Auf zu neuen, alten Ufern Die ökologische Weiterentwicklung der Lippe

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Auf zu neuen, alten Ufern Die ökologische Weiterentwicklung der Lippe
Auf zu neuen, alten Ufern
Die ökologische Weiterentwicklung der Lippe

                                   www.umwelt.nrw.de
Auf zu neuen, alten Ufern Die ökologische Weiterentwicklung der Lippe
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Die Lippe: der NRW-Fluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Gewässer entwickeln – mehr Natur wagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

         Zurück zur Natur an der Lippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

         Ein Gewässer naturnah entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

         Flora, Fauna, Mensch – „Nutzungskonflikte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

         Lösung von Konflikten: „Viele Partner im Boot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

         Lösung von Konflikten: „Der Mensch im Naturschutzgebiet“ . . . . . 27

Mehr Raum für Fluss, Pflanze und Tier –
Meilensteine der bisherigen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

         Der Tallehof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

         Lippesee-Umflut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

         Klostermersch, Hellinghauser Mersch, Westernmersch . . . . . . . . . 34

         Lünen/Werne – Gewässerstauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

         Fluss und Stadt: „Gemeinsam an der Lippe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

         Datteln-Ahsen/Olfen – Uferentfesselung und Fluss- und
         Auenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .40

         Haltern am See/HaLiMa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

         Lippe-Mündung Wesel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Anhang (Literatur, Links, Adressen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
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Die Lippe: der NRW-Fluss

Die Lippe ist ein wahrer Nordrhein-Westfalen-Fluss. Rhein    Durch die Nähe zu den großen Städten Westfalens bietet
und Ruhr sind als Namensbestandteile großer Regionen         die Lippe von ihrer Quelle in Bad Lippspringe bis zur Mün-
in ganz Deutschland bekannt. Doch das Wappen von NRW         dung in Wesel ein Erholungs- und Naturerlebnis für weitere
zeigt auch die Lippische Rose – das Symbol für ein weite-    Millionen von Menschen. Daran hat die Renaturierung des
res wichtiges Gebiet unseres Bundeslandes, das genauso       Flusses und seiner Auen in den vergangenen 30 Jahre
heißt wie der Fluss. An den Ausläufern des Teutoburger       einen großen Anteil. Die engen Ufer sind zum Teil „ent-
Waldes beginnt die Reise der Lippe durch das Lipper          fesselt“ und die Auen dürfen wieder unter Wasser stehen.
Land und durch Westfalen. Sie endet nach mehr als 220        Fischtreppen und Umgehungen an Querbauwerken
Kilometern bei Wesel im Rhein. Ihr folgten schon die         (Wehren) ermöglichen den wandernden Tierarten wieder,
Römer, deren alte Routen man heute noch nacherleben          von der Mündung bis zur Quelle zu gelangen. So erholt
kann. Die Lippe ist der längste Fluss in NRW und ist damit   sich das Gesamtsystem des Flusses, dessen Einzugs-
ein bedeutendes Gewässer in den mitteleuropäischen           gebiet mit 4.880 Quadratkilometern fast ein Siebtel der
Flusssystemen – als Heimat und Brücke für teils be-          gesamten Fläche Nordrhein-Westfalens einnimmt. Auch
drohte Tier- und Pflanzenarten, als einzigartiger Lebens-    die zahlreichen Nebengewässer spielen daher eine
raum direkt vor der Haustür des Ruhrgebietes im Herzen       wichtige Rolle. Insgesamt wurde eine einzigartige Basis
Europas.                                                     geschaffen, um die Lippe in den nächsten Jahren groß-
                                                             flächiger und noch wirkungsvoller als bisher als Natur-
Ein Fluss, der verbindet                                     raum zu entwickeln und für die Menschen wieder erlebbar
Als wichtiger Transportweg war die Lippe für die Ent wick-   zu machen. Ein vom Menschen geprägter Raum darf sich
lung des heutigen Nordrhein-Westfalens von enormer           freier entfalten als früher. Davon profitieren Flora und
Bedeutung. Sie verbindet die Region, in der Arminius         Fauna im Wasser und in den großen Flussauen gleicher-
einst die Römer besiegte, mit dem großen Rhein. Als          maßen – und letztlich auch der Mensch.
Wasserspender für Nahrung und Energie belebte der Fluss
einen Großteil der Westfälischen Bucht. Mit dem Berg-        Für zahlreiche Flussabschnitte sind daher weitere Re-
bau und der Stahlindustrie entstand ab der Mitte des         naturierungsmaßnahmen geplant, unter anderem in
19. Jahrhunderts eine neue Metropolregion – das Ruhr-        Wesel, Hünxe, Gahlen, Hervest, Haltern, Hullern, Datteln-
gebiet –, unter anderem auch versorgt durch die Lippe        Ahsen, Dahl, Lünen/Werne, Stockum, Hamm-Pelkum
und ihre fruchtbaren Auen. Das Kanalnetz, das damals         und -Schmehausen, in der Disselmersch, in Kesseler,
neue Transportwege für die Kohle und Erze, für Stahl und     Lippstadt-Eickelborn, Schoneberg und im Kreis Pader-
weitere Produkte erschloss, wird heute noch zu einem         born. Die Lippe und zahlreiche Nebengewässer werden
großen Teil durch die Lippe gespeist.                        weiterhin umfangreich umgestaltet – die betroffenen
                                                             Abschnitte verteilen sich beinahe über den gesamten
Ein Stück Natur                                              Verlauf, von der Mündung bis zur Quelle.
Rund 1,8 Millionen Menschen leben heute im direkten
Umfeld der Lippe. Große Städte wie Paderborn, Hamm,          Die ersten Schritte sind auch möglich gewesen, weil zahl-
Lippstadt und Wesel sind an diesem Fluss entstanden          reiche begeisterte Menschen vor Ort tatkräftig das Zurück-
und gewachsen. Heute wird dieses Stück Natur inmitten        kehren der Natur unterstützt haben. Die Erfolge sind
urbaner Zentren als Erholungsraum neu aufgewertet.           bereits heute sichtbar. Und so soll es auch weitergehen.
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                                                                                           Bezirksregierung
                                                                                               Münster

                                                                                        Haltern

                                             Schermbeck                                                                              Werne a. d.
                                                                                 Marl                                                  Lippe
                        Wesel
                                                              Dorsten                                Datteln
                                  Bezirksregierung
                                    Düsseldorf
                                                                                                                            Lünen

Schlaglichter der Historie

                0–1200                                                                        1200–1700

     I.                                     II.                                                           III.
     Römer und Mittelalter                  13. bis 16. Jahrhundert (ausgehendes                          16. bis 19. Jahrhundert
     Erste Veränderungen an der natür-      Mittelalter und frühe Neuzeit)                                Wachsende Städte am Fluss führen zu
     lichen Lippe nehmen bereits die        Rodungen für die Landwirtschaft lassen                        stärkeren Verschmutzungen durch
     Römer vor. Sie nutzen den Fluss als    die Auwälder fast vollständig verschwin-                      den Menschen. Abfall und Abwasser,
     Transportweg zur Versorgung ihrer      den. Die intensive Nutzung durch Mühlen                       aber auch erste „chemische“ Rück-
     Lager. Bis zum Mittelalter entstehen   bringt dem Fluss erste unnatürliche Bar-                      stände durch Tuchmacher und Färber
     an den Flussufern mehr und mehr        rieren: Das Wasser und der Wasserstand                        verunreinigen die Gewässer.
     Siedlungen.                            werden über Wehre kontrolliert.
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                                   Einzugsgebiet der Lippe

                                         Lippeverband

                                         Wasserverband Obere Lippe

                                         Maßnahmen ab Seite 28

                                                                                                                    Bad Lippspringe

                                                                                       Delbrück

                                                                                                               Paderborn

Hamm                                                         Lippstadt
                                                                                                          Bezirksregierung
                                                                                                              Detmold
       Bezirksregierung
          Arnsberg

                                                                                                                                                         10 km

                                                                         1700–2000

           IV.                                                    VI.                                                  VIII.
           1815                                                   Anfang 20. Jahrhundert                               Ab 1980
           Die Lippe wird preußisch. Für die Nahrungsver-         Wasserentzug durch Schifffahrtskanäle, Berg-         Entwicklung des Umweltgedankens: Seit den
           sorgung der wachsenden Bevölkerung wird die            senkungen durch den Steinkohlebergbau, Was-          1980er Jahren findet ein gesellschaftliches
           Landschaft für die Landwirtschaft umgebaut.            serentnahme durch Kraftwerke, hohes Bevölke-         Umdenken in Bezug auf die Umwelt und den
           Der Flusslauf wird begradigt und befestigt, um         rungswachstum, Abwasser aus dem Bergbau,             Schutz der Natur statt. Umweltschutzgedan-
           dauerhaft Ackerland zu gewinnen und Siedlun-           der Industrie und den Städten, Kanalisierung         ken werden gesellschaftsfähig und politisch
           gen zu schützen. Außerdem wird die Lippe für           des Flusslaufs – die Lippe wird zu einem massiv      intensiv diskutiert. Der neue Leitgedanke fin-
           die Schifffahrt umgebaut. Altarme werden               beeinträchtigten Gewässer mit wenigen natür-         det unter anderem seinen Ausdruck im
           abgetrennt, damit an den geraden Ufern Treidel-        lichen Bereichen. Aber: 1926 wird zum Beispiel       Gewässerauenprogramm NRW und später in
           wege befestigt werden können, über die Pferde          der Lippeverband gegründet, der erste Maß-           der Wasserrahmenrichtlinie der Europäischen
           und Ochsen die Lastkähne ziehen.                       nahmen zur Abwasserreinigung und zur Ver-            Union, die seit dem Jahr 2000 Anforderungen
                                                                  besserung des Hochwasserschutzes durchführt.         an den Zustand der Gewässer in Europa stellt.
           V.
           Ab 1830                                                VII.
           Im Rahmen der industriellen Revolution verän-          Ab 1950
           dert sich das Landschaftsbild dramatisch.              Eine neue Phase der Flächengewinnung für die
           Industrialisierung, Bergbau, Wehre, Schleusen          Landwirtschaft zerstört auch die letzten natur-
           zur Schiffbarmachung des Flusses und die               nahen Gebiete. Die Auen werden nahezu trocken-
           weitere Kultivierung von Flussauen als land-           gelegt. Das Abwasser aus Siedlungen und
           wirtschaftliche Flächen verändern die Fluss-           Gewerbegebieten, das Grubenwasser des
           landschaft der Lippe fundamental.                      Bergbaus und das Kühlwasser der Kraftwerke
                                                                  werden in die Lippe eingeleitet.

                                                                  Um 1975 ist die Wasserqualität beispielsweise
                                                                  im Raum Hamm schließlich auf einen histori-
                                                                  schen Tiefstand gesunken.
Auf zu neuen, alten Ufern Die ökologische Weiterentwicklung der Lippe
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Gewässer entwickeln – mehr Natur wagen

Wasser ist nicht nur Voraussetzung für die Entstehung von             Parallel dazu erarbeiteten die Bezirksregierung Arnsberg
Leben, sondern auch Voraussetzung zur Bewahrung des                   und der Lippeverband das Lippeauenprogramm (LAP).
Lebens. Das gilt sowohl für den Menschen als auch für Tiere           Seit dem Jahr 2000 ist mit der Europäischen Wasser-
und Pflanzen. Als Lebensraum von unschätzbarem Wert                   rahmenrichtlinie (EG-WRRL) ein für alle Mitgliedstaaten
bestimmen Gewässer unsere Existenz. Umso dramati-                     der EU einheitliches Regelwerk für den Gewässerschutz
scher sind die Folgen der Eingriffe in diese Ökosysteme.              in Kraft getreten. Danach soll der Zustand von Flüssen,
                                                                      Seen, Küstengewässern und Grundwasser bis spätes-
Die Bewirtschaftung durch den Menschen hat Flüsse                     tens 2027 verbessert werden. Ziel ist der „gute Zustand“
und deren Auen, die einst eine fest verbundene Natur-                 der Gewässer, damit diese als Lebensraum für Tiere und
landschaft waren, in eine Kulturlandschaft verwandelt.                Pflanzen wieder funktionieren können und die Ressource
Besonders unter Naturschutzaspekten haben die dichte                  Wasser auch künftig noch genutzt werden kann.
Besiedlung, die intensive Flächennutzung und die Indus-
trialisierung deutliche Spuren hinterlassen. In NRW                   Dabei ist es notwendig, die Flusssysteme über Zustän-
verschwinden auch heute noch täglich rund 10 Hektar                   digkeitsgrenzen hinweg von der Quelle bis zur Mündung
wertvoller Fläche für neue Siedlungs-, Gewerbe- und                   als Einheit zu sehen und neue bisher unkonventionelle
Verkehrsflächen. Tieren und Pflanzen fehlt zunehmend                  Wege zu gehen. Oft sind dazu wasserbauliche Maßnah-
der natürliche Lebensraum. Neben der intensiven                       men erforderlich. Jede Maßnahme zur ökologischen und
Bewirtschaftung der Böden und Wälder war es in der                    chemischen Verbesserung auch an kleineren Gewässern
Vergangenheit vor allem auch die Zerstörung natürlicher               ist ein Baustein zur Verbesserung der Wasserqualität in
Flusslandschaften, die den Artenschwund förderte.                     der Flussgebietseinheit Rhein bis hin zum Wattenmeer.
                                                                      Beispielsweise fließt Wasser aus den Bächen im Einzugs-
Seit etwa 30 Jahren steht daher die Verbesserung der                  gebiet des Nebenflusses Ahse zunächst in die Lippe und
Wasserqualität und der Qualität des von Wasser gepräg-                dann in den Rhein. Diese Betrachtung des Gesamtsys-
ten Naturraums im Mittelpunkt. Das bedeutet für viele                 tems ist ein grundlegendes Prinzip bei der ökologischen
Gewässer groß angelegte Eingriffe. Ihr Erscheinungsbild               Verbesserung der Gewässer in Europa.
wird dadurch teilweise stark verändert, aber nur so kön-
nen Flüsse wieder naturnah und somit lebendige Gewäs-                 Zusätzliche Informationen zur Wasserrahmenrichtlinie
ser werden.                                                           finden Sie unter: www.flussgebiete.nrw.de

Mit gezielten Programmen zur Gewässerentwicklung                        In der UN-Dekade Biologische Vielfalt von 2011 bis
und zahlreichen Renaturierungsprojekten steuert das                     2020 soll das öffentliche Bewusstsein für biologi-
Land Nordrhein-Westfalen diesen Prozess. Bereits 1990                   sche Vielfalt, ihren Wert und die gesellschaftliche
rief die damalige Landesregierung das Gewässerauen-                     Verantwortung für ihren Schutz und die nachhaltige
programm ins Leben – 13 Flüsse, darunter die Lippe mit-                 Nutzung ihrer Bestandteile gefördert werden.
samt ihren Auen, sollten in einen naturnahen Zustand
überführt werden.                                                       www.un-dekade-biologische-vielfalt.de

                                                                        Mehr zur „Biodiversitätsstrategie NRW“ ist unter
Altarm und Blänken in der Lippeaue, im Bereich der Renaturierung
Tallehof, nicht gebaggert, sondern bei einem Hochwasser entstanden,
                                                                        www.umwelt.nrw.de nachzulesen.
wertvoll für Amphibien und einige Fischarten, wie z. B. die Quappe
Auf zu neuen, alten Ufern Die ökologische Weiterentwicklung der Lippe
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Der gute Zustand

Die Maßstäbe für den „guten Zustand“ bei Fließgewäs-               etwas technisch formuliert: „Die Lippe ist ein sand- und
sern sind die Wasserqualität – also die chemische Be-              lehmgeprägter Tieflandfluss mit Auen, der sich durch die
schaffenheit – und das Ökosystem – also die Eignung als            Natur schlängelt (Mäander). Sie ist für zahlreiche Insek-
Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Bei der Wasserqua-              ten, Watvögel, Störche, Eisvögel, über 30 Fischarten,
lität wurden schon lange, zum Beispiel durch moderne               aber auch für Biber ein Zuhause.“
Kläranlagen, große Verbesserungen gegenüber der Hoch-
phase der Umweltverschmutzungen erzielt.                           Ihre Gewässerbreite kann bis 50 Meter und mehr betra-
                                                                   gen, die Gewässertiefe ist in der Regel höchstens ein bis
Die Flüsse samt ihrer Auen wieder in ein lebendiges Öko-           zwei Meter, nur zwischen Flussdeichen wie in Dorsten ist
system zu verwandeln, steht dagegen erst seit wenigen              die Lippe tiefer eingeschnitten. Die natürliche Breite der
Jahrzehnten auf dem Plan. Es sind lange Prozesse, bis sich         Aue variiert stark, von Bereichen mit beispielsweise 300
die natürliche Artenvielfalt wieder in ihren ursprünglichen        Metern im Kreis Paderborn bis über einen Kilometer in
Heimatgebieten ausbreitet. Und sie beginnen auch damit,            unteren Abschnitten.
überhaupt erst herauszufinden, was die natürliche Pflan-
zen- und Tierwelt eines Gewässers einmal gewesen ist.              An der Lippe ist trotz aller Erfolge aus der Vergangen-
                                                                   heit der „gute“ Zustand noch lange nicht erreicht. Bei
Nach zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen                 genauerem Hinsehen kann man das an vielen Stellen auf
und Beobachtungen wurden dafür unterschiedliche                    Anhieb erkennen. Zahlreiche und umfangreiche Verbes-
Gewässertypen bestimmt und ihnen eine entsprechende                serungsmaßnahmen sind daher in den nächsten Jahren
Flora und Fauna zugeordnet. An der Lippe heißt das,                an der Lippe geplant.

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Die Lippe bei Olfen im Sommer 2009

02
Die Quappe (Lota lota) kann nur dort überleben, wo Fluss und Aue
vernetzt sind.

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Schwarz- und Weißstorch an der Lippe

04
Verzahnung von Lippe und Aue
                                                                   03
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Faszination Aue

Auen gehören zu den artenreichsten Naturlandschaften      In Auen entstehen immer wieder Tümpel. Sie sind der
Mitteleuropas. Die Dynamik von trockenen und nassen       natürliche Lebensraum vieler Amphibien, zum Beispiel
Zeiten, von Überflutung, Abtragung und Anlagerung ist     von Laubfröschen und Erdkröten, und bieten auch die
für viele Pflanzen- und Tierarten entscheidend.           Lebensgrundlage für zahlreiche Libellenarten. Deren
                                                          Larven finden hier die Nahrung, die sie brauchen. Selbst
Die Schwarzpappel und die Silberweide brauchen bei-       für einige Fischarten sind die überschwemmten Gebiete
spielsweise trocken fallende Böden wie Sand-, Kies- und   lebenswichtig: Hechte beispielsweise verlassen den Fluss
Schlammbänke, wo die jungen Bäume aufwachsen.             im Frühjahr und legen ihre Eier auf überschwemmten
Dadurch entstehen die Lebensvoraussetzungen für eine      Wiesen ab. Auch die Quappe nutzt gerne Tümpel zum
lange in Europa bedrohte und fast verschwundene Tier-     Laichen. Nachdem die Brut geschlüpft ist, nutzen die
art: Biber nutzen diese Baumarten gerne als Nahrung       kleinen Quappen zum Beispiel das nächste Hochwasser
und als Baumaterial. Die Dammbauten der großen Nager      und kehren in die Lippe zurück.
sind inzwischen auch bei uns wieder in der Natur zu
beobachten.                                               Auwälder sind natürlicher Bestandteil einer Auenland-
                                                          schaft. Die hier heimischen Pflanzen- und Baumarten
Dort, wo sich der Fluss schlängelt und manchmal scharfe   sind an die wechselnden Feuchtbedingungen perfekt
Kurven macht, ist der Eisvogel heimisch. In den Uferab-   angepasst. Sie bieten Lebensraum für zahlreiche Vogel-
brüchen findet er perfekte Bedingungen für seine Brut-    und auch Schmetterlingsarten, wie beispielsweise den
höhlen, die er in die steilen Uferwände eingräbt.         Schillerfalter. Er ist unter anderem auf die Silberweide
                                                          angewiesen, die sich nur in regelmäßig überfluteten
                                                          Regionen ansiedelt. Solche Weiden und andere Bäume
                                                          im Auwald tragen außerdem dazu bei, Hochwasser-
                                                          folgen zu mildern und die Ufer zu stabilisieren.

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Zurück zur Natur an der Lippe

Wie schwierig es ist, einen Fluss über seine gesamte         Lippequelle werden die Maßnahmen überwiegend durch
Länge in einen ökologisch guten Zustand zu versetzen,        das Land NRW gefördert, der Wasserverband Obere
wird schnell klar, betrachtet man die Strukturen an der      Lippe steuert aber auch einen Eigenanteil bei. Insgesamt
Lippe. Der ausschließlich durch Nordrhein-Westfalen          ist vorgesehen, in den nächsten Jahren Maßnahmen für
fließende Fluss wird organisatorisch im Hinblick auf         die ökologische Gewässerentwicklung im Umfang von
Gewässerunterhaltung und -umgestaltung in drei Teile         über 100 Millionen Euro an der Lippe durchzuführen.
gegliedert. Die Unterhaltung der Lippe wird von der          Dadurch wird in der Regel auch der Hochwasserschutz
Mündung in den Rhein bis zur Quabbemündung in Lippe-         verbessert.
tal-Lippborg (ca. 147 Kilometer) vom Lippeverband im
Auftrag des Landes NRW durchgeführt. Oberhalb erfolgt        Bei der Renaturierung von Gewässern ist es wichtig, dass
bis zur Einmündung der Pader die Lippeunterhaltung           alle Interessierten und Betroffenen möglichst frühzeitig
durch die Bezirksregierungen Arnsberg (ca. 60 Kilome-        und umfangreich in die Planungen einzelner Maßnah-
ter). Für die übrigen Gebiete bis zur Quelle (ca. 13 Kilo-   men einbezogen werden. Diese sind im „NRW-Maßnah-
meter) ist der Wasserverband Obere Lippe zuständig.          menprogramm zur Wasserrahmenrichtlinie“ allgemein
Die Koordinierung der Gewässerunterhaltungs- und             beschrieben. Da die Lippe in den Rhein mündet, wird sie
-umgestaltungsmaßnahmen entlang der Lippe liegt              in den jeweiligen Unterkapiteln für den Rhein behandelt.
daher beim NRW-Umweltministerium.                            Konkrete Einzelmaßnahmen finden sich in einem anderen
                                                             Dokument, im sogenannten „Umsetzungsfahrplan Lippe“,
Die Finanzierung dieser Maßnahmen erfolgt im Bereich         der – wie auch das Maßnahmenprogramm – in regelmä-
von der Mündung der Lippe in den Rhein bis zur Pader-        ßigem Abstand aktualisiert wird. Schließlich können alle
mündung vollständig durch die Landesverwaltung. Eine         Betroffenen ihre Anregungen und Wünsche im Genehmi-
Ausnahme bilden lediglich lokale Projekte, bei denen ein     gungsverfahren zu den konkreten Baumaßnahmen am
wesentlicher Finanzierungsanteil von 50 Prozent durch        Gewässer einbringen.
die Europäische Union im Rahmen des Förderinstruments
LIFE erbracht wird. Die restliche Hälfte übernehmen bei      Weitere Informationen finden sich auf:
den LIFE-Projekten das Land NRW und die lokalen Pro-         www.flussgebiete.nrw.de
jektpartner. Oberhalb der Einmündung der Pader bis zur

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Aktuelle Aktivitäten für NRWs Flüsse und Bäche:            LIFE-Projekte

     Das Programm „Lebendige Gewässer“ und die               Parallel zur Veröffentlichung der FFH-Richtlinie der
     Strategie „Hochwasserrisiken gemeinsam meistern“        EU wurde 1992 das Förderinstrument LIFE entwickelt.
     wurden erarbeitet, um in Nordrhein-Westfalen einen      Das Programm dient vor allem dem Schutz der Arten
     guten Gewässerzustand zu erreichen und die Risiken      und Lebensräume der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie
     durch Hochwasser zu reduzieren. Sie sind im Wesent-     (FFH-Richtlinie) und der EU-Vogelschutzrichtlinie.
     lichen auf die Wasserrahmenrichtlinie und die Hoch-
     wasserrisikomanagement-Richtlinie der Europäischen
     Union bezogen und bündeln die Aktivitäten des         An der Lippe werden seit 2005 zwei LIFE-Projekte umge-
     nordrhein-westfälischen Umweltministeriums, der       setzt, die voraussichtlich 2015 beendet sein werden. Sie
     Bezirksregierung, der Kommunen und Kreise sowie       betreffen das Lippeauengebiet zwischen Hamm-Heessen
     der Wasser- und Bodenverbände und sondergesetz-       und Hangfort im Kreis Soest. Innerhalb von neun Schwer-
     lichen Wasserverbände.                                punktbereichen werden hier für insgesamt 11,5 Millionen
                                                           Euro die Lippe und ihre Aue renaturiert.
     Allein im Programm „Lebendige Gewässer“ ist vor-
     gesehen, im Zeitraum von 2009 bis 2027 Renatu-        Im Einzelnen werden folgende Maßnahmen durchgeführt:
     rierungsmaßnahmen in einem Umfang von über            Der Lippelauf wird stellenweise verlängert, ein Umge-
     2 Milliarden Euro durchzuführen. Mit dem Geld         hungsgerinne als Fischaufstieg gebaut, Auwald entwickelt,
     werden die Träger der Maßnahmen, also Städte und      die Aue wiedervernässt sowie eine Reihe von Flutmulden
     Gemeinden, Wasser- und Bodenverbände und              sowie Flächen mit extensiv genutztem Grünland angelegt.
     sondergesetzliche Wasserverbände, durch das Land      Die Ufer der Lippe werden entfesselt. Dieses Projekt ist
     NRW finanziell unterstützt. Die Finanzierung des      ein Gemeinschaftswerk mehrerer Partner: Die Stadt
     Landesanteils bei den                                 Hamm zeichnet verantwortlich und führt das Projekt-
     Maßnahmen an der Lippe                                management aus, der Lippeverband die technische Pro-
     erfolgt ebenfalls aus diesen                          jektleitung. Weiterhin bringen der Kreis Warendorf und
     Mitteln.                                              die Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz
                                                           im Kreis Soest (ABU) ihre Arbeit in das Projekt ein. 50
                                                           Prozent der Gesamtkosten übernimmt die EU.

                                                           Die weiteren Kosten werden zum größten Teil durch das
                                                           Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft,
                                                           Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-
                                                           Westfalen, teilweise aber auch von den Projektpartnern
                                                           getragen.

                                                           01
                                                           Laufverlängerung der Lippe in der Westernmersch

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                                                           Planung der Renaturierungsmaßnahme: Rot ist der Altverlauf, blau ist
                                                           der geplante neue Verlauf gekennzeichnet.
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Ein Gewässer naturnah entwickeln

Flüsse gehörten für den Menschen in der Vergangenheit     Nutzungen hinzu. Der Fluss wurde eingezwängt, um
immer zur Infrastruktur, also zur nutzbaren Fläche. Und   Flächen für die Landwirtschaft gewinnen zu können.
so wurden sie auch behandelt. Bei einer Autobahn ist      Außerdem griff der Mensch ein, um die Siedlungsgebiete
klar, was das heißt: Sie wird stets den Anforderungen     vor Hochwasser zu schützen. Der Fluss bekam durch
entsprechend umgebaut. Das erkennt man nicht zuletzt      Deiche eine unnatürliche Begrenzung und wurde begra-
an den zahlreichen Baustellen und deren Auswirkungen      digt. Je stärker ein Gebiet durch Bergsenkungen betrof-
für den Berufs- oder Reiseverkehr. Gleiches geschah       fen war, desto höher mussten die Deiche ausfallen. Bis-
auch bei Flüssen – in Nordrhein-Westfalen bereits seit    her sich schlängelnde Flussverläufe wurden einfach
Jahrhunderten. Solche Baumaßnahmen sind gewisser-         durchstochen.
maßen auch eine „Entwicklung von Gewässern“, aber
eben nicht naturnah. Flüsse wurden häufig zu Transit-     Je gerader der Lauf, desto schneller fließt das Wasser
Routen entwickelt – gerade und schnell passierbar für     ab und desto weniger Fläche nimmt der Fluss insgesamt
den Transportverkehr. Oder sie wurden reine Nutz-Ge-      ein. Das war rein ökonomisches Kalkül und zunächst auch
biete – als Wasserlieferanten für die Industrie und für   gut für den Hochwasserschutz. Die Landwirtschaft erhielt
Schifffahrtskanäle, aber auch zum Transport von Abwas-    neue Flächen – inklusive Bewässerungsanlagen, die eben-
ser. Gerade im Bereich der Lippe kamen noch weitere       falls durch den Fluss gespeist wurden.

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                                                          Die Lippe wurde früher zur Flößwiesennutzung ausgebaut, hierzu begradigt
                                                          und nach Möglichkeit in Hochlage verlegt, vorne ein altes Flößwehr.

                                                          02
                                                          Gleicher Abschnitt wie im Bild 01 im Bereich Tallehof, aufgenommen direkt
                                                          nach der Fertigstellung der Renaturierungsmaßnahme am 21.12.2011

                                                          03
                                                          Gleicher Standort des Fotografen wie im Bild 02 im Bereich Tallehof,
                                                          aufgenommen am 05.06.2012

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                                                          Gleicher Standort des Fotografen wie im Bild 02 im Bereich Tallehof,
                                                          aufgenommen am 11.09.2014

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                                                          Gleicher Standort des Fotografen wie im Bild 02 im Bereich Tallehof,
                                                          aufgenommen am 14.02.2014
03
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Die naturnahe Entwicklung zeigt das Umdenken der heuti-
gen Gesellschaft. Einerseits haben viele Flüsse an Bedeu-
tung als Infrastruktur verloren. Eisenbahnen waren bei-
spielsweise in Westfalen irgendwann schneller und
günstiger als die nur kleinen Schiffe auf der Lippe. Auch der
aktive Bergbau wird im Bereich der Lippe in den nächsten
Jahren eingestellt. Andererseits haben viele Städte und
Gemeinden entdeckt, dass das Wasser und die Flüsse
Lebensqualität für die Orte bedeuten. Der Erholungswert
von Flüssen ist in der allgemeinen Wahrnehmung gestie-
gen. Stadtmenschen suchen das Naturerlebnis zuneh-
mend auch vor der eigenen Haustür und nicht in weit ent-
fernten Ländern. Das alles sind gute Gründe, den Flüssen
ein Stück „Wildnis“ zurückzugeben. Dafür gibt es verschie-
dene Arten von Maßnahmen, die an der Lippe geplant
sind und die hier kurz beschrieben werden.

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Aufnahme aus Richtung Norden vor der Renaturierungsmaßnahme.
Gut zu erkennen sind die alten Flößgräben, die zur Bewässerung und
zur Nährstoffversorgung der Flächen genutzt wurden. Die „alte“ Lippe
verläuft links im Bild zwischen den beiden Baumreihen.

02
Aufnahme aus Richtung Süden, nach Fertigstellung der Maßnahme
(gleiche Stelle wie in Bild 01 – nur entgegengesetzt). Der alte Verlauf
ist oben im Bild zu sehen. Verlegung der Lippe in das Taltiefste, kleines
Gerinne, sodass es regelmäßig zu Ausuferungen kommt. Deutlich zu
erkennen ist die Verzahnung mit der Aue.

                                                                            02

Ein neues „Auen-Land“

Im Mittelpunkt der Renaturierungsmaßnahmen steht                            Das zusätzliche Platzangebot hat zwei direkte Folgen:
die Wiederanbindung der Lippe an ihre Flussauen. Hier                       Durch die Auen entsteht zum einen ein neuer Lebensraum
kann der größte Beitrag zur Verbesserung des Gewässer-                      für Pflanzen und Tiere. Zum anderen bilden sich zusätz-
Lebensraums Lippe geleistet werden. Solche Maßnah-                          liche, natürliche Überschwemmungsflächen, das Wasser
men sind sehr platzintensiv und können deshalb nur dort                     hat einfach mehr Platz, um sich zu verteilen. Falls es also
durchgeführt werden, wo auch entsprechende Flächen                          durch den Klimawandel zu verstärkten Hochwassern kom-
für die Gewässerentwicklung zur Verfügung stehen. Ein                       men sollte, können deren Auswirkungen durch wieder
Fluss wie die Lippe ist erst mit seinen Auen ein funktio-                   angeschlossene Auen gemildert werden.
nierendes ökologisches Gesamtsystem. Die Auen sind
jedoch durch die Entwicklungen in der Vergangenheit                         Durch die historischen Entwicklungen sind es rund um die
weitgehend abgetrennt worden, die Auenflächen können                        Lippe vor allem Siedlungs- und Verkehrsflächen sowie
nur noch selten bei Hochwasser überflutet werden.                           landwirtschaftlich genutzte Bereiche, die das Zusam-
Durch die Wiederanbindung der Lippeauen ändert sich                         menspiel von Fluss und Aue beeinträchtigten. Die Reak-
das. Der Hochwasserschutz für Siedlungsbereiche bleibt                      tivierung der Auen stellt sich als ein komplexer Prozess
jedoch vollständig erhalten.                                                dar, der die Bedürfnisse unterschiedlichster Interessen
                                                                            berücksichtigen muss.
19                                                                                    Gewässer entwickeln – mehr Natur wagen

Der Umbau des Flusssystems beginnt daher mit vielen           An diesem soll sich die frei fließende Lippe anfangs ori-
Planungen und Gesprächen. Die Wünsche der Betroffe-           entieren. Die eventuell gefällten Bäume bleiben vielfach
nen sollen bereits in die Planung der Maßnahmen mitein-       als Totholz in dem neuen Flussabschnitt. So entstehen
fließen. Sofern landwirtschaftliche Flächen betroffen         neue Strukturen. Das ist später für die Pflanzen und Tiere
sind, sollen so weit wie möglich Ersatzflächen angeboten      wichtig und sichert die Wasserqualität. Als nächster
werden. Die Wiederanbindung der Lippeauen zeigt, wie          Schritt wird die „alte“, unnatürliche Lippe in dieses neu
viele Dinge bei der ökologischen Entwicklung der Lippe        entstandene Gebiet umgeleitet. Ab diesem Zeitpunkt wird
zu beachten sind – sowohl planerisch als auch baulich.        der Fluss sich selbst überlassen.

Sind alle planerischen Hürden genommen, so rollen bei         Für die Projektpartner beginnt nun das Beobachten,
der Wiederanbindung der Lippeauen häufig große Bag-           denn jede Maßnahme muss auch auf ihre Wirkung hin
ger an. Sie schaffen auf den Flächen, die ursprünglich        kontrolliert werden. In den Auenlandschaften verfolgen
einmal die Auen waren, die Voraussetzung dafür, dass das      die Landschaftsplaner daher zunächst den sich ständig
Fluss-Auen-System sich selbst finden kann. Dazu müssen        ändernden Flussverlauf und dessen Folgen. Besonders
allerdings erst die unnatürlichen Spuren beseitigt werden.    die Pflanzen- und Tierwelt wird in den sogenannten
Zunächst graben Bagger daher den Oberboden großflä-           „Monitorings“ über einen längeren Zeitraum beobachtet.
chig ab. Anschließend wird über große Einschnitte in der      Neben der Erfolgskontrolle helfen diese auch, Erfahrun-
Landschaft ein erstes sogenanntes Initialprofil geschaffen.   gen und Anregungen für neue Planungen zu erhalten.
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Den Fluss von seinen Fesseln befreien

Bis in die 1970er Jahre hinein wurden die Ufer der Lippe   Aber auch hier gestalten sich die Umbaumaßnahmen
befestigt – zunächst mit einem Geflecht aus Weiden-        sehr unterschiedlich und an manchen Orten aufwändig.
zweigen, später mit Steinschüttungen. Der Fluss wurde      Teilweise werden mit dem Bagger Inseln und Flachwas-
in ein Trapezprofil gezwängt, er wurde „normiert “ mit     serzonen, Steilwände und Buchten wiederhergestellt, die
nahezu überall gleichen Ufern, gleichen Tiefen und Brei-   auf kleinem Raum vielen unterschiedlichsten Lebewesen
ten. Für eine umfassende Renaturierung eines Flussab-      geeignete Lebensräume bieten. Jungfische können hier
schnitts benötigt man die umgebende Fläche, also die zu    im Schutz der reichen Unterwasservegetation der Flach-
dem Abschnitt gehörende Aue. Die zugehörigen Flächen       wasserzonen aufwachsen. Eisvögel und Uferschwalben
werden dazu oftmals durch den Maßnahmenträger, also        bauen ihre Bruthöhlen in Uferabbrüchen.
den Lippeverband, das Land NRW oder den Wasserver-
band Obere Lippe, gekauft. An manchen Stellen können       Eine große Herausforderung für eine naturnahe Entwick-
aber nur direkt am Fluss liegende kleine Grundstücke       lung ist die Tiefe des Flusses. Es reicht nicht allein, die
erworben werden. Hier konzentrieren sich die Planer dann   Lippe frei fließen zu lassen. Durch die seitlichen Befes-
auf die Uferbefestigung. An zahlreichen Stellen an der     tigungen und Begradigungen hat sich der Fluss immer
Lippe werden die Steinschüttungen entfernt. Nur so         tiefer in sein Flussbett geschnitten. Eigentlich variiert
erhält der Fluss die Chance, seiner natürlichen Dynamik    die Tiefe der Lippe nur zwischen 10 Zentimetern und 2
als Flachlandfluss mit zahlreichen Mäandern zu folgen.     Metern.

01
21                                                                                      Gewässer entwickeln – mehr Natur wagen

In manchen Gebieten erreichen die Wassertiefen inzwi-
schen aber bis zu 6 Meter. Flussnahe Deiche und Ufer-
wälle (Fachleute sprechen von „Verwallungen“), Erhe-
bungen entlang des Flusses, welche die Entstehung
regelmäßig überfluteter Auenbereiche behindern, ver-
schärfen diesen Zustand. Daher werden diese Erhebun-
gen an einigen Stellen durchbrochen, das Gelände dahin-
ter kann wieder häufiger überflutet werden. Der Fluss
wird langsamer und so können sich wieder verstärkt
Sand und andere Stoffe ablagern. An manchen Stellen
wird dieser Prozess durch die Einlagerung von Steinen
oder umgestürzten Bäumen unterstützt.

                                                          02

                                                          03

                                                          01
                                                          „Alter“ Lippeverlauf. Gut zu erkennen ist der begradigte Verlauf. Die
                                                          Uferbefestigung erfolgte erst durch Steinschüttung, die dann aber von
                                                          Erlen überwachsen wurde. Die Erlenwurzeln befestigen das Ufer aber
                                                          genauso stark wie angeschüttete Steine. Sehr gleichbleibende Uferlinie,
                                                          keine Veränderung in der Form der Gewässersohle wie auch beim
                                                          Sohlsubstrat.

                                                          02 + 03
                                                          Entfesselter Abschnitt der Lippe. Gut zu erkennen sind die ungleich-
                                                          mäßige Uferlinie, Aufladungen bis zur Inselbildung, unterschiedliche
                                                          Wassertiefen und verschiedene Sohlsubstrate.
22                                                                                  Gewässer entwickeln – mehr Natur wagen

Hindernisse umgehen und vermeiden

Weitere von Menschen gemachte Hindernisse im Fluss-          für die Umwelt sind Bergsenkungen – Absenkungen des
verlauf sind Wehre. Sie dienten der Regulierung des          Bodenniveaus aufgrund von unterirdischen Gesteins-
Wasserstands, konnten bei Hochwasser geöffnet werden         brüchen in ehemaligen Kohleflözen. In den Stadtgebieten
oder stauten den Fluss während trockenerer Zeiten. Im        Hamm, Bergkamen-Rünthe, Lünen, Haltern-Lipprams-
Jahr 2002 gab es noch 31 Wehre an der Lippe.                 dorf, Marl und Dorsten mussten daher in der Vergangen-
                                                             heit bereits besondere Hochwasserschutzdeiche errich-
Wehre sind für fast alle Fischarten und auch manche klei-    tet werden. Auf einer Länge von insgesamt 22 Kilometern
neren Wassertiere das größte Ärgernis im Fluss, denn         wurde die Lippe ein- oder beidseitig eingedeicht. Der
sie müssen zu unterschiedlichen Jahreszeiten wandern –       Lippedeich in Hamm-Herringen ist mit 17 Metern Höhe
entweder um geeignete Laich- oder Nahrungsgebiete zu         sogar der höchste Flussdeich Deutschlands.
erreichen oder um ruhige Winterlager zu finden. In man-
chen Orten ist es möglich, diese Wehre zu beseitigen. Dort   Die Auswirkungen des Bergbaus auf das Gesicht der
wo das nicht klappt, greift der Mensch ein und schafft       Landschaft ist also gewaltig. Schutzmaßnahmen für die
einen künstlichen Lauf um das Wehr herum. Diesen kön-        Siedlungen gegen Hochwasser gehören entsprechend
nen die Fische durch die Strömung erkennen und so das        zu den sogenannten „Ewigkeitskosten“ des Bergbaus an
Hindernis überwinden.                                        Ruhr, Emscher und Lippe. Die Maßnahmen zur Renatu-
                                                             rierung sind in diesen Abschnitten daher auch besonders
Eine weitere Herausforderung für das Lippe-Projekt ist der   planungsintensiv und kostspielig. Die Deiche in Haltern-
Bergbau: Schließlich durchfließt die Lippe eine der in der   Lippramsdorf und Marl beispielsweise werden zurück-
Vergangenheit bedeutendsten Bergbauregionen Europas.         verlegt, denn sie sind weiterhin notwendig. Dennoch wird
Tief unter der Erde wird in der Region selbst heute noch     wertvolles Land für die Lippeaue gewonnen.
Steinkohle abgebaut. Eine schlimme Folge des Bergbaus

01
23                                                                                         Gewässer entwickeln – mehr Natur wagen

Gewässer naturnah zu entwickeln, heißt für uns heute:        01
                                                             Lippe-Wehr Werne (am oberen Bildrand), rechts der Lippe-Hauptlauf,
dem Fluss helfen, sich selbst zu helfen. Die Lippe könnte
                                                             links der Fischaufstieg
sich über Jahrhunderte von ihren Uferfesseln auch selbst
befreien. Allerdings würde dies für viele Tiere und Pflan-   02
                                                             Dreistachlige Stichlinge kommen im Fluss selbst, aber auch in den
zen zu lange dauern. Daher ist die Renaturierung mit teil-   Gewässern der Aue vor.
weise großem Maschineneinsatz verbunden. Das soll die
naturnahe Entwicklung der Landschaft aber lediglich          03
                                                             Alte Steinschüttungen an der Lippe bei Haltern. Die Uferbefestigungen,
anstoßen. Neue Buchten und Tümpel, die Entfernung            die meist aus den 1960er und 1970er Jahren stammen, werden vom
von Befestigungen, Dämmen, Uferdeichen und Wallanla-         Lippeverband im Rahmen des Lippeauenprogramms Zug um Zug ent-
                                                             fernt und oft vor Ort zur Anhebung der Gewässersohle verwendet.
gen an der Lippe erlauben eine natürliche Überflutung
der Landschaft und fördern die Verbindung von Fluss
und Aue. Dadurch wird sich die Flusslandschaft ständig
wandeln und weiterentwickeln. Und genau das ist aus-
drücklich erwünscht.

                                                             02

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Flora, Fauna, Mensch – „Nutzungskonflikte“

In Nordrhein-Westfalen wird das Spannungsfeld zwischen
Natur und Mensch an vielen Orten sehr deutlich. Das
bevölkerungsreichste und durch Industrie stark geprägte
Bundesland sieht sich ganz besonderen Herausforderun-
gen bei seinen Anstrengungen für den Schutz von Umwelt
und Natur gegenüber.                                       An der Lippe stehen die folgenden Fragen im Raum:

     Bürgerinnen und Bürger:                               Naturschutz:
     n Wieso darf ich hier nicht baden?                    n Wo können wir noch weitere Schutzgebiete
     n Warum kann ich meinen Spaziergang nicht mehr          errichten?
        auf der gewohnten Strecke machen?                  n Welche Tiere und Pflanzen sind weiterhin bedroht?
     n Wieso können wir das Wasser nicht uneingeschränkt
        mit dem Kanu erkunden?                             (Land-)Wirtschaft:
     n Wie werde ich weiterhin vor Hochwasser geschützt?   n  Was ist, wenn Überschwemmungen meine Ernte
     n Muss ich jetzt mit Einschränkungen beim Angeln         bedrohen?
        rechnen?                                           n Muss ich Nutzfläche abgeben?
                                                           n Wie kann ich meine Ackerfläche künftig bewässern?
                                                           n Wie kann ich weiterhin Kühlwasser einleiten?
                                                           n Wie kann ich meine Wasserkraftanlage weiter
                                                              betreiben?
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Für die Renaturierung wird daher versucht, besonders      Daher werden auch in den nächsten Jahren viele Gesprä-
ausgewogene Pläne zu erstellen. In den letzten Jahren     che und Aktionen erforderlich sein, um Kompromisse zu
wurden sogenannte Umsetzungsfahrpläne erarbeitet. In      finden, wie einerseits die Lippe ökologisch entwickelt
diesen wurden die Belange der betroffenen Gruppen so      werden kann, aber andererseits Nutzungen – eventuell
weit wie möglich berücksichtigt, und es wird schon weit   modifiziert – weiterhin möglich bleiben. Wir können, was
vor eventuellen Eingriffen um Kompromisse gerungen.       die Konfliktlösung und die Erarbeitung von Kompromis-
Die Umsetzungsfahrpläne werden in den nächsten Jah-       sen angeht, bereits auf Erfahrungen der letzten Jahre
ren aktualisiert.                                         bauen. Im nächsten Abschnitt ist bei den beschriebenen
                                                          Maßnahmenbeispielen auch aufgezeigt, wie solche
Größere Umgestaltungsmaßnahmen an der Lippe können        Lösungen aussehen können.
nur durch separate Genehmigungen erlaubt werden. Im
Rahmen der Genehmigungsverfahren besteht für die
Betroffenen auf dem Wege einer Bürgerbeteiligung die
Möglichkeit, Bedenken und Änderungswünsche zu
äußern. Diese müssen dann durch die Genehmigungs-
behörde (in der Regel die zuständige Bezirksregierung)
bei ihrer Abwägung der Genehmigungsentscheidung
berücksichtigt werden. Besser ist es aber sicherlich,
mögliche Konflikte bereits im Vorfeld von Genehmigungs-
verfahren zu besprechen.

Geführte Kanutour auf der Lippe bei Hamm
26                                                                                        Gewässer entwickeln – mehr Natur wagen

Lösung von Konflikten: „Viele Partner im Boot“

01

Aufgrund der früheren Erbteilung ist die Besitzstruktur      Auch die Stadt Lippstadt steuerte ein Grundstück bei,
von landwirtschaftlich genutzten Flächen in der Region       um zunächst rund 130 Hektar der Klostermersch als
rund um Lippstadt sehr kleinteilig. Zwar gab es zahlrei-     zusammenhängendes Naturschutzgebiet auszuzeich-
che tauschwillige Landwirte, die ihre bisher am Wasser       nen. Für die Hellinghäuser Mersch erwarb die NRW-Stif-
gelegenen Flächen zugunsten des Naturschutzes abge-          tung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege Flächen, die
ben wollten. Dies waren häufig aber nur sehr kleine Flur-    von der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz
stücke. Daher haben sich viele Partner beteiligt, um viele   im Kreis Soest (ABU) betreut werden. Weitere Flächen
Flächen zu erwerben: Der Landschaftsverband Westfalen        konnten durch die Stadt Lippstadt und das Land NRW
Lippe stellte den Kreisen Soest und Warendorf eine           angekauft werden. Für die Landwirte gab es neue Pacht-
zusammenhängende Fläche in der Klostermersch für             verträge für Ersatzflächen.
Naturschutzmaßnahmen zur Verfügung. Das Amt für
Agrarordnung Soest (heute Bezirksregierung Arnsberg)
kaufte weitere Flächen – im Auftrag des Staatlichen
Umweltamtes Lippstadt (heute Bezirksregierung Arns-
berg).

                                                             01
                                                             Lippe bei Lippstadt-Hellinghausen

                                                             02
                                                             Die gesamten Flächen im Bereich der Renaturierung sind eingezäunt.
                                                             Eine Begehung erfolgt nur durch öffentliche Führungen bzw. nach
                                                             Voranmeldung für Besuchergruppen. Da die Flächen um die Lippe unter
                                                             Naturschutz gestellt wurden, besteht dort ein Betretungsverbot.
27                                                                                   Gewässer entwickeln – mehr Natur wagen

Lösung von Konflikten: „Der Mensch im Naturschutzgebiet“

02

Die Renaturierung der Lippe geht einher mit der Auswei-      Um den Menschen die neue Natur zu zeigen, bietet der
sung neuer Naturschutzgebiete. Das steht in einigen          Arbeitskreis Biologischer Umweltschutz im Kreis Soest
Bereichen in Konflikt mit den Gewohnheiten der Bevölke-      (ABU) jetzt auch geführte Exkursionen durch das Gebiet.
rung. In der wiederbelebten Lippeauen-Landschaft im          Dabei lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sogar
Kreis Soest beispielsweise gehören zum Szenario des          die Unterwasserwelt kennen: Rund 30 Fischarten besie-
Urzustands auch große Huftiere, die die Auen früher          deln wieder den Fluss, darunter Neunstachlige Stichlinge,
prägten, als der Mensch ihnen noch nicht seinen Stempel      Hechte und Rotfedern. Ein Nutzungskonflikt besteht
aufgedrückt hatte. Die großen Pflanzenfresser traten         allerdings noch: Kanufahrern ist häufig nicht bewusst,
meist in Herden auf und hielten Teile der Flächen wald-      welchen Schaden sie anrichten, wenn sie auf einer Sand-
frei, worauf wiederum andere Tiere und Pflanzen ange-        bank lagern und ein Feuer machen. Sie verdrängen damit
wiesen sind.                                                 beispielsweise den zurückgekehrten Eisvogel, der an der
                                                             Uferböschung nistet und in solchen Fällen seine Brut auf-
Für die Renaturierung der Auen arbeiten hier jetzt ersatz-   gibt. Um auch Kanufahrern die neue Situation besser zu
weise die robusten Taurusrinder und die vom Wildpferd        erklären, sollen spezielle Naturbildungsangebote für
abstammenden Koniks. Spaziergängerinnen und Spazier-         diese Zielgruppe entwickelt werden.
gänge müssen nun entsprechend Rücksicht nehmen.
Hunde müssen an die Leine. Auch sind einige Wege in-
folge der notwendigen Umzäunung nun nicht mehr für den
Menschen nutzbar. Insgesamt überwiegt mittlerweile
doch die Zustimmung für das neue Naturschauspiel, das
auch von Aussichtsplattformen gut zu beobachten ist:
Uferschwalben, die in den 1970er Jahren verschwunden
waren, brüten wieder in der Region. Der Eisvogel kehrte
ebenso zurück wie der Weißstorch, der über 50 Jahre
lang nicht mehr beim Brüten an der Lippe gesichtet
wurde.
29

Mehr Raum für Fluss, Pflanze und Tier –
Meilensteine der bisherigen Maßnahmen

Beispiele von der Quelle bis zur Mündung
30                                                                                     Mehr Raum für Fluss, Pflanze und Tier

Der Tallehof

Der Tallehof markiert eine historische Ackerfläche nord-    Die für die Maßnahme gefällten Bäume blieben in einigen
östlich von Paderborn. Bereits 1830 wurde hier der natür-   Fällen als Totholz in dem neuen Flussabschnitt. Als im
liche Flusslauf der Lippe verändert. Zur Gewinnung von      Dezember 2011 der ehemalige, schnurgerade Verlauf der
Nutzflächen für die Landwirtschaft wurde der Fluss          Lippe abgetrennt wurde, begann sich der Fluss wieder zu
begradigt, befestigt und an den Rand seiner Aue verlegt.    schlängeln und seine Aue zurückzuerobern. Die Fische
Wehranlagen zur Speisung der Wiesenbewässerung unter-       aus dem Altverlauf wurden abgefischt und an anderer
brachen die Durchgängigkeit für die Tierwelt.               Stelle wieder in die Lippe eingesetzt. Über die nächsten
                                                            Jahre suchte sich die Lippe immer wieder neue Wege. Die
Seit September 2011 arbeitete der Wasserverband Obere       ökologische Einheit ist wieder hergestellt. Das beweisen
Lippe (WOL) daran, der Lippe ein naturnahes, gewunde-       unter anderem die zahlreichen Tiere, die diesen natürli-
nes Flussbett zurückzugeben. Gefördert wurde die Maß-       chen Raum neu beleben. In dem Naturschutzgebiet kom-
nahme durch das Land NRW (Bezirksregierung Detmold).        men Schwarz- und Weißstörche vor. Der Eisvogel hat hier
Auf einer Fläche von rund 6 Hektar wurde zunächst der       eine perfekte Heimat. Fische wie die Äsche und die
Oberboden abgetragen und ein flaches, nur knapp 8 Meter     Koppe nutzen die kiesige Flusssohle als Laichplatz. Auch
breites sogenanntes Initialgerinne ausgehoben. Aus die-     die Dreistachligen Stichlinge profitieren von den reichen
sem begann die frei fließende Lippe, sich ein eigenes von   Beständen an Unterwasserpflanzen.
Kies- und Sandflächen geprägtes Flussbett zu gestalten.
31

Und der Hochwasserschutz profitiert ebenfalls: Neben      Daten
der Aue selbst, die mehr Wasser zurückhalten kann, wird
                                                          Länge der Lippe vorher: 950 Meter
aus dem Gebiet auch Hochwasser in die Talleseen abge-
leitet. Diese ehemaligen Kiesgruben dienen als Hochwas-   Länge der neuen Lippe: 1.900 Meter
serrückhaltebecken für Wassermassen bis zu 500.000
                                                          Breite der neuen Lippe: 3 bis 22 Meter
Kubikmeter und schützen somit den Paderborner Orts-
teil Schloss Neuhaus vor Überflutungen.                   Kosten:                          ca. 1 Million Euro (gemeinsam
                                                                                           mit einer weiteren Renaturie-
Weitere Informationen und aktuelle Entwicklung:                                            rungsmaßnahme an der
www.wol.biz                                                                                Mündung der Beke)

                                                          Förderung Land NRW:              80 Prozent

                                                          Luftaufnahme Jetztzustand
                                                          Das Luftbild zeigt bereits 3 Monate nach Fertigstellung des neuen
                                                          Flussabschnittes die große Kraft, mit der die Lippe ihr Bett umgestaltet.

             Tallehof

                                                                             neuer Lippeverlauf

                alter Lippeverlauf
32                                                                                       Mehr Raum für Fluss, Pflanze und Tier

Lippesee-Umflut

01

Eine besonders aufwändige Aufgabe stellte sich am            Zwischen August 2000 und September 2003 begannen
Lippesee bei Paderborn. Ein hoher Aufwand waren die          die Arbeiten in den unterschiedlichen Bauabschnitten.
Baumaßnahmen zur Schaffung einer Umflut, aber auch           Ein in den See geschütteter Felsdamm begrenzt den
die Sensibilisierung für das Projekt. Bei der Planung für    Bereich, in dem später die Lippe die frühere Kiesgrube
diese intensiv genutzte Region wurden hohe Anforderun-       umfließen sollte. Im Jahr 2003 wurden zunächst die süd-
gen an alle Beteiligten gestellt, um die unterschiedlichen   lichen Teile gestaltet. Die übrigen Flächen mit kiesigem
Belange zu berücksichtigen. Rechtskräftige Abgrabungs-       Sandboden begrünten sich sehr schnell selbst. Durch die
genehmigungen, festgelegte Nutzungen als Freizeitbe-         Umflut ist ein eigenes Lippe-Flussbett um den See herum
reiche und Naturschutzzonen, Eigentumsrechte, Gewäs-         entstanden, das sich auch weiterhin frei entwickeln kann.
serentwicklungserfordernisse: All diese Ansprüche galt
es gegeneinander und miteinander abzuwägen. Nach             Die Lippesee-Umflut ist das bisher größte Einzelprojekt bei
anfänglicher Ablehnung konnte im Lauf der Zeit eine          der ökologischen Entwicklung der Lippe. Sie war beson-
breite Unterstützung für das Projekt gewonnen werden.        ders wichtig, da die Lippe hier auf ein großes unnatürliches
                                                             Hindernis traf: Durch den See „verlor“ der Fluss die bis
Heute wird die Lippe als durchgängiger Fluss um den See      dahin mitgeführten Sedimente. Sand und Kies blieben
herumgeleitet. Auf einer Länge von 2,6 Kilometern ist mit    durch den Stau im See liegen. Außerdem verbreiteten sich
einer strukturreichen Aue die Verbindung der Flussteile      im See Algen. Das war schlecht für die Gewässergüte –
ober- und unterhalb des Freizeitsees wieder hergestellt.     sowohl im See selbst als auch für die weiterfließende Lippe.
33

                                                                  01
                                                                  In einer „Ersatzaue“ fließt die Lippe wieder getrennt vom Baggersee.

                                                                  02
                                                                  Eröffnung der Lippesee-Umgehung

                                                                  02

Der Lippesee unterbrach aber auch den Wanderweg vie-              Daten
ler Fische. Seit 2005 werden die Erfolge beobachtet und
                                                                  Baubeginn:                                    August 2000
dokumentiert. Neben deutlich klarerem Wasser im See
wurde vor allem in der neuen Lippeaue ein neues Niveau            Länge der Umleitungsstrecke:                  2,6 Kilometer
an Wasserqualität im Sinne eines naturnahen Gewässers
                                                                  Länge der Initialgestaltung
erzielt. Das beflügelte die Artenvielfalt vor Ort – eine kleine
                                                                  des Gerinnes:                                 2,9 Kilometer
Wildnis direkt neben dem Badevergnügen.
                                                                  Breite der Umfluttrasse:                      60 Meter
Datenfluss: Hightech für den neuen Fluss
                                                                                                                ca. 9,5 Millionen
                                                                  Kosten:
                                                                                                                Euro
     Bei dem Großprojekt „Lippesee-Umflut“ waren
     viele Partner beteiligt, die einen reibungsfreien
     Informationsfluss benötigten. Daher setzten die
     Planer von Beginn an moderne Satelliten- und Com-
     putertechnik ein. Mittels 3-D-Modellen und GPS-
     Daten konnte die Planung exakt umgesetzt werden.
     Auch heute noch wird über Luftbildaufnahmen
     regelmäßig die Entwicklung vor Ort dokumentiert.
34                                                                                               Mehr Raum für Fluss, Pflanze und Tier

Klostermersch, Hellinghauser Mersch, Westernmersch

Die „Mersche“ westlich von Lippstadt bildeten eines der                negative Wirkung: Wenn das Wehr bei Hochwasser geöff-
ehrgeizigsten Projekte der vergangenen Jahre. Der Name                 net wurde, floss das Wasser besonders schnell ab, sodass
deutet schon auf das Wort „Marsch“ hin, also ein Über-                 sich die Lippe enorm tief in das Flussbett einschnitt.
schwemmungsgebiet. Außerhalb der großen Marsch-                        Außerdem ist ein Wehr ein unüberwindbares Hindernis
landschaften in Norddeutschland ist der eindeutigere                   für wandernde Fische.
Begriff für solche Naturräume aber „Aue“. Auf einer Länge
von insgesamt 13 Kilometern ist der Lippe ein natürlicher              Der Zusammenführung der beiden getrennten Lippeteile,
Landschaftsraum zurückgegeben worden, der nun durch                    also des Flusses und der Aue, ging eine umfangreiche
die Dynamik wechselnder Wasserstände geprägt wird.                     Planung voraus. Die natürliche Breite des Flusses wurde
1996 begann die Renaturierung in der Klostermersch auf                 nach einer wissenschaftlichen Methode auf durchschnitt-
einer Länge von 2 Kilometern. Zwischen 2005 und 2010                   lich 30 Meter geschätzt. Durch einen neu angelegten
kam flussaufwärts die Hellinghauser Mersch hinzu. 2012                 Graben wurde die Lippe tatsächlich sogar auf 45 Meter
ergänzte die Westernmersch flussabwärts das Gebiet.                    verbreitert und die Flusssohle um 2 Meter erhöht.

Vor den Maßnahmen war hier eine vom Fluss abgetrennte,                 Nach insgesamt knapp 20 Jahren und Investitionen von
landwirtschaftlich genutzte Aue. Die Lippe wurde in den                fast 9 Millionen Euro sind die Ergebnisse ein großer
zurückliegenden Jahrhunderten stetig vertieft und be-                  Erfolg. Von dem deutlich vielfältigeren Vorkommen von
gradigt. Die Ufer waren mit Steinschüttungen befestigt,                Wasserpflanzen profitieren kleine wirbellose Tierarten
und ein Wehr bei Benninghausen regulierte den Wasser-                  wie Schnecken, Muscheln, Würmer, Mückenlarven und
stand. Letzteres hatte für den Fluss eine besonders                    Libellen. Fische haben auf die Veränderungen ebenfalls

01
Klostermersch nach der Umgestaltung

02
Auf dem begradigten Flussabschnitt westlich und östlich der Gieseler
entstanden zwei neue Lippeschleifen. Die alten, schmalen Flussab-
schnitte wurden nicht verfüllt, sondern verbleiben als mit dem Fluss
verbundene „Alt“-Arme.

03
Altarm der Westernmersch vor der Umgestaltung mit Hochwasser

01
35

sehr positiv reagiert: Quappen, Hechte und selbst Stein-     Daten
beißer vermehren sich deutlich stärker als zuvor. Auch die
                                                             Klostermersch
Vogelwelt hat gewonnen: Eisvögel, Uferschwalben und
Störche haben eine neue Heimat gefunden. In den Natur-       Fläche:                  ca. 130 Hektar
schutzgebieten gibt es auch wieder Biber, die fast 200
                                                             Länge des umgestalteten
Jahre lang in NRW ausgestorben waren.
                                                             Abschnitts:             ca. 2 Kilometer

Die umgesetzten Maßnahmen                                    Flächeneigentümer:       Land NRW, Stadt Lippstadt,
                                                                                      Privatpersonen

  n   Entfernung der starren Uferbefestigungen               Kosten:                  ca. 2 Millionen Euro
  n   Eintrag fehlenden Substrats, Erhöhung der
      Flusssohle                                             Hellinghauser Mersch
  n   Laufverlängerung in begradigten Flussabschnitten
                                                             Fläche:                  ca. 300 Hektar
  n   Entfernen der Stauwirkung des Wehres
      Benninghausen                                          Länge des umgestalteten
  n   Entfernen oder Öffnen der Uferverwallungen             Abschnitts:             ca. 8,5 Kilometer
  n   Ergänzen und Aktivieren der Rinnensysteme
                                                             Flächeneigentümer:       NRW-Stiftung Naturschutz,
  n   Einbringen von Totholz
                                                                                      Heimat- und Kulturpflege,
  n   Lenkung von Freizeitaktivitäten
                                                                                      Land NRW
  n   Verbesserung des Hochwasserschutzes
      außerhalb der Aue                                      Kosten:                  ca. 4,5 Millionen Euro

                                                             Westernmersch

                                                             Fläche:                  ca. 70 Hektar

                                                             Länge des umgestalteten
                                                             Abschnitts:             ca. 2,5 Kilometer

                                                             Flächeneigentümer:       Land NRW

                                                             Kosten:                  ca. 2,2 Millionen Euro

02                                                           03
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