WAS IST GUTE BILDUNG HEUTE, WAS SIND GUTE SCHULEN MORGEN?
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IM FOKUS /// Anmerkungen zur aktuellen Bildungsdebatte WAS IST GUTE BILDUNG HEUTE, WAS SIND GUTE SCHULEN MORGEN? HEINZ-PETER MEIDINGER /// Was gute Bildung als wesentlicher Baustein für die Zukunftsgestaltung des eigenen Lebens und einer Gesellschaft ist, war immer schon einem lebendigen und kontroversen Diskussionsprozess unterworfen. Soll Bildung vor allem verwertbar und eng an aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen orientiert sein oder eher zweckfrei und unzeitgemäß? Geht es bei Bildung in erster Linie um Wissen oder doch mehr um Persönlichkeits- und Werterziehung? Und: Ist gute Bildung überhaupt messbar, wie PISA meint? Wenn von der Schule von morgen und Natürlich sind wir als Staat, Gesell- der Zukunft unseres Schulsystems die schaft und Schule mit großen, auch neu- Rede ist, dann wird häufig in Debatten en Herausforderungen konfrontiert. So und Diskussionen der Eindruck erweckt, stehen wir beispielsweise vor der Riesen- dass unsere heutigen Schulen, die Unter- aufgabe, den Weg der digitalen Transfor- richtsmethoden, die geltenden Lehrpläne mation erfolgreich zu gestalten und un- oder auch unsere Lehrerbildung für die sere Jugend darauf optimal vorzuberei- gesellschaftlichen Herausforderungen, ten. Trotzdem: Die Welt von morgen die die Zukunft an unsere Schulabsol- venten stellt, denkbar schlecht aufgestellt sei. Gerne wird diese Generalkritik dann in solch flotten Sprüche verpackt wie etwa, dass bei uns die Schüler von heute Das derzeitige Schulsystem steht in in den Schulen von gestern mit Lehrern der KRITIK. von vorgestern und Methoden aus dem Mittelalter auf die Probleme von morgen vorbereitet würden. 34 POLITISCHE STUDIEN // 494/2020
Quelle: iStock.com/gpointstudio Schulen vermitteln nicht nur Wissen. Sie haben auch einen humanistischen Bildungsauftrag: Erziehung zum werteorientierten, denkenden, selbständigen Menschen. wird nicht völlig neue Herausforderun- dern vielfach darum, sich auf die in der gen an die junge Generation stellen. Das, Vergangenheit als wesentlich für gute was gute Bildung ausmacht, eine gute Bildung erkannten Kernpunkte in unse- Allgemeinbildung als intelligent vernetz- ren Schulen neu zu fokussieren und die- tes Orientierungswissen, die Entde- se konkret umzusetzen. Und da gibt es ckung und Fortentwicklung der eigenen Defizite und vielgestaltigen Reformbe- Stärken, die Ausprägung von Charakter, darf, der auch benannt werden muss. Individualität und Selbständigkeit und Die folgenden Überlegungen dienen das Bewusstsein um die soziale Verant- dem Ziel, diese zentralen Kernpunkte wortung in dieser Welt für andere, sind guter Bildung ins Auge zu fassen und Aufgaben, die letztendlich auch Wil- deutlich zu machen, dass es mehr dar- helm von Humboldt bei seiner neuhu- um gehen muss, sich auf das Wesentli- manistischen Reform der preußischen che gelingender Bildungsprozesse zu Schulen vor über 200 Jahren schon fest konzentrieren, als beispielsweise völlig im Blick hatte. Es geht also letztendlich neue Fächer zu konzipieren oder auch nicht um die Identifizierung völlig neuer radikal die Auflösung der Fächerstruk- Bildungsziele und Bildungsinhalte, son- tur insgesamt zu fordern. Es ist mit Si- 494/2020 // POLITISCHE STUDIEN 35
IM FOKUS gleichen abschneidet. Aber, ob unsere Schulen gebildete junge Menschen ver- Die KERNPUNKTE guter Bildung lassen, ja, ob überhaupt noch Bildung ein sollten gestärkt werden. ernsthaftes und nicht bloß in Sonntags- reden beschworenes Ziel von Schule ist, ist meist nicht Gegenstand der öffentli- chen Auseinandersetzung. Auch für uns Lehrkräfte gilt: Die ständige Anspan- nung im Schulalltag birgt die Gefahr, im cherheit kein Zufall, dass mit Bayern Kleinklein der Notenerhebung, der Stoff- und Sachsen die Bundesländer in allen vermittlung und des Verwaltungsauf- Leistungsranking ganz vorne liegen, die wands die eigentlich entscheidende Frage auf diese Kernpunkte nach wie vor be- aus dem Blick zu verlieren, nämlich die sonderen Wert legen, also ihre Lehrplä- nach dem Ziel unserer Tätigkeit. Was für ne nicht völlig entkernt haben und Bil- junge Menschen mit welcher Bildung, dung nicht als bloßes Vermittlungspro- welchen Persönlichkeitsmerkmalen und blem, sondern als Aneignungsprozess welchen Kenntnissen und Kompetenzen verstehen, der auch die aktive Beteili- sollen unsere Schulen verlassen? gung und Anstrengungsbereitschaft des zu Bildenden erfordert. Bildung versus Education – Natürlich wird Digitalisierung Schule zur Geschichte des deutschen und Unterricht verändern. Wenn wir es Bildungsbegriffs aber richtig machen, wird dies nicht zu Bekanntlich ist Bildung ein Begriff, der einer Entwertung von Allgemeinbildung in vielen anderen Sprachen und Ländern und des Kernziels von Bildung, die Kin- keine Entsprechung findet. Der Aspekt der zu selbständigen, mündigen Bürgern der Selbstbildung, Bildung als individu- zu erziehen, die in der Lage sind, ihr Le- eller Prozess der Selbstaneignung, gehört ben und ihre Umwelt mitzugestalten, mit Sicherheit nicht zum Bedeutungs- führen, sondern zu einer Stärkung. kern von „education“. Dieser Bedeu- tungskern ist auch dem Verständnis von Aktuelle Schuldebatten: Was sie Schule in vielen asiatischen Gesellschaf- mit Bildung zu tun haben oder nicht ten fremd, wo das Lernen eher als die- Zweifellos hat der Begriff Bildung Kon- nender kollektiver Prozess begriffen junktur. Wir haben Bildungsstandards, wird, der darin besteht, die Weisheit an- Bildungspläne, Bildungsstudien, Diskus- derer demütig entgegenzunehmen. Ein sionen um Bildungsgerechtigkeit und wir ganz früher Vertreter des Bildungsge- haben Bildungspolitiker. Das Irritierende dankens war der griechische Philosoph daran ist aber, dass es in den diversen Platon, in dessen Höhlengleichnis sich Studien und Debatten in der Bildungspo- einige Gedanken finden, auf denen auch litik selten bis nie um Bildung an sich unser heutiges Bildungsverständnis auf- geht. In vielen Bundesländern misst die baut, nämlich Bildung als Akt der Selbst- Schulpolitik ihren Erfolg vorrangig an befreiung des Menschen auf dem Weg Abitur- und Sitzenbleiberquoten und zum mündigen Bürger zu begreifen. vielleicht noch daran, wie man bei natio- Die für das deutsche Bildungswesen nalen und internationalen Leistungsver- besonders bedeutsame Prägung erfuhr 36 POLITISCHE STUDIEN // 494/2020
der Bildungsbegriff durch die Aufklä- Zukunft: Deutsch, Fremdsprachen, Ma- rung, in der nicht mehr die Religion, die thematik, Naturwissenschaften, Ge- Orientierung am Abbild Gottes, die schichte und Gesellschaftswissenschaf- Richtschnur schulischer Lernprozesse ten, musische Bildung sowie Sport. Dis- sein sollte, sondern der autonome, in kussionen entzünden sich angesichts ei- wissenschaftlichen Kategorien denken- ner begrenzten Stundentafel eher daran, de und aufgeklärte Mensch. Wilhelm wovon mehr oder weniger notwendig Humboldt selbst führte dazu aus: „Es ist. Als Deutschlehrer halte ich persön- gibt schlechterdings gewisse Kenntnis- lich die Stundenausstattung für dieses se, die allgemein sein müssen, und noch Fach, das die zentrale Kompetenz für mehr eine gewisse Bildung der Gesin- Verstehens- und Schreibprozesse ist, für nungen und des Charakters, die keinem zu gering, das mögen aber andere wie- fehlen darf.“ der ganz anders sehen. Zu fragen ist Das klingt zunächst etwas altmo- auch, ob es sinnvoll war, an Grundschu- disch, wenn wir allerdings die Forderung len das frühe Fremdsprachenlernen auf vor dem Hintergrund aktueller Debatten Kosten des Deutschunterrichts einzu- um Werteerziehung, Demokratiebil- führen, zumal die Lerneffekte insgesamt dung, gesellschaftliche Solidarität, Um- überschaubar sind. Vielen reicht dieser weltschutz, Ökologie, Integration und alte Fächerkanon aber für eine moderne Völkerverständigung betrachten, wird Schule und die Herausforderungen der deutlich, wie aktuell diese Beschreibung Zukunft nicht mehr aus. von Bildungszielen nach wie vor ist. Die Beim Deutschen Lehrerverband ha- Kernfrage lautet also, was sind diese „ge- ben wir einmal gesammelt, was es für wissen Kenntnisse“, was ist diese „gewis- Forderungen nach neuen Fächern in se Bildung der Gesinnungen und des den letzten 20 Jahren gegeben hat. Wir Charakters“, die wir jungen Menschen kamen auf eine Zahl von über 40. Ein heute und in Zukunft vermitteln müssen paar Beispiele: Ernährung, Benehmen, und die gute Bildung ausmacht. Denkmalschutz, Medienerziehung, Di- gitalkunde, Gesundheit, Klimaschutz, Der schulische Fächerkanon im Finanzkompetenz, Alltags- und Le- Kreuzfeuer divergierender gesell- benskompetenzen, Rauschkunde, schaftlicher Forderungen Hauswirtschaft, Glück, Verbraucher- Unabhängig von der jeweiligen Schulart bildung oder Erste Hilfe. Diese Vor- gibt es eine hohe Übereinstimmung be- schläge speisen sich vor allem aus zwei züglich der Fächer und Lerninhalte, die Quellen, sie kommen von Interessens- unverzichtbar sind, heute und auch in gruppen und Lobbyverbänden sowie aus der Politik. Gerade bei entsprechen- den Forderungen aus der Politik wird man zuweilen das Gefühl nicht los, dass hier Schule als Reparaturbetrieb Grundlegende WERTE als Bildungs- für ungelöste politische Probleme miss- ziele machen eine gute Bildung aus. braucht wird. Dabei ist vollkommen klar, dass bei aller Wertschätzung der vorgeschlagenen Themenfelder allein das Korsett des begrenzten Stunden- 494/2020 // POLITISCHE STUDIEN 37
IM FOKUS plans eine Erweitung der Fächertafel kaum zulässt. Jede Ausweitung müsste mit einer Kürzung anderer Fächer be- Neue Inhalte könnten in die beste- zahlt werden. Zudem stellt sich sofort hende bewährte Fachstrukturierung die Frage, ob es für die neuen Fächer INTEGRIERT werden. auch entsprechend ausgebildete, quali- fizierte Lehrkräfte gibt. Und doch: Wer über die Schule der Zukunft spricht, muss auch eine Ant- wort darauf finden, wie beispielsweise ökonomische Bildung, Medienerzie- Mehr Allgemeinbildung oder hung und Informatik stärker Eingang in mehr Alltagswissen? die Lehrpläne und den Unterricht fin- „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung den können. Es ist völlig klar, dass öko- von Steuern, Miete oder Versicherun- nomische Bildung und der reflektierte gen. Aber ich kann ne Gedichtanalyse Umgang mit modernen Medien heute schreiben. In vier Sprachen.“ Mit die- ein unverzichtbarer Bestandteil moder- sem Tweet, der im Netz binnen kurzer ner Lehrpläne sein müssen. Ob dazu Zeit zigtausend mal geteilt und favori- neue Fächer konzipiert werden müssen siert wurde, hat die Kölner Schülerin oder diese Inhalte auch in bestehende Naina im Januar 2015 eine richtigge- integriert und als Querschnittsaufgabe hende Bildungsdebatte ausgelöst. Sogar begriffen werden, ist dann eine nach- die damalige Bundesbildungsministerin rangige Frage. Bayern ist hier an den Wanka fühlte sich bemüßigt, sich mit weiterführenden Schulen mit der frühen der Aussage, „Ich bin dafür, in der Schu- Verankerung des Faches Wirtschaft in le stärker Alltagsfähigkeiten zu vermit- den Lehrplänen der verschiedenen teln“, in diese Diskussion einzuschalten. Schularten wegweisend und Vorbild für Letztendlich geht es dabei um die alte andere Bundesländer gewesen. und immer wiederkehrende Frage, was Generell gilt aber: Gute moderne Bil- man in der Schule wofür lernen soll. dung misst sich nicht an der Anzahl der „Non vitae, sed scholae discimus“ Fächer. Große Skepsis ist angebracht ge- formulierte Seneca in seinen morali- genüber Vorstößen nach dem Beispiel schen Briefen an Lucilius vor über 2.000 von Finnland, die Fächergrenzen völlig Jahren und beklagte damit die damali- aufzuheben und die Fachstrukturierung gen Verhältnisse in den römischen Phi- abzuschaffen, und zwar mit dem Argu- losophenschulen. Bekannter geworden ment, dass es in der modernen Schule ist die umgedrehte Variante, „Non scho- doch darum gehen müsse, fachübergrei- lae, sed vitae discimus“, um der Forde- fend, projektbezogen und orientiert an rung Schubkraft zu verleihen, dass doch Phänomenen zu unterrichten. Fächer eigentlich die Schule die Aufgabe habe, sind aber kein Selbstzweck, sie sind wis- fürs Leben vorzubereiten. Also weniger senschaftspropädeutisch begründet. Gedichte und stattdessen mehr Mietver- Wer keine Kenntnisse der Methoden träge im Deutschunterricht analysieren? und Inhalte von Fächern hat, wird auch In der FAZ fragte ein Feuilletonre- später zu fachübergreifendem, vernetz- dakteur allen Ernstes, ob sich Kinder in tem Denken nicht imstande sein. der antiken Götterwelt auskennen müss- 38 POLITISCHE STUDIEN // 494/2020
ten oder sich mit dem Impressionismus tur, vielfach kein schnelles Internet, kei- und Edelgasen befassen sollten, wenn sie ne tragfähigen Lernplattformen, unzu- das Abitur erreichen wollten. Viel wich- reichend fortgebildete Lehrkräfte, zu tiger sei es doch zu wissen, welchen Teil wenig Geräte usw. Schnell wurde klar, seines Einkommens man für das Woh- dass nur ein Bruchteil der Mittel des Di- nen ausgeben sollte. Als ob sich eine gitalpakts an den Schulen angekommen 14-Jährige oder auch ein 18-Jähriger ver- war, ein Versäumnis, das sich jetzt räch- nünftig und gewinnbringend mit dieser te. Doch, bei aller Berechtigung der De- Frage in einem Schulfach auseinander- fizitbeschreibung − die politische Dis- setzen würden. Mit praktischen Dingen kussion dazu, wie man an unseren befasst man sich in der Regel dann, Schulen die Digitale Transformation ge- wenn man sie braucht. Ob irgendetwas stalten könne, fokussiert sich derzeit lei- hängen bleibt, wenn ich mit Schülern der weitgehend auf technische Aspekte das Kleingedruckte von Mietverträgen und dies greift eindeutig zu kurz. analysiere oder die aktuell geltenden Kündigungsbedingungen bei möblierten und unmöblierten Wohnungen erkläre, zumal sich die entsprechenden gesetzli- chen Regelungen ständig ändern? Digitale Bildung darf sich NICHT nur Was Naina brauchen wird, falls sie auf technische Aspekte konzentrieren. einmal später einen Mietvertrag abschlie- ßen muss, ist die Fähigkeit, Texte genau analysieren zu können: Informationsent- nahme, Inhaltserfassung, Konsequen- zenabschätzung. Dazu sollte sie sich Sachverhalte schnell neu aneignen und Kinder lernen fast alles, wenn man komplexe Zusammenhänge begreifen ihnen einen Computer gibt und Fragen können. Sie sollte wissen, wo und wie stellt, sagt der indische Bildungsforscher man an weitere Informationen gelangt Sugata Mitra, der in dem Feldversuch und vor allem sollte sie fähig sein, Infor- „Hole the wall“ Kindern in indischen mationen abwägen und zu Entscheidun- Slums Computer zur Verfügung stellt. gen kommen zu können. Und das kann Der Glaube daran, dass das Internet, man auch sehr gut bei der Analyse von Computer, digitale Tools, der Zugang Gedichten lernen. Wer in der Lage ist, in zu Wissens- und Datenbanken das Ler- vier Sprachen Gedichte zu analysieren, nen, ja den Bildungsprozess insgesamt, der kann getrost in die Welt hinausgehen revolutionieren werden, ist gegenwärtig und Mietverträge abschließen. so stark wie nie zuvor. Die Bundesregie- rung und die Mehrzahl der Länder ha- „Digitale Bildung“: Sich nicht ben eine „Digitale Agenda“ vorgelegt. nur auf die Technik fokussieren Sie versprechen darin nichts weniger als Gerade die Corona-Ausnahmesituation eine Digitale Revolution für die Wirt- hat uns vor Augen geführt, dass hin- schaft, den Arbeitsmarkt, die Wissen- sichtlich der Digitalisierung unserer schaft und die Schulen. Digitale Bildung Schulen große Defizite vorhanden sind. lautet das neue Schlagwort, ja die neue Es fehlte an allem, an der IT-Infrastruk- Wunderwaffe bei der Wissensaneig- 494/2020 // POLITISCHE STUDIEN 39
IM FOKUS nung. Analoges Lernen ist out, digitales me aufgezeigt, die letztendlich nicht Lernen ist in. Fast könnte man den Ein- technisch, sondern nur didaktisch zu druck gewinnen, der Nürnberger Trich- lösen sind. Etwa die Tatsache, dass Bild- ter wäre nun endlich doch entdeckt wor- schirmlernen schnell ermüdet, ein ho- den, ein Wundermittel, mit dem Lernen hes Maß an Selbstdisziplin und Selbst- quasi wie im Schlaf gelingen könnte. lernkompetenz bei den Lernenden not- Die Vorteile digitaler Unterrichtsme- wendig ist und nicht zuletzt häufig Fra- dien liegen auf der Hand: Interaktivität, gen ungeklärt bleiben, weil der direkte Simulationsmöglichkeiten, Visualisie- Erfahrungsaustausch und der Kontakt rungen und Individualisierungen, größe- zu Lehrpersonen fehlen. re Unabhängigkeit von Zeit und Ort, Er- möglichung netzwerkartiger, zusam- menarbeitender Lernkonzepte. Aber man muss sich auch der Grenzen be- wusst sein. Gerade die Zeit der Schul- Das DIGITALE Lernen muss vorrangig schließungen hat schmerzlich vor Augen von den pädagogisch-didaktischen geführt, dass selbst gelingender Fernun- Faktoren bestimmt werden. terricht guten Präsenzunterricht mit dem direkten, persönlichen Kontakt aller Be- teiligten nicht ersetzen kann. Es spricht einiges dafür, dass der gegenwärtige Er- wartungshype an die Segnungen der Di- gitalisierung mit der künftigen Realität Alle Schulen brauchen darüber hin- nicht übereinstimmen wird. Der Lern- aus passgenaue, auf das jeweilige Schul- prozess selbst kann auch morgen nicht profil bezogene Medienkonzepte. Der digitalisiert werden, er bleibt eine Leis- kompetente Umgang mit digitalen Me- tung des menschlichen Gehirns. Ob man dien ist für junge Menschen in unserer unregelmäßige lateinische Verben mit ei- Gesellschaft unabdingbar. Jede Bil- nem Computerprogramm, dem mittler- dungseinrichtung steht vor der Notwen- weile schon fast antiken Zettelkasten, ei- digkeit einer systematisch aufbauenden nem Wörterbuch oder durch stunden- Vermittlung eines sicheren, kompeten- langes Memorieren erlernt, − es bleibt ein ten und reflektierten Umgangs mit neu- mühsamer, nicht immer Freude bereiten- en Medien, modernen Informations- der Aneignungsprozess, den einem keine technologien, sozialen Netzwerken und Technik der Welt abnehmen kann. digitalen Kommunikationsformen. Da- Wer, und das finde ich auch richtig, bei mögen Jugendliche durchaus oft ei- Digitalisierung in Schulen vorantreiben nen Vorsprung gegenüber ihren Lehr- will, muss auf eines besonders achten, kräften haben, was die Techniknutzung nämlich, dass die Technik der Pädago- etwa der neuesten Smartphone-Genera- gik folgt und nicht umgekehrt. Wir tion anbelangt. Die zentrale Schlüssel- müssen der Gefahr begegnen, dass kompetenz in der digitalen Wissensge- Lerninhalte mehr von den technischen sellschaft ist aber die Fähigkeit, riesige, als von den pädagogisch-didaktischen über das Internet und andere Informati- Faktoren bestimmt werden. Die Phase onsquellen jederzeit verfügbare und ab- des Fernunterrichts hat manche Proble- rufbare Informationsmengen in sinnvoll 40 POLITISCHE STUDIEN // 494/2020
nutzbares, kritisch reflektiertes und fle- xibel anwendbares Wissen zu verwan- deln. Dreh- und Angelpunkt, um diese SCHULEN sollen auch zukünftig Herausforderung zu bewältigen, sind Wissen, Werte und Demokratie- und bleiben die Lehrkräfte, die für die bewusstsein vermitteln. Bewältigung dieser Aufgabe sowohl, was den technischen wie inhaltlichen Umgang mit den neuen Technologien als auch moderne, digitale Medien ein- beziehende Unterrichtskonzepte anbe- trifft, gut gerüstet sein müssen. nen, erheben sich quicklebendig aus der Die Vorstellung, digitale Medien Mottenkiste der Geschichte. In dieser würden zukünftig Schule als Lernort Phase brauchen wir neben der notwen- und Lehrkräfte als Vermittler ersetzen digen Aufgeschlossenheit für Neues ver- können, teile ich in keiner Weise. Schule stärkt eine Rückbesinnung auf den Kern wird auch in Zukunft ein zutiefst perso- eines humanistischen Bildungsver- naler Austauschprozess bleiben. Ohne ständnisses, das weit über die bloße Ver- den sozialen Faktor ist Schule schwer mittlung von Kompetenzen und Lern- vorstellbar. Digitale Medien bieten aber wissen hinausreicht. in der Tat große Chancen, bereits bisher Unsere Schulen sind das Herz der als zentral erkannte Unterrichtsziele wie Wertevermittlung und der Demokratie- selbständiges, problemorientiertes und erziehung unseres Landes. Besonders forschendes Lernen und die Förderung dort kann und muss unsere Gesellschaft individueller Entwicklungspotenziale die verantwortungsvolle Aufgabe, die noch intensiver und umfassender zu Zukunftschancen unserer jungen Men- verfolgen. schen, Menschenwürde, Toleranz und Solidarität sowie soziales Miteinander Die gesellschaftliche Verant zu vermitteln, wahrnehmen. /// wortung unserer Schulen für die Welt von morgen und eine bessere Zukunft Die politischen Entwicklungen, die so- zialen Veränderungen und die ökologi- schen Probleme in unserer Welt bringen uns heute oft aus der Fassung. Bis vor kurzem allgemein gültige Regeln und Werte werden in Frage gestellt, keine der Errungenschaften unserer westli- /// H EINZ-PETER MEIDINGER chen Zivilisation scheint noch auf siche- ist Präsident des Deutschen Lehrerverban- rem Fundament zu ruhen, weder Demo- des, Berlin, und war bis Juli 2020 Schulleiter kratie noch Humanismus, weder Frei- des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf. heit noch Brüderlichkeit. Die Schreckge- spenster Nationalismus, Fremdenhass, Autoritarismus und religiöser Fanatis- mus, die endgültig überwunden schie- 494/2020 // POLITISCHE STUDIEN 41
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