden auch kei- ne strahlenbedingten Spätschäden auftre- ten. Allerdings werden zusätzliche Folgen für die Gesundheit der Betroffenen infolge der Tsunami- und strahlenschutzbeding- ten Umsiedlungen erwartet. Der volkswirt- schaftliche Schaden durch den Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland wird nach vorsichtigen Schätzungen vergleichbar sein mit dem durch Fukushima in Japan verur- sachten Schaden. Der Tsunami in Fukushima Am 11.3.2011 riss die Erdkruste 30 km un- Der entscheidende Faktor für den Unfalleintritt in Fukushima war eine unzureichende Auslegung gegen große, aber für Japan nicht seltene Tsunamis Foto: Tepco ter dem Meeresspiegel und 130 km östlich der auf der japanischen Hauptinsel Hons- hu gelegenen Stadt Sendai. Dort driftet die Honshus. Auf einer Breite von 400 km wur- Fukushima-Daiini, Fukushima-Daiichi und pazifische Kontinentalplatte mit einer Ge- den Überflutungshöhen von 10 m und mehr Onagawa. Die Bodenbeschleunigungen über- schwindigkeit von 83 mm pro Jahr auf die erreicht, im Maximum fast 40 m. Städte und schritten die Auslegungswerte der Anlagen eurasische Platte zu. Der Riss breitete sich Dörfer wurden überspült, teilweise Kilometer nur in wenigen Fällen geringfügig (maximal mit einer Geschwindigkeit von mehreren von der Küstenlinie entfernt. Nach offiziellen 25 %). Die robusten Kernkraftwerke haben Kilometern pro Sekunde nach Norden und Angaben forderte dieser Tsunami bis heute das Erdbeben wahrscheinlich ohne wesent- Süden aus, nach wenigen Minuten war eine 19 294 Tote und Vermisste. Bereits das See- liche Beschädigungen überstanden (in ande- Bruchfläche von 200 x 500 km mit einer beben zerstörte auch das lokale Stromver- ren Fällen bei Beschleunigungen zwei- bis zentralen Plattenverschiebung von mehr sorgungsnetz durch Erdrutsche, geknickte dreifach über der Auslegung) und schalteten als 20 m entstanden. Japan war näher an Hochspannungsmasten und Kurzschlüsse. die notwendige Nachkühlung ihrer Reaktor- Amerika gerückt, aber auf einen Schlag wa- kerne erfolgreich auf ihre Notstromdiesel- ren auch 200 km3 Wasser im Pazifik zu viel. Das Beben war mit einer Magnitude von 9,0 versorgungen um. Dieses Wasser konnte nur nach oben auswei- das stärkste jemals in Japan gemessene und chen – ein verheerender Tsunami entstand. das fünftstärkste weltweit. Alle Kraftwerke Wie auch am weiter entfernten Standort To- an der Nordostküste von Honshu trennten kai erreichte der Tsunami im relativ neuen, Weniger als eine Stunde nach dem Seebe- sich vom Netz, unter ihnen elf Kernkraft- auf einer Höhe von 15 m über dem Meer ben trafen mehrere Wellen die Nordostküste werksblöcke an den vier Standorten Tokai, errichteten Kernkraftwerk Onagawa das 36 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 3
ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK Kraftwerksgelände knapp nicht. Anders an den beiden Fukushima-Standorten, die bei Geländehöhen von 10 m bis zu 4 m überflu- tet wurden. Die Notstromdiesel der Fukushima-Anlagen (die mit sechs plus vier Blöcken mit zusam- men 8 947 MWe das leistungsstärkste Kern- kraftwerk der Welt bildeten) waren nicht – wie z. B. in Deutschland – gegen derartige Überflutungen gesichert und verbunkert. Die Notstromdiesel befanden sich in den Maschi- nenhauskellern, deren Türen als einfache Rolltore ausgeführt waren, die vom Wasser Abb. 1 Querschnitt durch Fukushima-Daiichi, Tsunamihöhe 14 m Quelle: JANTI eingedrückt werden konnten (vgl. Abb. 1). Während in Fukushima-Daini die Strom- versorgung noch aufrechterhalten werden und aerosolförmige Spaltprodukte in die Schutzmaßnahmen höchstbelastete Arbei- konnte, versagten von den dreizehn Dieseln Atmosphäre und den Pazifik freigesetzt. ter (678 mSv) wurde nach wenigen Tagen am Standort Fukushima-Daiichi zwölf durch Die luftgetragenen Stoffe wurden aufgrund wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Kurzschlüsse (in Deutschland verfügt jeder einer vorherrschenden Westwindwetterlage Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden auch Block über sechs bis acht fest installierte Die- (bis auf eine kurze Phase am 13.3.2011 mit keine Spätschäden auftreten. Insgesamt er- sel oder äquivalente Lösungen). Aus den drei Südostwind) auf den Pazifik hinausgetra- hielten nur sechs der zu zehntausenden ein- in Fukushima in Betrieb befindlichen Reak- gen und verdünnten sich schnell, ebenso gesetzten Arbeiter Strahlendosen über der toren und vier Lagerbecken mit abgebrann- wie die wassergetragenen Emissionen im (von der Regierung von 100 auf 250 mSv ten Brennelementen konnte nachfolgend die Meerwasser. angehobenen) zulässigen Dosis (161 Ar- Restwärme nicht mehr abgeführt werden, die beiter erhielten Dosen zwischen 100 und Reaktoren dampften aus. Radioaktive Isotope mit kurzen Halbwerts- 250 mSv) [1]. zeiten (hier relevant: Stunden) weisen eine Eine Stunde nach Abschaltung bestand die hohe Radioaktivität auf, sind aber auch Die Zivilbevölkerung erhielt dank der Evaku- durch radioaktiven Zerfall der Spaltprodukte entsprechend schnell zerfallen. Lange Halb- ierungen weit geringere Strahlendosen, der erzeugte Nachzerfallswärme zwar nur noch wertszeiten (z. B. im Bereich von Jahren) höchstbelastete Fall wurde unter sehr kon- aus wenigen Prozent der betrieblichen Leis- gehen mit geringeren Aktivitäten einher, servativen Annahmen zu 68 mSv berechnet. tung, dies entsprach jedoch noch zweistelli- und sind daher radiologisch akut weniger Gleichwohl stellt der Untersuchungsbericht gen Megawattbeträgen pro Block. Einspei- bedeutsam. des japanischen Parlaments fest, dass die sungen von Frisch- und später Meerwasser drohende Gefahr, die Evakuierungen und über Feuerwehrpumpen kamen zu spät, bei Bedeutsam für die Bewertung der Strahlen- die chaotische Informationspolitik der Re- Temperaturen über 900 °C oxidierte das exposition des Kraftwerkspersonals und der gierung zu unvergleichlich schwerwiegen- Hüllrohrmaterial der freigelegten Brennstä- Zivilbevölkerung sind daher vorrangig die deren psychosomatischen Belastungen und be mit dem Wasserdampf und setzte dabei – zu wenigen Prozent des jeweiligen Inven- zusätzlichen Unfällen geführt haben [2]. Wasserstoff frei, der zu Explosionen in den tars freigesetzten – sog. „Leitnuklide“ Jod, Blöcken 1, 3 und 4 sowie wahrscheinlich Strontium und Cäsium mit Halbwertszeiten In Bezug auf mögliche Langzeitschäden ist einer Deflagration im Block 2 führte. Heute im Bereich von Tagen bis zu dreißig Jahren. ebenso einzuordnen, dass nach der von der gilt durch Rechnungen bestätigt, dass der Während das Kraftwerkspersonal dosime- Internationalen Strahlenschutzkommission keramische Uran-Brennstoff der Blöcke eins trisch überwacht wurde, die Exposition als ICRP angewendeten, konservativ alle Risi- bis drei weitgehend geschmolzen ist und sich (kumulierte) Einmalbelastung zu verstehen ken abdeckenden linearen Dosis-Wirkung- nach Durchschmelzen der Reaktordruck- ist und bedingt Schutzmaßnahmen Anwen- Beziehungsrechnung die 678 mSv-Dosis behälter auf die Böden der Reaktorgruben dung fanden, ordnete die Regierung zur des höchstbelasteten Arbeiters sein persön- verlagert hat. Dort hat er wahrscheinlich den Vermeidung von unzulässigen Dauerexposi- liches Risiko, an Krebs zu erkranken, von mehrere Meter dicken Beton bis in eine Tiefe tionen die Evakuierung bzw. Vorsichtsmaß- z. B. 25 % (Durchschnittswert für nichtrau- von ca. einem Meter aufgeschmolzen. nahmen für die Bevölkerung im Radius von chende Japaner) auf ca. 32 % erhöhen wird 20 bzw. 30 km um den Standort an. (Vergleichswert für rauchende Japaner: Radiologische 35 %). Zusätzlich wurden Langzeit-Überwa- Auswirkungen in Japan Die Messungen, Aufzeichnungen und Be- chungsprogramme gestartet, u. a. in Bezug wertungen zeigen inzwischen, dass keine auf Schilddrüsenerkrankungen, die von Während dieser Vorgänge, die über wenige akuten Strahlenschäden zu verzeichnen kurzlebigem radioaktiven Jod ausgelöst wer- Stunden und Tage abliefen, wurden gas- sind. Der durch Fahrlässigkeit bei den den können. ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 3 37
ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK Inzwischen hat die Regierung große Teile ermöglicht, den Salzgehalt des Wassers und Erwähnung mehr gefunden. Dies hätte nur der Evakuierungszonen wieder zum Be- damit die Korrosionsgefahr zu verringern. Onagawa erreicht, wo in einem der drei Blöcke treten oder auch für den Daueraufenthalt im nichtnuklearen Teil ein Feuer ausbrach, freigegeben, besonders belastete Gebiete Weiterhin unklar ist der Grund für die Explo- das jedoch schnell gelöscht werden konnte. im Nordwesten außerhalb der 30 km-Zone sion in Block 4. Die zunächst befürchtete Zer- allerdings auch zusätzlich gesperrt. In allen störung von Brennelementen mindestens im Insbesondere ist damit klar, dass es sich betroffenen Gebieten sind umfangreiche De- Lagerbecken von Block 4 nach Ausdampfen nicht, wie in der Begründung für das deut- kontaminationsmaßnahmen angelaufen, so oder leckbedingtem Wasserverlust erscheint sche Atomausstiegsgesetz angegeben, um ein dass in naher Zukunft weitere Gebiete frei- inzwischen unwahrscheinlich. Fotos zeigen „Restrisikoereignis“, also ein sehr seltenes, gegeben werden sollten. Insgesamt hat der eine intakte Lagergestelle mit sichtbaren höchstens einmal in 10 000 bzw. 100 000 Betreiber des Kernkraftwerks Tokio Electric Brennelementköpfen. Die ca. 1 500 Brenn- Reaktorbetriebsjahren (Überflutungen bzw. (Tepco) bis Ende 2012 über 100 Mrd. € für elemente in diesem Lagerbecken sollen bis Erdbeben) stattfindendes, und daher durch Entschädigungen, Stilllegungs- und Dekon- Ende 2014 geborgen und mithilfe von zwei die Anlagenauslegung nicht abzudecken- taminationsmaßnahmen ausgegeben. Transportbehältern in das (unbeschädigte) des Ereignis gehandelt hat. In den letzten zentrale Nasslager am Standort (Entfernung 500 Jahren haben mindestens 16 Tsunamis In den Fukushima-Kraftwerken sind vier ca. 50 m) verbracht werden. mit Wellenhöhen über 10 m japanische Küs- Personen zu Tode gekommen (ein erdbe- ten getroffen – alle 30 Jahre einer. Die Nord- benbedingter Kranabsturz, zwei Ertrunke- Nach inzwischen abgeschlossener Beseiti- ostküste Honshus war zuletzt um Christi ne und ein Herzinfarkt während der Auf- gung der Trümmer auf dem Gelände gibt Geburt, 869, 1611, 1896 und 1933 betroffen. räumarbeiten), ungefähr dreißig weitere Tepco als mittel- bis langfristige Maßnahme sind verletzt worden, weitgehend durch die die Wiederherstellung der Begehbarkeit der In Japan erfolgte die Festlegung der Ausle- Wasserstoffexplosionen. Zusammenfassend Maschinen- und Reaktorgebäude an. Hierzu gungsgrenzen u. a. für Erdbeben und Tsu- ist festzustellen, dass die durch die Kern- musste zunächst auch die Lagerbeckenküh- namis in den 1960er Jahren. In dieser Zeit kraftwerke verursachten gesundheitlichen lung wieder auf Kreislaufbetrieb umgestellt wurde auch mit dem Bau des Kernkraft- Konsequenzen nicht vergleichbar mit denen werden, um die Lagerbeckentemperaturen werks Fukushima begonnen. Während die des Tsunamis sind. und die fast hundertprozentige Luftfeuch- Erdbebenauslegung stets große Reserven tigkeit in den Gebäuden deutlich zurückzu- aufwies und im Laufe der Jahre neuen Er- Maßnahmen nach dem Unglück führen. Die Entscheidung über die weiteren kenntnissen angepasst wurde, erfolgte die Maßnahmen kann allerdings erst erfolgen, Tsunami-Auslegung gegen die für den jewei- Tepco hat einen ausführlichen Plan für die wenn genauere Kenntnisse über den Zu- ligen Standort bekannte historisch maxima- Sicherung des Kraftwerkstandorts vorge- stand des geschmolzenen Brennstoffs und le Wellenhöhe mit jeweils einer geringen, legt [3]. Die anfängliche Verdampfungs- der Lagerbecken vorliegen. Für Arbeiten in nicht systematisch festgesetzten Reserve. kühlung der Schmelzen konnte nach Wie- Bereichen hoher Ortsdosisleistung stehen Abschätzungen, welche Wellenhöhen rea- derherstellung der Stromversorgung durch Fernhantiersysteme zur Verfügung. listischerweise auftreten könnten („proba- Kreislaufkühlung ersetzt werden. Hierzu bilistischer Ansatz“) haben bis 2011 keinen wurden umfangreiche Reinigungsanlagen Die durch die Wasserstoffexplosionen zer- Eingang in die behördliche Aufsichtspraxis installiert, die das Wasser aus den Gebäu- störten Reaktorgebäude der Blöcke 1, 3 und und damit Anlagenauslegung gefunden. dekellern (über 100 000 t) entnehmen und 4 wurden bzw. werden mit zusätzlichen gereinigt zum Teil wieder den Reaktoren Gebäudehüllen umgeben, die unter Unter- Damit liegt grobe Fahrlässigkeit vor, bestä- zuleiten. Die Kreislaufkühlung hat entschei- druck gehalten werden können und somit tigt durch eine (zum ersten Mal in der Ge- dend die Freisetzungsraten reduziert und eine weitere unkontrollierte Freisetzung schichte Japans) vom japanischen Parlament von Radioaktivität verhindern (vgl. Abb. 2). eingesetzte Untersuchungskommission („NAAIC-Report“): „What must be admitted Ursache: Kein Restrisiko- — very painfully — is that this was a disaster ereignis, sondern Fahrlässigkeit ‚Made in Japan‘. Its fundamental causes are to be found in the ingrained conventions of Inzwischen steht die Ursache für das Fuku- Japanese culture: our reflexive obedience; our shima-Unglück fest: Auslöser war nicht das reluctance to question authority; our devotion Erdbeben, die Sicherheitstechnik der Anlagen to ‚sticking with the program‘; our groupism; oder Fehler der Betriebsmannschaft, sondern and our insularity. Had other Japanese been einzig die mangelhafte Auslegung gegen in the shoes of those who bear responsibili- hohe, zu erwartende Tsunamis. Schon mit ty for this accident, the result may well have wenigen nicht aufwendigen Maßnahmen, wie been the same“ [2]. z. B. wasserfesten Maschinenhaustüren, hätte Abb. 2 Geplante Gebäudehülle für Block 4 Fukushima-Daiichi in den weltweiten Abend- Das standortspezifische Risiko in Fukushima Quelle: Tepco/WNA nachrichten des 11.3.2011 keine besondere wird quantitativ nachvollziehbar durch einen 38 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 3
ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK Vergleich mit den Ergebnissen der weltweit für Kernkraftwerke in der Regel alle zehn Jahre durchgeführten „Probabilistischen Si- cherheitsanalysen“, in denen die jeweilige Eintrittswahrscheinlichkeit für einen Kern- schmelzunfall ermittelt wird (vgl. Abb. 3). Die Abbildung zeigt insbesondere auch die Fortschritte bei der integralen Verbesserung der kerntechnischen Sicherheit. Alle zehn Jahre hat das Risiko einer Kernschmelze weltweit um den Faktor zehn abgenommen, jedoch nicht in Fukushima. Dort war es seit 1971, der Inbetriebnahme des ersten Blocks vorhanden. Die Grafik zeigt auch, wie weit das Risiko für Fukushima-Daiichi vom Rest- risiko-Bereich (grün) entfernt liegt. Ökonomische Konsequenzen für Japan Nach dem Tsunami gingen die ca. 30 (von insgesamt 54) weiterhin in Betrieb befind- Abb. 3 Historie der Ergebnisse von probabilistischen Sicherheitsanalysen weltweit lichen Reaktoren nach und nach zu ihren regulären Brennelementwechseln innerhalb eines Jahres vom Netz. Bis auf Ohi-3 und -4, Kernenergie plädiert hatte, mit deutlicher cherheitskommission eine Sicherheitsüber- die Kansai Electric dringend zur Deckung Zweidrittel-Mehrheit durch eine Koalition prüfung aller (auch der abgeschalteten) akuter regionaler Versorgungsengpässe be- unter Liberaldemokratischer Führung abge- Anlagen. Im Ergebnis wurde festgestellt, nötigte, haben bisher keine weiteren Kern- löst. Der neue Ministerpräsident Abe kün- dass innerhalb der definierten Risikovor- kraftwerke die Erlaubnis zum Wiederanfah- digte am 27.12.2012, drei Tage nach seiner sorge (d. h. unterhalb des Restrisikos) keine ren bekommen. Die fehlende Kapazität (vor Amtsübernahme und am ersten Arbeitstag Defizite existieren und die Anlagen darüber dem Erdbeben betrug der Kernenergieanteil der Regierung an, dass als sicher einzustu- hinaus in unterschiedlichem, häufig erhebli- ca. 25 %) muss seitdem durch Verbrauchs- fende Kernkraftwerke in den kommenden chen Maß zusätzliche Robustheit gegenüber einschränkungen, intensive Nutzung der drei Jahren wieder in Betrieb genommen auslegungsüberschreitenden Ereignissen fossil befeuerten Reservekapazitäten (unter werden, sobald die neue Aufsichtsbehörde besitzen. Auch gegen alle anderen denkba- Einschluss der ebenfalls vom Tsunami zer- ihre Funktion erfüllen können wird. Auch ren Gefährdungen sind die Anlagen korrekt störten, jedoch innerhalb von wenigen Wo- im Bau befindliche Anlagen (derzeit zwei) ausgelegt. Zeitlich kurz darauf wurden die chen bis Monaten reparierten Kraftwerke können weitergebaut werden. Allerdings deutschen Anlagen wie alle anderen euro- an der Nordostküste von Honshu) und damit sind Wiederinbetriebnahmen in Japan tradi- päischen Anlagen mit einem Aufwand von mit massiv gesteigerten Importen von Stein- tionell auch abhängig von der Zustimmung rd. 500 Mannjahren dem „EU-Stresstest“ kohle und Flüssiggas ausgeglichen werden. von lokalen Behörden. Abzusehen sind da- unterzogen. Die Kosten alleine für Flüssiggasimporte her langwierige politische Abstimmungs- haben sich von 20 auf 50 Mrd. € pro Jahr prozesse für jede einzelne Anlage. Nach monatelanger Untersuchung, Prüfung erhöht. Die japanische Außenhandelsbilanz und Quervergleichen stellte die von der EU wies daher bereits 2011 zum ersten Mal seit Weltweite Reaktionen mit der Durchführung betraute European 30 Jahren ein Defizit auf, das sich 2012 auf Nuclear Regulators Group ENSREG fest, 58 Mrd. € erhöhte (Gesamtexporte 2012: Nach dem Fukushima-Ereignis war in den dass ebenfalls für alle europäischen Anla- 538 Mrd. €). Für die Entschädigung der Ländern, in denen Kernkraftwerke betrie- gen die Anforderungen richtig formuliert Fukushima-bedingten Evakuierungsopfer ben und/oder gebaut werden, den Regierun- sind und erfüllt werden. Es wurde außer- und die Aufräum- und Dekontaminationsar- gen und Betreibern klar, was zu tun war: dem festgestellt, dass rund die Hälfte der beiten haftet Tepco. Aufgrund mangelnder Prüfen, ob die eigenen Anlagen gegen Tsu- untersuchten Anlagen in Europa nicht über Versicherungsdeckung wurde Tepco inzwi- namis richtig geschützt sind, und prüfen, ob alle dem „Restrisikobereich“ zuzurechnen- schen wieder rückverstaatlicht. andere Gefährdungen (mit sog. „Cliff-edge“- den Sicherheitseinrichtungen wie gefilter- Potenzial) existieren könnten. te Containment-Druckentlastungssysteme In den Wahlen am 16.12.2012 wurde die Mit- oder Wasserstoff-Abbausysteme verfügten. te-Links-Regierung unter Ministerpräsident In Deutschland veranlasste die Bundesre- Diese Systeme, die in Fukushima die Evaku- Noda, der für den langfristigen Verzicht auf gierung unmittelbar über die Reaktorsi- ierungen überflüssig gemacht hätten, waren ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 3 39
ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK tests“) haben gezeigt, dass vergleichbare Auslegungsdefizite außerhalb Japans nicht vorhanden waren und sind. In Deutschland wurde die Einhaltung aller Anforderungen durch alle Anlagen zusätzlich durch die „RSK-Sicherheitsüberprüfung“ bestätigt. Es bestand und besteht demnach aus sicher- heitstechnischer Sicht kein Grund, deutsche Kernkraftwerke vorzeitig und dauerhaft ab- zuschalten. Nirgendwo sonst auf der Welt, auch nicht in Japan, sind derartige Maßnah- men geplant. Anmerkungen [1] Akute Strahlenschäden treten erst über 1 000 mSv auf, tödliche Dosen liegen im Bereich von 4 000- 7 000 mSv. Die Gesamtlebensdosis über 70 Jahre aus natürlichen Quellen und medizinischen Anwendungen beträgt weltweit 200-600 mSv, z. B. bei Berufspiloten Abb. 4 Kernenergiepolitik weltweit nach Fukushima bis zu 120 mSv mehr. [2] „NAIIC-Report“, siehe: http://en.wikipedia.org/ wiki/National_Diet_of_Japan_Fukushima_Nuclear_Ac- u. a. in deutschen Anlagen auch vor dem Nach Fukushima hat damit bis heute nur cident_Independent_Investigation_Commission Ereignis bereits flächendeckend vorhanden. Deutschland laufende Anlagen vorzeitig [3] www.tepco.co.jp, siehe auch Hintergrund-Informati- – und dies mit deutlichem Abstand zur onen auf www.kit.edu/besuchen/6042.php Weitere Empfehlungen betreffen die weitere technischen Lebensdauer – vom Netz ge- Verstärkung der Notfallschutzeinrichtun- nommen. Bei einem veranschlagten durch- Weitere Literatur gen wie zusätzliche mobile Notstromdiesel, schnittlichen Erzeugungskostenvorteil von diversitäre Wärmesenken, verstärkte Batte- 4 €ct/kWh und einer Jahresproduktion Kuczera, B.; Mohrbach, L.; Tromm, W., Knebel, J.: Fuku- riekapazitäten zur Notstromversorgung der der Kernkraftwerke von 170 TWh ergibt shima auch in Deutschland? In: Spektrum der Wissen- Instrumentierung, zusätzliche Kühlmittel- sich damit gegenüber der weltweit ange- schaft, 8/2011, S. 76-83. einspeisemöglichkeiten für Reaktoren und strebten Betriebsdauer von 60 Reaktorbe- Mohrbach, L.: Unterschiede im gestaffelten Sicher- Lagerbecken sowie zum Strahlenschutz. triebsjahren durch die Abschaltung nach heitskonzept: Vergleich Fukushima Daiichi mit deut- Diese sind inzwischen in den meisten Län- weniger als 30 Reaktorbetriebsjahren ein schen Anlagen. In: atomwirtschaft atw, 56. Jg. (2011), dern umgesetzt. All diese waren in Deutsch- abgeschätzter volkswirtschaftlicher Verlust Heft 4/5, 242ff. land bereits vor Fukushima weitgehend von rd. 200 Mrd €. In Deutschland galt al- RSK-Stellungnahme, 11.-14.5.2011 (437. RSK-Sitzung): vorhanden, auch in den inzwischen stillge- lerdings schon vor dem Unglück eine Lauf- Anlagenspezifische Sicherheitsüberprüfung (RSK-SÜ) legten Anlagen. zeitbegrenzung auf durchschnittlich ca. 40 deutscher Kernkraftwerke unter Berücksichtigung bis 44 Jahre. der Ereignisse in Fukushima-I (Japan), abrufbar un- Weltweit haben die meisten Regierungen ter: www.rskonline.de/downloads/rsk_sn_sicherheits- damit besonnen auf das Fukushima-Ereignis Deutscher Alleingang ueberpruefung_ 20110516_hp.pdf) reagiert (vgl. Abb. 4), indem zuerst die Situ- http://www.ensreg.eu/EU-Stress-Tests ation analysiert, bewertet und daraus Konse- Der entscheidende Faktor für den Unfal- quenzen gezogen wurden. Bemerkenswert leintritt in Fukushima war eine nicht aus- Dr.-Ing. L. Mohrbach, Leiter Competence ist, dass seitdem eine Vielzahl von Ländern reichende Auslegung gegen große, aber für Center Kernkraftwerke, VGB PowerTech e. V., den Einstieg bzw. neue Projekte angekündigt Japan nicht seltene Tsunamis. Damit ist das Essen hat. Andere, wie z. B. China, das 28 Blöcke im Ereignis nicht wie in der Begründung für Ludger.Mohrbach@VGB.org Bau und über 150 in der Planung hatte, hat- das deutsche Ausstiegsgesetz angegeben ten zunächst ein Moratorium für Neugeneh- dem Bereich des anlagentechnischen Restri- migungen erlassen. Der Bau oder gar Betrieb sikos zuzuordnen, sondern beruht auf einer von Anlagen wurde nicht unterbrochen. Nach unzureichenden Basisauslegung gegenüber Prüfung aller Umstände wurde das Moratori- Einwirkungen von außen. um Ende 2012 wieder aufgehoben, seitdem ist bereits wieder mit dem Bau von sieben Die inzwischen in vielen Ländern durchge- neuen Blöcken begonnen worden. führten Überprüfungen (u. a. die „EU-Stress- 40 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 3
Sie können auch lesen