WAS IST GUTE BILDUNG HEUTE, WAS SIND GUTE SCHULEN MORGEN?

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WAS IST GUTE BILDUNG HEUTE, WAS SIND GUTE SCHULEN MORGEN?
IM FOKUS

/// Anmerkungen zur aktuellen Bildungsdebatte

WAS IST GUTE BILDUNG HEUTE,
WAS SIND GUTE SCHULEN MORGEN?
HEINZ-PETER MEIDINGER /// Was gute Bildung als wesentlicher Baustein für die
Zukunftsgestaltung des eigenen Lebens und einer Gesellschaft ist, war immer schon
einem lebendigen und kontroversen Diskussionsprozess unterworfen. Soll Bildung
vor allem verwertbar und eng an aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen
orientiert sein oder eher zweckfrei und unzeitgemäß? Geht es bei Bildung in erster
Linie um Wissen oder doch mehr um Persönlichkeits- und Werterziehung? Und: Ist
gute Bildung überhaupt messbar, wie PISA meint?

          Wenn von der Schule von morgen und                Natürlich sind wir als Staat, Gesell-
          der Zukunft unseres Schulsystems die          schaft und Schule mit großen, auch neu-
          Rede ist, dann wird häufig in Debatten        en Herausforderungen konfrontiert. So
          und Diskussionen der Eindruck erweckt,        stehen wir beispielsweise vor der Riesen-
          dass unsere heutigen Schulen, die Unter-      aufgabe, den Weg der digitalen Transfor-
          richtsmethoden, die geltenden Lehrpläne       mation erfolgreich zu gestalten und un-
          oder auch unsere Lehrerbildung für die        sere Jugend darauf optimal vorzuberei-
          gesellschaftlichen Herausforderungen,         ten. Trotzdem: Die Welt von morgen
          die die Zukunft an unsere Schulabsol-
          venten stellt, denkbar schlecht aufgestellt
          sei. Gerne wird diese Generalkritik dann
          in solch flotten Sprüche verpackt wie
          etwa, dass bei uns die Schüler von heute        Das derzeitige Schulsystem steht in
          in den Schulen von gestern mit Lehrern          der KRITIK.
          von vorgestern und Methoden aus dem
          Mittelalter auf die Probleme von morgen
          vorbereitet würden.
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Quelle: iStock.com/gpointstudio
Schulen vermitteln nicht nur Wissen. Sie haben auch einen humanistischen Bildungsauftrag:
Erziehung zum werteorientierten, denkenden, selbständigen Menschen.

wird nicht völlig neue Herausforderun-            dern vielfach darum, sich auf die in der
gen an die junge Generation stellen. Das,         Vergangenheit als wesentlich für gute
was gute Bildung ausmacht, eine gute              Bildung erkannten Kernpunkte in unse-
Allgemeinbildung als intelligent vernetz-         ren Schulen neu zu fokussieren und die-
tes Orientierungswissen, die Entde-               se konkret umzusetzen. Und da gibt es
ckung und Fortentwicklung der eigenen             Defizite und vielgestaltigen Reformbe-
Stärken, die Ausprägung von Charakter,            darf, der auch benannt werden muss.
Individualität und Selbständigkeit und                Die folgenden Überlegungen dienen
das Bewusstsein um die soziale Verant-            dem Ziel, diese zentralen Kernpunkte
wortung in dieser Welt für andere, sind           guter Bildung ins Auge zu fassen und
Aufgaben, die letztendlich auch Wil-              deutlich zu machen, dass es mehr dar-
helm von Humboldt bei seiner neuhu-               um gehen muss, sich auf das Wesentli-
manistischen Reform der preußischen               che gelingender Bildungsprozesse zu
Schulen vor über 200 Jahren schon fest            konzentrieren, als beispielsweise völlig
im Blick hatte. Es geht also letztendlich         neue Fächer zu konzipieren oder auch
nicht um die Identifizierung völlig neuer         radikal die Auflösung der Fächerstruk-
Bildungsziele und Bildungsinhalte, son-           tur insgesamt zu fordern. Es ist mit Si-
                                                                        494/2020 // POLITISCHE STUDIEN   35
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                                                       gleichen abschneidet. Aber, ob unsere
                                                       Schulen gebildete junge Menschen ver-
       Die KERNPUNKTE guter Bildung                    lassen, ja, ob überhaupt noch Bildung ein
       sollten gestärkt werden.                        ernsthaftes und nicht bloß in Sonntags-
                                                       reden beschworenes Ziel von Schule ist,
                                                       ist meist nicht Gegenstand der öffentli-
                                                       chen Auseinandersetzung. Auch für uns
                                                       Lehrkräfte gilt: Die ständige Anspan-
                                                       nung im Schulalltag birgt die Gefahr, im
          cherheit kein Zufall, dass mit Bayern        Kleinklein der Notenerhebung, der Stoff-
          und Sachsen die Bundesländer in allen        vermittlung und des Verwaltungsauf-
          Leistungsranking ganz vorne liegen, die      wands die eigentlich entscheidende Frage
          auf diese Kernpunkte nach wie vor be-        aus dem Blick zu verlieren, nämlich die
          sonderen Wert legen, also ihre Lehrplä-      nach dem Ziel unserer Tätigkeit. Was für
          ne nicht völlig entkernt haben und Bil-      junge Menschen mit welcher Bildung,
          dung nicht als bloßes Vermittlungspro-       welchen Persönlichkeitsmerkmalen und
          blem, sondern als Aneignungsprozess          welchen Kenntnissen und Kompetenzen
          verstehen, der auch die aktive Beteili-      sollen unsere Schulen verlassen?
          gung und Anstrengungsbereitschaft des
          zu Bildenden erfordert.                          Bildung versus Education –
              Natürlich wird Digitalisierung Schule        zur Geschichte des deutschen
          und Unterricht verändern. Wenn wir es            Bildungsbegriffs
          aber richtig machen, wird dies nicht zu      Bekanntlich ist Bildung ein Begriff, der
          einer Entwertung von Allgemeinbildung        in vielen anderen Sprachen und Ländern
          und des Kernziels von Bildung, die Kin-      keine Entsprechung findet. Der Aspekt
          der zu selbständigen, mündigen Bürgern       der Selbstbildung, Bildung als individu-
          zu erziehen, die in der Lage sind, ihr Le-   eller Prozess der Selbstaneignung, gehört
          ben und ihre Umwelt mitzugestalten,          mit Sicherheit nicht zum Bedeutungs-
          führen, sondern zu einer Stärkung.           kern von „education“. Dieser Bedeu-
                                                       tungskern ist auch dem Verständnis von
               Aktuelle Schuldebatten: Was sie         Schule in vielen asiatischen Gesellschaf-
               mit Bildung zu tun haben oder nicht     ten fremd, wo das Lernen eher als die-
          Zweifellos hat der Begriff Bildung Kon-      nender kollektiver Prozess begriffen
          junktur. Wir haben Bildungsstandards,        wird, der darin besteht, die Weisheit an-
          Bildungspläne, Bildungsstudien, Diskus-      derer demütig entgegenzunehmen. Ein
          sionen um Bildungsgerechtigkeit und wir      ganz früher Vertreter des Bildungsge-
          haben Bildungspolitiker. Das Irritierende    dankens war der griechische Philosoph
          daran ist aber, dass es in den diversen      Platon, in dessen Höhlengleichnis sich
          Studien und Debatten in der Bildungspo-      einige Gedanken finden, auf denen auch
          litik selten bis nie um Bildung an sich      unser heutiges Bildungsverständnis auf-
          geht. In vielen Bundesländern misst die      baut, nämlich Bildung als Akt der Selbst-
          Schulpolitik ihren Erfolg vorrangig an       befreiung des Menschen auf dem Weg
          Abitur- und Sitzenbleiberquoten und          zum mündigen Bürger zu begreifen.
          vielleicht noch daran, wie man bei natio-        Die für das deutsche Bildungswesen
          nalen und internationalen Leistungsver-      besonders bedeutsame Prägung erfuhr
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der Bildungsbegriff durch die Aufklä-        Zukunft: Deutsch, Fremdsprachen, Ma-
  rung, in der nicht mehr die Religion, die    thematik, Naturwissenschaften, Ge-
  Orientierung am Abbild Gottes, die           schichte und Gesellschaftswissenschaf-
  Richtschnur schulischer Lernprozesse         ten, musische Bildung sowie Sport. Dis-
  sein sollte, sondern der autonome, in        kussionen entzünden sich angesichts ei-
  wissenschaftlichen Kategorien denken-        ner begrenzten Stundentafel eher daran,
  de und aufgeklärte Mensch. Wilhelm           wovon mehr oder weniger notwendig
  Humboldt selbst führte dazu aus: „Es         ist. Als Deutschlehrer halte ich persön-
  gibt schlechterdings gewisse Kenntnis-       lich die Stundenausstattung für dieses
  se, die allgemein sein müssen, und noch      Fach, das die zentrale Kompetenz für
  mehr eine gewisse Bildung der Gesin-         Verstehens- und Schreibprozesse ist, für
  nungen und des Charakters, die keinem        zu gering, das mögen aber andere wie-
  fehlen darf.“                                der ganz anders sehen. Zu fragen ist
      Das klingt zunächst etwas altmo-         auch, ob es sinnvoll war, an Grundschu-
  disch, wenn wir allerdings die Forderung     len das frühe Fremdsprachenlernen auf
  vor dem Hintergrund aktueller Debatten       Kosten des Deutschunterrichts einzu-
  um Werteerziehung, Demokratiebil-            führen, zumal die Lerneffekte insgesamt
  dung, gesellschaftliche Solidarität, Um-     überschaubar sind. Vielen reicht dieser
  weltschutz, Ökologie, Integration und        alte Fächerkanon aber für eine moderne
  Völkerverständigung betrachten, wird         Schule und die Herausforderungen der
  deutlich, wie aktuell diese Beschreibung     Zukunft nicht mehr aus.
  von Bildungszielen nach wie vor ist. Die          Beim Deutschen Lehrerverband ha-
  Kernfrage lautet also, was sind diese „ge-   ben wir einmal gesammelt, was es für
  wissen Kenntnisse“, was ist diese „gewis-    Forderungen nach neuen Fächern in
  se Bildung der Gesinnungen und des           den letzten 20 Jahren gegeben hat. Wir
  Charakters“, die wir jungen Menschen         kamen auf eine Zahl von über 40. Ein
  heute und in Zukunft vermitteln müssen       paar Beispiele: Ernährung, Benehmen,
  und die gute Bildung ausmacht.               Denkmalschutz, Medienerziehung, Di-
                                               gitalkunde, Gesundheit, Klimaschutz,
     Der schulische Fächerkanon im             Finanzkompetenz, Alltags- und Le-
     Kreuzfeuer divergierender gesell-         benskompetenzen,          Rauschkunde,
     schaftlicher Forderungen                  Hauswirtschaft, Glück, Verbraucher-
  Unabhängig von der jeweiligen Schulart       bildung oder Erste Hilfe. Diese Vor-
  gibt es eine hohe Übereinstimmung be-        schläge speisen sich vor allem aus zwei
  züglich der Fächer und Lerninhalte, die      Quellen, sie kommen von Interessens-
  unverzichtbar sind, heute und auch in        gruppen und Lobbyverbänden sowie
                                               aus der Politik. Gerade bei entsprechen-
                                               den Forderungen aus der Politik wird
                                               man zuweilen das Gefühl nicht los,
                                               dass hier Schule als Reparaturbetrieb
Grundlegende WERTE als Bildungs-               für ungelöste politische Probleme miss-
ziele machen eine gute Bildung aus.            braucht wird. Dabei ist vollkommen
                                               klar, dass bei aller Wertschätzung der
                                               vorgeschlagenen Themenfelder allein
                                               das Korsett des begrenzten Stunden-
                                                                  494/2020 // POLITISCHE STUDIEN   37
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          plans eine Erweitung der Fächertafel
          kaum zulässt. Jede Ausweitung müsste
          mit einer Kürzung anderer Fächer be-          Neue Inhalte könnten in die beste-
          zahlt werden. Zudem stellt sich sofort        hende bewährte Fachstrukturierung
          die Frage, ob es für die neuen Fächer         INTEGRIERT werden.
          auch entsprechend ausgebildete, quali-
          fizierte Lehrkräfte gibt.
              Und doch: Wer über die Schule der
          Zukunft spricht, muss auch eine Ant-
          wort darauf finden, wie beispielsweise
          ökonomische Bildung, Medienerzie-               Mehr Allgemeinbildung oder
          hung und Informatik stärker Eingang in          mehr Alltagswissen?
          die Lehrpläne und den Unterricht fin-       „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung
          den können. Es ist völlig klar, dass öko-   von Steuern, Miete oder Versicherun-
          nomische Bildung und der reflektierte       gen. Aber ich kann ne Gedichtanalyse
          Umgang mit modernen Medien heute            schreiben. In vier Sprachen.“ Mit die-
          ein unverzichtbarer Bestandteil moder-      sem Tweet, der im Netz binnen kurzer
          ner Lehrpläne sein müssen. Ob dazu          Zeit zigtausend mal geteilt und favori-
          neue Fächer konzipiert werden müssen        siert wurde, hat die Kölner Schülerin
          oder diese Inhalte auch in bestehende       Naina im Januar 2015 eine richtigge-
          integriert und als Querschnittsaufgabe      hende Bildungsdebatte ausgelöst. Sogar
          begriffen werden, ist dann eine nach-       die damalige Bundesbildungsministerin
          rangige Frage. Bayern ist hier an den       Wanka fühlte sich bemüßigt, sich mit
          weiterführenden Schulen mit der frühen      der Aussage, „Ich bin dafür, in der Schu-
          Verankerung des Faches Wirtschaft in        le stärker Alltagsfähigkeiten zu vermit-
          den Lehrplänen der verschiedenen            teln“, in diese Diskussion einzuschalten.
          Schularten wegweisend und Vorbild für       Letztendlich geht es dabei um die alte
          andere Bundesländer gewesen.                und immer wiederkehrende Frage, was
              Generell gilt aber: Gute moderne Bil-   man in der Schule wofür lernen soll.
          dung misst sich nicht an der Anzahl der         „Non vitae, sed scholae discimus“
          Fächer. Große Skepsis ist angebracht ge-    formulierte Seneca in seinen morali-
          genüber Vorstößen nach dem Beispiel         schen Briefen an Lucilius vor über 2.000
          von Finnland, die Fächergrenzen völlig      Jahren und beklagte damit die damali-
          aufzuheben und die Fachstrukturierung       gen Verhältnisse in den römischen Phi-
          abzuschaffen, und zwar mit dem Argu-        losophenschulen. Bekannter geworden
          ment, dass es in der modernen Schule        ist die umgedrehte Variante, „Non scho-
          doch darum gehen müsse, fachübergrei-       lae, sed vitae discimus“, um der Forde-
          fend, projektbezogen und orientiert an      rung Schubkraft zu verleihen, dass doch
          Phänomenen zu unterrichten. Fächer          eigentlich die Schule die Aufgabe habe,
          sind aber kein Selbstzweck, sie sind wis-   fürs Leben vorzubereiten. Also weniger
          senschaftspropädeutisch       begründet.    Gedichte und stattdessen mehr Mietver-
          Wer keine Kenntnisse der Methoden           träge im Deutschunterricht analysieren?
          und Inhalte von Fächern hat, wird auch          In der FAZ fragte ein Feuilletonre-
          später zu fachübergreifendem, vernetz-      dakteur allen Ernstes, ob sich Kinder in
          tem Denken nicht imstande sein.             der antiken Götterwelt auskennen müss-
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ten oder sich mit dem Impressionismus         tur, vielfach kein schnelles Internet, kei-
und Edelgasen befassen sollten, wenn sie      ne tragfähigen Lernplattformen, unzu-
das Abitur erreichen wollten. Viel wich-      reichend fortgebildete Lehrkräfte, zu
tiger sei es doch zu wissen, welchen Teil     wenig Geräte usw. Schnell wurde klar,
seines Einkommens man für das Woh-            dass nur ein Bruchteil der Mittel des Di-
nen ausgeben sollte. Als ob sich eine         gitalpakts an den Schulen angekommen
14-Jährige oder auch ein 18-Jähriger ver-     war, ein Versäumnis, das sich jetzt räch-
nünftig und gewinnbringend mit dieser         te. Doch, bei aller Berechtigung der De-
Frage in einem Schulfach auseinander-         fizitbeschreibung − die politische Dis-
setzen würden. Mit praktischen Dingen         kussion dazu, wie man an unseren
befasst man sich in der Regel dann,           Schulen die Digitale Transformation ge-
wenn man sie braucht. Ob irgendetwas          stalten könne, fokussiert sich derzeit lei-
hängen bleibt, wenn ich mit Schülern          der weitgehend auf technische Aspekte
das Kleingedruckte von Mietverträgen          und dies greift eindeutig zu kurz.
analysiere oder die aktuell geltenden
Kündigungsbedingungen bei möblierten
und unmöblierten Wohnungen erkläre,
zumal sich die entsprechenden gesetzli-
chen Regelungen ständig ändern?                 Digitale Bildung darf sich NICHT nur
    Was Naina brauchen wird, falls sie          auf technische Aspekte konzentrieren.
einmal später einen Mietvertrag abschlie-
ßen muss, ist die Fähigkeit, Texte genau
analysieren zu können: Informationsent-
nahme, Inhaltserfassung, Konsequen-
zenabschätzung. Dazu sollte sie sich
Sachverhalte schnell neu aneignen und             Kinder lernen fast alles, wenn man
komplexe Zusammenhänge begreifen              ihnen einen Computer gibt und Fragen
können. Sie sollte wissen, wo und wie         stellt, sagt der indische Bildungsforscher
man an weitere Informationen gelangt          Sugata Mitra, der in dem Feldversuch
und vor allem sollte sie fähig sein, Infor-   „Hole the wall“ Kindern in indischen
mationen abwägen und zu Entscheidun-          Slums Computer zur Verfügung stellt.
gen kommen zu können. Und das kann            Der Glaube daran, dass das Internet,
man auch sehr gut bei der Analyse von         Computer, digitale Tools, der Zugang
Gedichten lernen. Wer in der Lage ist, in     zu Wissens- und Datenbanken das Ler-
vier Sprachen Gedichte zu analysieren,        nen, ja den Bildungsprozess insgesamt,
der kann getrost in die Welt hinausgehen      revolutionieren werden, ist gegenwärtig
und Mietverträge abschließen.                 so stark wie nie zuvor. Die Bundesregie-
                                              rung und die Mehrzahl der Länder ha-
    „Digitale Bildung“: Sich nicht            ben eine „Digitale Agenda“ vorgelegt.
    nur auf die Technik fokussieren           Sie versprechen darin nichts weniger als
Gerade die Corona-Ausnahmesituation           eine Digitale Revolution für die Wirt-
hat uns vor Augen geführt, dass hin-          schaft, den Arbeitsmarkt, die Wissen-
sichtlich der Digitalisierung unserer         schaft und die Schulen. Digitale Bildung
Schulen große Defizite vorhanden sind.        lautet das neue Schlagwort, ja die neue
Es fehlte an allem, an der IT-Infrastruk-     Wunderwaffe bei der Wissensaneig-
                                                                  494/2020 // POLITISCHE STUDIEN   39
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          nung. Analoges Lernen ist out, digitales     me aufgezeigt, die letztendlich nicht
          Lernen ist in. Fast könnte man den Ein-      technisch, sondern nur didaktisch zu
          druck gewinnen, der Nürnberger Trich-        lösen sind. Etwa die Tatsache, dass Bild-
          ter wäre nun endlich doch entdeckt wor-      schirmlernen schnell ermüdet, ein ho-
          den, ein Wundermittel, mit dem Lernen        hes Maß an Selbstdisziplin und Selbst-
          quasi wie im Schlaf gelingen könnte.         lernkompetenz bei den Lernenden not-
               Die Vorteile digitaler Unterrichtsme-   wendig ist und nicht zuletzt häufig Fra-
          dien liegen auf der Hand: Interaktivität,    gen ungeklärt bleiben, weil der direkte
          Simulationsmöglichkeiten, Visualisie-        Erfahrungsaustausch und der Kontakt
          rungen und Individualisierungen, größe-      zu Lehrpersonen fehlen.
          re Unabhängigkeit von Zeit und Ort, Er-
          möglichung netzwerkartiger, zusam-
          menarbeitender Lernkonzepte. Aber
          man muss sich auch der Grenzen be-
          wusst sein. Gerade die Zeit der Schul-         Das DIGITALE Lernen muss vorrangig
          schließungen hat schmerzlich vor Augen         von den pädagogisch-didaktischen
          geführt, dass selbst gelingender Fernun-       Faktoren bestimmt werden.
          terricht guten Präsenzunterricht mit dem
          direkten, persönlichen Kontakt aller Be-
          teiligten nicht ersetzen kann. Es spricht
          einiges dafür, dass der gegenwärtige Er-
          wartungshype an die Segnungen der Di-
          gitalisierung mit der künftigen Realität         Alle Schulen brauchen darüber hin-
          nicht übereinstimmen wird. Der Lern-         aus passgenaue, auf das jeweilige Schul-
          prozess selbst kann auch morgen nicht        profil bezogene Medienkonzepte. Der
          digitalisiert werden, er bleibt eine Leis-   kompetente Umgang mit digitalen Me-
          tung des menschlichen Gehirns. Ob man        dien ist für junge Menschen in unserer
          unregelmäßige lateinische Verben mit ei-     Gesellschaft unabdingbar. Jede Bil-
          nem Computerprogramm, dem mittler-           dungseinrichtung steht vor der Notwen-
          weile schon fast antiken Zettelkasten, ei-   digkeit einer systematisch aufbauenden
          nem Wörterbuch oder durch stunden-           Vermittlung eines sicheren, kompeten-
          langes Memorieren erlernt, − es bleibt ein   ten und reflektierten Umgangs mit neu-
          mühsamer, nicht immer Freude bereiten-       en Medien, modernen Informations-
          der Aneignungsprozess, den einem keine       technologien, sozialen Netzwerken und
          Technik der Welt abnehmen kann.              digitalen Kommunikationsformen. Da-
               Wer, und das finde ich auch richtig,    bei mögen Jugendliche durchaus oft ei-
          Digitalisierung in Schulen vorantreiben      nen Vorsprung gegenüber ihren Lehr-
          will, muss auf eines besonders achten,       kräften haben, was die Techniknutzung
          nämlich, dass die Technik der Pädago-        etwa der neuesten Smartphone-Genera-
          gik folgt und nicht umgekehrt. Wir           tion anbelangt. Die zentrale Schlüssel-
          müssen der Gefahr begegnen, dass             kompetenz in der digitalen Wissensge-
          Lerninhalte mehr von den technischen         sellschaft ist aber die Fähigkeit, riesige,
          als von den pädagogisch-didaktischen         über das Internet und andere Informati-
          Faktoren bestimmt werden. Die Phase          onsquellen jederzeit verfügbare und ab-
          des Fernunterrichts hat manche Proble-       rufbare Informationsmengen in sinnvoll
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nutzbares, kritisch reflektiertes und fle-
xibel anwendbares Wissen zu verwan-
deln. Dreh- und Angelpunkt, um diese           SCHULEN sollen auch zukünftig
Herausforderung zu bewältigen, sind            Wissen, Werte und Demokratie-
und bleiben die Lehrkräfte, die für die        bewusstsein vermitteln.
Bewältigung dieser Aufgabe sowohl,
was den technischen wie inhaltlichen
Umgang mit den neuen Technologien
als auch moderne, digitale Medien ein-
beziehende Unterrichtskonzepte anbe-
trifft, gut gerüstet sein müssen.            nen, erheben sich quicklebendig aus der
    Die Vorstellung, digitale Medien         Mottenkiste der Geschichte. In dieser
würden zukünftig Schule als Lernort          Phase brauchen wir neben der notwen-
und Lehrkräfte als Vermittler ersetzen       digen Aufgeschlossenheit für Neues ver-
können, teile ich in keiner Weise. Schule    stärkt eine Rückbesinnung auf den Kern
wird auch in Zukunft ein zutiefst perso-     eines humanistischen Bildungsver-
naler Austauschprozess bleiben. Ohne         ständnisses, das weit über die bloße Ver-
den sozialen Faktor ist Schule schwer        mittlung von Kompetenzen und Lern-
vorstellbar. Digitale Medien bieten aber     wissen hinausreicht.
in der Tat große Chancen, bereits bisher         Unsere Schulen sind das Herz der
als zentral erkannte Unterrichtsziele wie    Wertevermittlung und der Demokratie-
selbständiges, problemorientiertes und       erziehung unseres Landes. Besonders
forschendes Lernen und die Förderung         dort kann und muss unsere Gesellschaft
individueller Entwicklungspotenziale         die verantwortungsvolle Aufgabe, die
noch intensiver und umfassender zu           Zukunftschancen unserer jungen Men-
verfolgen.                                   schen, Menschenwürde, Toleranz und
                                             Solidarität sowie soziales Miteinander
    Die gesellschaftliche Verant­            zu vermitteln, wahrnehmen. ///
    wortung unserer Schulen für
    die Welt von morgen und eine
    bessere Zukunft
Die politischen Entwicklungen, die so-
zialen Veränderungen und die ökologi-
schen Probleme in unserer Welt bringen
uns heute oft aus der Fassung. Bis vor
kurzem allgemein gültige Regeln und
Werte werden in Frage gestellt, keine
der Errungenschaften unserer westli-         /// H
                                                  EINZ-PETER MEIDINGER
chen Zivilisation scheint noch auf siche-    ist Präsident des Deutschen Lehrerverban-
rem Fundament zu ruhen, weder Demo-          des, Berlin, und war bis Juli 2020 Schulleiter
kratie noch Humanismus, weder Frei-          des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf.
heit noch Brüderlichkeit. Die Schreckge-
spenster Nationalismus, Fremdenhass,
Autoritarismus und religiöser Fanatis-
mus, die endgültig überwunden schie-
                                                                   494/2020 // POLITISCHE STUDIEN   41
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