BÉLA TARRS KINO DER ZEIT, DES RAUMS UND DER MATERIALITÄT - Brill

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JÖRN GLASENAPP

                    BÉLA TARRS KINO DER ZEIT,
                DES RAUMS UND DER MATERIALITÄT

                              Ein SATANSTANGO-Lexikon

                                                              »Ein Dach ist kein Schutz.«1
                                                                    László Krasznahorkai

ADAPTION: Béla Tarr ist einer der herausragenden Literaturadapteure des Gegen-
wartskinos. Nicht weniger als die Hälfte seiner insgesamt zehn abendfüllenden
Spielfilme sind Adaptionen literarischer Texte: MACBETH (1982), SATANSTANGO
(1994), DIE WERCKMEISTERSCHEN HARMONIEN (2000), DER MANN AUS LONDON
(2007) und – zumindest in gewisser Weise – DAS TURINER PFERD (2011).2 Ihre
Entstehungszeiten lassen darüber hinaus unmissverständlich erkennen: Es ist vor
allem der ›große‹ Tarr, jener der zweiten, die Hauptwerke versammelnden Schaf-
fensphase also, der im Rückgriff auf die Literatur operiert. Die folgende Frage liegt
daher nahe: Ist die Größe Tarrs der Literatur geschuldet, oder genauer: der Litera-
tur seines ungarischen Landmannes und Freundes László Krasznahorkai? [> KRASZ-
NAHORKAI, LÁSZLÓ; PSYCHOLOGIE]

ALLEGORIE: »Die Arbeit der Interpretation«, so heißt es in Susan Sontags frühem
Essayklassiker Against Interpretation (1964), »ist im Grunde eine Übersetzungsar-
beit. Der Interpret sagt: Schaut her, sehr ihr nicht, daß X in Wirklichkeit A ist –
oder bedeutet? Daß Y in Wirklichkeit B ist? Daß Z in Wirklichkeit C ist?«3 Vor
allem die Kafka-Exegese zeige dies unmissverständlich, indem sie die Werke des
Pragers wahlweise als soziale, psychoanalytische oder religiöse Allegorien begreift:
Sehr ihr nicht, dass das Schloss in Wirklichkeit Gott ist?4 Als Motto vorangestellt

  1 László Krasznahorkai: Satanstango, Frankfurt am Main 2010 (11985), S. 137.
  2 Auch bei DAS LETZTE BOOT, Tarrs Beitrag für den Omnisbusfilm CITY LIFE (Alejandro Ag-
    resti u.a. 1990), handelt es sich um eine Adaption, basierend auf László Krasznahorkais
    gleichnamiger Erzählung.
  3 Susan Sontag: »Gegen Interpretation« (1964), in: dies.: Kunst und Antikunst: 24 literarische
    Analysen, Frankfurt am Main 1995, S. 11-22, hier: S. 13.
  4 Vgl. ebd., S. 16. Den der Interpretation inhärenten, von Sontag so sehr beklagten Verlust
     an Sinnlichkeit veranschaulicht Jean-Paul Sartre treffend wie folgt: »[Man] spricht […] von
    der Sprache der Blumen. Aber wenn nach allgemeiner Übereinkunft weiße Rosen für mich
    ›Treue‹ bedeuten, so habe ich ja aufgehört, sie als Rosen zu sehen: mein Blick dringt durch
    sie hindurch und meint jenseits von ihnen jene abstrakte Tugend; ich vergesse sie, ich ach-
    te nicht auf ihre samtige Schwellung, auf ihren süßlich modrigen Geruch; ich habe sie

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sind Satanstango (1985) Worte des Landvermessers K. aus Kafkas Schloß (1926) –
passenderweise, möchte man behaupten. Schließlich provoziert das – Kafka so
enorm viel verdankende5 – Romandebüt Krasznahorkais ebenso wie sein Nachfol-
ger Melancholie des Widerstands (1989) unablässig allegoretische Lektüren: Seht ihr
nicht, dass das Ende des Dorfes in Wirklichkeit das Ende bzw. der Anfang vom
Ende des Ostblocks ist? [> KRASZNAHORKAI, LÁSZLÓ] Doch gilt dies auch für das
Dorf aus Tarrs Adaption? [> DORF] Nein! Dies zumindest behauptet der Regisseur,
der nicht nur SATANSTANGO, sondern auch seinen anderen Werken unablässig jed-
weden allegorischen Zug abspricht.6 Schützenhilfe bekommt er hierbei von Jac-
ques Rancière. Der nämlich nennt die Tarrschen Welten »vollkommen realistisch,
vollkommen materiell, jedoch bereinigt von allem, was jene reine Sensation trüben
könnte, die nur das Kino zu bieten vermag.«7 Der Philosoph bringt demnach,
wenn auch nur implizit, den Medienwechsel als entscheidenden Faktor bei der Ent-
allegorisierung von Krasznahorkais Exodus-Stoff mit ins Spiel. [> PSYCHOLOGIE]
Was er (wie Tarr) bloß konstatiert, ließe sich semiologisch wie folgt fundieren: Da
die Literatur auf einem nahezu vollständig unsinnlichen symbolischen Zeichensys-
tem fußt, es der mit ihr Befasste folglich notwendigerweise »mit Bedeutungen zu
tun [hat]«,8 wie es bei Jean-Paul Sartre heißt, ist jede Lektüre ab ovo eine Form von
Übersetzung, so dass deren Wiederholung auf übergeordneter Ebene, also die
Übersetzung der Übersetzung als Allegorisierung, gleichsam naheliegt. Das zu-
gleich ikonische wie indexikalische Zeichensystem des Films hingegen bringt, was

      nicht einmal wahrgenommen.« (Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur?, Reinbek 2006 [11948]
      S. 13-14).
  5   Unübersehbar ist dies vor allen Dingen in den Behördenszenen des zweiten Kapitels. Dort
      heißt es unter anderem: »Zwischen den unzähligen Schreibtischen flitzen nervös die Schrei-
      ber umher, und stehen sich dann und wann zwei auf engem Raum gegenüber, so schubsen
      sie einander mit einem um Nachsicht bittenden Lächeln aus dem Weg, weshalb auch die
      Schreibtische unablässig verschoben werden, deutliche Rutschspuren auf dem Fußboden
      zurücklassend. Einige Schreiber jedoch rühren sich nicht von ihren Plätzen, und obwohl
      sich die Arbeit unverkennbar bedrückend vor ihnen türmt, müssen sie einen Großteil ihrer
      Zeit darauf verwenden, mit ihren Kollegen zu zanken, weil sie unablässig von hinten ange-
      stoßen oder ihre Tische weggerückt werden.« (Krasznahorkai: Satanstango, S. 42) Keine Fra-
      ge: Ein Kafka-affineres Schreiben ist kaum denkbar.
  6   Vgl. Jacques Rancière: Béla Tarr: Die Zeit danach, Berlin 2013, S. 65.
  7   Ebd., S. 11. Mit Blick auf SATANSTANGO äußert er sich an anderer Stelle wie folgt: Es sei der
      »letzte der großen historisch-materialistischen Filme […]. Es gibt nichts, das nicht gänzlich
      materiell, gänzlich sensorisch wäre in diesem Film.« (Jacques Rancière: »Béla Tarr: Die Ar-
      beit der Zeit« [2004], in: ders.: Und das Kino geht weiter: Schriften zum Film, Berlin 2013
      [12012], S. 103-108, hier: S. 103) In Tarrs opus magnum ein Musterbeispiel dessen auszu-
      machen, was Tiago de Luca als realism of the senses bezeichnet, wäre von Rancièrescher Warte
      aus demnach gewiss nicht verfehlt. Vgl. Tiago de Luca: Realism of the Senses in World Cine-
      ma: The Experience of Physical Reality, London und New York 2014.
  8   Sartre: Was ist Literatur?, S. 16. Auszunehmen ist Sartre zufolge allein die Lyrik, weil ihr eine
      »poetische Haltung« zugrunde liege, »die die Wörter als Dinge und nicht als Zeichen be-
      trachtet.« (Ebd., S. 17).

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ihm von Parteigängern der Literatur gern zum Vorwurf gemacht wird, keine Über-
setzungsnotwendigkeit mit sich. Es präsentiert die Dinge statt im telling mode (wie
die Literatur) im showing mode, das heißt unter – wenn auch natürlich nicht voll-
ständiger – Beibehaltung ihrer sinnlichen Materialität und ihrem faktischen So-
sein.9 »Der Film«, konstatiert Rancière geradezu euphorisch, »ist eine Kunst des
Sinnlichen. Nicht einfach nur des Sichtbaren«,10 und Sontag zufolge ist es exakt
dieser Umstand, der ihm eine Art medienspezifischen Schutz gegen die Interpreta-
tion und Allegorese verleihe. Letzterer mache »Kunstwerke« möglich, »deren Ober-
fläche so geschlossen und klar, deren Impuls so stark und deren Sprache so direkt ist
[Hervorh. J. G.], daß das Werk sein kann … nun, ganz einfach sein kann, was es
ist«11 – im Fall von SATANSTANGO die Geschichte eines Dorfes und seiner Bewoh-
ner, die uns Regen als Regen, Matsch als Matsch, Bartstoppeln als Bartstoppeln
und tumb Tanzende als tumb Tanzende präsentiert, kurz: in der die Dinge sind,
ohne zu bedeuten.12 [> REGEN; TANZ] Dass die letztjährige »Heuschreckenplage«,13
von der der Roman zu berichten weiß, in dessen Adaption außen vor bleibt, lässt
sich angesichts des hier Gesagten möglicherweise wie folgt erklären: Man hielt das
Naturphänomen ob seiner so dominanten alttestamentarischen Konnotationsof-
ferte für nicht recht passend, da allzu ›zeichenhaft‹ bzw. ›übersetzungsheischend‹
für den materialistischen Charakter des Films. [> TIERE]

BETRUG: Mit Krasznahorkai hält der Betrug als zentrales Thema Einzug ins Schaf-
fen Tarrs, dessen drei nun in Folge entstehende Werke, VERDAMMNIS (1987), SA-
TANSTANGO und DIE WERCKMEISTERSCHEN HARMONIEN, eine regelrechte Trilogie
des Betrugs bilden. Ihr unangefochtenes Prunkstück ist SATANSTANGO, dessen Plot
zum Bersten gefüllt mit Betrügen ist. Von ihnen erlangen letztlich zwei zentrales
Gewicht: derjenige Estikes (Erika Bók) durch ihren Bruder Sanyi (András Bodnár)

  9 Zur Unterscheidung von telling mode, showing mode und participatory mode vgl. Linda Hut-
    cheon: A Theory of Adaptation, London und New York 2013 (12006), passim.
 10 Rancière: Béla Tarr, S. 11.
 11 Sontag: »Gegen Interpretation«, S. 19.
 12 Dies in scharfem Gegensatz zu Bernhard Hetzenauer, der in seiner insbesondere hinsichtlich
    der Blickanalyse sehr lesenswerten freudianischen bzw. lacanianischen Auseinandersetzung
    mit Tarr und SATANSTANGO immer wieder auf allegoretische Auslegungen abstellt, etwa
    wenn er das im Matsch wühlende Schwein zum »Sinnbild für die menschliche Triebhaftig-
    keit« (Bernhard Hetzenauer: Das Innen im Außen: Béla Tarr, Jacques Lacan und der Blick,
    Berlin und Köln 2013, S. 61) erklärt, im Dauerregen ein »Symptom« ausmacht, das »dem
    Freud’schen Prinzip des Wiederholungszwangs nahe[steht]« (ebd., S. 24), oder aber das In-
    die-Falle-Gehen der Dorfbewohner als Initial ihrer »Subjektwerdung« (ebd., S. 80) gedeutet
    wissen will. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Marc Weiland, demzufolge es sich bei dem
    Tanz in der Kneipe um eine »Metapher des Lebens der Dorfbewohner, ja des menschlichen
    Daseins schlechthin« handelt (Marc Weiland: »Ontologie des Nicht-Mehr: Rurale Räume
    bei Béla Tarr und László Krasznahorkai, oder: Der Mensch in der Landschaft danach?«, in:
    Werner Nell und Marc Weiland [Hrsg.]: Imaginäre Dörfer: Zur Wiederkehr des Dörflichen in
    Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014, S. 463-480, hier: S. 473).
 13 Krasznahorkai: Satanstango, S. 10.

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sowie derjenige der Dorfbewohner durch Irimiás (Mihály Víg), wobei der Erfolg
(inklusive seiner fatalen Konsequenz14) des ersten den Erfolg des zweiten zu guten
Teilen bedingt bzw. überhaupt erst ermöglicht. [> SUIZID] Die Ähnlichkeit der in-
einandergreifenden Betrüge liegt auf der Hand: Beiden Opfern wird Geld abge-
nommen, indem man ihnen dessen Vermehrung in Aussicht stellt; und die wiede-
rum soll durch ein in der Natur gegründetes bzw. die (augenscheinlich nicht
vorhandene) Fruchtbarkeit der Erde voraussetzendes Wachstum – eines Geld-
baums bzw. einer florierenden landwirtschaftlichen »Musterwirtschaft«15 – erfol-
gen. Unverkennbar ist zudem, dass nicht etwa, wie dies Rancière behauptet, das
geistig behinderte Kind, sondern Sanyi gemeinsam mit dem falschen Propheten in
einem Team spielt, dass sie beide es sind, die als »Zeichner gerader Linien«16 dafür
sorgen, dass ihre Opfer ihre im Gleichen zirkulierende Existenz hinter sich lassen,
sie sich gegen den Kreis und für die Linie entscheiden. »Der große Betrug um ein
neues Leben«, so Rancière ganz in diesem Sinne, »ist auch ein Impuls, der den Kör-
pern eine neue, geradlinige Richtung aufzwingt«17 und dadurch, wenn man so will,
eine geschichtliche Existenz verleiht. Derart verwandelt, machen sich die arglosen
Betrogenen auf den Weg. Dieser führt Estike in den Tod, die Dörfler in Irimiás’
Spinnennetz. [> GEMEINSCHAFT; SUIZID]

BLINZELN: Bekanntlich sehen wir, da wir blinzeln, einen Film nie zur Gänze. Als
die sommersprossige Estike mit dem steifen Katzenkadaver unterm Arm in ge-
spenstischer Entschlossenheit – »an Stehenbleiben war nicht zu denken«,18 heißt es
bei Krasznahorkai – in strikter Frontalität zur Kamera ihrem Suizid entgegengeht
[> SUIZID], tut sie dies im wörtlichen Sinne offenen Auges, das heißt, sie blinzelt
nicht ein einziges Mal. Oder doch? Die richtige Antwort hierauf kann nur geben,
wer sich bei der Betrachtung ihres Ganges selbst Gewalt antut und das Blinzeln
unterdrückt. Zweifelsohne: Bisweilen können uns überlange Einstellungen auf ent-
legene Rezeptionsgleise führen. [> EINSTELLUNG, ÜBERLANGE; ZWANG]

DORF: Die Suspendierung der Handlung geht im Film mit einer Profilierung der
Zeit [> ZEIT], aber auch des Raums einher. Das heißt, das slow cinema ist – und dies
wird im breiten Fahrwasser von Gilles Deleuzes Überlegungen zur kinematografi-
schen Zeitlichkeit gern vergessen – immer ein entschieden am Raum interessiertes
Kino.19 Demgemäß ist denn auch die eigentliche Hauptfigur der ausnahmslos on

 14 Erwähnt sei, dass die im Film so plausibel wirkende Kausalität zwischen dem Betrogenwer-
    den und anschließendem Suizid Estikes im Roman nicht gegeben ist. Hier nämlich trägt
    sich das Mädchen bereits vor Sanyis hinterhältigem Vorschlag mit dem Gedanken an den
    Freitod durch Rattengift. Vgl. Krasznahorkai: Satanstango, S. 134.
 15 Ebd., S. 205.
 16 Rancière: Béla Tarr, S. 58.
 17 Ebd., S. 61.
 18 Krasznahorkai: Satanstango, S. 154.
 19 Zum slow cinema vgl. unter anderem Ira Jaffe: Slow Movies: Countering the Cinema of Action,
    London und New York 2014, Orhan Emre Çağlayan: Screening Boredom: The History and

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location gedrehten Filme Tarrs der jeweilige Schauplatz.20 Folgt man Rancière, so
handelt es sich bei diesem grundsätzlich um einen »Ort von beispielhafter Ge-
wöhnlichkeit, an dem sich die Erwartung des Identischen und die Hoffnung auf
Veränderung rhythmisch gliedern lassen«,21 das heißt Kräfte der Stasis bzw. Träg-
heit und solche des Wandels zueinander in Konkurrenz treten und so für Dynamik
sorgen. In SATANSTANGO geschieht dies in einem namenlos bleibenden Dorf in den
Weiten der ungarischen Puszta. Nähern wir uns ihm über einen Umweg durch die
Weiten der amerikanischen Prärie: »A fine town!« Das sei das nahegelegene Tomb-
stone, so Old Man Clanton in John Fords Westernklassiker MY DARLING CLEMEN-
TINE (1946) bei seinem initialen Treffen mit Wyatt Earp. Kurz darauf sehen wir
diesen im strömenden Regen nach Tombstone einreiten, einer bloßen Handvoll
Häuser. Matschige Straßen, Prostituierte sowie torkelnde und schießwütige Be-
trunkene prägen das Bild, das wir aber nicht vorschnell als bloßes Kontrastbild zur
Aussage Clantons deuten sollten. Seine Worte offenbaren nämlich keineswegs al-
lein seine eigene Präferenz fürs Unzivilisierte (die er implizit auch Earp unterstellt);
vielmehr benennen sie darüber hinaus – und dies freilich ohne, dass es dem Spre-
cher bewusst wäre – das Telos des Films bzw. das Ziel, das Tombstone bereits von
Anfang an als Kern in sich trägt und das durch das rigorose town taming des Heils-
bringers Earp gemäß der Deleuzeschen S-A-S’-Formel22 in greifbare Nähe rückt:
nämlich eine Stadt zu sein, die, zivilisiert und in die Sphäre des Gesetzes überführt,
die Bezeichnung »fine town« wirklich verdient.23 Wie die meisten Städte im Wes-
tern ist Tombstone demnach eine Stadt im Zeichen des Noch-nicht, ein Ort des
Versprechens auf eine bessere Zukunft, das weithin Glauben findet. Letzteres bestä-
tigt die Ankunft immer neuer Siedler, deren aus dem Osten kommende Planwagen
wir wieder und wieder durchs Bild fahren sehen. Keine Frage: Der Gegensatz zu
dem nahezu verlassenen, in Krasznahorkais Roman als »Siedlung«24 titulierten
Dorf, mit dem uns SATANSTANGO bekannt macht, könnte kaum größer sein. Zwar
gibt es sie, die Westernaffinitäten (im Nichts gelegen, unbefestigte Straßen, Betrun-
kene, Prostituierte etc.), doch dürfen sie uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass
der bei Ford (und im klassischen Western generell) herrschende Fortschrittsopti-

      Aesthetics of Slow Cinema, Kent 2014, de Luca: Realism of the Senses in World Cinema sowie
      Tiago de Luca und Nuno Barradas Jorge (Hrsg.): Slow Cinema, Edinburgh 2016, darüber
      hinaus aber auch Nadin Mais Webseite The Art(s) of Slow Cinema, http://theartsofslowcine-
      ma.com [Zuletzt aufgerufen am 25.1.2016].
 20   Vgl. hierzu Rancière: Béla Tarr, S. 87, darüber hinaus aber auch András Bálint Kovács: The
      Circle Closes: The Cinema of Béla Tarr, London und New York 2013, S. 15 und Çağlayan:
      Screening Boredom, S. 90.
 21   Rancière: Béla Tarr, S. 91.
 22   Diese kennzeichnet die große Form des Aktionsbildes, in der auf eine Situation eine Aktion
      folgt, aus der wiederum eine transformierte Situation hervorgeht. Vgl. hierzu Gilles De-
      leuze: Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt am Main 1989 (11983), S. 193ff.
 23   Vgl. hierzu Jörn Glasenapp: »Der sitzende Marshall: Reinigung und Selbstreinigung in John
      Fords MY DARLING CLEMENTINE«, in: Weimarer Beiträge, Jg. 58 (2012), H. 1, S. 9-22.
 24   Krasznahorkai: Satanstango, S. 9, passim.

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mismus hier sein konsequent ins Negative gewendetes Pendant findet: Statt Aufbau
begegnet uns Abbau, statt Wachstum Schwund, statt Zuzug Abzug. Was Karrer,
der zur philosophischen Reflexion neigende Protagonist aus VERDAMMNIS, konsta-
tiert – nämlich, dass jedwede Geschichte vom Verfall erzähle –, wird durch die des
SATANSTANGO-Dorfes vollauf bestätigt. Denn restlos alles steht hier im Zeichen des
Nicht-mehr, das genau genommen freilich auf ein Nicht-weit-gekommen-Sein re-
kurriert, wovon insbesondere das durch den Dauerregen so prominent werdende
Fehlen des Teers auf den Straßen Zeugnis ablegt. [> REGEN] András Bálint Kovács
spricht von einer – für Osteuropa typischen – »unfinished modernisation blocked
halfway to completion.«25 Am Ende des Films beläuft sich die Zahl der im Dorf
Verbliebenen auf fünf; die anderen sind in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft
den diabolisch-messianischen Versprechungen des vermeintlichen Heilsbringers
Irimiás gefolgt, dessen Name auf Jeremia, den Propheten des Alten Testaments,
verweist. Unter der Führung dieses Mannes, der, so Futaki (Miklós B. Székely),
»aus Kuhscheiße ein Schloss bauen könnte«, soll an die Stelle des Nicht-mehrs
noch einmal das einstige Noch-nicht treten, will man sich das alte Telos neu er-
schaffen, erneut zum ›Anfänger‹ werden.26 Dass die Desillusion nicht lange auf sich
warten lassen, Geschichte erneut ins Kreisen münden wird, ist gewiss. [> BETRUG;
GEMEINSCHAFT]

EINSTELLUNG, ÜBERLANGE: Gehen wir vom Naturbegriff Georg Simmels aus und
»[verstehen] [u]nter Natur […] den endlosen Zusammenhang der Dinge, das un-
unterbrochene Gebären und Vernichten von Formen, die flutende Einheit des Ge-
schehens, die sich in der Kontinuität der zeitlichen und räumlichen Existenz
ausdrückt«,27 so können wir getrost behaupten, dass es Tarr mit SATANSTANGO auf
größtmögliche Naturnähe abgesehen hat. Sein diesbezüglich wichtigstes Instru-
ment ist die lange, mitunter endlos anmutende Plansequenz, die bereits im Früh-
werk, in FAMILIENNEST (1977), BETONBEZIEHUNG (1982) oder dem aus bloß zwei
Einstellungen bestehenden Fernsehspiel MACBETH etwa, Verwendung findet. Erst
mit VERDAMMNIS allerdings avanciert sie zum ohne Frage markantesten Stilmittel

 25 Bálint Kovács: The Circle Closes, S. 55. Krasznahorkai zufolge liegt die »Blütezeit« des Dor-
    fes, die Phase also, in der man noch neue Anwohner, wie unter anderem Futaki, anwarb, erst
    ganze zwei Jahre zurück. Vgl. Krasznahorkai: Satanstango, S. 14. Geht man nun davon aus,
    dass es damals noch keine allzu augenfälligen Verfallserscheinungen gegeben hat, so wird
    man angesichts der extremen Heruntergekommenheit, die uns das Dorf zum Zeitpunkt der
    Handlung präsentiert, zu folgendem Schluss kommen müssen: Der Niedergang schreitet
    außerordentlich, ja unnatürlich schnell voran – und dies, wie wir deutlich stärker noch als
    im Film im Roman erfahren, nicht nur auf dem Land, sondern überall, also auch in der
    Stadt. »›Hier fault alles‹«, belegt dies ein Wachtmeister in der Behörde. »›In drei Wochen
    sind zweimal die Wände geweißt worden…‹« (Ebd., S. 43).
 26 Zur Euphorie des Anfangens vgl. Rüdiger Safranski: Zeit: Was sie mit uns macht und was wir
    aus ihr machen, München 2015, S. 41-62.
 27 Georg Simmel: »Philosophie der Landschaft« (1913), in: ders.: Jenseits der Schönheit: Schrif-
    ten zur Ästhetik und Kunstphilosophie, Frankfurt am Main 2008, S. 42-52, hier: S. 42.

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des auf kurze Einstellungen nun fast gänzlich verzichtenden Regisseurs, was im
Übrigen den Verdacht nahelegt, zumindest in Teilen habe hier Krasznahorkais ab-
satzlose, von George Szirtes als »a slow lava-flow of narrative, a vast black river of
type«28 apostrophierte Prosa Pate gestanden. »Die Plansequenz […] [respektiert]
die Natur des Kontinuums […], die Natur der erlebten Dauer«,29 vermerkt Ran-
cière, der damit wie andernorts auch – man denke an seine Unterscheidung zwi-
schen ›absolutem‹ und ›relativem Sehen‹30 – implizit, aber nur allzu offenkundig
auf André Bazin und dessen zumal über die Auseinandersetzung mit dem italieni-
schen Neorealismus entwickelte Forderung nach filmischer Schonung der Realität
rekurriert.31 Hinsichtlich der Schnitthäufigkeit bzw. durchschnittlichen Einstel-
lungslänge treibt Tarr diese Schonung (nicht nur) in SATANSTANGO denkbar weit.
Schließlich besteht der gesamte Film bloß aus etwa 150 Einstellungen, die im Mit-
tel knapp drei Minuten lang sind.32 Dies wiederum hat zur Folge, dass das zu Scho-
nende unter dem ihm geltenden, schonungslos starrenden und dadurch rasch
selbstreferenziell werdenden Blick der Kamera zuweilen einigermaßen aus dem
Blick zu geraten droht. [> STARREN; ZWANG] Man schaue sich in diesem Zusam-
menhang nur die erste Einstellung an, den seine Virtuosität so offensiv ausstellen-
den Prolog, der uns die Kühe in ihrem gemächlichen Gang durchs Dorf zeigt.
[> KÜHE] Einem wird klar: Die Ereignisse, die Tarrs Plansequenzen in ihrer »atem-
beraubenden Schönheit«33 zeigen, sind zu guten Teilen die Einstellungen selbst.34
Entsprechend lassen sie aufs Eindringlichste deutlich werden, was letzten Endes für
Filme jedweder Couleur konstitutiv ist: nämlich, dass sie Ereignisse im Bild allein

 28 Szirtes zitiert nach James Wood: »Madness and Civilization: The Very Strange Fictions of
    László Krasznahorkai«, in: The New Yorker (4.7.2011), S. 71-75, hier: S. 71. Erwähnt sei,
    dass Szirtes für die hochgelobte englischsprachige Übersetzung von Satanstango verantwort-
    lich zeichnete.
 29 Rancière: Béla Tarr, S. 83.
 30 Während ersteres »dem Sichtbaren die Zeit einräumt, seine eigene Wirkung zu produzie-
    ren«, wird es bei letzterem »im Dienst der Handlungsverkettung instrumentalisiert« (ebd.,
    S. 37), so Rancière, dem Tarr als mustergültiger Vertreter des ›absoluten Sehens‹ gilt.
 31 Vgl. hierzu Jörn Glasenapp: Abschied vom Aktionsbild: Der italienische Neorealismus und das
    Kino der Moderne, München 2013, S. 7-23.
 32 Angemerkt sei zum einen, dass die Einstellungen im hinteren Teil von SATANSTANGO deut-
    lich länger sind als im vorderen, zum anderen, dass ihre durchschnittliche Länge von Film
    zu Film stetig ansteigt. So bringt es DAS TURINER PFERD bei einer Spiellänge von 146 Minu-
    ten schließlich auf nur mehr 29 im Schnitt gut fünf Minuten lange Einstellungen. Vgl.
    hierzu auch Bálint Kovács: The Circle Closes, S. 91.
 33 Rancière: Béla Tarr, S. 86.
 34 Vgl. hierzu auch Ulrich Meurers Behauptung, »daß jede Plansequenz ihre zuweilen atembe-
    raubende Zeitlichkeit weniger dem Fluß der Phänomene verdankt als dessen Simulation
    durch ein Medium, in dem eine solche Aufnahme wegen ihrer aufwendigen Logistik, des
    nur begrenzten Fassungsvermögens der Filmkassette und der oftmals schweren und un-
    handlichen Aufzeichnungsmaschine einen unausweichlich selbstreferentiellen Kraftakt dar-
    stellt.« (Ulrich Meurer: »Alles fließt: Die Ordnung der Plansequenz«, in: Schnitt (2009), H.
    56, S. 24-27, hier: S. 27).

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unter der Bedingung, selbst Bildereignis zu sein, zu präsentieren imstande sind.
»Filme«, so Martin Seel ganz in diesem Sinne, »stellen nicht bloß etwas mehr oder
weniger Spektakuläres dar, sie stellen selbst ein besonderes Spektakel dar – und das
oft gerade dann, wenn sie gar nichts Spektakuläres darzustellen haben. Wo Filme
dieses Potential ausschöpfen, bieten sie den Zuschauern ihre Schauspiele dar, in-
dem sie ihnen das Schauspiel ihrer Darbietung präsentieren.«35 Eben hierin besteht
ihr doppelter Attraktionismus. [> LANGSAMKEIT]

FENSTER: »Fenster sind Löcher in Wänden. Wände sind Instrumente zum Schutz
gegen draußen. Auch Türen sind Löcher in Wänden. Sie dienen dem periodischen
Vorstoß nach draußen und der Rückkehr nach drinnen. Die drei Werkzeuge müs-
sen synchronisiert werden, sollen sie sinnvoll funktionieren. Zum Beispiel so: Aus-
blick aus dem Fenster (Orientierung), gefolgt vom Vorstoß aus der Tür (orientier-
tes Engagement), gefolgt von der Rückkehr in die vier Wände (Einkehr). Dies ist
der Rhythmus des menschlichen Lebens, und ohne Wände, Fenster und Türen
kann der Mensch nicht sinnvoll leben. Sie sind lebenswichtige Instrumente.«36 In-
dem Vilém Flusser in seiner Reflexion über das Fenster das kausale Ineinandergrei-
fen von Sehen und Tun betont, redet er implizit Simmel das Wort, der dem Fens-
ter, da »es […] für das Hinaussehen da [ist], nicht für das Hineinsehen«, ein »von
innen nach außen«37 gerichtetes Telos attestiert. Wie Flusser geht Simmel von einer
Welt aus, in der ein »orientiertes Engagement«, eine aus der Rezeption resultieren-
de Aktion möglich und vernünftig ist, einer Welt demnach, wie sie uns das klassi-
sche Handlungskino bzw. Aktionsbild vorführt.38 Bekanntlich blicken Tarrs Figu-
ren oft aus dem Fenster, am Anfang von BETONBEZIEHUNG, in VERDAMMNIS und
SATANSTANGO ebenso wie in DER MANN AUS LONDON und DAS TURINER PFERD,
und sie tun es, weil sie glauben, in solch einer handlungsoffenen Welt zu leben,
bzw. weil sie überzeugt davon sind, auf ihre Wahrnehmung Taten folgen lassen zu
können.39 Am Ende, nachdem all ihr Tun ins Leere gelaufen ist, wissen sie es bes-
ser: Die ihrige ist eine Welt, in der der »Rhythmus des menschlichen Lebens«, von
dem Flusser spricht, ausgesetzt ist und es sich »nicht sinnvoll leben« lässt. Jedwede

 35 Martin Seel: Die Künste des Kinos, Frankfurt am Main 2013, S. 104. Vgl. auch ebd., S. 108:
    »Wie die Ereignisse im Film durch das Ereignis des Films, sei es hervorgerufen, sei es gestal-
    tet, sei es gefärbt werden: Das macht die besondere formale Attraktion des filmischen Be-
    wegtbildes aus.«
 36 Vilém Flusser: »Für eine Phänomenologie des Fernsehens« (1974), in: ders.: Medienkultur,
    Frankfurt am Main 1998, S. 103-123, hier: S. 111-112. Vgl. auch ders.: »Häuser bauen«
    (1989), in: ders: Medienkultur, S. 160-163, hier: S. 161-162.
 37 Georg Simmel: »Brücke und Tür« (1909), in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918,
    Bd. 1, Frankfurt am Main 2001, S. 55-61, hier: S. 59. Vgl. hierzu auch Otto Friedrich Boll-
    now: Mensch und Raum (1963), in: ders.: Schriften, Bd. 6, Würzburg 2011, S. 125-126.
 38 Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 193ff.
 39 Dies im Gegensatz zu Rancière, der den Tarrschen »Mann am Fenster« als eine von vornhe-
    rein aufs bloße Sehen beschränkte, da im wahrsten Sinne des Wortes ziellose Figur profiliert,
    die »die Dinge auf sich zukommen lässt.« (Rancière: Béla Tarr, S. 42).

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Aktion ist vergeblich, weswegen sich der Blick aus dem Fenster auch nicht lohnt.
In SATANSTANGO führt diese Erkenntnis in gewisser Weise das Ende des Films her-
bei: Der schwerfällige Doktor (Peter Berling), der manchen an den fußlahmen Ti-
telhelden aus E.T.A. Hoffmanns später Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) er-
innern mag, gibt, nachdem er als Verursacher des rätselhaften Glockenläutens
einen schwachsinnigen Alten in der nahegelegenen Kapellenruine ausgemacht hat,
seinen »Beobachtungsposten«40 auf und nagelt das Fenster, das ›Auge des Hauses‹,
mit Brettern zu. Die Leinwand wird stufenweise schwarz. Kurz darauf folgt der Ab-
spann. [> SCHWERE] Knapp 20 Jahre später wird Tarr hierauf zurückkommen, und
zwar mit dem Schluss von DAS TURINER PFERD, einem Kammer-Endspiel vom
Ende der Welt, aus der sich jedweder élan vital allmählich verflüchtigt: Die Holz-
würmer stellen ihr Nagen ein, das Pferd sträubt sich gegen sein Halfter und will
nicht mehr fressen, der Brunnen versiegt, und der tosende Sturm weicht einer ge-
spenstischen Windstille. Schließlich versagen Herdfeuer und Lampe ihren Dienst,
und die Welt versinkt in völliger Dunkelheit, das heißt, ihr geht das Licht und da-
mit der Urstoff des Mediums Film abhanden, wodurch Tarrs Abschied von der
Leinwand unschwer auch als Imagination über das Ende der Kinematografie lesbar
wird.41 [> HAUS; PFERDE]

GEMEINSCHAFT: Nimmt man die offenbar etwas abseits gelegene Kneipe aus, so hat
das Dorf, das uns in SATANSTANGO präsentiert wird und dessen räumliche Koordi-
naten sich uns mit der Zeit zumindest einigermaßen erschließen, keinerlei von den
Bewohnern gemeinsam genutztes bzw. kommunales Gebäude. Kirche, Rathaus,
Postamt oder Läden, aber auch das im Roman erwähnte »Kulturhaus«, das mitun-
ter zum Kinosaal umfunktioniert wird,42 sucht man vergebens.43 [> HAUS] Selbst-
verständlich passt dies zu einer Gemeinschaft, die diesen Namen nicht im Mindes-
tens verdient, in der stattdessen jeder als »Falschspieler«44 agiert, für sich allein
kämpft und den anderen – ob mit dessen Frau oder um dessen Geld – betrügt. Die
damit verbundene Hoffnung, aus der tristen Monotonie heraus- und voranzukom-
men, bleibt freilich stets unerfüllt. Bemerkenswerterweise keimt der Funke der Ge-
meinschaft unter den Dörflern erst, nachdem sie, kollektiv hinters Licht geführt,
aufgebrochen sind. Voller Zuversicht folgen sie dem, wie es bei Otto Friedrich
Bollnow heißt, »Sog der Straße« bzw. deren »Zug nach vorn«,45 und während die
Wodkaflasche kreist, spricht Halics (Alfréd Járai) von ihrer aller »neuen Leben«.
Zuvor hatte sie Irimiás gleichermaßen pompös wie pathetisch für »frei» erklärt,
und in gewisser Weise – dann nämlich, wenn man sich darauf besinnt, dass ›frei-

 40 Krasznahorkai: Satanstango, S. 63, passim.
 41 Vgl. hierzu auch Hetzenauer: Das Innen im Außen, S. 96-97 sowie Weiland: »Ontologie des
    Nicht-Mehr«, S. 477-479.
 42 Vgl. Krasznahorkai: Satanstango, S. 21, 81 und 100-101.
 43 Vgl. hierzu auch Bálint Kovács: The Circle Closes, S. 76.
 44 Krasznahorkai: Satanstango, S. 10.
 45 Bollnow: Mensch und Raum, S. 80 und 79.

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sein‹ ursprünglich ›bei Freunden sein‹ bedeutete, es sich bei dem Begriff ›Freiheit‹
also um ein »Synonym für die gelingende Gemeinschaft«46 handelt – dürfen sich
die Dörfler in diesem Moment tatsächlich frei fühlen. Doch kaum, dass der nächs-
te Morgen graut, zerschlägt sich unter der Prügel, die Futaki durch Schmidt (Lász-
ló feLugossy) und Kráner (János Derzsi) bezieht, ihre ›Freundschaft‹ und mit ihr
ihre ›Freiheit‹. Nun erst sind sie vollends dazu bereit, in die Gefangenschaft zu ge-
hen und als im übertragenen Sinne Verladene verladen bzw. deportiert zu werden;
nun erst kann die »Geschichte vom Ende der Gemeinschaft«47 auf die Zielgerade
gehen, wobei der falsche Prophet, der seinerseits ausgeliefert und unfrei ist, durch
die am Schluss stehende räumliche Zerstreuung der Betrogenen manifest werden
lässt, was mit Ausnahme der kurzen Phase des Sich-auf-den-Weg-Machens immer
schon der Fall war. [> BETRUG]

HAUS: Seine kurze Einlassung zum Regen lässt Flusser mit der Beobachtung begin-
nen, es sei »gemütlich, durch das Fenster dem Regen zuzuschauen. Dort draußen
spielen die Naturkräfte und kreisen sinnlos wie immer. Derjenige, der von dem
Kreisen erfaßt wird, ist machtlos dem heftigen Wirbel und unkontrollierten Kräf-
ten ausgesetzt. Hier drinnen sind andere Prozesse im Spiel. Die Ereignisse lenkt
der, der drinnen ist. Die Ursache für das Gefühl der Geborgenheit ist das Gefühl,
sich während des sinnlosen Ungestüms der Natur inmitten von Geschichte und
Kultur zu befinden. Die Tropfen, die vom stürmischen Wind gegen das Fensterglas
schlagen, in den Raum aber nicht eindringen können, bilden den Sieg der Kultur
über die Natur.«48 [> FENSTER; REGEN] Unzweifelhaft handelt SATANSTANGO im
Wesentlichen von der Rücknahme dieses Sieges, der Verkehrung desselben zur Nie-
derlage, und ebenso wie Krasznahorkais Roman, der sich in ausführlichen Be-
schreibungen ergeht, wie das Regenwasser an den Fensterinnenseiten herunter-
fließt, wie die Feuchtigkeit in die Wände zieht, wie sich Schimmel und Moder im
Hausinneren ausbreiten und das Unkraut wuchert,49 lässt auch Tarrs Adaption die-
se Entwicklung insbesondere durch das Durchlässigwerden der Grenze zwischen
dem Innen und dem »feindlichen Draußen«,50 kurz: die Krise des Hauses augenfäl-
lig werden, das seine wesentliche Funktion – nämlich, den Raum der Geborgenheit
von dem der Bedrohung zu sondern51 – nicht mehr zu erfüllen vermag. »Nimmt
man ihm sein Haus – oder vorsichtiger: den Frieden seiner Wohnung –, so ist auch

 46 Byung-Chul Han: Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt
    am Main 2015 (12014), S. 12.
 47 Rancière: Béla Tarr, S. 51. Vgl. hierzu auch Weiland: »Ontologie des Nicht-Mehr«, S. 474-
    476.
 48 Vilém Flusser: Vogelflüge: Essays zu Natur und Kultur, München und Wien 2000, S. 32.
 49 Vgl. Krasznahorkai: Satanstango, S. 14, 19, 43, 67, 77, passim.
 50 Ebd., S. 67.
 51 Vgl. hierzu vor allem Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt am Main 2003
    (11957), passim und Bollnow: Mensch und Raum, S. 95-109, darüber hinaus aber auch Vi-
    lém Flusser: Dinge und Undinge: Phänomenologische Skizzen, München 1993, S. 89-90.

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die innere Zersetzung des Menschen unausbleiblich«,52 konstatiert Bollnow, wo-
von speziell der unter ›innerlichem Regen‹ leidende Halics ein Lied singen kann.53
Hatte sich Tarr in seinem Erstling FAMILIENNEST in sozial-realistischer Manier den
desaströsen Folgen der im damaligen Ungarn herrschenden Wohnungsnot gewid-
met und mit geradezu schmerzhafter Insistenz herausgestellt, was mit Menschen
geschieht, wenn der Haus- bzw. Wohnungsfrieden durch die extreme Überbele-
gung des Wohnraums permanent gestört ist, so findet sich das Thema der proble-
matisch gewordenen Behausung in SATANSTANGO wie auch den anderen Spätwer-
ken Tarrs, allen voran DAS TURINER PFERD, unverkennbar ins Kosmische gewendet.
Das heißt, nun geht es um die grundlegende Unbehaustheit des Menschen, dessen,
um es mit Tarrs Landsmann Georg Lukács zu sagen, »transzendentale Obdach-
losigkeit«,54 von der die bigotte Frau Halics (Erzsébet Gaál) nichts wissen will, von
der der Regisseur indes vollauf überzeugt ist. Ebendies geht beispielsweise aus ei-
nem Interview hervor, in dem letzterer zu der Behauptung des renommierten Film-
kritikers Jonathan Rosenbaum, er, Tarr, sei ein »despiritualized Tarkovsky«, folgen-
dermaßen Stellung bezieht: »The main difference [between Tarkovsky and us] is
Tarkovsky’s religious and we are not. But he always had hope; he believed in God.
He’s much more innocent than us – than me. No, we have seen too many things to
make his kind of film. I think his style is also different because several times I have
had a feeling he is much softer, much nicer.«55

KINDER: Was Estike für ihren Bruder ist, sind die Dorfbewohner für Irimiás: leicht-
gläubige Betrugsopfer. [> BETRUG] Nicht nur als solchen steht ihnen die Infantili-
tät ins Gesicht geschrieben. Dies in Rechnung gestellt, ist es nur konsequent, dass
niemand von ihnen Elternstatus erreicht hat, weder die Ehepaare Kráner, Halics
und Schmidt noch die Junggesellen Futaki und der Schulleiter (György Barkó). Zu
den wenigen, die nicht in Irimiás’ Falle tappen, gehört Frau Horgos (Ica Bojár), die
Mutter der einzigen Kinder im Dorf: Zwei von ihnen, die bereits erwachsenen
Töchter Mari und Juli, prostituieren sich, Sanyi wird zum Handlanger Irimiás’, Es-
tike, die Jüngste, bringt sich um. [> SUIZID]

KRASZNAHORKAI, LÁSZLÓ: Unübersehbar zerfällt Tarrs Werk in zwei Phasen: jene
sozial engagierte, die von FAMILIENNEST bis BETONBEZIEHUNG reicht, und jene ent-
schieden längere metaphysisch-formalistische, die mit VERDAMMNIS einsetzt und
mit DAS TURINER PFERD schließt. Als Wendepunkt bzw. Brücke zwischen beiden
fungiert HERBSTALMANACH (1984). Bekanntlich will der Regisseur von einem Ȋs-

 52 Bollnow: Mensch und Raum, S. 106.
 53 Vgl. hierzu auch Weiland: »Ontologie des Nicht-Mehr«, S. 466-467.
 54 Georg Lukács: Die Theorie des Romans: Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen
    der großen Epik, München 1994 (11920), S. 32.
 55 Phil Ballard: »In Search of Truth: Béla Tarr Interviewed«, in: Kinoeye: New Perspectives on
    European Film, Jg. 2 (2004), H. 2, http://www.kinoeye.org/04/02/ballard02.php [Zuletzt
    aufgerufen am 25.1.2016].

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thetischen Bruch«56 bzw. der Aufteilung seines Œuvres in Abschnitte nichts wissen,
pocht er stattdessen immerzu vehement auf die Konsistenz desselben.57 Wirklich
einschlägige Argumente für seine Sicht der Dinge kann er allerdings nicht ins Feld
führen, weswegen man zu fragen versucht ist, ob Tarr das Konsistenz-Argument
möglicherweise auch deshalb in Anschlag bringt, um nicht indirekt zugeben zu
müssen, dass bzw. in welch hohem Maße sich sein Sprung zur Reife der Mitarbeit
eines anderen, des Autors László Krasznahorkai, verdankt. Dieser »[betritt] mit
VERDAMMNIS das Universum Béla Tarrs«,58 so Rancière, der mit dieser Behauptung
allerdings am Eigentlichen vorbeigeht. Genau genommen nämlich entsteht das
Universum Béla Tarrs, also das, was wir mit dem Namen des Regisseurs verbinden,
erst in dem Moment, in dem Krasznahorkai am Schaffen des Regisseurs teilhat.
Letzterer hatte den Schriftsteller und seinen mittlerweile zum modernen Klassiker
avancierten Debütroman Satanstango bereits vor dessen Drucklegung über die Ver-
mittlung durch den Literaturkritiker Péter Balassa kennengelernt und sogleich eine
Adaption des Buchs ins Auge gefasst. Doch erwies sich das Vorhaben in all seiner
Maß- und Kompromisslosigkeit in der Endphase des sozialistischen Ungarn als un-
realisierbar, so dass man auf eine bescheidenere Idee Tarrs auswich, einen Noir-Stoff
um Verrat und vergebliche Liebe, aus dem schließlich der Neo-Noir-Film VER-
DAMMNIS werden sollte.59 Mit ihm feierte Tarr seinen internationalen Durchbruch.
Von da an entstanden alle weiteren Spielfilme des Regisseurs unter Drehbuchmitar-
beit von Krasznahorkai: nach SATANSTANGO, basierend auf Krasznahorkais zweitem
Roman Melancholie des Widerstands, DIE WERCKMEISTERSCHEN HARMONIEN, so-
dann, als Adaption des gleichnamigen, 1934 erschienenen Romans Georges Sime-
nons, DER MANN AUS LONDON. Dass dieser gegenüber den anderen Spätwerken
Tarrs qualitativ etwas abfällt und weder Kritik noch Publikum recht zu überzeugen
vermochte, mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Tarr mit DAS TURINER PFERD
erneut auf einen Text Krasznahorkais, den 1990 verfassten Nietzsche-Essay Spätes-
tens in Turin, als Impulsgeber und Vorlage zurückgriff. Es besteht kein Zweifel: Eine
engere Zusammenarbeit zwischen einem Schriftsteller und einem Regisseur als die-
jenige Tarrs und Krasznahorkais kennt die Filmgeschichte nicht. [> ADAPTION]

KÜHE: Als ein Film, der vor lauter Wiederholungsschleifen nur reichlich schlep-
pend vorankommt [> TANZ], beginnt SATANSTANGO ausgesprochen passend mit
Kühen, das heißt Expertinnen des Wiederkäuens und damit einer Tätigkeit, in der
bereits Friedrich Nietzsche das Urbild des Wiederholens ausmachte.60 Hierauf re-
kurrierend, wartet Peter Bexte mit folgender steilen Behauptung auf: »Wo immer

 56 Hetzenauer: Das Innen im Außen, S. 56.
 57 Vgl. hierzu Bálint Kovács: The Circle Closes, S. 5 und 55 sowie Hetzenauer: Das Innen im
    Außen, S. 9.
 58 Rancière: Béla Tarr, S. 43.
 59 Vgl. hierzu Bálint Kovács: The Circle Closes, S. 10 und 47.
 60 Vgl. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen (1883-1885),
    in: ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 2, Darmstadt 1997, S. 275-561, hier: S. 505-509.

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BÉLA TARRS KINO DER ZEIT, DES RAUMS UND DER MATERIALITÄT                 169

es um Feedbackschleifen und Wiederholungsstrukturen geht, da ist eine Kuh nicht
fern.«61 Darüber hinaus handelt es sich bei den Paarhufern um Wesen, die in diver-
sen Ursprungs- und Schöpfungsmythen eine prominente Rolle spielen, worin sich
das historische Faktum spiegelt, dass zumal auf ihrem Rücken bzw. durch ihre Do-
mestizierung die menschlichen Hochkulturen entstanden.62 »Im Kuhdunst«, so
bringt es Bexte auf den Punkt, »ist die Menschheit groß geworden!«63 Es sind dem-
nach Tiere des Anfangs, mit denen Tarr den Prolog seines langen Films vom Zu-
Ende-Gehen bestreitet. [> DORF] Schauen wir, wie sie uns begegnen: Wir hören
zunächst den Schrei einer Krähe, zweimal, dann treten sie heraus aus dem Gebäu-
de, das als lange Vertikale das Bild nach hinten gleichsam abdichtet. Etwa fünfzehn
Tiere sind es, die sich in aller Ruhe, hier und da muhend, auf den regengetränkten
Platz begeben, wobei sie sich, ohne dass eine sie treibende Kraft erkennbar wäre,
sogleich nach bildlinks orientieren – eine Bewegung, bei der ihnen die Kamera mit
einem ruhigen Schwenk folgt, so dass weitere Häuser in den Blick geraten. Bald
schon verteilt sich die Herde, nicht sehr, doch genug, um zu bewirken, dass das tie-
fenscharfe Bildfeld sie in ihrer Gesamtheit nicht mehr zu fassen vermag. Die Links-
bewegung setzt sich fort und mit ihr der Schwenk, der fast unmerklich in eine lang-
same Fahrt übergeht, durch die das Gros der Kühe im Kader gehalten wird. Der
aufgeweichte Boden wird zunehmend matschiger, eine Ansammlung großer Pfüt-
zen sichtbar, die Hufe der Tiere schmatzen in der Nässe. [> REGEN] Nun schiebt
sich ein Gebäude zwischen sie und die Kamera, und unser Blick zieht dicht an ei-
ner reichlich verwitterten Wand vorbei, bis die Kühe wieder in Sicht sind; dann
eine weitere – diesmal entschieden längere – Wand und erneut die Kühe, deren
Linksbewegung mittlerweile zum Stehen gekommen ist. Auch die Kamera verharrt
jetzt wieder, und wir verfolgen, wie die Herde ihren Kurs ändert und sich in die
Tiefe des Bildes Richtung Horizontlinie zurückzieht, um schließlich Tier für Tier
hinter einem Gebäude zu verschwinden. Siebeneinhalb Minuten ist der insgesamt
knapp siebeneinviertel Stunden lange Film mittlerweile alt, dessen in nur einer
Einstellung gefilmte Prolog – gegenüber dem Roman übrigens eine markante Zu-
tat – nur allzu offensichtlich proleptische Qualitäten birgt: Wie die Kühe werden
auch die Bewohner das Dorf verlassen, die Irimiás in Krasznahorkais Vorlage tref-
fenderweise als »eine Herde Vieh«64 tituliert, wozu es wiederum passt, dass Woj-
ciech Kuczok dem Betrüger die »Erbarmungslosigkeit eines Schlächters«65 attes-
tiert. Darüber hinaus gibt der Prolog dem Zuschauer folgenden Hinweis bzw. Rat
mit auf den langen Weg, der bei der Sichtung von SATANSTANGO zurückzulegen ist:

 61 Peter Bexte: »Kuh, Die«, in: Christian Kassung, Jasmin Mersmann und Olaf B. Rader
    (Hrsg.): Zoologicon: Ein kulturhistorisches Wörterbuch der Tiere, München 2012, S. 225-229,
    hier: S. 227.
 62 Vgl. Florian Werner: Die Kuh: Leben, Werk und Wirkung, München 2011, S. 9-10.
 63 Bexte: »Kuh, Die«, S. 225.
 64 Krasznahorkai: Satanstango, S. 57.
 65 Wojciech Kuczok: Höllisches Kino: Über Pasolini und andere, Frankfurt am Main 2008
    (12006), S. 87.

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170    JÖRN GLASENAPP

Erwarte, dass Dir Vorgänge – ebenso wie das Auftauchen und Verschwinden der
Kühe, deren Zeuge Du soeben warst – kontinuierlich und von Anfang bis zum
Ende gezeigt werden, und stelle Dich darauf ein, immer wieder zum Gefangenen
eines sich träge entfaltenden Geschehens zu werden! Beklage Dich nicht darüber,
sondern lerne, Deine Gefangenschaft und die Sicherheit, die sie Dir gewährt, zu
schätzen – schließlich eröffnen sie Dir ungeahnte Freiheiten! [> EINSTELLUNG,
ÜBERLANGE; PFERDE; STARREN; TIERE; ZWANG]

LANGSAMKEIT: Neben Abbas Kiarostami, Tsai Ming-liang, Nuri Bilge Ceylan, Lav
Diaz und Pedro Costa gilt der späte Tarr als bedeutendster Vertreter des slow cine-
ma, und zweifelsohne wirkt die Frage, ob es sich bei SATANSTANGO um einen lang-
samen Film handelt, reichlich müßig. Zu selbstverständlich drängt sich ein klares
›Ja‹ als Antwort auf – insbesondere dann, wenn man den üblichen Weg bei der Ge-
schwindigkeitsbestimmung von Filmen einschlägt und schlicht prüft, wie dicht der
Ereignisteppich des jeweils zur Diskussion stehenden Filmes geknüpft ist.66 Da
derjenige von Tarrs Meisterwerk denkbar lose ist – das Desinteresse des Regisseurs
an Handlung belegend, geschieht ja kaum etwas67 –, wird man getrost von einem
langsamen Film sprechen dürfen, so der einfache Schluss, der sich freilich einer Ar-
gumentation verdankt, die es sich entschieden zu einfach macht. Vor allen Dingen
lässt sie die Frage unberücksichtigt, was überhaupt als Ereignis zu gelten hat, und
die wiederum ist bekanntlich alles andere als leicht zu beantworten. Belässt man es
bei einer bewusst offen gehaltenen Minimaldefinition und begreift das Ereignis
ganz allgemein als grundsätzlich unvorhersehbare und unberechenbare Größe, die
sich aus der bestehenden Ordnung nicht restlos erklären lässt, diese also in gewisser
Weise durchkreuzt,68 dann ließe sich Vieles in dem Film als Ereignis betrachten –
Estikes Freitod und die pittoresk-expressiv wirkenden Verwitterungsspuren an den
Gebäudemauern ebenso wie die Bartstoppeln in der faltigen Gesichtslandschaft des
Doktors, der Exodus der Kühe oder die ihn begleitende Kamerafahrt. [> KÜHE]
Freilich muss der Zuschauer die Sensibilität für die jeweilige Ereignishaftigkeit mit-
bringen, ist er es, der dem jeweiligen Phänomen den Status eines Ereignisses zu-
weist. Tut er dies oft, so kann er guten Gewissens behaupten, es bei SATANSTANGO
mit einem ereignisreichen Film zu tun zu haben, der somit noch dazu als schnell
durchgehen könnte. Es versteht sich von selbst, dass das Gesagte auch bei der Dis-
kussion um die Frage verfängt, ob es sich bei SATANSTANGO um einen langweiligen

 66 Vgl. hierzu Bálint Kovács: The Circle Closes, S. 113, darüber hinaus aber auch Çağlayan:
    Screening Boredom, S. 9.
 67 Anlässlich des Anlaufens von DAS TURINER PFERD, seinem handlungsärmsten Film, gab
    Tarr unter anderem Folgendes zu Protokoll: »I don’t care about stories. I never did. Every
    story is the same. We have no new stories. We’re just repeating the same ones. I really don’t
    think, when you do a movie that you have to think about the story. The film isn’t the story.
    It’s mostly picture, sound, a lot of emotions. The stories are just covering something.« (ht-
    tp://www.indiewire.com/article/bela-tarr-explains-why-the-turin-horse-is-his-final-film
    [zuletzt aufgerufen am 25.1.2016]).
 68 Vgl. Han: Psychopolitik, S. 103-104.

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BÉLA TARRS KINO DER ZEIT, DES RAUMS UND DER MATERIALITÄT                171

Film handelt: Wenn der Zuschauer ihm das Vorhandensein von Ereignissen ab-
spricht bzw. an seine Ereignisse kein lebendiges Interesse knüpft, er die Betrach-
tung des Films also als ein »lähmende[s] Rendezvous mit dem reinen Zeitvergehen«69
empfindet, wird er die Frage bejahen. [> ZEIT]

MUSIK: Federico Fellini hatte Nino Rota, Béla Tarr Mihály Víg, der als ehemaliges
Mitglied der ungarischen Wave-Band Trabant seit HERBSTALMANACH für die Mu-
sik von Tarrs Filmen verantwortlich zeichnet.70 Größtenteils getragen, melancho-
lisch und mitunter entschieden sentimental, zudem minimalistisch, stark repetitiv
und weitgehend spannungsfrei bei großer Eingängigkeit – so lassen sich Vígs po-
tenziell auf Unendlichkeit ausgerichtete Kompositionen beschreiben, die zumal in
SATANSTANGO, in dem der Musiker den Irimías spielt, den Eindruck erwecken,
Fragmente aus einem permanenten musikalischen Kontinuum zu sein. Passend
hierzu und passend natürlich auch zum Bemühen um kontinuitätswahrende Na-
turnähe, das den Film auszeichnet, dominiert in diesem (und beim späten Tarr ge-
nerell) das Akkordeon, ein Handzuginstrument, dem ein repetitives, aus Aufziehen
und Zudrücken bestehendes Tun zugrunde liegt, das einen kontinuierlichen Luft-
strom erzeugt, der über freischwingende, durchschlagende Zungen geleitet und so
zu Tönen manipuliert wird. [> EINSTELLUNG, ÜBERLANGE; TANZ]

PFERDE: Anlässlich der Premiere von DER MANN AUS LONDON erklärte Tarr, er
wolle noch einen weiteren Film über das Ende der Welt drehen und dann den Re-
gieberuf an den Nagel hängen.71 Dieser Film sollte das DAS TURINER PFERD wer-
den, eine invertierte Schöpfungsgeschichte, die sich, indem sie das Zu-Ende-Ge-
hen der Welt so eindringlich wie kaum ein anderes Kunstwerk in Szene setzt,
implizit als der letzte Film überhaupt geriert und als solcher gleichsam die Klam-
mer schließt, die 1895 mit LA SORTIE DE L’USINE LUMIÈRE À LYON der Brüder Lu-
mière geöffnet wurde. In diesem sehen wir, wie ein gähnend aufgesperrtes Fabrik-
tor neben einer Masse von Arbeiterinnen und einigen Arbeitern auch zwei Tiere
entlässt: einen ausgesprochen fidelen Hund, der uns, indem er mehrfach aus dem
Kader hinaus- und wieder hineinläuft, eine Lehrstunde in Sachen hors-champ gibt,
sowie ein Pferd, das, vor einem Wagen angeschirrt, den Kader zur Linken verlässt.
Es ist das Bild dieses Tieres, des ersten Pferdes der Filmgeschichte, auf das Tarr in
DAS TURINER PFERD mit dessen furiosen Eingangseinstellung rekurriert, die uns
das titelgebende Tier, das letzte Pferd der Filmgeschichte, in all seiner physischen
Präsenz im Zentrum seiner Mühsal als Zugtier vor Augen führt. Am nächsten Tag
wird es seinen schweren Dienst verweigern, wird es sich dem Willen des Menschen
widersetzen und dafür Schläge erhalten – wie damals 1889 in Turin, als ihm Nietz-
sche aus Mitleid schluchzend um den Hals fiel. Nun ist es die Tochter des Kut-

 69 So die Definition von Langeweile in Safranski: Zeit, S. 19.
 70 Zu Tarrs enormer Treue zu seinen Teammitgliedern vgl. vor allem Bálint Kovács: The Circle
    Closes, S. 13-20, aber auch Hetzenauer: Das Innen im Außen, S. 13.
 71 Vgl. Bálint Kovács: The Circle Closes, S. 2.

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schers, die der Schinderei ein Ende bereitet, gespielt bezeichnenderweise von Erika
Bók, der Estike aus SATANSTANGO, die dort die Katze zu Tode quält. [> SUIZID]
Dem Tode zumindest kurzfristig entkommen kann jenes gute Dutzend Pferde,
dem Irimiás, Petrina (Putyi Horváth) und Sanyi begegnen, als sie den gespenstisch
leeren Hauptplatz der Stadt überqueren. Ein letztes Mal genießen die Tiere das Ge-
fühl der Freiheit, nachdem sie aus dem Schlachthof ausgebrochen sind, und wech-
seln wie der Lumièresche Hund munter zwischen On und Off des Kaders hin und
her. Dass sie ihrem Schicksal nicht entgehen, sondern bald schon in den Schlacht-
hof zurückkehren werden, liegt auf der Hand, der Bezug zu den verführten Dörf-
lern somit nahe, die das Joch ihrer Dorfexistenz abwerfen und mit frischem Elan
ins Ungewisse aufbrechen. Auch ihre ›Freiheit‹ ist eng terminiert, auch ihnen blüht
nichts Gutes. [> DORF; GEMEINSCHAFT; KÜHE; TIERE]

PSYCHOLOGIE: Angesichts der von Tarr gern betonten Tatsache, sein 1991 bis 1994
entstandenes opus magnum sei in etwa so lang, wie für die Lektüre von Krasznahor-
kais gleichnamigen Debütroman zu veranschlagen ist,72 könnte man meinen, es
handele sich bei SATANSTANGO um eine über die Maßen treue Adaption. Dies indes
ist nicht der Fall – ein schwerlich von der Hand zu weisender Befund, bei dem ins-
besondere zweierlei zu bedenken ist: erstens, dass es sich bei der literarischen Vorla-
ge um einen letztlich ausgesprochen ›unfilmischen‹, da an äußerer Handlung ar-
men, an innerem Geschehen dafür umso reicheren polyphonen Roman handelt,
der uns – vergleichbar etwa mit William Faulkners Absalom, Absalom! (1936) – mit
verschiedenen sich ergänzenden, widersprechenden und kommentierenden Sicht-
weisen und Perspektiven auf die Wirklichkeit der Diegese konfrontiert; zweitens,
dass sich Tarrs Adaption – sieht man von dem einen oder anderen der ohnehin
nicht eben zahlreichen Off-Kommentaren ab – konsequent weigert, dem Roman
bei dessen Introspektionen der Figuren zu folgen, bzw. dass sie ihm, wenn man so
will, die explizit gemachte Psychologie förmlich austreibt. Während wir also bei
Krasznahorkai erfahren, wie von verschiedenen Wahrnehmungszentren aus auf die
Welt geblickt wird, blicken wir bei Tarr direkt auf diese. Das heißt, es bestätigt sich
grosso modo das, was Seel im Hinblick auf das Verhältnis von Situation und Erleben
als den typischen Unterschied zwischen dem Erzählen im Spielfilm und jenem in
der fiktionalen Literatur vermerkt. »Im Spielfilm«, so Seel, »besteht ein Primat der
Darstellung der Handlungssituation der Protagonisten gegenüber ihrem Erleben –
auch und gerade in der Darstellung ihres Erlebens. Er führt die innere Bewegtheit
seiner Figuren vor allem in der Vergegenwärtigung der Situationen vor, durch die
sie sich bewegen. In der Literatur hingegen besteht eher ein Primat der Darstellung
des Erlebens von Subjekten gegenüber den Situationen, in denen sie sich befin-
den – auch und gerade in der Darstellung dieser Situationen. Sie kann das Bewe-
gende der Situationen, die ihre Charaktere durchlaufen, stärker aus der Perspektive
der Bewegtheit vorführen, von der sie in ihnen erfasst werden.«73 Bemerkenswert

 72 Vgl. Weiland: »Ontologie des Nicht-Mehr«, S. 464.
 73 Seel: Die Künste des Kinos, S. 132.

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