Astrid Riehle Pfarrerin Osterandacht auf dem Birkenkopf am Ostersonntag, 09. April 2023
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Astrid Riehle Pfarrerin Osterandacht auf dem Birkenkopf am Ostersonntag, 09. April 2023 Hinführung zum Gottesdienst Im Gemeindebrief vom April 1953, also vor genau 70 Jahren, lädt der Pfarrer der Paul-Gerhardt-Kirche, Hilmar Schieber, die Gemeinde zum ersten Mal zur „Ostermor- genfeier auf dem Birkenkopf-Trümmerberg“ ein. Er schreibt: „Es wird der erste Gottesdienst sein, der überhaupt auf diesen Trümmern Stuttgarts stattfindet. Könnte es einen sinnvolleren Platz geben für einen Oster- Frühgottes- dienst?“ Vermutlich nicht. Denn einer Stadt, die am 8. Mai 1945 in Schutt und Asche gelegt worden war, ist die Kraft geschenkt worden, sich aufzurichten und aufzustehen und nicht unter den Trümmern liegen zu bleiben. Dieser Berg erzählt auf seine Weise von der Auferste- hung. Er erzählt, dass wir nicht verloren sind, so tief wir auch fallen. Gott hört unser Rufen, er reicht uns die Hand und wenn wir sie ergreifen, dann zieht er uns aus der Finsternis ins Licht. Weil er „Lust zu uns hat“ (Psalm 18,20). Predigt Liebe Gemeinde, erinnern wir uns zunächst an die geistliche Geschichte dieses Berges. Am Ostersonntag, den 5. April 1953 feierten hier oben die ersten Christen der dama- ligen Paul-Gerhardt-Gemeinde Gottesdienst. Bereits im Jahr darauf werden zwischen Ostern und September regelmäßig Berggottesdienste angeboten, zunächst einmal im Monat. Ab 1955 wöchentlich. Pfarrer aus mehreren Gemeinden Stuttgarts teilen inzwischen die Dienste untereinander auf. Im selben Jahr wurde die letzte Andacht im September als Gedenkfeier der Zerstö- rung der Stadt durch die schweren Bombenangriffe der letzten Kriegsjahre begange- nen. Oberbürgermeister Dr. Klett war geladen, er sollte über den Stand der Planun- gen der Stadt zum Gedächtnismal „Birkenkopf-Trümmerberg“ berichten. 1
In den folgenden Jahren sprachen bei den Gedenkfeiern die Ministerpräsidenten des Landes BW, Gebhard Müller, aber auch Dr. Kurt Georg Kiesinger, weitere Minister, kirchliche Prominenz, der Ortspfarrer hielt die Liturgie. Im September 1957 schreibt Pfarrer Schieber rückblickend: Die Bergandachten „wa- ren dieses Jahr immer von Hunderten besucht, die aus nah und fern herbeigekom- men, gewandert, gefahren sind.“ (Und jetzt Achtung ) „Ein besonderer Typ von Christen sammelt sich da, auch solche, die (sonst) in keine Kirche kommen.“ Voller Stolz kann er seiner Gemeinde im selben Jahr berichten, dass der süddeut- sche Rundfunk darum gebeten hatte, die Auferstehungsfeier auf dem Birkenkopf um 6.30h in einer Direktübertragung ins Programm nehmen zu dürfen. Nichts lieber als das! Denn damit hatten der Pfarrer und seine Gemeinde die gewünschte Aufmerk- samkeit bekommen für die geistliche Bedeutung des „Monte Scherbelino“. Die Jungschar der Paul-Gerhardt-Kirche hatte bereits vor Ostern 1953 auf dem Trümmerberg ein Kreuz aufgerichtet und damit das Thema gesetzt. Der Schutthau- fen Stuttgarts, bis dahin unkultiviertes „Niemandsland“, sollte einerseits die Schre- cken des Krieges unvergessen machen. Der Berg und sein Kreuz sollten Mahnmal für alle kommenden Generationen werden. Denn während der heftigen Luftangriffe auf Stuttgart im 2. Weltkrieg waren 4500 Zivilisten ums Leben gekommen, sie sind in ihren Häusern, in Kellern, auf Straßen und Plätzen und beim Versuch, sich in Bunker zu retten, getötet worden. Zig Tausende haben ihr Dach über dem Kopf verloren. Für sie und für die vielen Väter, Onkel, Brüder und Verwandten, die an der Front star- ben, und für Millionen andere haben die Jungschärler das erste Kreuz auf diesem Berg aufgerichtet. Das heutige Kreuz ist in seiner immensen Höhe von Weitem sichtbar. Es appelliert noch immer: „Seid wachsam, damit von unserem Land niemals wieder eine solche Katastrophe ausgeht!“ Doch das Kreuz steht für mehr als nur für die Karfreitage in unserer Welt. Es erinnert daran, dass den Kriegsherren und all den anderen Dienern des Todes nicht das letzte Wort gehört. Denn das Kreuz ist leer! Kein Leichnam ist darauf zu sehen. Es 2
erinnert, dass Gott seinen Christus aus den Fängen des Todes befreit hat. Dass er ihn vom Tod erlöst und ihm neues, unvergängliches Leben geschenkt hat. Das ist die gute Nachricht, um die es auch heute zum 70. Mal hier oben auf dem Trümmerberg bei der Osterandacht gehen soll. Der Apostel Paulus – also keiner der vier Evangelisten – ist in diesem Jahr Zeuge der Auferstehungshoffnung. Er gibt den Christen in der griechischen Hafenstadt Ko- rinth ein Glaubensbekenntnis weiter, das er selbst vorgefunden hatte. Das geht so, nachzulesen im 1. Korintherbrief, Kapitel 15, 3-5: Ich erinnere euch, …, dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift; und dass er begra- ben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas (also Petrus), danach von den Zwöl- fen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal. Zuletzt auch von ihm selbst, einer dafür eigentlich unwürdigen Geburt.“ Paulus tut dasselbe, was wir als Kirche tun, wenn wir das apostolische Glaubensbe- kenntnis aus dem 4./5. im Gottesdienst sprechen, und wenn es Konfirmand*in bis heute auswendig lernen. Wir halten die Kernaussage unseres Glaubens fest. Doch der Apostel Paulus begnügt sich nicht mit der Weitergabe von Glaubenssätzen und der Ermahnung, sie für wahr zu halten. Er verweist auch auf Erfahrungen, dass Christ*innen vor ihm – und schließlich auch er selbst - Christus „gesehen“ haben. Und dann zählt er auf. Keine Zeugenreihe könnte besser illustrieren, was es heißt: “Christus ist gestorben für unsere Sünden”. Der Auferstandene zeigt sich nicht nur denen, die ihm treu geblieben sind: Den Frauen, die bis ans Grab ihre Liebe und ih- ren Glauben unbeirrt gezeigt haben. Er tritt in das Leben von Petrus, der ihn verleug- net hatte, er erscheint den Jüngern, die ihn in der Gefahr verlassen haben. Und selbst ihm, Paulus, dem Verfolger der Christen, hat er die Augen geöffnet, dass aus ihm ein großer Zeuge geworden ist, der sagen kann: “Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin”. 3
Diese Zeugenreihe ermutigt, liebe Gemeinde, auch in unserem Leben die Spuren des Auferstandenen zu suchen. Denn wenn der gestorbene, der begrabene, der auf- erstandene Christus sich denen gezeigt hat, die mit ihrem Glauben derartig geschei- tert sind, warum sollten wir seine Spuren in unserem Leben nicht auch finden können - so verletzlich, so wackelig, so gebrochen unser Glaube auch sein mag? Ich stelle mir vor, es haben unzählige Christen am Aufbau dieses Trümmerberges mitgewirkt und dabei im Herzen Trauer und vielleicht sogar Schuld empfunden, dass alles soweit kommen musste. Und dass sie selbst dem Nationssozialismus so wenig entgegenzusetzen hatten. Vielleicht hat der eine oder andere auch das Stuttgarter Schuldbekenntnis in seinem Herzen bewegt, mit dem die Vertreter der Evangeli- schen Kirche in Deutschland im Oktober 1945 vor der versammelten Ökumene ihre Mitschuld bekannt haben: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“. Doch Schuld ist kein Hinderungsgrund, an der Kraft des Auferstanden teilzuhaben. Das können wir an den Zeugen der Auferstehung Jesu Christi ablesen. Gott offen- bart seine Lebensmacht nicht nur den Gerechten, sondern allen Menschen. Er vergibt und befreit zu neuem Leben. Er schenkt uns Zukunft, auch wenn wir nichts mehr in der Hand haben, was für uns spricht und er führt uns aus den Sackgassen unseres Lebens heraus ins Weite. In diesem Sinne möchte ich das reiche und bunte Leben, das sich seit vielen Jahren auf diesem Scherbenhaufen entfaltet hat, als Spur des Auferstandenen sehen. Als sichtbares Zeichen, dass Christus die Sünde in den Tod genommen hat, damit wir Sünder*innen, wir unvollkommenen Menschen, entlastet von Selbstvorwürfen uns aufrichten und weitergehen können. Das Kreuz auf dem Hügel, das bunte Treiben, die aufgehende Sonne am Ostermor- gen, all das sind für mich weithin sichtbare Zeichen, dass Gott uns nicht fallen lässt. Solche Osterspuren können wir mit unseren leiblichen Augen wahrnehmen. Insofern ist Ostern eine Augensache. 4
Für den Apostel und die Zeugen der Auferstehung ist Ostern aber noch mehr. Es ist eine Augensache der besonderen Art. Denn, wo es um „Erscheinungen“ geht, da stoßen leibliche Augen an ihre Grenzen. Es müssen eher eine Art „Seelenaugen“ sein, die solche Erscheinungen wahrzunehmen in der Lage sind. Das alte Bekenntnis, das Paulus zitiert, erinnert: „Er/ Christus wurde gesehen. Man übersetzt es besser: “Er ist erschienen. Er hat sich gezeigt”. Gemeint ist also nicht, dass der Auferstandene leiblich und damit für unsere leibli- chen Augen sichtbar erschienen ist. Paulus vertritt nicht eine leibliche Auferstehung der Toten. Als die Leute in Korinth von der Auferstehung des Leibes sprachen, fährt sie Paulus ziemlich grob an: „Du Narr, was du säst, wird nicht lebendig; es stirbt. (1 Kor 15,36) Und will damit sagen: Dein Leib geht in die Erde, und Gott wird dir einen anderen, lichteren Leib geben. Nun habe ich persönlich noch keine Menschen getroffen, denen der Auferstandene erschienen ist. Menschen, denen verstorbene Angehörige erschienen sind, habe ich kennengelernt. Sie behaupten nicht, dass ihnen der Mann, die Mutter, die Tochter in Fleisch und Blut begegnet ist. Und doch sagen sie, der Verstorbene ist ihnen „er- schienen“. Für mich weisen Zeugen solcher Erscheinungen darauf hin, dass die Welt nicht ge- teilt ist in ein Diesseits und ein Jenseits, sondern, dass sie eine ist, nämlich Gottes Welt in allen ihren Schichten und Dimensionen. Die solche Erfahrungen machen, müssen keine frommen Leute sein. Sie erleben, wie Paulus und die anderen, eine sinnliche Erfahrung, die zu ihnen kommt. Ostern ist eine Augensache. Wir sehen Spuren des Auferstandenen in unserem Le- ben. Wir hören von Erscheinungen, die uns erahnen lassen, dass die sichtbare Welt nur ein Ausschnitt der ganzen Wirklichkeit Gottes ist. Und wenn wir in der Bibel le- sen und erfahren, wie ein Wort uns eine neue Sicht auf uns selbst und unser Leben erschließen kann, dann kann auch das zu einer Oster-Erfahrung werden. Wie für die Jünger damals. Als sie in der Schrift lasen, verstanden sie: „Nach der Schrift“ - stirbt der Gerechte keinen sinnlosen Tod. „Nach der Schrift“ - 5
nimmt Gott sich des Verlorenen an. Gott liebt das Leben so sehr, dass er auch die Toten wieder lebendig macht. Amen. 6
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