Über Klimaneutralität hinausdenken - Politikpapier
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Politikpapier Über Klimaneutralität hinausdenken 12
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Inhalt Effektive Klimapolitik erfordert Langfriststrategien 5 Langfriststrategien auf K limastabilisierung ausrichten 7 Nationale Langfriststrategien am Ziel globaler Klimastabilisierung orientieren 7 Klimapolitische Langfriststrategien und Nachhaltigkeitsagenda zusammendenken 7 Internationale Auswirkungen beachten, Entwicklung und Innovation partnerschaftlich ermöglichen 8 Planungssicherheit erhöhen: Finanzierung von Langfriststrategien sicherstellen 8 Schwerpunkte setzen: stoppen, stärken, vordenken 10 CO2-Emissionen aus fossilen Quellen stoppen 11 Beitrag der Biosphäre stärken 13 CO2-Entfernung aus der Atmosphäre vordenken 15 Recover Forward: Covid-19-Stimuli für Klimaschutz nutzen 18 Das diesem Bericht zu Grunde liegende F&E-Vorhaben wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit unter dem Förderkennzeichen 13N0708A5 durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt liegt bei den Autor*innen. Zitierweise für diese Publikation: WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2021): Über Klimaneutralität hinausdenken. Politikpapier 12. B erlin: WBGU. 2
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Zusammenfassung Die Klimakrise und die durch die Covid-19-Pandemie bedingten Krisen müssen gemein- sam bewältigt werden. Viele Staaten arbeiten an Strategien zur Umsetzung des Pariser Übereinkommens. Auf der Klimakonferenz in Glasgow gilt es daher, kurz- und l angfristige Ziele und Maßnahmen in Einklang zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht hat den deutschen Gesetzgeber verpflichtet, Klimaschutz langfristig zu planen. Die Erstellung von Langfriststrategien sollte auch international verpflichtend werden, über Klimaneutrali- tät hinaus auf Klimastabilisierung abzielen und Mehrgewinne mit anderen Nachhaltig- keitsdimensionen anstreben. Dazu sollten sie erstens den schnellen und vollständigen Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger vorsehen. Zweitens sollten Schutz und Wiederherstellung von Ökosystemen sowie ihre nachhaltige Nutzung zum Schwerpunkt werden. Drittens sollte die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre strategisch vorberei- tet werden. Als starken Impuls sollten sich Staaten auf der COP 26 dazu bekennen, ihre Covid-19-Stimulusprogramme im Sinne der Langfriststrategien zu nutzen. Im Übereinkommen von Paris haben sich die Staaten Verbindliche Langfriststrategien zu einem nicht nur auf das langfristige Ziel einer Klimastabili Hauptthema der COP 26 machen sierung geeinigt, sondern auch darauf, ihre Finanz- Langfriststrategien im Rahmen des Pariser Überein- ströme mit Klimaschutz und Anpassung in Einklang kommens können Grundlage für eine internationale zu bringen. Zu beiden Aspekten sollten auf der Diskussion über Transformationspfade werden. Sie COP 26 in Glasgow spezifische Beschlüsse gefasst sollten verpflichtend erstellt und regelmäßig überprüft werden: Staaten sollten Langfriststrategien nutzen, werden. Die Staaten sollten sich dazu bekennen, um kurz- und langfristige Ziele und Maßnahmen auf ihre Langfriststrategien auf Klimastabilisierung Klimastabilisierung auszurichten, sowie die Covid-19- auszurichten und ihre Covid-19-Stimulusprogramme Stimulusprogramme für eine Transformation der Wirt- in diesem Sinne zu nutzen. Für kohärente, effektive schaft in Richtung Klimaschutz einsetzen. und faire Langfriststrategien sowie ihre Mess- und Vergleichbarkeit sollten Mindestanforderungen defi Klimastabilisierung als Langfristziel internatio niert werden. naler Klimapolitik Langfriststrategien stecken den Rahmen für die Klimastabilisierung ist die dauerhafte Begrenzung der Weiterentwicklung kurzfristiger nationaler Beiträge globalen Erwärmung möglichst auf 1,5 °C über dem vor- (NDCs) ab. Sie sollten die Nachhaltigkeitsagenda industriellen Niveau, um eine gefährliche a nthropogene mitdenken und Mehrgewinne erzeugen. Auch lassen Störung des Klimasystems zu vermeiden. Dies er- sich die Klimaschutzziele leichter erreichen, wenn fordert mehr als „Klimaneutralität“, die derzeit von die Welt insgesamt auf einem nachhaltigeren Ent- vielen Staaten als Ziel formuliert wird, aber unabhängig wicklungspfad ist. von ihrer exakten Definition nur ein Zwischenziel sein Jede Langfriststrategie sollte primär nationale Klima kann. Erstens müssen anthropogene CO2-Emissionen schutzpotenziale ausschöpfen. Internationale Aus sehr schnell gestoppt, Nicht-CO2-Emissionen stark wirkungen sollten beachtet und Entwicklungsländer, reduziert und gleichzeitig die Biosphäre gestärkt insbesondere Niedrigeinkommensländer, partner- werden. Zweitens muss über Klimaneutralität hinaus schaftlich unterstützt werden (z. B. bei Auf- und Aus- voraussichtlich CO2 aus der Atmosphäre entfernt bau von Wertschöpfung, sozialer Absicherung und werden, um hohe frühere Emissionen und verbleibende Umweltmonitoring). Nationale Ausgaben für nach- Erwärmungstrends auszugleichen. Dies sollte anti- haltigkeitsorientierte, transformative Forschung, Ent- zipiert werden, so dass technologische Entwicklungs- wicklung und Bildung sollten auch in Entwicklungs- und pfade diese Option e rmöglichen. Schwellenländern deutlich angehoben werden, nicht zuletzt um eine breite Wissensbasis für einen ge- meinsamen Diskurs zu schaffen. Langfriststrategien 3
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen sollten Richtschnur für verlässliche regulatorische zeitnah wieder freigesetzt wird (z. B. synthetische Rahmenbedingungen und Finanzierungsmechanis- Kraftstoffe), konkurrieren mit der langfristigen men sein. Öffentliche und private Finanzierungsbei- CO2-Speicherung, und sollten daher nur bei Fehlen träge sollten klar unterschieden, die anvisierte Rolle nachhaltiger Alternativen verfolgt werden. Zudem internationaler Finanzierungsmechanismen und sollte negativen Auswirkungen auf andere Nach- Kooperationen transparent gemacht und öffentliche haltigkeitsziele vorgebeugt werden, z. B. durch einen Mittel längerfristig zugesagt werden. hohen Biomasse- oder Flächenbedarf. Ein Portfolio- ansatz könnte skalierungsbedingte Nachhaltig- Schwerpunkte für Langfriststrategien setzen: keitsprobleme einzelner Technologien zur CO2-Ent- stoppen, stärken, vordenken fernung mindern. Anreize zur Nutzung technischer Optionen sollten erst gesetzt werden, wenn ein Langfriststrategien sollten drei inhaltliche Schwer- Governance-Rahmen Nachhaltigkeit gewährleistet. punkte zum Klimaschutz setzen, die nicht unter- Auf die künftige Rückholung des emittierten CO2 einander substituierbar sind: mit noch wenig erforschten Technologien zu ver- 1. CO2-Emissionen aus fossilen Quellen stoppen: Der trauen, ist allerdings hoch riskant. WBGU empfiehlt, schnell und vollständig aus der Alle drei Schwerpunkte sind notwendig, wobei der Verbrennung fossiler Energieträger auszusteigen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und die und ihre stoffliche Nutzung auf Fälle zu begrenzen, Stärkung der Biosphäre grundlegend sind. Sie sollten in denen keine nachhaltigen Alternativen ent- jeweils mit eigenen Zielen, Zwischenzielen und Maß- wickelt werden können. Die Beendigung der nahmen versehen sowie mit Indikatoren verfolgt Extraktion, Exploration und Verarbeitung fossiler werden, ohne fossile Emissionsminderung, Öko- Ressourcen senkt zusätzlich CH4-Emissionen, systemleistungen und CO2-Entfernung miteinander hat erhebliche Mehrgewinne für Gesundheit und zu verrechnen. Gleichzeitig sind Wechselwirkungen Biodiversität und sollte multilateral verhandelt zwischen den Lösungsansätzen zu beachten, um werden. Maßnahmen, die den Ausstieg unter- eine umfassende Transformation zu ermöglichen. stützen (z. B. CO2-Preise, Subventionsabbau und Auswirkungen geplanter Technologie- und Trans- Infrastrukturmaßnahmen) sollten umrissen und formationspfade auf alle Dimensionen der Agenda zukünftige Energiebedarfe abgeschätzt werden. 2030 sollten abgeschätzt werden. Der Zeitpunkt, an dem kein CO2 aus fossilen Quellen mehr freigesetzt wird sowie die Zwischen- Recover Forward: Covid-19-Stimuli für ziele sollten sich an einem angemessenen Anteil Klimastabilisierung nutzen am globalen Restemissionsbudget orientieren. 2. Beitrag der Biosphäre stärken: Schutz und Wieder- Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie wurden bis herstellung sowie nachhaltige Nutzung von Öko- März 2021 weltweit 16.000 Mrd. US-$ mobilisiert, die systemen an Land und im Ozean sollten Bio- sowohl Chance als auch Risiko für langfristige Klima- diversitätserhaltung und Klimaschutz verknüpfen. stabilisierung sind. Rund 30% der Stimulusprogramme Die Senkenwirkung von Ökosystemen ist bereits betreffen ökologisch sensible Bereiche, berück- gemindert und die Erhaltung der Biodiversität sichtigen Nachhaltigkeitsbelange aber nicht aus- gefährdet; beides kann nur bei ambitionierten reichend (z. B. wird in 15 der G20-Länder ein negativer Emissionsreduktionen langfristig gesichert werden. Gesamteffekt auf die Umwelt erwartet). Darüber Die Diversifizierung von Landwirtschaftssystemen hinaus sind v. a. Menschen in Südasien und Subsahara- (mit niedrigeren CH4- und N2O-Emissionen), die Afrika durch die Covid-19-Krise zusätzlich von Transformation tierproduktlastiger Ernährungsstile extremer Armut bedroht, aber die Stimulusausgaben und eine verantwortungsvolle Bioökonomie tragen pro Kopf sind in Hocheinkommensländern ca. 580 zu beiden Zielen bei. Finanzielle Anreize, Steuern mal höher als in den Niedrigeinkommensländern. Die und Berichtspflichten für Unternehmen sollten unterschiedliche Leistungsfähigkeit nationaler Öko- auf die Stärkung von Ökosystemleistungen aus- nomien droht sich so weiter zu verfestigen und die ge- gerichtet und ökologische Fernwirkungen besser meinsame Bewältigung globaler Herausforderungen erforscht und adressiert werden. wie Klimawandel, Biodiversitätskrise oder Pandemien 3. CO2-Entfernung aus der Atmosphäre vordenken: zu erschweren. Die Covid-19-Stimulusprogramme Um auch bei unzureichender CO2-Emissions- und klimapolitische Rahmensetzungen sollten – wie minderung die Chancen auf Klimastabilisierung zu alle staatlichen Unterstützungen und Investitionen – bewahren, sollten Optionen (z. B. BECCS, DACCS, stärker an den Langfriststrategien ausgerichtet und Biokohle) zur dauerhaften CO2-Entfernung offen- für einen ökologisch und sozial verträglichen, global gehalten werden. Technologien, bei denen auf- ausgewogenen Umbau von Wirtschafts- und Gesell- wändig aus der Atmosphäre entzogenes CO2 schaftssystemen eingesetzt werden. 4
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Effektive Klimapolitik erfordert Langfriststrategien Die Staatengemeinschaft steht im 21. Jahrhundert vor ausreichend zu berücksichtigen, dass kein reiner enormen Herausforderungen: Die Auswirkungen des Wiederaufbau, sondern ein transformativer Umbau der Klimawandels werden zunehmend spürbar, mit Risiken Wirtschaft notwendig ist. Diese Investitionen werden und Schäden für Natur und Menschheit von bislang den Klimaschutz über Jahrzehnte mitbestimmen. nicht gekanntem Ausmaß. Hinzu tritt die Covid-19- Gleichzeitig arbeiten viele Staaten an der Umsetzung Pandemie, die eine globale Gesundheits-, Wirtschafts- des Pariser Übereinkommens (Paris Agreement – PA). und Finanzkrise ausgelöst hat. Jetzt kommt es darauf an, kurz- und langfristige Ziel- Weltweit werden derzeit substanzielle Summen setzungen und Maßnahmen zur Überwindung beider mobilisiert, um die Wirtschaft zu stabilisieren – ohne Krisen in Einklang zu bringen. Die 26. Vertragsstaaten- Verbindliche Nationale Langfriststrategien Emissionen Klimastabilisierung Nachhaltigkeitsagenda Ausstieg aus Fossilen Biosphäre stärken Strategien zur CO2-Entfernung Internationale Finanzierung und Einbettung Regulierung Recover Forward Klimaneutralität Klimastabilisierung Zeit Langfriststrategien für Klimastabilisierung Für Staaten sollte es verbindlich werden, Langfriststrategien zu erstellen. Sie sollten diese über nationale Klimaneutralität hinaus auf globale Klimastabilisierung ausrichten. Damit verträgliche globale Emissionspfade (IPCC, 2018) sind in blau angedeutet. Dazu sollten auch Covid-19-Stimulusprogramme einen Beitrag leisten ( „Recover Forward“). Die Langfriststrategien sollten Mehrge- winne im Sinne der Nachhaltigkeitsagenda anstreben, international eingebettet sein sowie verlässliche regulatorische Rahmen bedingungen und Finanzierungsmechanismen vorsehen. Inhaltliche Schwerpunkte sollten den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Rohstoffe, die Stärkung der Biosphäre sowie die strategische Vorbereitung dauerhafter CO2-Entfernung aus der Atmosphäre umfassen. Quelle: WBGU; Grafik: Wernerwerke, Berlin 5
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen konferenz der Klimarahmenkonvention (UNFCCC friststrategien zur Erreichung von Klimaneutralität COP 26) in Glasgow eröffnet hierfür ein Möglichkeits- und darüber hinaus Klimastabilisierung auf die Tages- fenster. ordnung der COP 26 zu setzen und ihre Erstellung ver- Im PA haben sich die Staaten darauf geeinigt, den pflichtend zu machen. Langfriststrategien mit vergleich- Klimawandel deutlich unter 2°C zu halten und baren Strukturen und quantifizierten Zielen und Maß- Anstrengungen zu unternehmen, ihn auf 1,5°C zu nahmen verbessern Koordinations- und Kooperations- begrenzen, um eine gefährliche anthropogene Störung möglichkeiten. Sie sollten neben Klimaschutz- auch des Klimasystems zu vermeiden (Art. 2 PA i.V.m. Art. Anpassungsmaßnahmen enthalten; auf letztere wird 2 UNFCCC), d.h. eine Klimastabilisierung zu erreichen. im Rahmen dieses Politikpapiers nicht vertieft ein- Der Sonderbericht des IPCC (2018) hat gezeigt, dass es gegangen. bei 1,5°C zu deutlich geringeren Schäden für Mensch und Natur käme als bei 2°C. Die bislang bis 2030 Der WBGU empfiehlt: zugesagten nationalen Klimaschutzanstrengungen der > Langfriststrategien zu einem Hauptthema der COP 26 Staaten (Nationally Determined Contributions, NDCs) in Glasgow machen. reichen aber bei weitem nicht aus, um auch nur auf > Die Erstellung und regelmäßige Überprüfung von einen 2°C-Pfad zu gelangen. Langfriststrategien verpflichtend machen. Auch der pandemiebedingte temporäre Rückgang > Langfriststrategien am Ziel der Klimastabilisierung der globalen Emissionen um etwa 6% in 2020 hat nichts über 2050 hinaus ausrichten. daran geändert: Zur Umsetzung des PA wären jährliche > Mindestanforderungen für kohärente, effektive, globale Emissionsminderungen von 7,6% erforderlich sozial und global faire Langfriststrategien sowie ihre (UN, 2020). Sehr wahrscheinlich wird es außerdem not- Mess- und Vergleichbarkeit definieren. wendig sein, der Atmosphäre CO2 zu entziehen, um das > Staaten sollten sich gemäß Art. 2.1c PA dazu beken- Klima langfristig bei 1,5°C Erwärmung zu stabilisieren nen, ihre Covid-19-Stimulusprogramme im Sinne der – v. a. abhängig davon, wie schnell Emissionen lang- Langfriststrategien zu nutzen. Entwicklungsländer, lebiger Treibhausgase (THG) in den nächsten Jahren insbesondere Niedrigeinkommensländer, sollten sinken. „Klimaneutralität“ ist daher für sich genommen dabei über multilaterale Kooperationsformate unter- nur ein punktuelles Zwischenziel: im Sinne des PA stützt werden. und der UNFCCC muss darüber hinaus dauerhafte Klimastabilisierung angestrebt werden. Dies erfordert ambitionierte Emissionsminderungen und die Stärkung der Biosphäre heute sowie eine strategische Vor- bereitung der CO2-Entfernung aus der Atmosphäre. Das Instrument hierfür sind Langfriststrategien nach Art. 4.19 PA, die bisher nicht verpflichtend zu erstellen sind. Die Staaten müssen jetzt Eckpunkte für nach- haltige Transformationen setzen und Pfade vordenken, die über 2030 bzw. 2050 hinaus reichen. Das Bundes- verfassungsgericht hat jüngst die Pflicht des Gesetz- gebers zur Entwicklung von Langfriststrategien sogar aus der Verfassung abgeleitet. Entsprechend der Ver- pflichtung des Art. 2.1c des PA, Finanzflüsse mit Klima- schutz und -anpassung in Einklang zu bringen, sollten die Langfriststrategien zudem bei der Verwendung der substanziellen finanziellen Ressourcen der Covid-19- Stimuluspakete richtungsweisend sein. Auf der Agenda der COP 26 stehen bisher u.a. die Vervollständigung des Rulebook zum PA, z. B. Trans- parenzanforderungen, die Konkretisierung inter- nationaler Kooperationen gemäß Art 6 PA, dringend erforderliche Ambitionssteigerungen der NDCs sowie die Klimafinanzierung. Bislang haben lediglich 29 von 197 Vertragsparteien dem UNFCCC-Sekretariat Lang- friststrategien gemeldet, andere Staaten erarbeiten sie derzeit (Hans et al., 2020). Der WBGU empfiehlt, Lang- 6
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Langfriststrategien auf Klimastabilisierung ausrichten Langfriststrategien im Rahmen des PA haben das neutralität, und sollte jeweils definiert werden. Da sie Potenzial, die zentrale Grundlage für eine internationale global gesehen nur ein bilanzielles Zwischenergeb- Diskussion über Transformationspfade zur Erreichung nis eines erfolgreichen Klimaschutzpfades ist, eignet von Klimaneutralität und dauerhafter Klimastabilisierung sich Klimaneutralität (unabhängig von der genauen zu werden. Sie machen Ressourcen-, Finanz- und Definition) nicht als Endergebnis nationaler Langfrist- Forschungsbedarfe transparent, verankern die Not- strategien. Sie sollte auch dort nur als Zwischenziel einer wendigkeit für Klimaschutz im Bewusstsein aller Akteure Transformation der Wirtschaftsweise betrachtet werden, und eröffnen Ansatzpunkte für Kooperationen, etwa die langfristige globale Klimastabilisierung erlaubt. Daher bei Forschung und Entwicklung oder Regulierung. Sie sollten in den Strategien auch die bis zur Erreichung bieten Orientierung für kurz- und mittelfristige Ent- von Klimaneutralität (und gegebenenfalls darüber scheidungen, etwa zu ambitionierteren NDCs, zu inter- hinaus) emittierten Mengen langlebiger THG sowie der nationaler Klimafinanzierung und zur Ausrichtung von angestrebte Pfad negativer Emissionen explizit gemacht Covid-19-Stimulusprogrammen. Der WBGU hält folgende werden. Langfriststrategien sollten explizit Klima- übergreifende Anforderungen an Langfriststrategien für stabilisierung im Einklang mit den Temperaturgrenzen zentral: des PA als Langfristziel benennen. Dies stellt klar, dass auch NDCs und andere Zwischenziele so formuliert und verfolgt werden müssen, dass sie der langfristigen Nationale Langfriststrategien am Ziel globaler globalen Klimastabilisierung dienen bzw. sie nicht Klimastabilisierung orientieren blockieren (z. B. vorausschauender Infrastrukturausbau oder Vermeidung von Trade-Offs zwischen CO2-Nutzung Langfriststrategien sollten auf die und negativen Emissionen, siehe unten). in Art. 2 PA vereinbarten Ziele und damit u.a. auf Klimastabilisierung, also eine Begrenzung des globalen Klimapolitische Langfriststrategien und Temperaturanstiegs auf möglichst Nachhaltigkeitsagenda zusammendenken 1,5°C ausgerichtet sein. Aus einer solchen Begrenzung der Klimaerwärmung ergeben sich Klimastabilisierung ist ein zentraler Randbedingungen für die Entwicklung der globalen Baustein nachhaltiger Entwicklung, Emissionen. Szenarien des IPCC, die mit den im PA die in der Agenda 2030 der UN und genannten Temperaturschwellen verträglich sind, auf nationaler Ebene in der Deutschen zeigen in zeitlicher Sequenz zunächst CO2-Neutrali- Nachhaltigkeitsstrategie vorgegeben tät, dann Treibhausgasneutralität und schließlich ganz ist. Klimapolitische Langfriststrategien sollten als überwiegend eine netto-negative Treibhausgasbilanz Voraussetzung und Chance für eine nachhaltige Gesell- – d.h. eine fortdauernde globale Entfernung von CO2 schaft begriffen und zur Umsetzung und Fortent- aus der Atmosphäre, die über einen Ausgleich weiter wicklung der Agenda 2030 genutzt werden. Anders- bestehender Emissionen hinausgeht, um frühere hohe herum lassen sich Klimaschutzziele leichter erreichen, Emissionen und verbleibende Erwärmungstrends aus- wenn die Welt sich insgesamt auf einem nachhaltigeren zugleichen (Rogelj et al., 2018). Viele Staaten (auch Entwicklungspfad befindet (Rogelj et al., 2018). Deutschland mit seinem Klimaschutzplan 2050 aus Langfriststrategien zur Klimastabilisierung sollten dem Jahr 2016) zielen mit ihren nationalen Langfrist- Zusammenhänge und Konflikte mit anderen Nach- strategien bisher lediglich auf „Klimaneutralität“, meist haltigkeitsdimensionen frühzeitig identifizieren und so bis 2050 oder etwas später (UNFCCC, 2021). Der Begriff adressieren, dass möglichst Synergien („Mehrgewinne“) der Klimaneutralität wird unterschiedlich verwendet, erzeugt werden. So sollten z. B. Ansätze zur Emissions- z. B. im Sinne von CO2-Neutralität oder Treibhausgas- minderung und CO2-Entfernung aus der Atmosphäre 7
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen mit Biodiversitäts- und Biosphärenschutz vereinbar sein keiten (Art. 2.2 PA) – in ihren Langfriststrategien ent- und veränderte Ressourcen- und Landnutzung, neue sprechende internationale Beiträge ausweisen. Dabei Technologien, Energie- und Mobilitätssysteme im Ein- sollten sie sich nicht auf Klimafinanzierung, einseitigen klang mit Armutsbekämpfung, Freiheitsrechten sowie Technologietransfer und capacity building (Art. 9, 10 dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme für krisen- und 11 PA) beschränken. Stattdessen sollten darüber fähigen gesellschaftlichen Zusammenhalt stehen. hinaus Angebote in den Bereichen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Entwicklungskooperation gemacht werden, auch unter Nutzung existierender bi- und Internationale Auswirkungen beachten, multilateraler Instrumente. Konkret sollte der Aufbau Entwicklung und Innovation partnerschaftlich eigener Forschungs- und Entwicklungskapazitäten, ermöglichen z. B. zur Erschließung erneuerbarer Energiequellen oder für diversifizierte Landwirtschaftssysteme, ermöglicht Klimastabilisierung kann nur global werden. In Deutschland bzw. der EU kann der Ausbau unter Einbeziehung aller Staaten ökologischer und sozialer Standards in Lieferketten- erreicht werden. In den Langfrist- gesetzen die Anreize zur Dekarbonisierung trans- strategien sollten Staaten daher regionaler Lieferketten erhöhen. Des Weiteren sollten explizit die Auswirkungen ihrer Ziele Hocheinkommensländer im Rahmen ihrer Langfrist- und Maßnahmen auf andere Länder berücksichtigen, strategien auch den Ausbau sozialer Absicherungs- andere Länder partnerschaftlich unterstützen und Ent- systeme, resilienter Gesundheitssysteme, von Bildungs- wicklungschancen eröffnen. systemen und Umweltmonitoring sowie den Ausbau Jede Langfriststrategie sollte primär nationale von Katastrophenschutz für den Umgang mit Klima- Klima schutzpotenziale ausschöpfen. Zukünftige Be risiken in Entwicklungs- und insbesondere Niedrigein- darfe und Potenziale zur Erzeugung und zu Importen kommensländern unterstützen. von Rohstoffen und erneuerbarer Energie für eine Schließlich erfordern Langfriststrategien tief- nachhaltige Wirtschaftsweise sollten abgeschätzt greifende technische und soziale Innovationen und und transparent dargestellt werden. Auf dieser Basis eine breite Wissensbasis als Voraussetzung für einen kann internationalen Knappheiten bei regulatorischen gemeinsamen Diskurs. Transformative Forschung Maßnahmen sowie Technologie- und Infrastruktur- für Nachhaltigkeit ist allerdings in vielen nationalen entscheidungen Rechnung getragen werden. Lang- Wissenschafts- und Bildungssystemen bisher kaum friststrategien und internationale Kooperation bilden verankert und sollte gezielt gestärkt werden. Große so den notwendigen Rahmen für eine nachhaltige Schwellenländer wie Indien und Indonesien geben nur Koordination, welche die unterschiedlichen regionalen 0,65% bzw. 0,23% ihres BIP für Forschung und Ent- Voraussetzungen angemessen berücksichtigt. Das wicklung aus (UIS, 2021). Nur einige Länder und Ver- Anrechnen von Vermeidungsanstrengungen in anderen bünde formulieren Ausgabenziele, z. B. strebt Indien Ländern auf die eigenen Klimaschutzziele – wie es gemäß 2% bis 2022 an, die Afrikanische Union 1% und die EU Art. 6 PA möglich ist – trägt dabei aber nicht effektiv 3% (EAC-PM, 2019; UNECA, 2018; EU-Kommission, zum Klimaschutz bei, wenn dadurch frühzeitige eigene 2020). Interdisziplinäre Nachhaltigkeits-, Umwelt- und Investitionen in Vermeidung und die Entwicklung von Klimaforschung sollte in den Langfriststrategien explizit Vermeidungstechnologien behindert werden. Auch ist benannt sein. Ihre Stärkung kann die Strategieent- zu beachten, dass neue Produktions- und Versorgungs- wicklung in vielen Ländern sowie die internationale strukturen einer nachhaltigen Wirtschaft ohne fossile Abstimmung verbessern. Energieträger zu erheblichen, bisher kaum abschätz- baren Verlagerungen internationaler Wertschöpfungs- ketten führen können. Planungssicherheit erhöhen: Finanzierung von Nicht alle Länder verfügen zudem über die techno- Langfriststrategien sicherstellen logischen, wirtschaftlichen und institutionellen Voraus- setzungen, ambitionierte Langfriststrategien umzu- Langfriststrategien sollten auch auf setzen. Die meisten Entwicklungsländer brauchen zeigen, wie die notwendigen Verän Unterstützung sowohl in ihren Beiträgen zu langfristiger derungs- und Innovationsprozesse in Klimastabilisierung und Biosphärenschutz als auch in Gesellschaft und Wirtschaft finanziert ihrer grundlegenden Krisen- und Anpassungsfähig- werden können. Um den globalen keit. Hocheinkommensländer sollten daher – auch Investitionsbedarf zu decken – allein im Energiesystem gemäß dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschied- liegt er bis 2050 bei ca. 830 Mrd. US-$2010 pro Jahr lichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähig- gegenüber business as usual (Rogelj et al., 2018: 154) 8
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen – müssen bestehende Kapitalströme sowie der kurz- und vergünstigte Darlehen klar benennen, über die fristige starke Impuls der Covid-19-Stimuluspakete mit ihre Zusagen umgesetzt und private Investitionen in den klimapolitischen Langfristzielen in Einklang gebracht Entwicklungs- und insbesondere Niedrigeinkommens- und weitere private sowie öffentliche Mittel mobilisiert ländern mobilisiert werden sollen. Die Mechanismen werden. Zentral dafür ist die Planungssicherheit für des Art. 6 PA können bei der Mobilisierung privater Investoren und Mittelempfänger, wobei gleichzeitig eine Investitionen einen Beitrag leisten, wenn klare Rahmen- Offenheit für technologische oder gesellschaftliche Ver- setzungen die ökologische Integrität der Märkte und änderungen gewahrt werden sollte. ihre Vereinbarkeit mit den klimapolitischen Langfrist- Zunächst erfordert dies verlässliche klimapolitische zielen sicherstellen. Rahmenbedingungen einschließlich finanzieller Anreize, z. B. über CO2-Bepreisung, die die langfristigen Rendite- Der WBGU empfiehlt: erwartungen der Investoren beeinflussen, insbesondere > In Langfriststrategien explizit aufzeigen, wie ange- wenn sie weltweit abgestimmt wird, wie von der Bundes- messene nationale Beiträge zur Erreichung des globa- kanzlerin Deutschlands auf dem Petersberger Klima- len Ziels der Klimastabilisierung geleistet und NDCs dialog 2021 vorgeschlagen. Auch über konkrete, mit weiterentwickelt werden können, einer belastbaren Finanzierung unterlegte Infrastruktur- > Mehrgewinne für die Sustainable Development Goals planungen kann die öffentliche Hand glaubwürdige lang- (SDGs) anstreben und damit auch über 2030 hinaus fristige Signale setzen. die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsagenda Darüber hinaus können private Investitionen inspirieren sowie mobilisiert oder umgelenkt werden, indem erstens > internationale Auswirkungen nationaler Maßnahmen die Vereinbarkeit von Anlagestrategien mit lang- beachten und partnerschaftliche Unterstützung von fristigen Klimazielen verbessert wird, etwa durch Entwicklungsländern bei ihren Beiträgen zur Klima- transparent strukturierte Finanzierungsinstrumente stabilisierung und im Umgang mit Klimarisiken vor- wie green bonds oder sustainability-linked bonds. sehen. Zweitens können staatliche Förder- und Finanzierungs- > Nationale Ausgaben für nachhaltigkeitsorientierte instrumente Investitionshemmnisse mindern, die sich Forschung, Entwicklung und Bildung deutlich anhe- aus unsicheren zukünftigen klimapolitischen Rahmen- ben, v. a. auch in Niedrigeinkommens- und Schwellen bedingungen ergeben. Ein Beispiel sind Finanzierungs- ländern. instrumente, die das Risiko unsicherer CO2-Preise ganz > Regulatorische Rahmenbedingungen und Finanzie- oder teilweise auf den Staat übertragen. Ebenso wichtig rungsmechanismen in den Langfriststrategien veran- ist eine langfristig angelegte staatliche Förderung risiko- kern und verlässlich und langfristig ausrichten, um reicher Forschung und Entwicklung, z. B. für disruptive Planungssicherheit zu erhöhen und die Bereitstellung Sprunginnovationen. Drittens kann höhere Transparenz privaten Kapitals zu fördern. Öffentliche und private über Klimarisiken geschaffen werden, z. B. durch die Finanzierungsbeiträge sowie Zuschüsse und vergüns- erweiterten Berichtspflichten für Unternehmen im tigte Darlehen sollten klar unterschieden, die anvi- Rahmen der EU-Taxonomie. sierte Rolle internationaler Finanzierungsmechanis- Höhere Planungssicherheit sowie die Mobilisierung men und Kooperationen (z. B. unter Art. 6 und 9 PA) privater Mittel sind auch international bei der Klima- transparent gemacht und öffentliche Mittel auch län- finanzierung notwendig. Kurzfristige und unzuver- gerfristig zugesagt werden. lässige Finanzierungszusagen hemmen Investitionen von Entwicklungsländern in den Umbau und die Dekarbonisierung ihrer Sozial- und Wirtschaftssysteme als Teil von Langfriststrategien. Nach dem wahrschein- lichen Verfehlen des in Kopenhagen vereinbarten Bei- tragsziels der Hocheinkommensländer von 100 Mrd. US-$ pro Jahr (Bhattacharya et al., 2020) muss das Ver- trauen in internationale Kooperation wiederhergestellt werden. Dafür sollten Staaten ihre Beiträge und deren perspektivische Fortentwicklung in ihren Langfrist- strategien darlegen und so auch Verteilungsschlüssel multilateraler Finanzmechanismen konkretisieren. Sie sollten dabei zwischen öffentlichen und anvisierten privaten Mitteln unterscheiden. Zudem sollten sie bi- und multilaterale Kanäle und Hebel wie Zuschüsse 9
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Schwerpunkte setzen: stoppen, stärken, vordenken Zentral für die Klimastabilisierung ist, die Akkumulation und Finanzierungsmechanismen für jeden dieser langlebiger Treibhausgase in der Atmosphäre zu stoppen Schwerpunkte separat angeben und nicht in einem und gegebenenfalls auch wieder rückgängig zu machen, Gesamtbilanzierungsziel (z. B. Klimaneutralität) mit- insbesondere von CO2. Wird Kohlenstoff aus fossilen einander verrechnen. Lagerstätten (Kohle, Erdöl, Erdgas) in Form von CO2 Eine solche Differenzierung sollte auch bei inter- oder CH4 in die Atmosphäre freigesetzt, erhöht dies nationalen Kooperationen berücksichtigt werden. Art. 6 insgesamt die Menge an Kohlenstoff, die zwischen der PA, für den ein Regelwerk auf der COP 26 beschlossen Atmosphäre, den Ozeanen und der terrestrischen Bio- werden soll, enthält zum einen den Rahmen für freiwillige sphäre zirkuliert. Dieser „schnelle“ Kohlenstoffkreis- marktbasierte Kooperationen (bi- oder multilateral oder lauf ist überwiegend durch natürliche (biologische und zentral durch ein UNFCCC-Gremium koordiniert, Art. chemische) Prozesse gesteuert. Maßnahmen innerhalb 6.2-3 bzw. 6.4-7). Diese sollen insbesondere ermög- dieses Kreislaufs (etwa Wiederaufforstung) können den lichen, Klimaschutzanstrengungen in Partnerstaaten fortlaufenden Kohlenstoffeintrag aus fossilen Lager- auf nationale NDCs anzurechnen (internationally stätten nicht kompensieren. Der zusätzliche fossile transferred mitigation outcomes, ITMOs) oder inter- Kohlenstoff ist primärer Treiber des Klimawandels, nationale Kohlenstoffmärkte zu schaffen. Zum anderen darunter auch der Ozeanversauerung. soll ein Rahmen für nicht marktbasierte Instrumente Bei der Ausgestaltung der Langfriststrategien der gesteckt werden (Art. 6.8, z. B. abgestimmte Anreiz- Vertragsstaaten sollten daher mit Blick auf die Klima- systeme zur Energieeffizienzsteigerung). Ein Schwer- stabilisierung drei strategische Schwerpunkte gesetzt punkt der aktuellen Verhandlungen ist die Vermeidung werden: Erstens sollte die Nutzung fossiler Rohstoffe, von Doppelanrechnungen der ITMOs in NDCs. Für insbesondere als Energieträger, möglichst schnell voll- langfristig wirksame Erfolge im Klimaschutz ist es aber ständig vermieden werden. Klimafreundliche Alter- ebenso entscheidend, dass in den Langfriststrategien nativen wie der Ausbau erneuerbarer Energien und dargestellt wird, wie internationale Kooperationen nach die Steigerung der Energieeffizienz würden im Gegen- Art. 6 PA jeweils zu den Schwerpunkten beitragen. zug gestärkt. Der zweite Schwerpunkt von Langfrist- Innerhalb jeder Komponente ist bei der Aus- strategien sollte der Schutz und die Wiederherstellung gestaltung wiederum darauf zu achten, dass Lösungs- von Ökosystemen sowie die nachhaltige Nutzung der ansätze in einen strategischen Fahrplan (Roadmap) ein- Biosphäre sein. Diese sind nicht nur unverzichtbare gebunden und anhand der folgenden Kriterien bewertet „Verbündete“ für den Klimaschutz, da sie Kohlenstoff werden: binden, sondern sind über eine Vielzahl von Öko- > Beitrag zur Zielerreichung: Der Beitrag der Langfrist- systemleistungen für das menschliche Leben insgesamt strategien zur Klimastabilisierung hängt entschei- entscheidend. Klimaschutzmaßnahmen im Bereich dend von der Wirksamkeit der enthaltenen Maßnah- der Biosphäre modifizieren jedoch im Wesentlichen men ab. Nicht alle Lösungsansätze sind gleich wirk- den „schnellen“ Kohlenstoffkreislauf und können den sam und damit gleichwertig zu behandeln. durch Menschen verursachten zusätzlichen Eintrag > Mehrgewinnorientierung: Maßnahmen zum Klima- von Kohlenstoff aus fossilen Quellen nicht rückgängig schutz sollten so ausgewählt werden, dass sie s imultan machen. Daher müssen drittens Strategien entwickelt auch zu anderen (Nachhaltigkeits-)Zielen beitragen werden, damit der Atmosphäre zukünftig auch jenseits und damit Mehrgewinne erzeugen, etwa für den der begrenzten Absorptionsfähigkeit natürlicher (z.T. Schutz der Biodiversität und das menschliche Wohl- renaturierter) und bewirtschafteter Ökosysteme CO2 in befinden sowie weitere Bereiche der Agenda 2030. nachhaltiger Weise entzogen werden kann. > Operationalisierbarkeit und systemische Einbettung: Diese drei Schwerpunkte sind jeder für sich not- Langfristige Ziele sollten mit Meilensteinen und kon- wendig und nicht untereinander substituierbar. kret umsetzbaren Maßnahmen unterfüttert werden. Nationale Langfriststrategien sollten Ziele, Maßnahmen Gleichzeitig ist auf die systemische Einbettung der 10
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Lösungsansätze zu achten, um vorausschauend die Zwischenziele sollten sich an einem angemessenen Transformationen zu ermöglichen und unerwünschte Anteil am verbleibenden globalen Emissionsbudget Pfadabhängigkeiten zu vermeiden. orientieren. Die Umsetzung der Langfriststrategien sollte einen trans- formativen Prozess anstoßen, der positive Wirkungen Ausstieg aus der Verbrennung fossiler und Mehrgewinne auch jenseits des Klimaschutzes hat. Energieträger gestalten Der WBGU empfiehlt, innerhalb der Langfriststrategien einen vollständigen Ausstieg aus der energetischen Der WBGU empfiehlt: Nutzung fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) > Langfriststrategien zur Klimastabilisierung sollten vorzusehen sowie eine Beschränkung ihrer stofflichen drei Schwerpunkte enthalten: Nutzung (etwa in der Petrochemie) auf Anwendungen, 1. Stoppen: schnell und vollständig aus der Ver- für die noch keine nachhaltigen (erneuerbaren) Alter- brennung fossiler Energieträger aussteigen und nativen entwickelt werden können. Bei der ver- ihre stoffliche Nutzung auf Fälle begrenzen, in bleibenden nicht-energetischen Nutzung fossiler Roh- denen keine nachhaltigen Alternativen entwickelt stoffe sollte ausgeschlossen werden, dass der gebundene werden können. Kohlenstoff wieder freigesetzt wird, etwa bei einer 2. Stärken: Biodiversitätserhaltung und Klimaschutz späteren Verbrennung oder Zersetzung. Die möglichst durch Schutz, Wiederherstellung und nachhaltige rasche Abkehr von der Nutzung fossiler Energieträger Nutzung von Ökosystemen verknüpfen. sollte maßgebend für die Umsetzung von Effizienz- bzw. 3. Vordenken: Strategien zur nachhaltigen Ent- nachfrageseitiger Maßnahmen und den raschen Aufbau fernung von CO2 aus der Atmosphäre entwickeln. erneuerbarer Energie- und Mobilitätssysteme sowie den > Alle drei Schwerpunkte sind notwendig, wobei der Umbau der Industrie sein. Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und die Dieser Umstieg auf erneuerbare Energien und Roh- Stärkung der Biosphäre grundlegend sind. Die drei stoffe könnte nicht nur die CO2-Emissionen aus der Schwerpunkte sind nicht untereinander substituier- Verbrennung fossiler Energieträger auf Null bringen, bar. Sie sollten jeweils mit Zielen, Zwischenzielen und die derzeit insgesamt ca. 80% der globalen, anthropo- Maßnahmen versehen sowie mit Indikatoren verfolgt genen CO2-Emissionen darstellen (Friedlingstein et al., werden. 2020), sondern zusätzlich die mit der Extraktion fossiler > Die Differenzierung zwischen den Schwerpunkten Ressourcen und deren Verarbeitung verbundenen sollte sich auch in Marktmechanismen und sonstigen Methanemissionen, die etwa 35% der globalen internationalen Kooperationen unter Art. 6 PA wider- anthropogenen CH4-Emissionen ausmachen, massiv spiegeln. Eine Verrechenbarkeit zwischen Beiträgen senken (Saunois et al., 2020). Darüber hinaus können aus unterschiedlichen Schwerpunkten sollte in inter- im Sinne von Mehrgewinnen erhebliche Gesundheits- nationalen Marktmechanismen dringend vermieden effekte erzielt werden: Lelieveld et al. (2019) beziffern werden. die weltweite Übersterblichkeit (d.h. vermeidbare > Maßnahmen zu den einzelnen Schwerpunkten s ollten Todesfälle) aufgrund von Luftverschmutzung durch anhand ihrer Wirksamkeit für die Erreichung der die Nutzung fossiler Energieträger auf etwa 3,6 Mio. Klimaschutzziele sowie ihrer Mehrgewinnorientiert- jährlich. Auch andere Nachhaltigkeitsdimensionen heit im Hinblick auf andere Nachhaltigkeitsziele können profitieren: Die Exploration und Extraktion bewertet und ausgewählt werden. fossiler Ressourcen bedroht und zerstört vielfach direkt wertvolle und fragile Ökosysteme (z. B. den Yasuní- Nationalpark), während petrochemische Produkte auch CO2-Emissionen aus fossilen Quellen stoppen jenseits des Klimawandels zu weltweiten Problemen führen, etwa als Mikroplastik. Um den Klimawandel aufzuhalten, darf Strategien, die auf End-of-pipe-Lösungen zur insgesamt nur noch eine begrenzte Emissionsminderung setzen, etwa den Einsatz von Menge anthropogener CO2-Emissionen Kohlendioxidabscheidung und Speicherung (CCS) in in die Atmosphäre gelangen (IPCC, Kombination mit der fortgeführten Nutzung fossiler 2018: 14f). Die möglichst rasche Energieträger, könnten nur einen Teil der genannten Abkehr von CO2-Emissionen aus der Nutzung fossiler Mehrgewinne erzielen, und betten sich daher weniger Energieträger steht dabei im Zentrum. Die Staaten gut in eine umfassende Transformation zur Nach- sollten sie mit Zwischenzielen versehen, die in den haltigkeit ein. Darüber hinaus rät der WBGU weiter- NDCs aufgegriffen werden. Der Zeitpunkt, an dem kein hin dringend davon ab, auf Kernenergie zu setzen, CO2 aus fossilen Quellen mehr freigesetzt wird sowie insbesondere wegen des nach wie vor nicht ver- 11
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen nachlässigbaren Risikos schwerster Schadensfälle, der Auswirkungen auf Gesundheit, Ökosysteme und Bio- ungeklärten Endlagerungsproblematik und des Risikos diversität bewertet werden. Analysen des IPCC zeigen unkontrollierter Proliferation. etwa, dass geeignete Maßnahmen für eine geringere Energienachfrage sich auch positiv auf andere Nach- Technologiepfade systemisch gestalten, Mehr- haltigkeitsziele auswirken (Roy et al., 2018: 448). gewinne anstreben Der WBGU empfiehlt daher, systematische Folgen- Langfriststrategien sollten nicht nur die Zielsetzungen abschätzungen der avisierten Technologiepfade für zur Reduktion von CO2-Emissionen und Nutzung die in der Agenda 2030 angelegten Nachhaltigkeits- fossiler Rohstoffe formulieren, sondern strategisch auf- dimensionen vorzunehmen. zeigen, welche (Entwicklungs-)Pfade zur Erreichung dieser Ziele unter Berücksichtigung anderer Nach- Internationale Dimensionen beachten, Rohstoff- haltigkeitsziele eingeschlagen werden sollen. Es geht strategien nachhaltig und solidarisch einbetten um angepasste technische wie gesellschaftliche Ent- Von hoher Bedeutung ist zudem, die internationalen wicklungspfade, die Klimastabilisierung im Einklang mit Auswirkungen und Erfordernisse nationaler Strategien der breiteren Nachhaltigkeitsagenda verfolgen und in zu explorieren und transparent zu machen. Langfrist- diesem Sinn explizit auf Synergien und Mehrgewinne strategien sollten dafür nationale Energieträger- und ausgerichtet sind. Rohstoffstrategien für den Ausstieg aus fossilen Roh- Mit Blick auf die Klimastabilisierung sollte sicher- stoffen umfassen. Dadurch können sie einen Bei- gestellt werden, dass technologische und infra- trag leisten, die Konsistenz der unterschiedlichen strukturelle Weichenstellungen die Möglichkeiten, nationalen Strategien zu sichern, etwa im Hinblick auf CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, nicht unter- die internationale Verfügbarkeit zentraler Rohstoffe und minieren oder schmälern. Technologien, die faktisch erneuerbarer Energieträger. Um entsprechende Märkte CO2 in die Atmosphäre freisetzen, sollten daher auch und Lieferketten aufzubauen, sollten v. a. Niedrigein- dann m öglichst vermieden werden, wenn sie als klima- kommensländer beim Aufbau lokaler Produktions- und neutral gelten, indem das CO2 der Atmosphäre vorher Versorgungskapazitäten unterstützt werden. Aus- entzogen wurde (sei es durch Photosynthese oder durch reichende Investitionen vor Ort und, wo notwendig, technische Verfahren). Dies gilt insbesondere dort, wo der Transfer von Technologien sollten daher frühzeitig alternative Technologien zur Verfügung stehen, wie vorgesehen sowie Anpassung und Ausbau vorhandener beispielsweise im Verkehrsbereich zu Biokraftstoffen Infrastruktur unterstützt werden. Insbesondere sollte und synthetischen C-basierten Kraftstoffen. Denn die auch SDG 7 (bezahlbare und saubere Energie) im Möglichkeiten, der Atmosphäre CO2 zu entziehen, Blick behalten werden: Noch immer haben weltweit sind begrenzt und vielfach mit Risiken für andere ca. 789 Mio. Menschen keinen Zugang zu Elektrizität Nachhaltigkeitsdimensionen verbunden, etwa für die (UN, 2020) und Milliarden von Menschen greifen zum Nahrungsmittelproduktion oder die Erhaltung der Bio- Kochen auf feste Brennstoffe zurück, mit erheblichen diversität (WBGU, 2020: 55ff). Zum anderen müssen Gesundheitsfolgen. Langfriststrategien aller Länder die begrenzten Potenziale zur sicheren Speicherung von sollten zur Überwindung dieser Energiearmut beitragen CO2 berücksichtigt werden: Die geologischen Speicher- und sie keinesfalls erschweren. potenziale werden zwar als groß eingeschätzt, allerdings gibt es offene Fragen in Bezug auf die gesellschaftliche Forschungsbedarfe benennen, transformative Akzeptanz sowie die langfristige Verlässlichkeit der Forschungsoffensive starten Speicher, die nicht nur von den geologischen Gegeben- Ein vollständiger Ausstieg aus der Nutzung fossiler heiten, sondern auch dem Management abhängt Energieträger geht in Teilen über die Grenze des heute (WBGU, 2020: 57). Technologiepfade, die die Ent- technisch Machbaren hinaus bzw. erfordert aus heutiger stehung von CO2 schon im Ansatz vermeiden, sind Sicht den verstärkten Einsatz einiger Technologien, daher Pfaden überlegen, die die begrenzten Speicher- die noch nicht oder nicht großmaßstäblich erprobt potenziale langfristig und in großem Umfang einplanen. sind, sowie gesellschaftliche Innovationen. Es ist daher Staaten sollten daher in ihren Strategien transparent von hoher Bedeutung, in Langfriststrategien auch die machen, welche (auch quantitative) Rolle sie einzelnen strategischen Forschungs- und Entwicklungsbedarfe Technologien zuschreiben. unter Berücksichtigung sozioökonomischer Rahmen- Um Synergien mit weiteren Nachhaltigkeitszielen bedingungen zu adressieren. Unter anderem kommt zu erreichen, sollten in den Vergleich verschiedener dabei folgenden Themen eine hohe Relevanz zu: Lösungen grundsätzlich möglichst alle externen Kosten > Grüner Wasserstoff als zukünftiger Energieträger: einbezogen werden, so dass Klimaschutztechnologien Entwicklung neuer, unkritischer Materialien für Elek- beispielsweise auch im Hinblick auf unterschiedliche trolyse und Brennstoffzellen sowie sozio-technischer 12
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Systemansätze für Produktion, effizienten Verbrauch unverzichtbaren natürlichen Lebensgrundlagen der und Verteilung sowie deren Anwendung in der Breite. Menschheit. Dennoch sind Ökosystemleistungen stark > Bioökonomie: Biogene Rohstoffe als Ersatz für stoff- gefährdet, v. a. durch Landnutzungsänderungen, Über- lich genutzte fossile Rohstoffe sowie die Sicherung nutzung von Ökosystemen und zunehmend auch durch ihrer nachhaltigen Gewinnung durch angemessene den Klimawandel. Diese wissenschaftliche Erkenntnis Steuerungs- und Anreizsysteme. wird jedoch viel zu langsam in Handeln umgesetzt. Die > Intelligente Sektorenkopplung: Steigerung von Effi Erhaltung der Biosphäre ist nicht nur unverzichtbar, zienz und Flexibilität bei Angebot und Nutzung von sondern für eine nachhaltige Entwicklung auch höchst Energie aus erneuerbaren Quellen mit Blick auf eine dringlich. Langfristige Klimastabilisierung ist ohne eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien. Dazu intakte und resiliente Biosphäre nicht erreichbar. gehören z. B. Antriebstechnologien für schwer elek In einem nachhaltigen Umgang mit der Biosphäre trifizierbare Transportmittel sowie nachfrageseitige lassen sich Klimaschutz und Biodiversitätserhaltung Maßnahmen. synergistisch miteinander verknüpfen. Dies gilt sowohl für Ökosysteme an Land als auch für Meeres- und Der WBGU empfiehlt: Küstenökosysteme. Entscheidend dafür ist ein schnellst- > Ausstieg aus der Nutzung fossiler Rohstoffe anstreben: möglicher Stopp der Zerstörung naturbelassener Öko- Es sollten klare Ausstiegspfade aus der energetischen systeme und der Übernutzung biogener Ressourcen. und möglichst auch stofflichen Nutzung fossiler Roh- Zusätzlich können „naturbasierte Lösungen“ einen stoffe entwickelt werden, die sich an den noch mög- wichtigen Beitrag zum Klimaschutz wie auch zu anderen lichen CO2-Budgets orientieren. Zielen nachhaltiger Entwicklung leisten. Die klima- > Exploration und Extraktion fossiler Ressourcen relevanten Wirkungen naturbasierter Lösungen sind beenden: Die Beendigung von Extraktion und Explo- allerdings nicht nur begrenzt, sondern auch reversibel: ration fossiler Ressourcen sollte multilateral verhan- Naturnahe Wiederaufforstung beispielsweise benötigt delt und beschlossen werden. Die Staaten sollten in Jahrzehnte, aber das gespeicherte CO2 kann durch einen ihren Langfriststrategien darlegen, welchen Beitrag vom Klimawandel induzierten Waldbrand in Stunden sie dazu leisten. wieder in die Atmosphäre gelangen. > Mehrgewinne suchen, Folgenabschätzung institutio- Für den schnellen Kohlenstoffkreislauf hat der nalisieren: Der Ausstieg aus der Nutzung fossiler WBGU Mehrgewinnstrategien skizziert (WBGU, 2020). Energieträger sollte als Chance genutzt werden, Fort- Damit lassen sich an Land wie auch im Ozean positive schritte in weiteren Nachhaltigkeitsdimensionen zu Wirkungen sowohl für den Klimaschutz als auch für die erreichen. Hierfür sollten Abschätzungen der natio- Biodiversitätserhaltung erzeugen. nalen und internationalen Folgen geplanter Techno- 1. CO2-Entfernung durch Renaturierung synergistisch logie- und Transformationspfade auf alle Dimensio- gestalten: Durch Renaturierung degradierter Öko- nen der Agenda 2030 standardmäßig vorgesehen systeme kann nicht nur der Atmosphäre CO2 ent- werden. Möglichkeiten zur ressourcenschonenden zogen, sondern es können auch Biodiversität und Umnutzung vorhandener Infrastruktur sollten Ökosystemleistungen gefördert werden. Eine geprüft werden. Wiedervernässung von Mooren, eine standort- > Staaten sollten Langfriststrategien nutzen, um ihre gerechte Wiederaufforstung degradierter Wald- aktuellen und geplanten Maßnahmen und Politiken flächen und eine Renaturierung von Meeres- und (z. B. CO2-Bepreisung, Abbau fossiler Subventionen, Küstenökosystemen (etwa Mangroven, Seegras- übergangsweise Nutzung internationaler Mechanis- wiesen und Makroalgenwälder) sind vielver- men, Infrastrukturausbau, Effizienz- und weitere sprechende Ansätze, mit denen sich synergistische nachfrageseitige Maßnahmen) zu umreißen. Wirkungen für mehrere Nachhaltigkeitsziele erreichen lassen. Im Vordergrund sollte dabei unbedingt die Wiederherstellung artenreicher, Beitrag der Biosphäre stärken naturnaher Ökosysteme und nicht die Schaffung von Plantagen stehen. Die CO2-Speicherung durch die Klimaschutz und Biodiversitätserhal Renaturierung von Ökosystemen kann auf langen tung sind zwei höchst wichtige, aber Zeitskalen und bei erfolgreicher Emissionsreduktion auch sehr unterschiedliche Nach- klimastabilisierend wirken, aber ambitionierte haltigkeitsziele, die miteinander in Emissionsreduktionen keinesfalls ersetzen und Wechselwirkung stehen. Biologische daher auch nicht dort verrechnet werden. Der Vielfalt und Ökosystemleistungen bilden die Basis WBGU empfiehlt zudem, die in der Bonn Challenge einer funktionierenden Biosphäre und gehören zu den gesteckten Flächenziele deutlich zu erweitern. 13
Politikpapier Nr. 12 Klimastabilisierung Juli 2021 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 2. Schutzgebietssysteme ausweiten und aufwerten: 5. Bioökonomie verantwortungsvoll gestalten und Holz- Natürliche terrestrische und marine Ökosysteme bau fördern: Die Verwendung von Biomasse kann speichern bereits große Kohlenstoffvorräte. Gleich- emissionsintensive Prozesse und fossile Rohstoffe zeitig wirken sie auch weiterhin als CO2-Senken. ersetzen und damit den Weg zur langfristigen Klima- Beide Leistungen sind durch die fortschreitende stabilisierung erleichtern. Der dadurch steigende Zerstörung und Übernutzung der natürlichen Öko- Landbedarf verstärkt jedoch die Konkurrenzen zu systeme sowie durch den Klimawandel gefährdet. Ernährungssicherung und Biodiversitätserhaltung, Ökosystemschutz dient also nicht nur der Biodiversi- was die Potenziale nachhaltig nutzbarer Biomasse tätserhaltung, sondern auch dem Klimaschutz. Um begrenzt. Für eine auf nachhaltige Landnutzung diese Synergie zu nutzen, sollten Schutzgebiets- gestützte Bioökonomie empfiehlt der WBGU daher systeme ausgeweitet und aufgewertet werden. staatliche Rahmenbedingungen für Angebot und Der WBGU empfiehlt, Schutzgebietssysteme auf Nutzung von Biomasse. Innerhalb dieses Rahmens 30% der Land- und Ozeanfläche auszuweiten. kann insbesondere das nachhaltige Bauen mit Holz Neben der Biodiversitätskonvention (CBD) sollte aus standortgerechter, nachhaltiger Waldwirtschaft auch die UNFCCC diese Zielsetzung unterstützen. gestärkt werden, das eine Alternative zum deut- Dabei sollten die in der CBD international verein- lich klimaschädlicheren konventionellen Stahl- und barten Qualitätskriterien konsequent angewendet Betonbau bietet. und eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Für Meeres- und Küstenökosysteme ergeben sich Naturschützenden und Klimaschützenden auf allen entsprechende Handlungsoptionen mit mehrfachem Ebenen angestrebt werden. Gewinn. Ungestörte marine Sedimente speichern 3. Landwirtschaftssysteme diversifizieren: Durch die etwa doppelt so viel organischen Kohlenstoff wie Ausweitung von Agrarflächen in natürliche Öko- terrestrische Böden (Atwood et al., 2020). Der WBGU systeme, durch Bodendegradation und durch die empfiehlt daher, die marine CO2-Speicherung durch Anwendung von Agrarchemie trägt industrielle eine nachhaltige Fischerei und Aquakultur zu stärken. Landwirtschaft maßgeblich zu Klimawandel und Damit wird auch ein wichtiger Beitrag zur zukünftigen Biodiversitätsverlust bei. Langfristig ist dies auch Proteinversorgung der Menschen gesichert (WBGU, negativ für die Nachhaltigkeit der Nahrungsmittel- 2013). Eine nachhaltige Nutzung von Biomasse aus dem produktion. Um diese Trends umzudrehen und Syn- Meer bietet zudem Chancen für die Bioökonomie, die ergien zwischen Landwirtschaft und Klimaschutz zu verstärkt erforscht werden sollten. nutzen, empfiehlt der WBGU eine Wende hin zu öko- Eine solche integrierte Betrachtung der Biosphäre logisch intensiven, multifunktionalen Produktions- im Sinn des Zusammendenkens von Land und Ozean systemen, bei denen die Effizienzgewinne v. a. durch sowie von verschiedenen Nutzungsansprüchen und die Förderung von Ökosystemleistungen erzielt Schutzgütern kann dabei helfen, nachhaltige Zukunfts- werden. Damit kann nicht nur die CO2-Aufnahme pfade ganzheitlich zu identifizieren. Dafür muss sich der in Böden verbessert werden, sondern es ließen sich Umgang der Menschheit mit der Biosphäre grundlegend auch aus der Landwirtschaft stammende CH4- und wandeln. Es sind ehrgeizige und entschlossene Ent- N2O-Emissionen absenken. scheidungen aller Vertragsstaatenkonferenzen der drei 4. Die Transformation tierproduktlastiger Ernährungs- Rio-Konventionen UNFCCC, CBD und Desertifikations- stile vorantreiben: Ernährungsstile mit einem großen konvention (UNCCD) erforderlich, um einen trans- Anteil von Tierprodukten erzeugen u.a. durch formativen Wandel im Umgang mit der Biosphäre einzu- Landverbrauch deutlich mehr THG-Emissionen als leiten. Für eine konkrete Umsetzung auf instrumenteller eine überwiegend pflanzenbasierte Ernährung. Die Ebene ergänzt der WBGU folgende Empfehlungen. weltweite Ernährung sollte an der Planetary Health Diet (Willett et al., 2019) ausgerichtet werden. Der WBGU empfiehlt: Diese ist nicht nur gesünder als tierproduktlastige > Finanzierungsmechanismen differenziert an Zielen Ernährungsstile, sondern trägt auch zur Erreichung ausrichten: Ökosystemleistungen haben Gemeingut- weiterer globaler Nachhaltigkeitsziele bei. Der charakter und benötigen besonderen Schutz. Beiträge WBGU empfiehlt daher eine konsequente Weiter- zum Schutz und zur Renaturierung von Ökosystemen entwicklung von Rahmenbedingungen, nachhaltig- sollten in ein breit angelegtes System von Zahlungen keitsorientierte Normsetzung (z. B. Ernährungs- für Ökosystemleistungen eingebettet sein. Finanzie- leitlinien) und Schaffung entsprechender Anreize rungsinstrumente und -mechanismen für Klima- für die Wirtschaft und Konsument*innen. Zudem schutz und Biosphärenschutz unterscheiden sich sollten Potenziale zur Vermeidung von Lebensmittel- somit in Komplexität und Zeithorizont und sollten verlusten und -verschwendung genutzt werden. entsprechend ihrer Ziele separiert werden. In Steuer- 14
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