Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz

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Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz
Didaktik der Physik
                                                                       Frühjahrstagung Regensburg 2007

          Lesen im Buch der Natur – Zur Entwicklung einer phänomeno-
                            logischen Lesekompetenz
                                              Johannes Grebe-Ellis

                     Institut für Physik, Didaktik der Physik, Humboldt-Universität zu Berlin,
                                             grebe@physik.hu-berlin.de

          Kurzfassung
          Die für die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft vielleicht folgenreichste Antwort
          auf die alte Frage «Was ist und wie vollzieht sich Naturerkenntnis?» stammt von GALILEI und
          ist verbunden mit der Metapher vom «Lesen im Buch der Natur». Wer in diesem Buch lesen
          will, so GALILEI, der muss die Sprache der Mathematik erlernen, denn Mathematik ist die
          Schrift, in welcher das Buch der Natur geschrieben ist. Es soll zunächst der Stil naturwissen-
          schaftlicher Erkenntnis charakterisiert werden, für die das genannte Diktum GALILEIS zum Pa-
          radigma wurde. Besondere Berücksichtigung findet dabei die Frage nach der Rolle des physi-
          kalischen Experiments. Die Metapher vom «Lesen im Buch der Natur» hat in der Geschichte
          der Naturwissenschaft noch andere Deutungen erfahren. Eine dieser Deutungen, die sich von
          derjenigen GALILEIS wesentlich unterscheidet, findet man in der naturwissenschaftlichen Me-
          thode GOETHES. Die Bedeutung der Mathematik und damit der Charakter der Naturerkenntnis
          und die Rolle des Experiments ist hier indessen eine andere. Diese andere Art des «Lesens von
          Phänomenen» wird dem Paradigma GALILEIS gegenüber gestellt und es wird anfänglich disku-
          tiert, inwiefern das «Lesen im Buch der Natur» nach GOETHE für den Kontext von Physikun-
          terricht eine methodische Alternative darstellen kann.

1. Einleitung: Das Thesenpapier der DPG                    Ja was denn sonst? möchte man fragen und fühlt
Das Thesenpapier der DPG «für ein modernes Lehr-           sich vielleicht an die Kritik erinnert, die sich WA-
amtsstudiums im Fach Physik» ist inzwischen an-            GENSCHEIN gefallen lassen musste, nachdem deut-
derthalb Jahre alt [1]. Es hat jedoch in wesentlichen      lich geworden war, dass die Beschwörung der «pä-
Punkten nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Das        dagogischen Dimension der Physik» nicht den er-
liegt m. E. vor allem an der erfrischenden Klarheit        hofften Erfolg gebracht hatte ([2], S. 89). WAGEN-
und Radikalität, mit der einerseits Mängel bestehen-       SCHEIN hat sich – so könnte man aus der Sicht der
der Auffassungen und daraus hervorgegangener               Thesen-Autoren paraphrasierend sagen – um die
Strukturen gekennzeichnet werden, andererseits Ge-         pädagogische Dimension der Physik bemüht; er hat
sichtspunkte zum Umdenken und Impulse zur Um-              dabei aber ihre «unpädagogische Dimension» über-
gestaltung bestehender Verhältnisse gegeben wer-           sehen oder zumindest unterschätzt. Worin besteht
den.                                                       sie?
Sieht man sich das Papier genauer hinsichtlich der
Gesichtspunkte an, die nach der Auffassung der Au-         1.1 Die «unpädagogische Dimension» der Physik
toren in zukünftigen Konzeptionen von Physik-              Dass mit eklatantem Interessenverlust und sprich-
unterricht eine stärkere Rolle spielen sollen und de-      wörtlicher Unbeliebtheit nicht nur schlechter Unter-
ren Berücksichtigung deshalb bei einer Neuge-              richt und unausgereifte didaktische Konzepte abge-
staltung der Lehramtsbildung als Studium sui gene-         straft werden, sondern dass es möglicherweise der
ris gefordert wird, so erlebt man – als Physiker –         Physik als exakter Naturwissenschaft konzeptionell
eine Überraschung: Einer der folgenreichsten Män-          immanente, paradigmatische Momente sind, die den
gel der bisherigen Ausbildungsform und in der Folge        Einbruch an Interesse im Physikunterricht nicht nur
auch des Physikunterrichts im Allgemeinen wird             nicht verhindern, sondern hervorrufen, ist verschie-
darin gesehen, dass die Curricula in Hochschule und        dentlich bemerkt und u.a. als «Reduktionismus-
Schule letztlich immer noch die fachinhaltliche und        problem» bezeichnet worden ([2], S. 110,148ff; [3],
methodologische Struktur der Physik als Wissen-            S. 23f). Den Kern dieses Problems könnte man als
schaft abbilden und sich fachdidaktische Konzeptio-        didaktischen Vorwurf folgendermaßen zuspitzen:
nen darauf beschränken, zwischen der Physik und            Weshalb sollten sich Schülerinnen und Schüler für
dem Alltag der Schüler Brücken zu bauen.                   einen (physikalischen) Weltzugang interessieren,
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wenn die Sicherheit und Tragfähigkeit der (physi-               duktionistischer, antimetaphysischer bzw. «phäno-
kalischen) Erkenntnisse, die diesen Zugang bilden,              menologischer» Naturwissenschaft ist immer wieder
darauf beruht, dass sie, diese Schülerinnen und                 GOETHE bezeichnet worden und es gibt durchaus
Schüler, als erkennende und erlebende Subjekte in               bewährte Versuche im Kontext der Physikdidaktik,
dieser Welt nicht vorkommen?1 Zuspitzungen sol-                 mit der Methodologie GOETHES neben der Farben-
cher Art sind mit Bedacht einzusetzen, wenn der                 lehre auch andere Phänomenbereiche der Optik bzw.
Vorwurf des Reduktionismus nicht auf sie zurück-                der Physik zu erschließen ([6],[3]). Die Erfahrung
fallen soll. Sie können aber verdeutlichen, dass                zeigt, dass es gerade von Lehramtsstudierenden als
grundsätzlicher darüber nachgedacht werden muss,                besonders wertvoll weil praxisrelevant erlebt wird,
wodurch ein erkennender, erlebender und handeln-                wenn die Farbenphysik einmal im Sinne GOETHES
der Zugang zu Natur für die Entwicklung von He-                 vom Phänomen her und mit praktischen Experimen-
ranwachsenden einen bildenden Wert haben könnte.                tierübungen begonnen wird, anstatt das Interesse an
Auf Überlegungen solcher Art – so lese ich das The-             Farbe als einem universellen Phänomen von vorn-
senpapier der DPG – kommt es den Autoren des                    herein auf das dürre Modell der Lichtzerlegung am
Papiers aber gerade an, wenn sie eine «ganzheitlich-            Prisma konvergieren zu lassen.
phänomenorientierte» Vorgehensweise im Unter-
richt fordern (These 2), weil diese gestattet, stärker          1.3 Ist «Goethephysik» objektiv?
an den Erfahrungskontext der Schüler anzuschließen              Die Sorge des Physikers, die sich gegenüber der
und isolierte physikalische Effekte ausgehend von               Frage nach einer «den Menschen einbeziehenden
Phänomenkomplexen zu erarbeiten, die typischer-                 Physik» hinsichtlich der Objektivität des Wissens
weise die traditionellen Grenzen einzelner Fachbe-              und der Anschlussfähigkeit der Erkenntnisse geltend
reiche übergreifen. Damit wird letztlich nach einem             macht, ist verständlich, sie hat prominente Vor-
Typus von Naturzugang gefragt, der nicht wie bisher             bilder, beispielsweise in den Vorbehalten PLANCKS
aus einer didaktisch apostrophierten Reduzierung                gegenüber dem Positivismus MACHS ([7]; S. 126;
fachsystematisch strukturierter Inhalte und for-                [4], S. 51ff), sie kann aber, wie in grundlegenden
schungsorientierter Methoden hervorgeht, sondern                Darstellungen zu phänomenologischen Wissen-
der an den alterspezifischen Lern- und Wissens-                 schaftsansätzen umfänglich geschehen, entkräftet
voraussetzungen von Schülern anknüpft und einem                 werden (s. z.B. [8], S. 123ff). Eine Vertiefung phä-
übergeordneten Verständnis von der allgemein-                   nomenologischer Betrachtung ist eben doch weit
bildenden Bedeutung naturwissenschaftlicher Er-                 mehr als nur «subjektive Wertschätzung schöner
kenntnisgewinnung Rechnung tragen soll. Was heißt               Phänomene». BUCK und VON MACKENSEN nennen
das?                                                            als Kompetenzen phänomenologischer Erkenntnis-
                                                                gewinnung z.B. Gliedern, Vergleichen, Entsprech-
1.2 Phänomenologische Naturwissenschaft                         ungen klären, Anordnen, Beziehungen finden, Phä-
Die Phänomene der Natur wären sozusagen von                     nomene reihen, Experimente abwandeln, Ent-
Grund auf aus Perspektiven und in Urteilsformen zu              wicklungen erfassen, Abhängigkeiten, Bedingungen
erschließen, die deshalb das Verstehen von Phäno-               und Funktionszusammenhänge allgemein aussprech-
menen fördern, weil sie die Diversität personaler               en ([5], S. 23).
Erlebnis- und Wissensformen, d.h. die individuelle              Der um Objektivität besorgte Physiker muss viel-
Perspektive des Fragenden und damit seine sinnliche             mehr gefragt werden dürfen, ob seine Vorbehalte
und vernünftige Begabung nicht unterdrücken, wie                nicht viel eher die oftmals über die Grenze der fach-
es das reduktionistische Paradigma verlangt, sondern            lichen Richtigkeit hinaus «zugrundeelementari-
gerade voraussetzen. Damit ist nicht gemeint, ein               sierten» Darstellungen von Physik betrifft, die sich
unreflektiert bleibendes Naturerleben zu steigern; es           in vielen Schulbüchern finden? – die genannte Licht-
geht vielmehr darum, Denkformen und Darstel-                    zerlegung am Prisma ist dafür ein gutes Beispiel.
lungsweisen für Phänomenzusammenhänge zu ent-
wickeln, die pädagogisch relevant und begründet                 Physiklehrer sollten sich fragen können, von was für
sind und im Sinne BUCKS und VON MACKENSENS                      einer Physik sie im Unterricht erzählen wollen. Es
phänomenologisch genannt werden können [5] Als                  sollte ihnen gestattet sein, die Schönheit und Ver-
Repräsentant eines solchen Typus´ nicht-re-                     letzlichkeit der Natur, die Eigenart und Rätsel-
                                                                haftigkeit ihrer Gesten, das Ehrfurchtgebietende des
 1                                                              Beständigen im Wechsel von Phänomenen im Un-
   Dass die so genannte Entanthropomorphisierung der            terricht exemplarisch aufleben zu lassen – und dies
 naturwissenschaftlichen Beschreibung und Urteilsbil-           nicht etwa nur wieder als «Schonprogramm für
 dung nicht ungewollte Begleiterscheinung, sondern er-          Zartbesaitete», sondern weil in den genannten Ei-
 klärtes Ziel der nach Vereinheitlichung strebenden exak-       genschaften pädagogisch zentrale Aspekte mensch-
 ten Naturwissenschaft war, kann man den philosophi-            licher Identitätsbildung identifiziert werden können.
 schen Reflexionen entnehmen, mit denen die Physiker            Naturwissenschaft besteht nicht per se aus Unter-
 des 20. Jahrhunderts Rechenschaft über die Einseitigkeit       werfungsroutinen. Sie kann Begegnung des Men-
 ihres Erkenntnisstrebens ablegten, vgl. z.B. ([4], S. 51ff).   schen mit sich selbst sein. Die so oft gestellte und zu
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Unrecht leicht übergangene Frage «was hat das mit      scheinende, sondern nur denkbare Welt geistiger
mir zu tun?» könnte sich erübrigen, wenn Schülerin-    Urbilder zu beziehen, ist eine der zentralen Denkfi-
nen und Schüler – wohlgemerkt in einem pädago-         guren in der Ideenlehre PLATONS. Der Bezug auf
gisch vertieften, differenzierten Sinne – nach sich    PLATON durchzieht das Werk GALILEIS bis hinein in
selbst fragen können, indem sie nach Phänomenen        die dialogische Form seiner wissenschaftlichen Ab-
und Naturzusammenhängen fragen.                        handlungen. HEISENBERG, der bekanntermaßen seine
Die Voraussetzungen für die Gestaltung eines so        erkenntnistheoretische Deutung der Quantentheorie
oder ähnlich orientierten Physikunterrichts sind aus   auf die Ideenlehre Platon abzustützen versuchte und
den genannten Gründen allerdings nicht vorhanden;      sich selbst in der Tradition «platonischer Naturwis-
der Anstoß für ihre Entwicklung durch eine ent-        senschaft» sah, hat darüber hinaus darauf aufmerk-
sprechende Neugestaltung der Lehramtsausbildung        sam gemacht, dass GALILEI, auch wenn man ihn
scheint mir aber mit den Thesen der DPG zumindest      immer wieder als den Erfinder des physikalischen
ansatzweise gegeben zu sein. Das, was an dem dort      Experiments bezeichnete, eigentlich Theoretiker war
geforderten Lehramtstudium «sui generis» bzw.          [11]. Sein Ansatz, so HEISENBERG, war insofern ein
«modern» sein soll, wird m. E. nur verständlich,       abstrakter, als er die Natur genau genommen nicht
wenn man einen ursprünglich menschlichen und das       anschaute, wie sie im Phänomen erscheint, sondern
heißt einen in altersspezifischen Urteils- und Er-     wie sie erscheinen müsste, wenn sie die in ihr lie-
lebnisformen sich entwickelnden «phänomenolo-          genden Gesetze rein und unverfälscht durch störende
gischen» Erkenntniszugang zur Natur für möglich        Einflüsse zum Ausdruck bringen würde. Wo ARIS-
hält.                                                  TOTELES die wirklichen Bewegungen der Körper in
Die Idee des Projekts, das hier im Weiteren exem-      der Natur beschrieb und z. B. feststellte, dass die
plarisch skizziert werden soll, besteht darin, die     leichten Körper im allgemeinen langsamer fallen als
GOETHESCHE Deutung der Metapher vom «Lesen im          die schweren, stellte GALILEI die Frage, wie die
Buch der Natur» als konzeptionelle Grundlage einer     Körper denn fallen würden, wenn es keinen Luftwi-
«phänomenologischen» bzw. einer «den Menschen          derstand gäbe. Er richtete seinen Denkblick gewis-
einbeziehenden und voraussetzenden Physik» zur         sermaßen auf einen von allem Unwesentlichem be-
Diskussion zu stellen.                                 freiten, theoretischen Vorgang und es gelang ihm,
                                                       die Gesetze dieses Vorgangs mathematisch zu for-
2. «Lesen im Buch der Natur» bei GALILEI               mulieren. «An die Stelle des unmittelbaren Einge-
Fragt man nach der Herkunft der Metapher vom           hens auf die Vorgänge der Natur, die uns umgibt,
«Lesen im Buch der Natur», so gelangt man zu AU-       tritt die mathematische Formulierung eines Grenzge-
GUSTINUS, der die natürliche Welt als eine «zweite     setzes, das nur unter extremen Bedingungen nachge-
Schrift» bezeichnet, durch die sich Gott neben der     prüft werden kann. Die Möglichkeit, aus den Natur-
Heiligen Schrift den Menschen offenbart. Die viel-     vorgängen auf einfache, präzis formulierbare Geset-
fältige Deutungsgeschichte der Metapher seit AU-       ze zu schließen, wird erkauft durch den Verzicht
GUSTINUS kann hier nicht nachgezeichnet werden         darauf, diese Gesetze unmittelbar auf das Geschehen
(vgl. z.B. [9], S. 478ff).                             in der Natur anzuwenden» [11].
Die für die Entwicklung der neuzeitlichen Natur-       Das folgende, ebenfalls gut bekannte Zitat GALILEIS
wissenschaft folgenreichste Deutung hat diese Me-      illustriert einen Aspekt der exakten Naturwissen-
tapher durch GALILEI erfahren. Im Folgenden soll       schaften, der dazu führte, dass man das Paradigma
deshalb zunächst knapp skizziert werden, was ge-       dieser Wissenschaften auch als «Reduktionismus»
meint ist, wenn im Sinne GALILEIS vom «Lesen im        bezeichnet hat: «Wer naturwissenschaftliche Fragen
Buch der Natur» die Rede ist und welche Funktion       ohne Hilfe der Mathematik lösen will, unternimmt
sich daraus für das physikalische Experiment ergibt.   Undurchführbares. Man muss messen, was messbar
                                                       ist, und messbar machen, was es nicht ist» (nach
2.1 Naturerkenntnis: Mathematik und experi-            [12], Hervorhebung von mir, G.-E.). Damit wird die
menteller Beweis                                       auch von HUME und DESCARTES ausgesprochene
Im Jahre 1623 schrieb GALILEI: «Die Philosophie        Grundforderung der quantifizierenden Naturwissen-
steht in jenem ganz großen Buch geschrieben, das       schaft wiederholt, für die nur diejenigen Ausschnitte
beständig offen vor unseren Augen liegt, ich meine     aus dem Gesamtgefüge der wahrnehmbaren Welt
das All; aber dieses Buch ist nur zu verstehen, wenn   wissenschaftliche Bedeutung haben sollen, die sich
man zuvor seine Sprache lernt und die Buchstaben       auf die primären Qualitäten Ausdehnung, Lage und
kennt, in denen es geschrieben ist. Es ist in mathe-   Bewegungsmodus, d.h. auf mechanische Kategorien
matischer Sprache geschrieben, und die Buchstaben      reduzieren lassen. Aus der Unterdrückung der se-
sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Fi-      kundären Qualitäten, d.h. der für den Menschen
guren. Ohne diese Mittel ist es unmöglich, auf         wahrnehmbaren Seite der Natur, folgte aber notwen-
menschliche Weise ein Wort davon zu verstehen;         dig auch der Selbstausschluss des Forschers aus dem
ohne diese irren wir vergeblich wie in einem dunk-     physikalischen Weltbild.
len Labyrinth umher» (nach [10], S. 59). Die den       Vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses
Sinnen erscheinende Welt auf eine selbst nicht er-     naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung im
Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz
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Sinne der GALILEIschen Deutung vom «Lesen im             servablen liegende Ursachen – im Sinne GALILEIS:
Buch der Natur» wird das physikalische Experiment        geometrische Urbilder – zu «bestätigen».
Mittel der Beweisführung. Seine Funktion besteht             2. Wie weist man «Geradlinigkeit» nach, ohne
darin, mathematisch-geometrische Hypothesen über         sie implizit vorauszusetzen? Ob sich die drei Blen-
die Gesetzmäßigkeit physikalischer Zusammenhän-          denöffnungen auf einer Geraden befinden, wird im
ge zu überprüfen, d.h. die vereinheitlichende die        vorliegenden Fall doch auch wieder nur optisch be-
Beschreibbarkeit möglichst zahlreicher Phänomen-         urteilt. Denkbar wäre z.B., die Erhaltung der Hellig-
bereiche zu verifizieren ([3], S. 18f; [13]).            keit hinter der dritten Blende unter Ausführung einer
                                                         Rotation des gesamten Blendensystems um die
2.2 Beispiel: Schattenkonstruktion                       durch die Öffnungen vorgegebene Achse zu fordern.
Das folgende Beispiel stammt nicht von GALILEI,          «Geradlinigkeit» wäre im Zusammenhang einer sol-
und dies mit Bedacht: mit dem im Folgenden darge-        chen operationalen Definition kein Attribut eines
stellten, allgemein bekannten Vorgehen bei der ge-       bloß hypothetischen Vorgangs, sondern würde ein-
ometrischen Schattenkonstruktion, das einem be-          fach die räumliche Beziehung zwischen den Blen-
kannten Lehrbuch ([14], S. 40f) entnommen ist, soll      denöffnungen kennzeichnen.
vielmehr die im Vorangegangenen skizzierte Deu-          Gegen Vorbehalte solcher Art und alle anderen, die
tung vom «Lesen im Buch der Natur» nach GALILEI          sich auf die Realisierbarkeit des Blendenexperiments
illustriert werden.                                      beziehen, könnte man mit GALILEI antworten: Wie
Die in Abbildung 1 vereinfacht dargestellte Blen-        gut sich dieser Nachweis erbringen lässt, hängt letzt-
denfolge dient dem Nachweis der Geradlinigkeit der       lich immer von den experimentellen Gegebenheiten
Lichtausbreitung in Experimenten zum Schatten-           ab und die sind naturgemäß stets fehlerbehaftet. Die
wurf, d.h. unter räumlichen Bedingungen, bei denen       Sicherheit darüber, dass sich der in Rede stehende
noch nicht mit Beugung zu rechnen ist. Unter             Nachweis im Prinzip erbringen lässt, folgt aber auch
«Nachweis» wird dabei Folgendes verstanden: Nur          nicht erst aus mehr oder weniger geglückten Expe-
wenn alle drei Lochblenden auf einer Gerade liegen,      rimenten, sondern bereits aus geometrischer Intuiti-
ist hinter den drei Blenden Strahlung beobachtbar.       on. Streng genommen benötigt man gar kein Expe-
                                                         riment. GALILEI: «Ich bin ohne Versuch gewiss, dass
                                                         das Ergebnis so ausfällt, wie ich Euch sage, denn es
                                                         muss so ausfallen» (nach [10], S. 62).
                                                         Unter der Voraussetzung, dass sich der Nachweis für
                                                         den geradlinigen Strahlverlauf erbringen lässt, so die
                                                         weitere Argumentation laut Lehrbuch, ist man be-
                                                         rechtigt, die Verhältnisse der Schattenentstehung
                                                         hinter ausgedehnten Hindernissen so darzustellen,
                                                         wie es Abbildung 2 zeigt.

Abb. 1: Überprüfung des geradlinigen Strahlver-
laufs mit Hilfe mehrerer Lochblenden in merklichem
Abstand voneinander, nach [14].

Auf die Schwierigkeiten, die mit stark idealisierten
«experimentellen Beweisen» solcher Art bei genaue-
rem Hinsehen verbunden sind, möchte ich hier nicht
ausführlicher eingehen. Lediglich zwei typische
Problemfelder sollen angerissen werden:
    1. Die Nachweisfunktion des Experiments soll
sich ausdrücklich auf die geometrische Eigenschaft
eines Vorgangs: die Licht- bzw. Strahlausbreitung        Abb. 2: Schattenwurf durch ein ausgedehntes Hin-
beziehen. Diese wird als Ursache des Verlaufs be-        dernis auf einem Schirm bei ausgedehnter strahlen-
obachtbarer Schattengrenzen vorgestellt und es ist       der Quelle, aus [14]. Rechts ist die Bestrahlungs-
verständlich, wie man über Analogieschlüsse zur          stärke über dem Ort aufgetragen.
Mechanik zu dieser Vorstellung kommen kann.
Streng genommen ist «Lichtausbreitung als Trans-         Abbildung 2 enthält alle für das übliche Verständnis
portvorgang» im Zusammenhang des vorliegenden            der Schattenentstehung erforderlichen Elemente.
Experiments aber nicht beobachtbar. Insofern ist der     Ungenau ist lediglich die Bezeichnung «Halb-
geschilderte Fall u.a. ein Beispiel dafür, wie experi-   schatten». Bezeichnet wird damit derjenige Bereich,
mentelle Anordnungen dazu verwendet werden, die          von dem aus – bedingt durch das Hindernis – nur
Richtigkeit von Vorstellungen über hinter den Ob-        Teile der Leuchte zu sehen sind. Wie der Abbildung
Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz
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zu entnehmen ist, hängt aber die Größe des jeweils      wie Perlen auf einer Schnur. [...] Das naturwissen-
sichtbaren Teils der Leuchte davon ab, wo man sich      schaftliche Denken steht an dem Ende der Reihe,
innerhalb des gemeinten Bereichs befindet. Insofern     dort, wo das Ich [...] nur noch eine unbedeutende
spricht man besser von Teilschatten. Halbschatten ist   Rolle spielt, und jeder Fortschritt in den Begriffs-
genau dort, von wo aus gerade noch die Hälfte der       bildungen der Physik, Astronomie, Chemie bedeutet
Leuchte neben dem Hindernis zu sehen ist. Wie man       eine Annäherung an das Ziel der Ausschaltung des
an dem Verlauf der Bestrahlungsstärke sieht, ist die    Ich.» Und weiter mit Bezug auf den casus Goethe-
Zu- bzw. Abnahme der Helligkeit im Teilschatten-        Newton: «Unhörbare Töne, unsichtbares Licht, un-
bereich kontinuierlich. Die Helligkeit jedes Punktes    fühlbare Wärme: das ist die Welt der Physik, kalt
in diesem Bereich ist ein exaktes Maß dafür, wie        und tot für den, der die lebendige Natur empfinden,
viel von diesem Punkt aus von der Leuchte zu sehen      ihre Zusammenhänge als Harmonie begreifen, ihre
ist (bzw. wie viel der Gesamtstrahlungsleistung der     Größe anbetend bewundern will. GOETHE hat diese
Leuchte dort «ankommt»); insofern kann sie auch         starre Welt verabscheut; seine grimmige Polemik
als Information über die räumlich-geometrischen         gegen NEWTON, in dem er die Verkörperung der
Eigenschaften der jeweils zugehörigen Verdeck-          feindlichen Naturauffassung sah, beweist, dass es
ungssituation verstanden werden.                        sich hier um mehr handelt, als um den sachlichen
Damit, dass in der obigen Argumentation nicht mehr      Streit zweier Forscher über Einzelfragen der Farben-
quer zur Beleuchtungsrichtung geblickt wurde, wie       lehre. GOETHE ist der Repräsentant einer Weltauf-
es Abbildung 2 nahe legt und wie man es aus den         fassung, die in der oben entworfenen Skala nach der
üblichen Darstellungen zur Optik gewohnt ist, son-      Bedeutung des Ich ziemlich am entgegengesetzten
dern strukturelle Eigenschaften der Situation aus der   Ende steht wie das Weltbild der exakten Naturwis-
subjektiven Perspektive, d.h. in oder gegen die Be-     senschaften» ([15], S. 1ff).
leuchtungsrichtung blickend erschlossen wurden, ist     Würdigungen dieser Art2 lassen sich viele anführen;
aber bereits ein Perspektivwechsel vollzogen, der       Hinweise darauf, wie man sich eine Natur-
aus dem paradigmatischen Kontext des «Lesens im         wissenschaft in der Nachfolge GOETHES vorstellen
Buch der Natur» nach GALILEI herausführt, weil er       soll, d. h. wie die in der Farbenlehre vorgeführte
die konkrete Einschaltung des Beobachters in den        Methodologie GOETHES erkenntnistheoretisch fun-
experimentellen Zusammenhang enthält. Dies kenn-        diert und auf andere Gegenstandsbereiche über-
zeichnet aber gerade eine der wesentlichen methodo-     tragen werden sollte etc. geben die genannten Auto-
logischen Prämissen GOETHES.                            ren indessen kaum. Maßgeblich für den «Goe-
                                                        theanismus» genannten, phänomenologischen Wis-
3. «Lesen im Buch der Natur» bei GOETHE                 senschaftsansatz in der Nachfolge GOETHES sind die
Ob VON HELMHOLTZ, PLANCK, BOHR, HEISENBERG              entsprechenden erkenntnistheoretischen Schriften
oder C.F. VON WEIZSÄCKER – die Liste namhafter          des GOETHE-Herausgebers Rudolf STEINER gewor-
Physiker, die sich bei ihren Versuchen, in philo-       den. Dieser hat allerdings stets hervorgehoben, dass
sophischer Selbstverständigung die Grenzen des          Goetheanismus jenseits von Naturromantik und
physikalischen Weltbildes zu bestimmen, stets auf       nicht unter Ausschluss, sondern ausdrücklich unter
GOETHE und seine Zurückweisung der naturwis-            Voraussetzung einer profunden Kenntnis der neues-
senschaftlichen Methode NEWTONS bezogen, ist            ten Ergebnisse und Methoden auf physikalischem
lang. Die Würdigungen, die GOETHE dabei zuteil          bzw. naturwissenschaftlichem Gebiet zu entwickeln
werden, gehen weit über GOETHE als Autor der Far-       sei – womit allerdings ein Anspruch formuliert ist,
benlehre hinaus; sie beziehen sich auf GOETHE als       der m. E. bisher nur von wenigen in seiner Tragwei-
Repräsentanten einer Weltauffassung, die auf einge-     te erfasst und auch nur annähernd ernsthaft eingelöst
standenermaßen nicht weniger wissenschaftlichen,        wurde. Dementsprechend sind die Versuche, an
methodologisch aber genau entgegengesetzten             STEINERS «Erkenntnistheorie der Goetheschen Welt-
Grundüberzeugungen ruhte. Die Bedeutung, die vor        anschauung» und an die von ihm gegebenen For-
diesem Hintergrund der Polemik des Geheimrats           schungshinweise im Sinne einer Naturwissenschaft
gegen die Optik NEWTONS zuerkannt wurde, reichte        GOETHES anzuknüpfen, sehr vielfältig und von sehr
weit über sachliche Differenzen auf dem Felde der       unterschiedlicher Qualität [17]. Ein herausragendes
Farbenlehre hinaus: In ihr wurde die Zurückweisung      Beispiel für qualitative Naturwissenschaft im Sinne
des in letzter Konsequenz natur- und menschen-          GOETHES gibt der frühere Neutronenphysiker Georg
verachtenden Erkenntnisideals der exakten Natur-
wissenschaften gesehen, zu dessen Entwicklung            2
NEWTON maßgeblich beigetragen hatte.                       Nur am Rande sei auf die «Wiederentdeckung» GOE-
In der Einleitung zu seiner Darstellung von EIN-         THES  durch Historiker bzw. Wissenschaftstheoretiker wie
STEINS Relativitätstheorie schreibt Max BORN zu-         STEINLE [13] und MÜLLER [16] hingewiesen, deren Ar-
nächst: «Die Wichtigkeit des Ich im Weltbilde            beiten zum «Explorativen Experimentieren» bzw. zur
deucht mir ein Maßstab, an dem man Glaubens-             Methodologie der Farbenlehre offenkundig Anlass zu
lehren, philosophische Systeme, künstlerische und        Neubewertungen von GOETHES naturwissenschaftlichen
wissenschaftliche Weltauffassungen aufreihen kann,       Ambitionen geben.
Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz
6

MAIER mit seinen an BERKELEY, GOETHE und STEI-          zieht, ohne sie dabei außerdem noch als Wirkung
NER anknüpfenden Studien zur Optik und Mechanik         hinter ihnen liegender Ursachen vorzustellen. Wor-
([18], [19], s. auch [3], S. 29ff).                     auf es beim Lesen ankommt, ist der Zusammenhang.
                                                        Im gegenseitigen Zusammenhang sprechen sich für
3.1 Naturerkenntnis: Anschauende Urteilskraft           GOETHE die Phänomene aus.
Sein wissenschaftsmethodisches Bekenntnis hat           Daraus zu schlussfolgern, dass Mathematik für GOE-
GOETHE in wenigen kurzen Aufsätzen niedergelegt;        THE keine Rolle gespielt habe, ist voreilig und gehört
der wohl bekannteste unter ihnen wurde von GOE-         zu den immer wieder kolportierten Vorurteilen ge-
THE 1792 «Kautelen des Beobachters» überschrie-         genüber GOETHE. Welche Bedeutung er der
ben und 1823 unter dem Titel «Der Versuch als           Mathematik als Denkweise bei seinem wissenschaft-
Vermittler von Objekt und Subjekt» erstmals veröf-      lichen Vorgehen beimaß, geht z. B. aus dem folgen-
fentlicht. Darin fordert er vom Naturforscher, er       den Passus hervor ([20], S. 18f): «Ich habe in den
«soll die Gegenstände der Natur an sich selbst und in   ersten zwei Stücken meiner optischen Beiträge eine
ihren Verhältnissen untereinander zu betrachten         solche Reihe von Versuchen aufzustellen gesucht,
streben. Er soll den Maßstab zu seiner Erkenntnis,      die zunächst aneinander grenzen und sich unmittel-
die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus    bar berühren, ja, wenn man sie alle genau kennt und
dem Kreis der Dinge nehmen, die er beobachtet»          übersieht, gleichsam nur Einen Versuch ausmachen,
([20], S. 10). Der damit formulierte Anspruch ist       nur Eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten An-
sehr hoch, verlangt er doch, die herkömmlichen          sichten darstellen.
Vorurteile, Vorstellungsarten und Unterwerfungs-        Eine solche Erfahrung, die aus mehreren andern
routinen zurückzuhalten und stattdessen abzuwarten,     besteht, ist offenbar von einer höhern Art. Sie stellt
welche Ordnungs- und Strukturmerkmale, welche           die Formel vor, unter welcher unzählige Rechenex-
Verwandtschaftsverhältnisse sich durch die syste-       empel ausgedruckt werden. Auf solche Erfahrungen
matische Variation der im vorliegenden Phänomen-        der höheren Art loszuarbeiten halt´ ich für die
zusammenhang selbst jeweils wirksamen Beding-           Pflicht des Naturforschers, und dahin weist uns das
ungen ergeben. Die Situation, in der GOETHE den         Exempel der vorzüglichsten Männer, die in diesem
Phänomenen gegenübertritt, hat nichts gemein mit        Fach gearbeitet haben, und die Bedächtlichkeit, nur
«Nötigung der Natur im Zeugenstand» (KANT).             das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr
GOETHE tritt als Anwalt der Natur und damit auch        das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir
als Anwalt der sinnlichen Natur des Menschen auf.       von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo
«Lesen im Buch der Natur» heißt hier demnach            wir uns an keine Rechnung wagen, müssen wir im-
nicht, die sinnlichen Erscheinungen dadurch wissen-     mer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengs-
schaftstauglich bzw. mathematisch beherrschbar zu       ten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wä-
machen, dass man aus Prinzip über sie hinausgeht        ren.
indem man sie auf die primären Qualitäten Ausdeh-       Denn eigentlich ist es die mathematische Methode,
nung Lage und Bewegungsmodus abbildet. Die              welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit
Grundeinstellung GOETHES gegenüber den Phäno-           gleich jeden Sprung in die Assertion offenbart, und
menen ist eine ganz andere. Für ihn liegt das aufzu-    ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Aus-
deckende Rätsel ihrer inneren Gesetzmäßigkeit nicht     führungen, dass dasjenige, was in Verbindung vor-
hinter ihnen, in einem Jenseits vorgestellter Ursa-     gebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und
chen, sondern in ihnen. «Man suche nur nichts hinter    in seiner ganzen Folge dagewesen, in seinem ganzen
den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre» heißt es     Umfange übersehen und unter allen Bedingungen
in seinen Maximen und Reflexionen. Es hat aus sei-      richtig und unumstößlich erfunden worden. Und so
ner Sicht keinen Sinn, Erscheinungen auf selbst         sind ihre Demonstrationen immer mehr Darlegun-
nicht Erscheinendes zurückführen und damit ihren        gen, Rekapitulationen als Argumente».
Charakter als sinnliche Erscheinungen um einer ver-     Vor diesem Hintergrund ergibt es für GOETHE kei-
einheitlichenden Beschreibung Willen gewisserma-        nen Sinn, einzelnen Experimenten den Nachweis
ßen transzendieren zu wollen (BORN: «Unhörbare          von Hypothesen abzuverlangen, zeigen die betref-
Töne, unsichtbares Licht, unfühlbare Wärme: das ist     fenden Experimente doch stets nur schmale Aus-
die Welt der Physik, kalt und tot für den, der die      schnitte aus einem in der Regel vielfältigen und
lebendige Natur empfinden [...] will.»). Aufschluss     mehrdimensionalen Gefüge von Bedingungen und
über die Art, wie sich einzelne Phänomene zueinan-      Prinzipien, dessen Eigenschaften sich erst in z.T.
der verhalten, wie sie zusammenhängen und welche        umfänglichen Versuchreihen entfalten.
dabei die entscheidenden Faktoren sind, kann nur ihr    Dabei unterscheidet GOETHE drei Typen von Phä-
möglichst genaues und getreuliches Studium geben.       nomenen bzw. drei experimentelle Modi:
Die Schriftzeichen der Natur sind für GOETHE nicht        • «das empirische Phänomen, das jeder Mensch
geometrische Urbilder, sondern die angeschauten               in der Natur gewahr wird, und das nachher
Phänomene selbst. Er liest in Phänomenen wie in           • zum wissenschaftlichen Phänomen durch Ver-
einer Schrift, d. h. so, wie man beim Lesen eines             suche erhoben wird, indem man es unter an-
Wortes die einzelnen Buchstaben aufeinander be-               dern Umständen und Bedingungen, als es zu-
Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz
7

     erst bekannt gewesen, und in einer mehr oder        gehen fehl am Platz ist. Phänomenologische Didak-
     weniger glücklichen Folge darstellt.                tik kann beispielsweise zu der Einsicht führen, dass
  • Das reine Phänomen steht nun zuletzt als Re-         die gegenwärtig anstehenden Entwicklungsschritte
     sultat aller Erfahrungen und Versuche da. Es        der Schüler am besten durch eine von Distanziert-
     kann niemals isoliert sein, sondern es zeigt sich   heit, Machtausübung und intellektuelle Beherrsch-
     in einer stetigen Folge der Erscheinungen. Um       barkeit geprägte, reduktionistische Erkenntnishal-
     es darzustellen, bestimmt der menschliche           tung unterstützt werden.3 Ein Gegenstandsbereich,
     Geist das empirisch Wankende, schließt das          der sich für eine solche Erkenntnisatmosphäre eig-
     Zufällige aus, sondert das Unreine, entwickelt      net, ist z. B. die Mechanik. Ein- und zweiarmiger
     das Verworrene, ja entdeckt das Unbekannte.»        Hebel, Welle und Flaschenzüge stellen Anwendun-
     ([21], S. 25).                                      gen einfacher Prinzipien dar, die nicht nur die tech-
Die im Folgenden skizzierte Behandlung von Schat-        nisch raffinierte «Überlistung der Natur» gestatten
tenbildern nach der Technik des «Lesens von Phä-         («Der Kleinste hebelt den Größten aus»), sondern
nomenen» hält sich nicht streng an diese Stufen-         auch die Gelegenheit für die formelmäßig-
folge. Vielmehr wird auf der Stufe des wissen-           rechnerische Beherrschung und Voraussage von
schaftlichen Phänomens eine systematische Unter-         Effekten bieten [5].
suchung angedeutet und die dort erworbene «Lese-         Das folgende Beispiel erfüllt keine der beiden oben
kompetenz» dann auf der Stufe des empirischen            genannten Aufgaben: es wird weder eine letztgültige
Phänomens angewendet.                                    phänomenologische Erschließung des Phänomenbe-
                                                         reichs «Schattenbilder», noch ein didaktisch ausge-
4. Beispiel: Lesen in Schattenbildern                    reifter Unterrichtsvorschlag vorgelegt. Beides würde
4.1 Vorbemerkung                                         den Rahmen des Artikels sprengen. Es wird stattdes-
In der Erschließung von Phänomenen nach der Me-          sen exemplarisch gezeigt, welcher Art die Erkennt-
thodologie GOETHES für den Physikunterricht liegt        nisse sind, die gewonnen werden, welche Rolle die
eine doppelte Aufgabe: die erste betrifft die phäno-     sinnliche Betätigung, d.h. die Ausbildung einer Art
menologische Erschließung und Darstellung von            von «intelligentem Sehen» spielt und wie in phäno-
Phänomenbereichen, d. h. Forschung im Sinne des          menalen Zusammenhängen gedacht werden kann,
GOETHEschen Wissenschaftsansatzes. Die zweite            wenn die Begriffe, die entwickelt werden, beweglich
Aufgabe besteht darin, vor dem Hintergrund dieses        bleiben sollen.
Wissenschaftsansatzes zu pädagogisch begründeten
Konzeptionen von Physikunterricht zu kommen. Die         4.2 Schattenspiele
Tatsache, dass phänomenologische Erschließungen          Die Herangehensweise ist von vornherein eine ganz
per se einen gewissen didaktischen Grundzug auf-         andere als die im Abschnitt 2.2 Gezeigte: Betrachtet
weisen, enthebt einen nicht der Aufgabe, Unter-          werden zunächst Schattenbilder desselben Gegens-
richtsformen zu entwickeln, die dasjenige, was an        tands von unterschiedlichen Leuchten bei gleich-
der phänomenologischen Herangehensweise päda-            bleibenden Abstandsverhältnissen. Überraschend ist
gogisch und didaktisch sinnvoll ist, zur Geltung         dabei erfahrungsgemäß, wie stark sich die Schatten-
bringen. Die Anforderungen, die damit verbunden          bilder im Stil unterscheiden, obwohl doch der Schat-
sind, können in diesem Zusammenhang nicht vertieft       tenwerfer stets derselbe ist und auch an seinem Ab-
werden; es soll aber zumindest angemerkt werden,         stand zum Schirm nichts geändert wird. Es besteht
dass es natürlich ein Missverständnis wäre, zu mei-      offensichtlich Veranlassung, mit dem Vorurteil auf-
nen, dass sich am Physikunterricht wesentlich etwas      zuräumen, im Schatten bilde sich lediglich der
ändern würde, wenn man einfach das eine Schema           Schattenwerfer ab. Unter welchen Umständen dieser
durch ein anderes ersetzt.                               Grenzfall tatsächlich angenähert werden kann, geht
Die Art und Weise, wie Lehrer ihre Schüler an-           aus dem zweiten Schritt der Untersuchung hervor
schauen und aus dieser konkreten Anschauung her-         (Definition der annähernd punktförmigen Licht-
aus die Gesichtspunkte für ihr pädagogisches Han-        quelle).
deln gewinnen, ergibt sich gewissermaßen aus der in
die Physikdidaktik gewendeten phänomenologischen          3
                                                            Damit ist beiläufig auf eine wesentliche Asymmetrie
Methodologie. Dabei kann es durchaus sein, dass
                                                          im Verhältnis von Reduktionismus und Phänomenologie
man als Lehrer zu der Überzeugung gelangt: für die
                                                          hingewiesen, die darin besteht, dass es für den Phäno-
Denk- und Urteilsentwicklung der Schüler in diesem
oder jenem Alter ist gerade das Kennenlernen und          menologen keinen prinzipiellen Hinderungsgrund gibt,
die Einübung reduktionistischer Gedankenformen            den Reduktionismus als eine mögliche Ausprägungsform
von besonderer Bedeutung. Das heißt: die Anwen-           menschlicher Intellektualität zu würdigen und seine his-
dung der phänomenologischen Anschauungsweise              torische und pädagogische Berechtigung anzuerkennen.
im pädagogisch-didaktischen Kontext hat nicht au-         Verwerfen muss er den Reduktionismus nur, wenn dieser
tomatisch phänomenologischen Physikunterricht zur         als wissenschaftliches Dogma auftritt und ihm das Exis-
Folge. Es sind ohne weiteres pädagogische Situatio-       tenzrecht abstreitet. Dies liegt aber gerade in der Unter-
nen denkbar, in denen ein phänomenologisches Vor-         werfungslogik des Reduktionismus.
Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz
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Die Aufnahmen in Abbildung 3, a-f zeigen Schat-           läre ist. Eine weitere Variation zeigt Bild f, das sich
tenbilder eines Stuhls, der selbst nicht mitabgebildet    bei Beleuchtung mit einer ringförmigen Leuchte
wird; die jeweils verwendete Leuchte ist so, wie sie      ergibt. – Wenn man an einfachen Beispielen erste
vom Schattenbild, d.h. vom Schirm aus gesehen             Sicherheit erlangt hat bezüglich der Art, wie sich die
wird, in der oberen linken Bildhälfte schematisch         Leuchtenform ins Schattenbild transformiert, kann
dargestellt. Die Reihe a–c gestattet eine erste einfa-    man komplizierter geformte Leuchten wie z.B. die
che Regel: Je größer die vom Schirm aus gesehene          Ringleuchte einsetzen und die Schüler raten lassen,
Leuchte, desto unschärfer ist das Schattenbild. Der       wie wohl die Leuchte geformt sein muss, damit das
Grund dafür ist sofort klar, wenn man sich selbst an      in Bild f sichtbare Schattenbild entsteht.
den Ort des Schirms begibt und die verschiedenen          Bevor im Folgenden mit dem bisher konstant gehal-
Verdeckungsstadien zwischen Stuhl und Leuchte             tenen Abstand zwischen Leuchte und Schattenwerfer
studiert: Je größer die Bereiche, von denen aus nur       ein weiterer Parameter variiert wird, kann bereits auf
Teile der Leuchte gesehen werden können (Teil-            dieser ersten Stufe festgehalten werden: Im Schat-
schattenbereiche), desto verschmierter bzw. unschär-      tenbild verbindet sich die Form des Schattenwerfers
fer ist der Schatten. Vollschatten ist da, von wo aus     mit der vom Schirm aus gesehenen Form der Leuch-
die Leuchte durch den Stuhl voll verdeckt wird.           te. Die Leuchtenform macht sich gewissermaßen im
Die Bilder d – f zeigen, dass die oben angegebene         Stil des Schattenbildes bemerkbar und wenn man
Regel gegenüber Leuchten, die nicht rotations-            etwas Übung hat, kann man aufgrund des Schatten-
symmetrisch sind, einer Verfeinerung bedarf: offen-       bildes auf die Form der Leuchte schließen. Hinsicht-
sichtlich kommt es darauf an, welche Ausdehnung           lich des Schattenumrisses kann man sich diesen of-
die Leuchte in welche Richtung, d.h. welche Form          fenbar mit einem Stift gezeichnet denken, dessen
sie hat und wie diese relativ zum Schattenwerfer          Spitze nicht punktförmig ist, sondern die Form der
orientiert ist. So erscheinen in Bild d die annähernd     Leuchte hat. Zieht man mit einer z.B. als «Stab-
parallel zur Stablampe liegenden Stuhlkanten ver-         leuchtenstift» ausgeführten stabförmigen Stiftspitze
hältnismäßig scharf, wogegen die quer dazu liegen-        parallel zur Stabspitze verlaufende Gegenstandskan-
den – entsprechend der oben angegebenen Regel –           ten nach, ergibt sich ein relativ schmaler (scharfer)
stark verschmiert sind. Die Verwandlung des Schat-        Teilschattenbereich, wogegen quer zur Stabspitze
tenbildes durch die Drehung der Stablampe um 90º          verlaufenden Objektkanten deren volle Breite erhal-
zeigt der Übergang von Bild d zu e, wobei der Vor-        ten (vgl. z. B. die Stuhlbeine in Abb.3, d und e).
gang der Bildverwandlung das eigentlich Spektaku-         In der Fortsetzung solcher Überlegungen liegt es

  a                                    b                                   c

  d                                        e                                   f

Abbildung 3, a – f: Schattenbilder desselben Stuhls von unterschiedlich geformten Leuchten bei gleichbleiben-
den Abstandsverhältnissen. Die jeweilige Leuchtenform ist oben links dargestellt. Der helle Fleck unten links
ist der Widerschein der Leuchte an dem hochreflektierenden Schirm.
Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz
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nahe, nach der mathematischen Form der Transfor-          Es sollte bereits auf dieser ersten Stufe «Schatten-
mation zu fragen, aus der das Schattenbild als mit        spiele» dreierlei deutlich geworden sein:
der Leuchtenform modifiziertes Bild des Schatten-             1. wie hoch der Grad der beobachtenden und
werfers hervorgeht. Ohne im Rahmen dieses Arti-           handelnden Beteiligung bei eingebundenen Ver-
kels weiter darauf einzugehen sei zumindest ange-         suchen der geschilderten Art sein kann;
merkt, dass es sich um ein Faltungsprodukt handelt:           2. dass bereits solche einfachen Versuche eine
                                                          große ästhetische Ausstrahlung entfalten können, so
              Sk(x) = Gk(l-x) ⊗ Lk(l).                    dass die verstandesmäßige Erarbeitung der maß-
                                                          geblichen Bedingungen und Prinzipien von einem
Sk, Gk und Lk sind geeignete Integraldarstellungen        differenzierteren Erleben derselben begleitet sein
der Schatten-, Gegenstands- und Leuchtenkontur.           kann;
Wie die Modifikation der Versuche im Folgenden                3. dass dennoch und gewissermaßen über die un-
zeigen wird, ist die entscheidende Variable der rela-     ter 1. und 2. genannten Aspekte hinausgehend eine
tive Abstand x zwischen Schattenwerfer und Leuch-         gedanklich anspruchsvolle, die maßgeblichen Be-
te. In dem Fall, in dem dieser Abstand gleich dem         dingungen und Prinzipien exakt erschließende Erar-
Abstand l zwischen Leuchte und Schirm wird, geht          beitung bis zu einer mathematischen Beschreibung
das Schattenbild annähernd in das exakte Abbild des       der Bildtransformationen angestrebt wird.
Schattenwerfers über – d.h. der Einfluss der Leuch-
tenform tritt zurück:                                     4.3 Verwandlungen des Schattenbildes
                                                          Im nächsten Versuch wird als Schattenwerfer eine
         Sk (l) = Gk (0) ⊗ Lk (l) = Gk (0).               Dreiecksblende gewählt: ein Stück schwarze Pappe,
                                                          in die ein dreieckiges Loch geschnitten wurde (Abb.
Der andere Grenzfall ergibt sich, wenn der Abstand        4, a). In ca. 4 m Entfernung vom Schirm wird ferner
x zwischen Leuchte und Schattenwerfer annähernd           eine horizontal orientierte Stableuchte aufgestellt.
verschwindet. In diesem Fall dominiert das Leuch-         Abbildung 4 zeigt, wie mit zunehmendem Abstand
tenbild und die Kontur des Schattenwerfers tritt zu-      der Blende vom Schirm das Schattenbild der Blende
rück:                                                     zu einem horizontalen länglichen Strich degeneriert,
                                                          der keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der Dreiecksform
          Sk (0) = Gk (l) ⊗ Lk (l) = Lk (0).              der Blende aufweist.
                                                          Dass es sich um das Lochkamerabild der Stableuchte
Damit soll lediglich angedeutet sein, dass es durch-      handelt, kann man erraten; dies soll aber auch expe-
aus möglich ist, auch innerhalb der subjektiven, d.h.     rimentell evident werden. Zum einen kann dies da-
den Beobachter einbindenden Perspektive zur For-          durch geschehen, dass man zeigt, wie der Erwartung
mulierung mathematischer Beziehungen zu kom-              entsprechend und dann dennoch überraschend das
men. Entscheidend ist dabei, dass diese Beziehungen       Bild des hellen Strichs unter Drehungen der Drei-
nicht die Wirkungsweise hypothetischer Größen,            ecksblende um die Beleuchtungsrichtung unverän-
sondern konkret die Bildtransformationen beschrei-        dert bleibt (Abb. 5, a und b), wogegen sich der helle
ben, mit denen man es im Zusammenhang einfacher           Strich mitdreht, sobald anstelle der Blende die
Beleuchtungssituationen bei der Entstehung von            Leuchte gedreht wird (Abb. 6, a – c). Durch Vorbei-
Schattenbildern zu tun bekommt.                           führen eines Bleistiftes vor und hinter der Blende
                                                          kann ferner auf die Bildumkehr aufmerksam

  a                                      b                                  c

Abb. 4, a – c: Verwandlung des Schattenbildes einer mit einer horizontalen Stableuchte beleuchteten Dreiecks-
blende.
Lesen im Buch der Natur - Zur Entwicklung einer phänomeno-logischen Lesekompetenz
10

gemacht werden. Im Übrigen zeigen auch die Kan-
ten der Blendenpappe wieder das nach Maßgabe der
Leuchtenorientierung unterschiedlich breit ver-
schmierte Bild der Stableuchte.

  a                           b

Abb.5, a und b: Invarianz des Schattenbildes unter              a
Drehungen der Blende.

4.5 Komplementäre Blenden – komplementäre
Schattenbilder
Ein weiterer und in diesem Zusammenhang letzter
Versuch besteht darin, der sich für eine beliebig ge-
formte Blende mit zunehmendem Abstand vom
Schirm ergebenden Bildsequenz diejenige gegen-
überzustellen, die sich für die komplementäre Blen-
de ergibt. Abbildung 7 zeigt die Verwandlung des
Schattenbildes einer annähernd kreisförmigen Blen-
de in das umgekehrte Bild des beleuchtenden Glüh-
fadens. Dass man das dunkle Komplement dieses
Glühfadenbildes erwarten darf, wenn man die Loch-
blende durch eine etwa gleich große Perle ersetzt,
leuchtet ein: an der Geometrie des Versuchs wird
dadurch nichts verändert. Und doch ist man jedes
Mal aufs Neue überrascht, wenn man mit zuneh-
mendem Abstand der Perle vom Schirm den Perlen-                 b
schatten in ein schattiges Abbild des Glühfadens
übergehen sieht, wie es die Übersicht in Abbildung 7
zeigt.

4.6 Die Sonne malt die Schatten mit ihrem Bild
Die in den vorangegangenen Abschnitten geschilder-
ten Versuche lassen sich in vielfältiger Weise erwei-
tern und variieren, dies ist auch vielerorts geschehen,
im Einzelnen ist das Gezeigte nicht neu (vgl. z.B.
[18]). Deutlich sollte aber geworden sein, auf welche
Weise an den betrachteten Erscheinungen der Blick
geschärft werden kann für die Art, wie sich Leuch-
tenbild und Gegenstandsbild im Schattenbild ver-
binden. Hat man auf diesem Wege «in Schattenbil-
dern lesen» gelernt, wird man alsbald auf die vielfäl-
tigen Formen aufmerksam, in denen sich das Bild
der Sonne in den von ihr hervorgerufenen Schatten-
bildern zur Geltung bringt. Der Spaziergang unter
hohem Blätterdach kann so unversehens zu einem                 c
regelrecht beglückenden Erlebnis werden, wenn man
zum erstenmal gewahrt, wie der Waldboden übersät
ist mit Sonnenbildern. Damit ist wiederum kein o-         Abb. 6, a–c: Drehung des Schattenbildes bei Dre-
berflächliches Romantisieren gemeint; als beglü-          hung der Stableuchte: Das Schattenbild ist das
ckend kann an einer solchen Situation ein besonders       Lochkamerabild der Stableuchte.
11

         30 cm                   1m                   2m                3m                3,75 m

  Abb.7: Verwandlung des Blendenbildes in das Bild der Leuchte bei zunehmendem Abstand der Blende vom
       Schirm. Oben: Lochblende mit hellem Glühfadenbild; unten: Perle mit dunklem Glühfadenbild.

hoher Grad an Vertrautheit mit den Erscheinungen
erlebt werden, eine erlebende und zugleich verste-
hende Verbundenheit, die ethische und ästhetische
Dimensionen von Naturbegegnung mit einschließt.

Die Gesamtheit der angesprochenen Phänomene und
damit ihr Zusammenhang zeigt sich im Schattenwurf
jedes Baumes bei nicht zu hohem Sonnenstand; dies
zeigt Abbildung 8. Das Schattenbild bodennaher
Teile des Stamms ist verhältnismäßig scharf und nur
durch das entlang der Schattengrenze verschmierte
Bild der Sonne abgemildert. Dieses tritt umso deut-
licher hervor, je höhere Baumteile ihren Schatten
werfen, bis sich im Schatten der höchsten Teile der
Baumkrone vollendete Sonnenbilder abzeichnen und
einzeln hängende Blätter unförmig abgerundete
Schattenbilder werfen.

5. Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund der These, dass ein phänome-
nologischer Naturzugang die wesentlichen, im
Grundsatzpapier der DPG für einen schülergemäßen
Physikunterricht bzw. für ein modernes Lehramts-
studium geltend gemachten Anforderungen erfüllt,
wurden die Deutungen skizziert, welche die Meta-
pher vom «Lesen im Buch der Natur» bei GALILEI         Abb. 8: Im Schattenwurf des Baumes sind alle Sta-
einerseits und bei GOETHE andererseits erfahren. Am    dien der Bildverwandlung in ihren Übergängen
einfachen Beispiel der Behandlung der Schattenent-     realisiert. Das Bild ist dem Buch «Optik der Bil-
stehung wurden Eigenschaften der beiden Naturzu-       der» von G. Maier entnommen [18].
gänge hinsichtlich des jeweiligen Erkenntnisziels
und der Rolle des physikalischen Experiments her-      Daran zielt allerdings die Debatte um ein «mehr
ausgearbeitet. Das Hauptanliegen der vorgebrachten     oder weniger Alltagsbezug bzw. Kontext im Physik-
Erörterungen war, im didaktischen Kontext darauf       unterricht» einerseits und die Angst vor dem «Un-
aufmerksam zu machen, dass die bekannten Schwie-       tergang des mathematisch-naturwissenschaftlichen
rigkeiten des Physikunterrichts m. E. erst dann an-    Bildungsanspruchs» andererseits weitgehend vorbei
gemessen beschrieben werden, wenn die «unpäda-         ([22], S. 259). Worin die unpädagogische Dimension
gogische Dimension der Physik» in ihrer vollen         der Physik besteht und dass die «Ausschaltung des
Tragweite ins Auge gefasst wird.                       Menschen» aus dem naturwissenschaftlichen Welt-
12

bild nicht Begleiterscheinung, sondern erklärtes Ziel            Galilei und der Fall Bertolt Brecht. Frankfurt
der Erbauer dieses Weltbildes war, wurde nicht erst              am Main
von Physikdidaktikern entdeckt, sondern ist in den        [13]   STEINLE, Friedrich (2002): Das Nächste ans
wissenschaftskonzeptionellen Reflexionen der Phy-                Nächste reihen: Goethe, Newton und das Ex-
siker des 20. Jahrhunderts nachlesbar.                           periment. Philosophia Naturalis 39: 141-172.
Wenn aber – wie es manche dieser Reflexionen nahe         [14]   BERGMANN, L.; SCHÄFER, C. (19939): Lehr-
legen – der Wissenschaftsansatz GOETHES gerade in                buch der Experimentalphysik. Bd. 3: Optik.
Hinblick auf die als «unpädagogisch» apostro-                    Hrsg. von Heinz NIEDRIG. Berlin, New York:
phierten Aspekte des fachphysikalischen Reduk-                   Walter de Gruyter
tionismus das genaue Gegenteil davon darstellt,           [15]   BORN, Max (1922): Die Relativitätstheorie
dann bestünde begründeter Anlass zu der Ver-                     Einsteins. Berlin: Springer
mutung, dass ein Physikunterricht, der an die Art der     [16]   MÜLLER, Olaf (2007): Das philosophische
den sinnlich und vernünftig begabten Menschen                    Unbehagen Goethes beim Blick durch das
nicht ausschließenden, sondern voraussetzenden                   Prisma. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Naturbetrachtung GOETHES anschließt, den Bedürf-          [17]   HAAS, Erwin: Goetheanistische Naturwissen-
nissen und dem Interesse von Schülerinnen und                    schaft. Fortlaufend aktualisierte Bibliogra-
Schülern angemessener ist. Meine und die Erfahrun-               phie ab 1921:
gen von Kollegen bestätigen diese Vermutung –                    forschungsinstitut.ch/669.html
zumindest in einem Maße, das es gerechtfertigt er-        [18]   MAIER, Georg (20035): Optik der Bilder.
scheinen lässt, in dieser Richtung weiter zu arbeiten.           Dürnau: Kooperative Dürnau
                                                          [19]   MAIER, Georg (2004): blicken – sehen –
                                                                 schauen. Beiträge zur Physik als Erschei-
6. Literatur                                                     nungswissenschaft. Hrsg. von J. GREBE-
                                                                 ELLIS. Dürnau: Kooperative Dürnau
[1]    Deutsche Physikalische Gesellschaft (2006):        [20]   GOETHE, Johann Wolfgang von (1982): Der
       Thesen für ein modernes Lehramtsstudium im                Versuch als Vermittler von Objekt und Sub-
       Fach Physik. Eine Studie der DPG e.V.                     jekt. Hamburger Ausgabe, Bd.13, S. 10-20.
[2]    MUCKENFUß, Heinz (1995): Lernen im sinn-                  München: H.C. Beck
       stiftenden Kontext. Berlin: Cornelsen              [21]   GOETHE, Johann Wolfgang von (1982): Er-
[3]    GREBE-ELLIS, Johannes (2005): Grundzüge                   fahrung und Wissenschaft. Ebd. S. 23-25
       einer Phänomenologie der Polarisation. Ber-        [22]   RALLE, Bernd (2007): Die Furcht vor dem
       lin: Logos                                                Kontext. MNU 60/4: 259
[4]    SCHEIBE, ERHARD (2006): Die Philosophie
       der Physiker. München: C.H.Beck
[5]    BUCK, Peter; VON MACKENSEN, Manfred
       (20067): Naturphänomene erlebend verste-
       hen. Köln: Aulis Verlag Deubner
[6]    MIKELSKIS, Helmut (1990): Goethes Farben-
       lehre heute – Betrachtungen zur Zeitgemäß-
       heit einer vermeintlich veralteten Naturauf-
       fassung. Goethe Gesellschaft Kiel
[7]    PLANCK, Max (1990): Positivismus und reale                 a
       Außenwelt. Vortrag am 12. November 1930.
       In: Vom Wesen der Willensfreiheit und ande-
       re Vorträge. Hrsg. von A. HERMANN. Frank-
       furt am Main: Fischer
[8]    BÖHME, Gernot (1993): Alternativen der Wis-
       senschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp
[9]    JAEGER, F. (Hrsg.): Enzyklopädie der Neu-
       zeit. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler, Artikel zu
       Buch der Natur S. 478ff
[10]   BASFELD, Martin (1992): Erkenntnis des
       Geistes an der Materie. Der Entwicklungsur-
       sprung der Physik. Stuttgart: Freies Geistes-
       leben
[11]   HEISENBERG, Werner (19477): Zur Geschich-
       te der physikalischen Naturerklärung. In:
       Wandlungen in den Grundlagen der Natur-
       wissenschaft. Leipzig: S. Hirzel
[12]   SZCZESNY, Gerhard (1966): Das Leben des
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