ALLGEMEINE PSYCHOLOGIE II - Prof. Dr. Walter NiemeierProf. Dr. Walter Niemeier | Sebastian Rauch - FHM Online-University

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ALLGEMEINE PSYCHOLOGIE II

Prof. Dr. Walter NiemeierProf. Dr. Walter Niemeier | Sebastian Rauch
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Auf einen Blick
Qualifikationsziele
Am Ende dieses Teilmoduls …

   •   wissen Sie, was Psychologen unter dem Begriff Gedächtnis verstehen, und wie sich
       das Gedächtnis sowohl als Prozess als auch als Speicher verstehen lässt.
   •   verstehen Sie, nach welchen Kriterien gängige Gedächtnismodelle das Gedächtnis
       in verschiedene Speicher einteilen
   •   kennen Sie wichtige Faktoren, die Einfluss auf den Verbleib, die Weiterleitung und
       die dauerhafte Speicherung von Informationen im Gedächtnis haben, sowie auf
       den Abruf und das Vergessen von Informationen
   •   können Sie die Erkenntnisse zu Lernen und Gedächtnis aus diesem und dem
       vorhergehenden Teilmodul praktisch nutzen, um sich auf die Prüfung in
       Allgemeiner Psychologie II (und andere Prüfungen) vorzubereiten!
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INHALTSVERZEICHNIS
AUF EINEN BLICK      1

 QUALIFIKATIONSZIELE 1

3. GEDÄCHTNIS        1

 3.1 DAS GEDÄCHTNIS UND SEINE ERFORSCHUNG 1
 3.2 GEDÄCHTNISPROZESSE UND –SPEICHER       5
 3.3 SENSORISCHE SPEICHER UND KURZZEITGEDÄCHTNIS   8
   3.3.1 Das Modell des Arbeitsgedächtnisses       17
   3.3.2 Der Übergang von Informationen ins Langzeitgedächtnis 23
 3.4 LANGZEITGEDÄCHTNIS      24
   3.4.1 Die Struktur des Langzeitgedächtnisses    26
   3.4.2 Abruf aus dem Langzeitgedächtnis 29
 3.5 VERGESSEN UND FEHLLEISTUNGEN DES GEDÄCHTNISSES 31

ZUSAMMENFASSUNG              35

HINWEISE AUF WEITERFÜHRENDE LITERATUR UND QUELLEN             39

LITERATURVERZEICHNIS         40

ABBILDUNGSVERZEICHNIS        42
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3. Gedächtnis
3.1 Das Gedächtnis und seine Erforschung
Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich an Ihre Vergangenheit nur bis zu einem ganz
bestimmten Ereignis erinnern. Alles was danach passiert ist, hätten Sie vergessen. Sie
könnten zwar die unmittelbare Gegenwart erleben, hätten jedoch wenige Minuten
später bereits vergessen, was gerade passiert ist. Dieser Zustand, von
Neurowissenschaftlern anterograde Amnesie genannt, macht es dem Protagonisten
Leonard in dem Thriller Memento (Nolan 2000) unmöglich, neue Erinnerungen zu bilden.
Besonders schlimm ist an seiner Situation, dass der Mord an seiner Frau seine Amnesie
auslöste, und seine Amnesie es ihm wiederum schwer macht, dieses Verbrechen
aufzuklären.

               Hinweis auf Film

               Für alle Filmfans, die den Film noch nicht gesehen haben, hier
               der Trailer:

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Hinweis auf Weblink

             Und hier ein Webartikel mit mehr Informationen über
             anterograde Amnesie, andere Gedächtnisstörungen und ihre
             möglichen Ursachen:
             https://www.dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/anatomie-
             des-vergessens

             Wichtig

             Als Gedächtnis bezeichnet man die Prozesse, die am
             Behalten, Abrufen und Benutzen von Informationen über
             Reize, Ereignisse, Ideen, Fertigkeiten usw. beteiligt sind,
             nachdem die ursprüngliche Information nicht mehr präsent
             ist (vgl. Goldstein 2011: S. 116).

Die oben beschriebene Situation des Filmhelden Leonard und diese Definition
verdeutlichen die immense Wichtigkeit unseres Gedächtnisses für unser Leben: Fast
alles, was wir tun, hängt in irgendeiner Weise davon ab, was wir von vergangenen
Erfahrungen erinnern. Gerade z.B. können Sie diese Worte hier nur lesen, weil Sie
einmal Lesen gelernt haben.

Zu einer Zeit, als die Lernforschung stark vom behavioristischen Ansatz geprägt war,
machte Herrmann Ebbinghaus (1885) mit seinen Untersuchungen zum Einprägen und
Reproduzieren verbaler Inhalte die erste psychologisch-experimentelle Forschung zum
Gedächtnis – also prinzipiell zu etwas, das nicht direkt beobachtbar ist. Obwohl seine
Experimente gleichzeitig auch die ersten Experimente zum kognitiven Lernen waren,

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werden diese in der heutigen Systematik meist dem Thema Gedächtnis zugeordnet und
daher auch im aktuellen Teilmodul behandelt.

Abbildung 1: Portrait Herrmann Ebbinghaus` (1850-1909) (Foto: o.A. o.J., gemeinfrei).

Ebbinghaus führte seine Experimente an sich selbst durch. Um sich mit dem „reinen“
Gedächtnisprozess zu beschäftigen und Vorwissen auszuschließen, lernte er Listen
sinnloser Buchstabentriplets (z.B. ZOF, WUB, DAU etc.) so lange, bis er sie fehlerfrei
reproduzieren konnte. Mithilfe der sog. Ersparnis-Methode untersuchte er zudem, wie
viel schneller er die Silben in einem zweiten Lerndurchgang, eine bestimmte Zeit (z.B. 20
Minuten) nach dem ersten, wieder erlernen und vollständig korrekt wiedergeben
konnte. Aus seinen Ergebnissen zog Ebbinghaus wichtige Erkenntnisse und Schlüsse:

Nach der sog. Gesamtzeit-Hypothese besteht ein linearer Zusammenhang zwischen der
Anzahl der Wiederholungen im ersten Lerndurchgang und der Gedächtnisleistung 24
Stunden später: je mehr Wiederholungen, desto besser die Gedächtnisleistung.

Die Lernersparnis im zweiten Lerndurchgang (gemessen an der Anzahl der nun weniger
benötigten Wiederholungen bis zur korrekten Reproduktion) wurde mit zunehmendem

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Abstand zwischen den beiden Lernphasen immer geringer. Je mehr Zeit dazwischen lag,
desto weniger Informationen wurden also aus dem ersten Durchgang noch behalten.

Die in Abbildung 2 dargestellte Vergessenskurve beschreibt den Einfluss der Zeit
zwischen der ersten Lernphase und der Wiederholung (2. Lernphase) auf die
Gedächtnisleistung: das meiste (ca. 70 %) wird in den ersten zehn Stunden nach dem
Lernen vergessen, dann fällt die Vergessensrate ab. Dieser Zusammenhang konnte auch
in späteren Experimenten mit anderen Lernmaterialien gezeigt werden (vgl. Gruber
2018: S. 3; Horstmann & Dreisbach 2012: S. 148 f.).

Abbildung 2: Grafische Darstellung der Vergessenskurve nach Herrmann Ebbinghaus (Abbildung: Rdb 2005, CC BY-SA
3.0).

Ebbinghaus‘ Erkenntnisse haben heute grundlegend weiter Bestand, auch wenn die
Methode des Selbstversuchs heutigen wissenschaftlichen Standards nicht mehr genügt.
Zum Beispiel wurde in neueren Untersuchungen für eine Vielfalt von Lernmaterialien
und Fertigkeiten bestätigt, dass die Anzahl von Wiederholungen mit der

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Gedächtnisleistung zusammenhängt. Allerdings führt hier verteiltes Lernen (mehrmals
am Tag kürzere Lerneinheiten) zu besseren Leistungen als massiertes Lernen (einmal am
Tag eine lange Einheit ohne Pausen). Darauf werden wir auch noch einmal im Abschnitt
3.5 bei den 3.5 Vergessen und Fehlleistungen des Gedächtnisses zurückkommen.

Kritisiert wurde Ebbinghaus jedoch zu Recht wegen seiner Konzentration auf sinnlose
Silben, durch die er den Einfluss von Vorwissen auf die Gedächtnisleistung ausschließen
wollte (Bartlett 1932 zit. n. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 148). Heute wissen wir, dass
Vorwissen entscheidend Gedächtnisprozesse beeinflusst, da neues Wissen mit bereits
vorhandenem verknüpft wird. Die gute Nachricht für Studierende wie Sie: Je mehr Sie
über Psychologie lernen, desto leichter wird es Ihnen mit der Zeit auch fallen, sich noch
mehr neues psychologisches Wissen anzueignen!

3.2 Gedächtnisprozesse und –speicher
Prinzipiell beschreiben Psychologen das menschliche Gedächtnis sowohl als Prozess als
auch als Speicher.

Zum einen lässt sich Gedächtnis als ein dreistufiger Prozess darstellen (siehe Abbildung
3): (1) Enkodierung beinhaltet die Umwandlung von Information in eine Form, die
nachfolgend gespeichert werden kann. (2) Speicherung als das Ergebnis von
Enkodierung bedeutet, dass die Informationen nun in eine dauerhafte mentale
Repräsentation umgewandelt wurden. (3) Beim Abruf werden die gespeicherten
Informationen wieder gefunden. An den Stufen des Prozesses sind jeweils
unterschiedliche Gehirnstrukturen beteiligt. Ebenso kann auf allen Stufen etwas falsch
laufen: Informationen, die wir nicht beachten, können nicht enkodiert werden. Schlägt
der Abruf fehl, sprechen wir von Vergessen (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 146 f.;
Eysenck & Keane 2020: S. 239).

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Abbildung 3: Gedächtnisprozesse (eigene Darstellung; vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 446).

Viele Psychologen beschreiben Gedächtnis auch als Speicher. Die verschiedenen
hervorgebrachten Gedächtnismodelle unterschieden sich hier bezüglich der Anzahl der
Speicher, und ob sich diese Speicher hinsichtlich der Verweildauer von Informationen in
ihnen unterscheiden, oder bezüglich der Art der gespeicherten Informationen (z.B.
implizit vs. explizit) (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012. S. 147).

Ein sehr einflussreiches Mehr-Speicher-Modell ist das von Atkinson & Shiffrin (1968 zit.
n. Eysenck & Keane 2020: S. 240; siehe Abbildung 4). Atkinson & Shiffrin nahmen an,
dass

    •    eingehende Informationen zunächst in modalitätsspezifischen sensorischen
         Speichern bzw. Registern verarbeitet werden. Diese speichern Informationen nur
         äußerst kurz und sind auf einen Wahrnehmungskanal begrenzt: den visuellen bzw.
         den auditiven oder haptischen.
    •    Informationen aus dem sensorischen Speicher, denen Aufmerksamkeit zugeteilt
         wird, gelangen ins Kurzzeitgedächtnis. Dieser verfügt über eine begrenzte
         Verarbeitungskapazität.
    •    Unter bestimmten Bedingungen erreichen die Informationen schließlich das
         Langzeitgedächtnis, dass eine unbegrenzte Kapazität hat und Informationen sehr

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lange speichern kann. Einige ursprüngliche Annahmen von Atkinson & Shiffrin (vgl.
         1968 zit. n. Eysenck & Keane 2020: S. 296) sind heute nicht mehr haltbar: Zum
         einen nahmen Sie an, dass Informationen automatisch ins Langzeitgedächtnis
         gelangen würden, wenn Sie nur lange genug im Kurzzeitgedächtnis blieben.
         Spätere Erkenntnisse belegten, dass die Verweildauer alleine nicht entscheidend
         ist (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 155). Zum anderen nahmen Atkinson &
         Shiffrin einen einheitlichen Langzeitspeicher an. Heute gehen wir jedoch von
         multiplen Gedächtnissystemen aus, die an verschiedenen Formen von Gedächtnis
         (z.B. für Fertigkeiten wie das Fahrradfahren oder für geografisches Faktenwissen)
         beteiligt sind und denen unterschiedliche Gehirnregionen zugrunde liegen (vgl.
         Eysenck & Keane 2020: S. 296).

Abbildung 4: Das Mehrspeicher-Modell von Atkinson & Shiffrin (vgl. 1968 vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 151) mit
neueren Erweiterungen (Abbildung: mod. n. KatharinaN1108 2016, CC BY-SA 4.0).

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3.3 Sensorische Speicher und Kurzzeitgedächtnis
Wie lässt sich die Existenz und Kapazität eines sensorischen Speichers untersuchen,
wenn die in diesem Speicher enthaltene Information schneller zerfällt als wir unter
normalen Umständen eine verbale Äußerung tätigen können? George Sperling (1960 zit.
n. Goldstein 2011: S. 121 f.) gelang dies in seinem berühmten Experiment zum
ikonischen Gedächtnis (sensorischer Speicher für visuelle Informationen im Modell von
Atkinson & Shiffrin, siehe Abbildung 4). Sperling präsentierte seinen Probanden sehr
kurz (50 ms) eine Matrix von 3x4 Buchstaben. In einer Versuchsbedingung, dem sog.
Vollberichtsverfahren, sollten die Probanden unmittelbar danach so viele Buchstaben
wie möglich wiedergeben. Im Durchschnitt waren dies 4,5 der 12 Buchstaben. In einer
weiterem Versuchsbedingung, dem sog. Teilberichtsverfahren, präsentierte Sperling
direkt nach der Buchstabenmatrix einen von drei Hinweistönen. Je nachdem, ob dieser
hoch, mittel oder tief klang, sollten die Probanden die obere, mittlere oder untere Reihe
der Matrix wiedergeben (siehe Abbildung 5).

Abbildung 5: Voll- und Teilbericht im Experiment von Sperling (1960 zit. n. Horstmann & Dreisbach 2021: S. 152)
(eigene Darstellung, unter Verwendung von Mobius 2006, gemeinfrei)

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Demonstration

             Mithilfe dieses Videos können Sie selbst ausprobieren, wie
             viele Buchstaben Sie in einer Sperlings Experiment
             nachempfundenen Aufgabe erinnern könnten:

Im Teilberichtsverfahren konnten die Probanden durchschnittlich 3,3 von 4 Buchstaben
in einer Reihe (82%) wiedergeben. Da die Probanden ja vorher nicht wussten, welche
Reihe sie wiedergeben sollten, schloss Sperling aus den Ergebnissen, dass die Probanden
sich kurzfristig ca. 82% der gesamten Matrix merken konnten, diese aber aufgrund des
schnellen Zerfalls nicht alle berichten konnten.

Sperling schloss aus diesen Ergebnissen, dass das ikonische Gedächtnis fast alle
verfügbaren sensorischen Informationen kurzzeitig aufnimmt, diese aber nur für sehr
kurze Zeit aufrechterhalten kann. Andere Untersuchungen mit auditiven Stimuli zum
sog. echoischen Gedächtnis haben ergeben, dass auditive Informationen für ein paar
Sekunden nach ihrer Darbietung aufrechterhalten werden (Darwin et al., 1972 zit. n.
Goldstein 2011: S. 122). Viele Psychologen gehen davon aus, dass das sensorische

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Gedächtnis insgesamt drei Zwecken dient: (1) der Aufnahme von Informationen, (2) dem
Aufrechterhalten dieser Informationen während der frühen Verarbeitung und (3) dem
Auffüllen von „Lücken“, wenn Informationen nicht durchgehend dargeboten werden
bzw. zur Verfügung stehen.

Nach dem Mehr-Speicher-Modell von Atkinson & Shiffrin (vgl. 1968 zit. n. Horstmann &
Dreisbach 2012: S. 153) gelangen Informationen vom sensorischen Gedächtnis in das
Kurzzeitgedächtnis, wenn ihnen Aufmerksamkeit geschenkt wird.

                                      Seite 10
Wichtig

             Im Kurzzeitgedächtnis (KZG) (siehe Mittelteil der Abbildung
             4) werden kleine Mengen von Informationen für eine kurze
             Zeit gespeichert (vgl. Baddeley et al. 2009 zit. n. Goldstein
             2011: S. 123). Tatsächlich gehen die meisten dieser
             Informationen letztlich verloren, nur ein Teil wird schließlich
             dauerhaft im Langzeitgedächtnis (LZG) gespeichert.

             Achtung: In unserem Alltagsverständnis von Gedächtnis
             verwechseln wir KZG und LZG häufig. Wenn Sie vergessen,
             Ihren Büroschlüssel mit zur Arbeit zur nehmen, obwohl Sie
             ihn sich vorher zurechtgelegt hatten, dann ist das laut
             Atkinson und Shiffrin kein Problem Ihres KZG mehr.
             Erinnerungen innerhalb der Zeitspanne von Minuten,
             Stunden, Tagen oder Jahren gehören nach diesem
             Verständnis nämlich bereits zum LZG. In Ihrem KZG befindet
             sich dagegen alles, was Sie gerade denken, was Sie gerade
             hier gelesen haben usw. (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012:
             S. 153).

Im Folgenden beschäftigen wir uns zum einen mit der Frage, wie viele Informationen das
KZG aufrechterhalten kann, und zum anderen damit, wie lange im KZG Informationen
bereitgehalten werden können.

Ein Maß für die Kapazität des KZG ist die sog. Gedächtnisspanne, die Anzahl von
Informationseinheiten, die ein Mensch kurzzeitig behalten kann.

                                         Seite 11
Beispiel

Sie können Ihre Gedächtnisspanne mithilfe der folgenden
Demonstration bestimmen: Bitten Sie jemanden, Ihnen die
Zahlenreihen unten jeweils einmal vorzulesen und versuchen
Sie, die Zahlen sofort nachzusprechen. Die längste
Zahlenreihe, die Sie fehlerfrei nachsprechen können, ist Ihre
Gedächntisspanne.

2149

39678

649784

7382015

84264132

482392807

5852984637

Tatsächlich haben die meisten Menschen eine
Gedächtnisspanne von 7 +/- 2 Einheiten, was auch als die
„Magical Number 7“ bezeichnet wird (vgl. Miller 1956 zit. n.
Horstmann & Dreisbach 2012: S. 153). Wie jedoch kommen
wir in unserem Alltag mit einer so begrenzten Kapazität
unseres KZG zurecht, z.B. wenn wir Wörter in einem Satz
lesen sollen (und daher kurzzeitig mehr als 7 Informationen
in unserem Gedächtnis aufrechterhalten müssen)?

                           Seite 12
Beispiel

             Lesen Sie die folgenden Ziffern mit einer Geschwindigkeit von
             ca. zwei Sekunden pro Ziffer laut vor und versuchen Sie dann,
             so viele wie möglich davon in der richtigen Reihenfolge
             aufzuschreiben (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 153):

             1914193319451989

Wie haben Sie abgeschnitten? Möglicherweise richtig gut, nämlich wenn Sie ein solides
Wissen über die deutsche Geschichte haben. Dann konnten Sie die Zahlen als vier
bedeutungsvolle Jahreszahlen lesen anstatt als 16 zufällig erscheinende Ziffern: 1914–
1933–1945–1989 (Deutschland erklärt Frankreich den Krieg, die Machtergreifung durch
die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, Ende des zweiten Weltkriegs, deutsche
Wiedervereinigung). Miller (1956 zit. n. Goldstein 2012: S. 126) fand heraus, uns hier das
sog. Chunking hilft. Damit gemeint ist, dass wir kleine Informationseinheiten wie z.B.
Ziffern zu größeren, bedeutungsvollen, Einheiten wie Jahreszahlen, Sätzen oder
Geschichten zusammenfassen können. Wie gut uns das gelingt, hängt von unserem
Vorwissen auf dem betroffenen Gebiet ab.

     Hinweis auf Weblink

     Wenn Sie möchten, könnten Sie hier Ihre Gedächtnisspanne für Zahlen,
     Buchstaben und sinnlose Silben (Trigramme) online testen:
     http://bildungswissenschaften.uni-
     saarland.de/personal/jacobs/diagnostik/gedaechtnis/gedaechtnisspanne.htm

                                         Seite 13
Brown (1958) und Peterson & Peterson (1959 beide zit. n. Goldstein & van Hooff 2021:
S. 132) demonstrierten in ihren Gedächtnisexperimenten, dass die Verweildauer von
Informationen im KZG höchstens 15 oder 20 s beträgt.

                                       Seite 14
Beispiel

Testen Sie die Dauer Ihres KZGs! Die folgende Aufgabe ist den
oben genannten Experimenten nachempfunden. Es müssen
zwei Personen teilnehmen – ein Proband und ein
Versuchsleiter. Instruktionen des Versuchsleiters an den
Probanden: „Ich werde drei Buchstaben sagen, und danach
Zahlen. Deine Aufgabe ist es, die Buchstaben zu erinnern.
Wenn du die Zahl hörst, wiederhole sie sofort und zähle in
Dreierschritten rückwärts. Wenn ich z.B. sage ABC 309, dann
sagst du 309, 306, 303 usw.., bis ich sage ‚Abruf‘. In dem
Moment hörst du auf zu zählen und wiederholst die
Buchstaben.“ Der Versuchsleiter muss ab Beginn des
Zurückzählens 20s stoppen, dann den Abruf starten und die
Antwort des Probanden notieren.

1: F Z L       45
2: B H M       87
3: X C G98
4: Y N F 37
5: M J T 54

6: Q B S73
7: K D P 66
8: R X M       44
9: B Y N68
10: N T L      39

                           Seite 15
Durch das Zurückzählen wurden die Probanden in den Experimenten von Brown (1958)
und Peterson & Peterson (1959 beide zit. n. Goldstein & van Hooff 2021: S. 132) daran
gehindert, die Trigramme (drei Buchstaben) innerlich zu wiederholen, also durch
Anwendung von Rehearsal die Information im KZG aufrecht zu erhalten. Peterson &
Petersons Probanden konnten 3s nach Beginn des Zurückzählens ca. 80% der Trigramme
abrufen, erinnerten sich aber nach 18s an nur noch an 12%. Obwohl Peterson &
Peterson ursprünglich dachten, dass die Ursache dafür passiver Zerfall der Inhalte des
KZG sei, konnten später Keppel & Underwood (1962 zit. n. Goldstein & van Hooff 2021:
S. 133) zeigen, dass der entscheidende Faktor die Anzahl der Lerndurchgänge ist: im
ersten Durchgang konnten sich ihre Probanden auch nach 18s noch gut an das erste
Trigramm erinnern, nach einigen Durchgängen jedoch wurde ihre Abrufleistung
schlechter. Keppel & Underwood nahmen an, dass es sich hier um proaktive Interferenz
handelt: Das Ablegen der Trigramme aus den ersten Durchgängen im LZG störte das
(bzw. interferierte mit dem) Abspeichern von Informationen in den späteren
Durchgängen. Proaktive Interferenz tritt also auf, wenn bereits gespeicherte Inhalte mit
neu zu speichernden Inhalten interferieren. Von retroaktiver Interferenz spricht man
hingegen im umgekehrten Fall, wenn nämlich neu Gelerntes den Abruf früher gelernter
Inhalte stört. Meist treten beide Formen der Interferenz gemeinsam auf, und führen so
letztlich dazu, dass wir Inhalte letztlich nur 20s oder kürzer im KZG behalten können (vgl.
Goldstein & van Hooff 2021: S. 133 f.).

                                          Seite 16
Beispiel

             Ein Beispiel für das Auftreten proaktiver Interferenz wäre z.B.
             die Schwierigkeit, eine Liste neuer englischer Vokabeln zu
             lernen, direkt nachdem man gerade eine Liste französischer
             Vokabeln gelernt hat. In dem Fall würden die gerade
             gelernten französischen Wörter mit den neuen englischen
             interferieren. Ebenso kann das Lernen der englischen
             Vokabeln das Erinnern der zuvor gelernten französischen
             Vokabeln durch retroaktive Interferenz stören.

3.3.1 Das Modell des Arbeitsgedächtnisses
Denken Sie bitte an die Wohnung oder das Haus, in dem Sie wohnen. Können Sie sagen,
wie viele Fenster es dort gibt?

Durch dieses Gedankenexperiment haben Sie einen ersten Eindruck der Funktionsweise
Ihres Arbeitsgedächtnisses bekommen. Das Arbeitsgedächtnis ist ein besonderes
Konzept des KZG (vgl. Horstmann & Dreisbach: S. 157 f.; siehe Abbildung 6), in dem das
KZG nicht mehr nur als bloßer Zwischenspeicher betrachtet wird (wie im ursprünglichen
Mehr-Speicher-Modell).

                                        Seite 17
Wichtig

                 Baddeley & Hitch (1974 zit. n. Goldstein & van Hooff 2021: S.
                 139) definieren das Arbeitsgedächtnis (AG, „working
                 memory“) als ein in seiner Kapazität begrenztes System für
                 die vorübergehende Speicherung und Manipulation von
                 Informationen bei komplexen Aufgaben wie Verstehen,
                 Lernen und logisches Denken. Es ermöglicht auch einen
                 Austausch von Informationen zwischen verschiedenen
                 Aufgaben (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 158).

Abbildung 6: Das Arbeitsgedächtnis-Modell von Baddeley und Hitch mit der Erweiterung um den episodischen Puffer
(vgl. Baddeley & Hitch 1974; Baddeley 2000 zit. n. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 158; Abbildung: mod. n. Maryswps
2013, CC BY-SA 3).

                                                    Seite 18
In der ursprünglichen Fassung des AG-Modells von 1974 (vgl. Baddeley & Hitch 1974 zit.
n. Horstmann vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 158) enthielt dieses drei
Komponenten: (1) Der visuell-räumliche Notizblock für die kurzfristige
Aufrechterhaltung von visueller und räumlicher Information, (2) die phonologische
Schleife für verbale und akustische Information und (3) die zentrale Exekutive als eine
übergeordnete Kontrollinstanz. Später fügte Baddeley (vgl. 2000 zit. n. Horstmann vgl.
Horstmann & Dreisbach 2012: S. 158) noch als weitere Komponenten den episodischen
Puffer hinzu, der eine Verbindung zum LZG herstellt.

Der visuell-räumliche Notizblock hält kurzfristig visuelle und räumliche Informationen
aufrecht und verarbeitet diese. Auf diesen Teil Ihres AGs haben Sie zurückgegriffen, als
Sie die obige Aufgabe gelöst haben, die Zahl der Fenster in Ihrer Wohnung zu nennen.
Hier haben Sie vermutlich eine mentale bildliche Vorstellung (Imagery) Ihres Zuhauses
genutzt und sind in Gedanken durch alle Räume gegangen, um die Fenster zu zählen.
Vielfach belegt ist die Funktion des visuell-räumlichen Notizblocks durch das Paradigma
der mentalen Rotation (vgl. Shepard & Metzler 1971 zit. n. Goldstein & van Hooff 2021:
S. 144f.).

Sehen Sie sich die beiden Objekte in Abbildung 7 an und entscheiden Sie so schnell wie
möglich, ob es sich um zwei gleiche oder zwei verschiedene Objekte handelt. Wie
schwer fällt Ihnen diese Aufgabe?

Wenn die Probanden von Shepard & Metzler derartige Aufgaben lösten, brauchten sie
umso länger, je stärker die räumliche Orientierung der zu vergleichenden Objekte
voneinander abwich. Daraus schlossen die Autoren, dass die Probanden die Objekte
tatsächlich in ihrem Geist, also mental, rotierten, ähnlich wie sie dies mit Objekten in
ihrer Hand tun würden.

                                          Seite 19
Abbildung 7: Stimuli für die Aufgabe der mentalen Rotation ähnlich wie in den Experimenten von Shepard & Metzler
(vgl. 1971 zit. n. Goldstein & van Hooff 2021: S. 144f.; Abbildung: Albert Kok 2007, gemeinfrei).

Die phonologische Schleife erfüllt die gleichen Aufgaben wie der visuell-räumliche
Notizblock, jedoch für sprachbasierte Informationen. Diesen nutzen Sie z.B., wenn Sie
eine gerade gehörte Handynummer im Kopf wiederholen (Rehearsal), bis Sie Papier und
Stift gefunden haben, um diese aufzuschreiben. Nach den Annahmen des AG-Modells
besteht die phonologische Schleife aus zwei Komponenten: einem passiven
phonologischen Speicher für die direkte Wahrnehmung akustisch dargebotener
Sprachinformation, sowie einem artikulatorischen Kontrollprozess, dem Rehearsal,
durch den auch visuell dargebotene Information Zugang zum Speicher erhält (illustriert
in Abbildung 8).

                                                    Seite 20
Abbildung 8: Komponenten der phonologischen Schleife im Arbeitsgedächtnis-Modell (vgl. (Baddeley & Hitch 1974;
Baddeley 2000 zit. n. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 158; Abbildung: o.A. 2007, CC BY-SA 3.0).

Dafür, dass visuelle Information tatsächlich erst in einen phonologischen Kode
„übersetzt“ (bzw. rekodiert) werden muss, um in die phonologische Schleife zu
gelangen, sprechen verschiedene experimentelle Befunde:

    •    Der Wortlängeneffekt zeigt sich dadurch, dass wir uns umso weniger Wörter
         kurzfristig merken können, je länger es dauert, sie zu lesen bzw. auszusprechen
         (vgl. Baddeley et al. 1975; Ellis und Hennelly 1980 zit. n. Bak 2020: S. 91).

    •    Der phonemischer Ähnlichkeitseffekt besteht darin, dass wir ähnlich klingende
         Buchstaben oder Wörter kurzfristig schlechter behalten können (vgl. Baddeley
         1966; Conrad und Hull 1964 zit. n. Bak 2020: S. 91).

    •    Des Weiteren ist belegt, dass die phonologische Rekodierung visueller
         Information durch artikulatorische Suppression (Unterdrückung) unterbunden
         wird (vgl. Baddeley et al. 1975 zit. n. Bak 2020: S. 91): durch lautes Nachsprechen
         von Silben oder Wörtern wird das Rehearsal anderer Informationen verhindert.

                                                   Seite 21
Dies lässt den Wortlängeneffekt und den phonemischen Ähnlichkeitseffekt
        verschwinden, jedoch nur für visuell dargebotene Wörter, nicht für akustisch
        dargebotene Wörter, die einen direkten Zugang zur phonologischen Schleife
        haben (vgl. Baddeley 1975 zit. n. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 160).

Dafür, dass es tatsächlich zwei separate modalitätsspezifische Speicher im AG gibt und
nicht nur einen, der sowohl visuelle als auch phonologische Informationen verarbeitet,
sprechen letztlich Belege für modalitätsspezifische Interferenz bei sog. Doppelaufgaben,
bei denen Probanden zwei Aufgaben gleichzeitig ausführen sollen: Sie können sich
visuell-räumliche Informationen schlechter merken, wenn Sie gleichzeitig eine visuell-
räumliche Aufgabe wie mentale Rotation durchführen müssen. Ebenso stört die
Ausführung einer sprachlichen Aufgabe wie Nachsprechen (artikulatorische Suppression)
das Behalten von sprachlicher Information. Es tritt jedoch keine Störung bei
Doppelaufgaben auf, die das Merken von visuell-räumlicher Information mit einer
sprachlichen AG-Aufgabe verbinden (und umgekehrt; vgl. Horstmann & Dreisbach 2012:
S. 161 f.)

Die zentrale Exekutive benötigen Sie immer dann, wenn eine Aufgabe die Kombination
verschiedener mentaler Vorgänge erfordert, z.B., wenn Sie ein Bild aus dem Gedächtnis
beschreiben sollen. Die zentrale Exekutive kontrolliert hier die Verteilung Ihrer
Aufmerksamkeit und die Koordination von Informationen aus dem visuell-räumlichen
Notizblock und der phonologischen Schleife.

In einer Überarbeitung des Modells fügte Baddeley (vgl. 2000 zit. n. Horstmann &
Dreisbach 2012: S. 158, 163) noch die Komponente des episodischen Puffers hinzu, da in
der älteren Version unklar blieb, wie das AG auf das LZG zurückgreifen und dort
gespeicherte Informationen mit aktuellen kombinieren kann. Hierbei handelt es sich um
einen Speicher von begrenzter Kapazität, der ebenfalls von der zentralen Exekutive
kontrolliert wird und Informationen verschiedener Modalitäten aus dem AG und dem
LZG integriert. Darüber hinaus enthält die neuere Version des AG-Modells jeweils direkte

                                         Seite 22
Verbindungen dem visuell-räumlichen Notizblock und dem LZG, sowie der
phonologischen Schleife und dem LZG, welche das Erlernen visuell-räumlichem Wissen
bzw. Sprache möglich machen (vgl. Gerrig 2013: S. 181; Horstmann & Dreisbach 2012: S.
163).

3.3.2 Der Übergang von Informationen ins Langzeitgedächtnis
Können Sie z.B. sagen, was auf der Vorder- oder Rückseite eines 10-Euro-Scheins
abgebildet ist? Im Mehr-Speicher-Modell des Gedächtnisses ging man zunächst davon
aus, dass Informationen automatisch ins LZG gelangen, wenn sie nur lange genug im KZG
aufrechterhalten werden (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 154). Wenn Sie auf die
Frage am Anfang dieses Absatzes nicht prompt antworten konnten (so geht es
tatsächlich den meisten Menschen), spricht das schon einmal gegen die Annahme im
Mehr-Speicher-Modell, denn Sie werden sicher regelmäßig einen 10-Euro-Schein in der
Hand halten. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Sie sich vermutlich noch nie einen
10-Euro-Schein genau genug angesehen haben. Laut der Theorie der Verarbeitungstiefe
(„levels of processing“) von Craik & Lockhart (1972 zit. n. Goldstein & van Hooff 2021: S.
193 f.) entscheidet nämlich nicht die Zeit im KZG allein, wie gut wir Informationen später
erinnern können. Je tiefer Informationen verarbeitet werden, desto besser die
Gedächtnisleistung. Bei oberflächlicher Verarbeitung geht es weniger um die Bedeutung
von Informationen, sondern die Aufmerksamkeit wird auf physikalische Merkmale
gerichtet, z.B. darauf, ob ein Wort in Groß- oder Kleinbuchstaben geschrieben ist. Tiefe
Verarbeitung dagegen beinhaltet viel Aufmerksamkeit auf der Bedeutung von
Informationen und auf Zusammenhängen zwischen Inhalten.

In einer von vielen Studien zur Theorie verglichen Craik & Tulving (1975 zit. n. Eysenck &
Keane 2020: S. 262) tiefe Verarbeitung von visuell dargebotenen Wörtern
(Aufgabeninstruktion: „Passt das Wort in die Lücke in diesem Text?“) mit oberflächlicher
Verarbeitung (Instruktion: „Ist das Wort in Groß- oder Kleinbuchstaben geschrieben?“).

                                         Seite 23
Die Leistung beim späteren Wiedererkennen der Wörter in einer Liste von gelernten und
neuen Wörtern war bei den tief verarbeiteten Wörtern dreimal so hoch wie bei den
oberflächlich verarbeiteten.

Bezogen auf die Tiefe der Verarbeitung, ist also der Prozess der Enkodierung der
Informationen entscheidend für die Gedächtnisleistung. Die Elaboration, d.h. die
Ausschmückung, Vorstellungsbilder und Vertiefung (hierunter fällt z.B. auch das
Überlegen möglicher Prüfungsfragen) führt demnach zu besseren Leistungen (vgl. Rinck
2016: S. 109; Gruber 2018: S. 113). Weitere für das Gedächtnis förderliche
Enkodierprozesse sind die sinnvolle Organisation des Lernmaterials (z.B. in Mind-Maps)
und die Assoziation mit bereits vorhandenem Wissen (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012:
S. 156). Es gibt zahlreiche Studier- und Mnemotechniken (Gedächtnisstrategien, auch
„Eselsbrücken“ genannt) zur Verbesserung der Enkodierung und auch des Abrufs von
Lernmaterial (für eine Überblick siehe z.B. Rinck 2016: S. 119 ff.). Da nach aktuellen
neurowissenschaftlichen Erkenntnissen die Konsolidierung, also das Anlegen einer
permanente Gedächtnisspur in kortikalen Arealen unseres Gehirns, zumindest in Teilen
während des Schlafens geschieht, ist auch ausreichender und regelmäßiger Schlaf
förderlich für die Gedächtnisleistung (vgl. Gruber 2018: S. 114).

3.4 Langzeitgedächtnis
Wie bereits in erwähnt, sprechen Gedächtnispsychologen von Langzeitgedächtnis (LZG),
wenn wir uns Informationen Minuten bis Jahre merken können. KZG und LZG
unterscheiden sich also zum einen in der Verweildauer in ihnen gespeicherter
Informationen (wenige Sekunden vs. viele Jahre), zum anderen aber auch in ihrer
Kapazität (sehr begrenzt vs. prinzipiell unbegrenzt). Aber unterscheiden sich KZG und
LZG auch in ihrer Funktionsweise? In einem klassischen Experiment mit genau dieser
Fragestellung (vgl. Murdoch 1962 zit. n. Goldstein & van Hooff 2021: S. 166 f.) wurden

                                         Seite 24
den Probanden nacheinander in gleichen Zeitabständen einzelne Wörter präsentiert.
Danach sollten die Probanden alle Wörter aufschreiben, an die sie sich noch erinnern
können. Im Ergebnis zeigte sich eine dynamische Gedächtnisfunktion, genannt serielle
Positionskurve: Die Gedächtnisleistung der Probanden war sowohl für die Wörter zu
Beginn der Liste als auch für die am Ende der Liste besser als für die Wörter in der Mitte
der Liste (siehe Abbildung 9).

Abbildung 9: Idealisierte Darstellung einer seriellen Positionskurve (vgl. Murdoch 1962 zit. n. Goldstein & van Hooff
2021: S. 167; Abbildung: Rdb 2005, CC BY-SA 3.0).

Für die Wörter zu Beginn der Liste gab es also einen sog. Primacy-Effekt, für die am Ende
der Liste präsentierten Wörter trat ein Recency-Effekt auf. Während der Primacy-Effekt
vermutlich dadurch entsteht, dass die frühen Items mithilfe von genügend Rehearsal
bereits in LZG überführt wurden, nimmt man beim Recency-Effekt an, dass die zuletzt
dargebotenen Wörter sich beim Abruf noch im KZG befinden. Ändert man die Aufgabe
jedoch ein wenig ab und fügt am Ende eine Distraktoraufgabe (Ablenkaufgabe) ein,
verschwindet der Recency-, jedoch nicht der Primacy-Effekt. Umgekehrt kann man den
Primacy-Effekt durch eine schnellere Präsentationsrate der Wörter verringern, nicht

                                                       Seite 25
jedoch den Recency-Effekt. Diese Befunde sprechen dafür, dass KZG und LZG tatsächlich
zwei voneinander funktional unabhängige Gedächtnissysteme sind (vgl. Horstmann &
Dreisbach 2012: S. 157).

3.4.1 Die Struktur des Langzeitgedächtnisses
Die bemerkenswerte Vielfalt von Informationen, die in Ihrem LZG gespeichert sind (z.B.
was in Ihrem letzten Sommerurlaub passiert ist; dass Berlin die Hauptstadt von
Deutschland ist; Schwimmen oder Radfahren usw.) steht im Widerspruch zur
ursprünglichen Annahme eines einzigen Langzeitspeichers im Mehr-Speicher-Modell von
Atkinson and Shiffrin (1968 zit. n. Eysenck & Keane 2020: S. 296). Inzwischen geht man
von mehreren separaten LZG-Systemen aus, denen jeweils unterschiedliche Gebiete in
unserem Gehirn zugrunde liegen, und die für spezifische Formen von Lernen und
Gedächtnis zuständig sind (siehe Abbildung 9). Tatsächlich sind sich Gedächtnisforscher
aber seither nicht einig, was die definitive Zahl und die Eigenschaften der verschiedenen
LZG-Systeme angeht. Großer Konsens besteht bei der grundlegenden Unterscheidung in
deklaratives und nicht-deklaratives Gedächtnis (Squire & Dede 2015 zit. n. Eysenck &
Keane 2020: S. 299). Das deklarative Gedächtnis (auch: explizites Gedächtnis)
beinhaltet das bewusste Erinnern von Ereignissen und Fakten, die üblicherweise auch
verbalisiert werden können. Deklaratives Gedächtnis wird üblicherweise weiter
unterteilt in episodisches und semantisches Gedächtnis. Während es beim episodischen
Gedächtnis um persönliche Erfahrungen geht, die sich an einem bestimmten Ort und zu
einer bestimmten Zeit ereignet haben, besteht das semantische Gedächtnis aus
Allgemeinwissen über die Welt (sog. „Weltwissen“), aus Konzepten, Sprache usw.. Das
nicht-deklarative Gedächtnis (auch: implizites Gedächtnis) unterscheidet sich vom
deklarativen dadurch, dass hier nicht bewusst erinnert wird, sondern es sich
typischerweise in Verhaltensänderungen zeigt. Beim Erlernen des Fahrradfahrens z.B.

                                        Seite 26
verbessern sich die Fähigkeiten des Lernenden mit der Zeit, obwohl dieser sich nicht
unbedingt bewusst erinnern kann, was er da eigentlich genau gelernt hat.

             Beispiel

             Der wohl berühmteste Fall eines Patienten mit einer
             schweren Gedächtnisstörung lieferte eindrückliche Belege für
             die Annahme, dass das deklarative und nicht-deklarative
             Gedächtnis auch neuronal zwei voneinander unabhängige
             Gedächtnissysteme darstellen: H.M. (Henry Gustav Molaison)
             unterzog sich mit 27 Jahren einer Operation zur Behandlung
             seiner Epilepsie, bei der ihm große Teile seiner beiden
             medialen Temporallappen inklusive der beiden Hippocampi
             entfernt wurden. In der Folge litt er an einer schweren
             anterograden Amnesie, d.h., er konnte keine neuen Inhalte
             im LZG abspeichern. Diese Störung betraf jedoch nur sein
             deklaratives Gedächtnis für Fakten und Ereignisse, nicht das
             nicht-deklarative Gedächtnis für visuo-motorische
             Fertigkeiten. Darüber hinaus war sein KZG nach wie vor
             intakt, er konnte also z.B. kurze Unterhaltungen führen. Der
             tragische Fall von H.M. führte sowohl zu einem besseren
             Verständnis der Rolle des Hippocampus bei der
             Gedächtnisbildung als auch von der neuronalen
             Unabhängigkeit von KZG und LZG (vgl. Horstmann &
             Dreisbach 2012: S. 98; Eysenck & Keane 2020: S. 297;
             Goldstein & van Hooff 2021: S. 170 f.).

                                        Seite 27
Hinweis auf Weblink

                 Hier können Sie sich bei Interesse näher über den berühmten
                 Fall des Patienten H.M. informieren (Webartikel und
                 Webvideo):

                 https://www.dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/der-mann-
                 ohne-gedaechtnis

Abbildung 10: Übliche Einteilung des Langzeitgedächtnisses in verschiedene Subsysteme für unterschiedliche Formen
von Gedächtnis, sowie jeweils beteiligte Hirnstrukturen (Abbildung: Diekelmann 2019, CCBY-SA 4.0).

                                                    Seite 28
Hinweis auf Film

             Wenn Sie sich an dieser Stelle einen Überblick verschaffen
             möchten, welche Bereiche unseres Gehirns welche
             Funktionen für unser Gedächtnis haben, können Sie mit
             diesem Video beginnen:

             https://www.dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/video-
             einfuehrung-gedaechtnis

3.4.2 Abruf aus dem Langzeitgedächtnis
Es gibt prinzipiell drei unterschiedliche Arten bzw. Methoden, um Informationen aus
dem LZG abzurufen: (1) Freie Reproduktion („free recall“) bedeutet, dass Informationen
ohne einen Abrufhinweis („retrieval cue“) erinnert werden, wie z.B. beim Aufsagen eines
auswendig gelernten Gedichts. (2) Bei unterstützter Reproduktion („cued recall“)
erleichtert ein Abrufhinweis (z.B. das nächste Wort im Gedicht) den Abruf. (3) Beim
Wiedererkennen („recognition“) ist die gesuchte Information selbst der spezifische
Abrufhinweis. Letzteres führt in der Regel zu besseren Abrufleistungen als freie
Reproduktion (z.B. bei nicht allzu irreführend gestellten Multiple-Choice-Klausuren; vgl.
Horstmann & Dreisbach 2012: S. 165 f.).

Der Gedächtnisabruf kann ebenso durch übereinstimmende Bedingungen bei der
Enkodierung und dem Abruf von Informationen erleichtert werden. Diese
Übereinstimmung kann den situativen Kontext von Enkodierung und Abruf betreffen
(sog. Kontexteffekte), den Zustand (z.B. die Stimmung) eines Individuums während
Enkodierung und Abruf, sowie die Übereinstimmung zwischen Aufgabenstellungen bei
Enkodierung und Abruf (vgl. Goldstein & van Hooff 2021: S. 202). In einem bekannten
Experiment zu Kontexteffekten ließen Godden & Baddeley (vgl. 1975 zit. n. Goldstein &

                                          Seite 29
van Hooff 2021: S. 202) zwei Gruppen von Probanden Wortlisten einmal unter Wasser
(in Tauchanzügen) und an Land lernen. Jeweils die Hälfte einer Gruppe wurde danach an
Land bzw. unter Wasser getestet. Es stellte sich heraus, dass die Probanden die beste
Abrufleistung erzielten, wenn Enkodierung und Abruf am gleichen Ort bzw. im gleichen
Kontext stattfanden (beides unter Wasser oder beides an Land).

Abbildung 11: Ergebnisse des Experiments zum Kontexteffekt von Godden & Baddeley (vgl. 1975 zit. n. Goldstein & van
Hooff 2021: S. 202; Abbildung: Diekelmann 2019, CC BY-SA 4.0).

Ein weiterer, auf den ersten Blick vielleicht überraschender, Befund ist der sog.
Testungs-Effekt. Tatsächlich wurde mehrfach bestätigt, dass die Leistung des LZG
dadurch gestärkt wird, dass Gelerntes häufiger abgerufen – anstatt häufiger wiederholt
gelernt – wird. Rowland (vgl. 2014 zit. n. Eysenck & Keane 2020: S. 265) fand in einer
Metaanalyse bei 81% der eingeschlossenen Experimente Ergebnisse, die eindeutig für
das Vorhandensein des Effekts sprechen. Des Weiteren konnten Schwieren et al. (vgl.
2017 zit. n. Eysenck & Keane 2020: S. 265) bestätigen, dass die Größe des Testungs-
Effekts unter Laborbedingungen und im „echten Leben“ (Psychologie-Unterricht)
vergleichbar ist.

                                                    Seite 30
3.5 Vergessen und Fehlleistungen des Gedächtnisses
              Wichtig

              Vergessen bezeichnet in der Gedächtnispsychologie den
              Verlust von im Gedächtnis gespeicherten Inhalten (vgl.
              Gruber 2018: S. 89).

Ein schon weiter oben erwähnter, früher Befund zum Vergessen aus dem LZG ist die sog.
Vergessenskurve von Ebbinghaus, nämlich die Erkenntnis, dass wir in den ersten zehn
Stunden nach dem Erlernen von Informationen durchschnittlich 70 % davon wieder
vergessen. Obwohl dies z.B. beim Lernen für Prüfungen ganz klar von Nachteil ist, dient
Vergessen auch positiven Zwecken. Nerby (2015) nannte drei Hauptfunktionen des
Vergessens: (1) Das Vergessen schlechter Erinnerungen kann unser psychisches
Wohlbefinden erhöhen. (2) Es ist sinnvoll, dass wir veraltete Informationen vergessen
(z.B. die alte Adresse einer Freundin), damit diese nicht mit aktuellen interferieren (z.B.
die neue Adresse der Freundin). (3) Normalerweise ist es für den Abruf von
Informationen am besten, wenn wir spezifische Details vergessen und uns auf die
generelle Aussage bzw. das Wesentliche konzentrieren (vgl. Eysenck & Keane 2020: S.
278 f.).

Fallberichte von Patienten, die am sog. hyperthymestischen Syndrom (griech. „hyper“ =
übermäßig und „thymesis“= Erinnern) leiden (Parker et al. 2006 zit. n. Gruber 2018: S.
90), zeigen eindrucksvoll, dass der Zustand „totaler Erinnerung“ durchaus kein
wünschenswerter ist. Die US-Amerikanerin Jill Price erinnert sich übermäßig an
episodische Gedächtnisinhalte aus ihrem eigenen Leben (sog. autobiografisches
Gedächtnis). Sie sagt (Parker et al. 2006: S. 35 zit. n. Gruber 2018: S. 90, eig. Sinngemäße
Übersetzung): „Wann immer ich ein Datum im Fernsehen (oder auch woanders)
aufblitzen sehe, gehe ich automatisch zu diesem Tag zurück und erinnere mich, wo ich

                                          Seite 31
war, was ich getan habe, was für ein Wochentag es war und so weiter und so weiter. Es
ist Non-Stop, unkontrollierbar und absolut erschöpfend. […] Die meisten nennen es eine
Gabe, aber ich nenne es eine Last. Ich spiele mein ganzes Leben jeden Tag in meinem
Kopf ab, und es macht mich wahnsinnig!“

             Hinweis auf Film

             Weblink: Hier finden Sie den Mitschnitt einer
             beeindruckenden Fernsehsendung über den Jill Price und
             einen weiteren ähnlichen Fall von Hypermnesie:

Gedächtnispsychologen diskutieren u.a. folgende Mechanismen des Vergessens aus dem
LZG (vgl. Horstmann & Dreisbach 2012: S. 174 ff.; Gruber 2018: S. 91 ff.):

   •   Spurenzerfall: Vergessen geschieht oft durch den passiven Zerfall von
       Gedächtnisspuren, meistens in der Schlafphase. Hierbei ist eine Gedächtnisspur
       (auch: Engramm) die dauerhafte physiologische Veränderung im Gehirn durch

                                         Seite 32
eine Reizeinwirkung. Man nimmt an, dass Gedächtnisspuren über diverse
    verschiedene kortikale Areale in unserem Gehirn verteilt sind.

•   Interferenzeffekte: Interferenz, also der Effekt, dass sich ähnliche
    Gedächtnisinhalte gegenseitige stören, kann sich auf zweierlei Art äußern: Bei
    retroaktiver Interferenz stören neu erlernte Information die Gedächtnisleistung
    für ältere Informationen, indem sie deren Konsolidierung beeinträchtigen (durch
    Überschreiben der Gedächtnisspur). Bei proaktiver Interferenz stören wiederum
    ältere Information die Speicherung neuer Information (z.B. wenn Sie aus
    Versehen nicht die neue, sondern die alte PIN ihrer EC-Karte am Automaten
    eintippen), möglicherweise weil die Verknüpfung zwischen dem Abrufhinweis
    (z.B. Zahlentastatur) und dem gesuchtem neuen Gedächtnisinhalt (neue PIN)
    noch schwächer ist als die Verbindung zum alten Inhalt (alte PIN).

•   Fehlende Abrufhinweise/Nichtzugänglichkeit: Das Fehlen von Abrufhinweisen
    („recall cues“) kann erklären, warum Gedächtnisinhalte nicht erinnert werden.
    Ihr unter dem Begriff „Arbeitsgedächtnis“ gespeichertes Wissen können Sie
    womöglich mit dem Begriff „Kurzzeitgedächtnis“ in einer Prüfung nicht abrufen,
    wenn Sie die beiden Begriffe nicht miteinander verknüpft haben. Bei den im
    vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Kontexteffekten eine Nicht-
    Übereinstimmung von Enkodier- und Abrufkontext dazu führen, dass Inhalte
    nicht abgerufen werden können. Ebenso kann ein emotionaler Faktor wie z.B.
    Stress während einer Abrufsituation (z.B. Klausur) das erfolgreiche Erinnern
    erschweren.

•   Motiviertes Vergessen (Verdrängung): Der Begriff Verdrängung geht auf den
    Psychoanalytiker Sigmund Freud zurück. Es gibt jedoch auch aktuellere
    neurowissenschaftliche Hinweise darauf, dass Menschen willentlich Erlebnisse
    (z.B. traumatische) aus ihrer Erinnerung ausschließen (z. B. Anderson et al. 2004
    zit. n. Gruber 2018: S. 92).

                                      Seite 33
Neben dem Vergessen sind noch weitere systematische „Fehlleistungen“ des
Gedächtnisses beschrieben (für einen Überblick siehe z.B. Horstmann & Dreisbach 2012:
S. 176 ff.). An dieser Stelle wollen wir uns nur exemplarisch mit einer Gruppe von
Phänomen beschäftigen, die hohe Relevanz für den Alltag und insbesondere auch für
Situationen wie Zeugenaussagen vor Gericht haben, den sog. Gedächtnis- oder
Erinnerungsverfälschungen (vgl. Gruber 2018: S. 115 ff.): Die Gedächtnisforscherin
Elizabeth Loftus ist mit einer Reihe von Studien zum Einfluss suggestiver (manipulativer)
Informationen auf das Gedächtnis bekannt geworden: Loftus & Palmer (vgl. 1974 zit. n.
Gruber 2018: S. 116) haben ihren Probanden Bilder eines Autounfalls gezeigt und sie
danach entweder gefragt, wie schnell die beteiligten Autos fuhren als sie aufeinander
„stießen“ oder wie schnell sie fuhren als sie ineinander „krachten“. Letztere
Ausdruckweise führte zu höheren Geschwindigkeitsschätzungen (obwohl die
Geschwindigkeit nicht aus den Bildern zu entnehmen war). In dem berühmten
Experiment „Verloren im Einkaufszentrum“ („lost in the mall“) lasen die Probanden von
Loftus & Pickrell (vgl. 1995 zit. n. Gruber 2018: S. 116) Berichte von
Kindheitserinnerungen, von denen eine zwar plausible Details aus tatsächlichen
Familienausflügen enthielt, jedoch auch die frei erfundene Geschichte, wie der Proband
als Kind in einem Einkaufszentrum verloren ging. Immerhin 25 % der Versuchsteilnehmer
glaubten sich tatsächlich an dieses Erlebnis zu erinnern. Aus diesen (im Falle der
Arbeiten von Loftus durchaus auch heftig kritisierten) Ergebnissen ist erkennbar, dass
unser Gedächtnis keineswegs wie eine Fotokamera funktioniert, sondern
Gedächtnisinhalte konstruktiven Veränderungsprozessen unterliegen und auch an später
gegebene Information angepasst werden können.

                                          Seite 34
Zusammenfassung
Während die Lernpsychologie sich mit dem Prozess der Veränderung von Verhalten
durch Erfahrung beschäftigt, erforscht die Psychologie des Gedächtnisses das Behalten,
den Abruf und die Nutzung von gelernten Inhalten, die aktuell nicht mehr präsent sind.

Ebbinghaus war ein Pionier der experimentellen Gedächtnisforschung. Er erforschte an
sich selber das Lernen und Reproduzieren sinnloser Silben. Bis heute gültig ist unter
anderem die von ihm beschriebene Vergessenskurve. Sie besagt, dass wir in den ersten
Stunden nach dem Lernen das meiste des Gelernten vergessen, sich danach die
Vergessensrate jedoch über die Zeit hinweg verlangsamt.

Zum einen kann Gedächtnis als Prozess beschrieben werden: Bei der Enkodierung
werden Informationen in eine Form umgewandelt. Dauerhaft Speicherung ist das
Ergebnis von Enkodierung. Beim Abruf schließlich werden die gespeicherten
Informationen wieder gefunden. Eine Erkenntnis Ebbinghaus‘, die auch für das Lernen
im Studium praktische Bedeutung hat, ist die Überlegenheit von verteiltem Lernen mit
Unterbrechungen gegenüber dem massierten Lernen ohne Pausen.

Zum anderen ist Gedächtnis als Speicher darstellbar. Verschiedene Gedächtnismodell
unterscheiden sich hinsichtlich der Anzahl angenommener Speicher, der Verweildauer
und/oder der Art von Informationen in den unterschiedlichen Speichern.

Das Mehr-Speicher-Modell von Atkinson & Shiffrin unterteilt das Gedächtnis in
sensorische Speicher, in denen Informationen verschiedener Sinnesmodalitäten (z.B.
visuelle oder auditive) sehr kurz verweilen, ein Kurzzeitgedächtnis mit begrenzter
Verweildauer und Verarbeitungskapazität für Informationen und ein Langzeitgedächtnis
mit unbegrenzter Verweildauer und Kapazität.

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Die Existenz eines sensorischen Speichers, der fast alle verfügbaren visuellen
Informationen für sehr kurze Zeit aufnimmt, das ikonische Gedächtnis, konnte Sperling
mithilfe seines experimentellen Teilberichtsverfahrens belegen.

Das Kurzzeitgedächtnis hat eine Gedächtnisspanne von 7 +/- 2 Einheiten von
Informationen, die maximal 15 oder 20 Sekunden behalten werden können. Mithilfe von
Chunking, dem Zusammenfassen von Informationen zu bedeutungsvollen größeren
Einheiten können wir uns kurzzeitig auch mehr Informationen merken. Indem wir durch
Rehearsal Informationen innerlich wiederholen, können wir diese auch länger im
Kurzzeitgedächtnis aufrechterhalten.

Das Modell des Arbeitsgedächtnisses von Baddeley & Hitch ist ein Konzept des
Kurzzeitgedächtnisses, das, über eine reine Zwischenspeicherung von Informationen
hinaus, die Prozesse der Verarbeitung und des Austauschs von Informationen während
der Bearbeitung von Aufgaben betont. In diesem Modell sind der visuell-räumliche
Notizblock und die phonologische Schleife für die Aufrechterhaltung von visuellen und
räumlichen bzw. verbalen und akustischen Informationen zuständig. Die übergeordnete
zentrale Exekutive koordiniert die Verteilung von Aufmerksamkeit und Informationen
bei komplexen Aufgaben. Der episodische Puffer stellt die Verbindung zum
Langzeitgedächtnis her.

Atkinson & Shiffrin nahmen ursprünglich an, dass Informationen nach einer genügend
langen Verweildauer automatisch vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis übergehen.
Demgegenüber zeigen Studien zur Theorie der Verarbeitungstiefe von Craik & Lockhart,
dass eine tiefere Verarbeitung zu einer besseren Gedächtnisleistung führt. Entscheiden
ist also der Prozess der Enkodierung. Die Enkodierung kann unter anderem durch
Elaboration und Organisation des Lernmaterials, sowie zahlreiche Mnemotechniken
verbessert werden.

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Der Befund der seriellen Positionskurve für das Lernen von Wortlisten stützt die
Annahme, dass Kurz- und Langzeitgedächtnis tatsächlich als unabhängige
Gedächtnissysteme funktionieren. Der Primacy-Effekt zeigt, dass die zuerst gelernten
Wörter durch Rehearsal bereits in Langzeitgedächtnis überführt wurden und daher
besser behalten werden als Wörter in der Mitte der Liste. Der Recency-Effekt zeigt an,
dass die ganz zuletzt gelernten Wörter sich noch im Kurzzeitgedächtnis befinden und
daher ebenfalls besser abrufbar sind als die Wörter in der Mitte der Liste.

Forscher gehen heute von mehreren getrennten Systemen des Langzeitgedächtnisses
aus, sind sich jedoch uneinig, was die letztliche Zahl und die Eigenschaften der Systeme
angeht. Die meisten unterteilen das Langzeitgedächtnis grundlegend in das deklarative
oder explizite Gedächtnis für bewusst erinnerte Ereignisse und Fakten, sowie das nicht-
deklarative oder implizite Gedächtnis für nicht bewusst erinnerte
Verhaltensänderungen wie z.B. Fahrradfahren. Diese Unterteilung wird u.a. durch den
berühmten Fall des Patienten H.M. gestützt, der durch eine Hirnschädigung die Fähigkeit
verlor, neue deklarative Gedächtnisinhalte abzuspeichern, dessen nicht-deklaratives
Gedächtnis jedoch intakt schien.

Der Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis fällt generell bei der Methode
der freien Reproduktion ohne jegliche Abrufhinweise am schwersten. Unterstützte
Reproduktion mit Abrufhinweisen erleichtert den Abruf, am leichtesten fällt das
Wiedererkennen von Informationen. Sog. Kontexteffekte zeigen, dass der Abruf durch
übereinstimmende situative Bedingungen bei der Enkodierung und dem Abruf von
Informationen ebenfalls begünstigt wird.

Das Vergessen, also der Verlust von im Gedächtnis gespeicherten Inhalten dient auch
positiven Zwecken. Können wir nichts vergessen, wie im Fall von Patienten mit einem
hyperthymestischen Syndrom, belasten uns etwa schlechte Erinnerungen oder veraltete
Informationen ein Leben lang.

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Mechanismen des Vergessens sind unter anderem passiver Spurenzerfall von
Engrammen im Gedächtnis, das Fehlen von Abrufhinweisen und Interferenzeffekte: Bei
proaktiver Interferenz stört bereits Gespeichertes die Speicherung neu zu lernender
Inhalte. Bei retroaktiver Interferenz stört neu Gelerntes die Konsolidierung zuvor
gespeicherter Informationen.

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Hinweise auf weiterführende Literatur und
Quellen

                Wichtig

                Die hier angegebenen Hinweise auf Literatur- und Quellen
                sind nicht Teil des FHM-Curriculums und damit nicht
                prüfungsrelevant.

Ratgeber zum Lernen im Studium:

Dieser Ratgeber ist auch in der FHM-E-Bibliothek zum Download verfügbar:

Metzig, W. & Schuster, M. (2020): Lernen zu lernen: Lernstrategien wirkungsvoll
           einsetzen. 10. Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer.

Auch dieses Lehrbuch bietet u.a. praktische Tipps für ein effektiveres Lernen:

Rinck, M. (2016): Lernen: Ein Lehrbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.

Hier sind u.a. auch sog. Mnemotechniken beschrieben, derer sich Gedächtniskünstler
bedienen. Zu diesen gehört auch (die zugegeben fiktive Figur des) Sherlock Holmes, der
mithilfe der Methode des Gedächtnispalastes atemberaubende Erinnerungsleistungen
erzielt.

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