Über Klimaneutralität hinausdenken - Politikpapier

Die Seite wird erstellt Yannik Berger
 
WEITER LESEN
Politikpapier

Über Klimaneutralität
hinausdenken

12
Politikpapier Nr. 12      Klimastabilisierung       Juli 2021                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                  Globale Umweltveränderungen

                                           Inhalt
                                           Effektive Klimapolitik erfordert Langfriststrategien                             5

                                           Langfriststrategien auf K
                                                                   ­ limastabilisierung ausrichten                          7
                                           Nationale Langfriststrategien am Ziel globaler Klimastabilisierung
                                           orientieren                                                                      7
                                           Klimapolitische Langfriststrategien und Nachhaltigkeitsagenda
                                           ­zusammendenken                                                                  7
                                           Internationale Auswirkungen beachten, Entwicklung und ­Innovation
                                           ­partnerschaftlich ermöglichen                                                   8
                                           Planungssicherheit erhöhen: Finanzierung von Langfriststrategien
                                           sicherstellen                                                                    8

                                           Schwerpunkte setzen: stoppen, stärken, vordenken                               10
                                           CO2-Emissionen aus fossilen Quellen stoppen                                     11
                                           Beitrag der Biosphäre stärken                                                   13
                                           CO2-Entfernung aus der Atmosphäre vordenken                                     15

                                           Recover Forward: Covid-19-Stimuli für Klimaschutz
                                           nutzen                                                                         18

                Das diesem Bericht zu Grunde liegende F&E-Vorhaben wurde im Auftrag des Bundesministeriums für
                ­Bildung und Forschung und des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit
                 unter dem Förderkennzeichen 13N0708A5 durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt liegt bei den
                 Autor*innen.

                Zitierweise für diese Publikation: WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
                ­Umweltveränderungen (2021): Über Klimaneutralität hinausdenken. ­Politikpapier 12. B­ erlin: WBGU.

2
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung       Juli 2021                   Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                  Globale Umweltveränderungen

Zusammenfassung
Die Klimakrise und die durch die Covid-19-Pandemie bedingten Krisen müssen gemein-
sam bewältigt werden. Viele Staaten arbeiten an Strategien zur Umsetzung des Pariser
Übereinkommens. Auf der Klimakonferenz in Glasgow gilt es daher, kurz- und l­ angfristige
Ziele und Maßnahmen in Einklang zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht hat den
deutschen Gesetzgeber verpflichtet, Klimaschutz langfristig zu planen. Die Erstellung von
Langfriststrategien sollte auch international verpflichtend werden, über Klimaneutrali-
tät hinaus auf Klimastabilisierung abzielen und Mehrgewinne mit anderen Nachhaltig-
keitsdimensionen anstreben. Dazu sollten sie erstens den schnellen und vollständigen
Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger vorsehen. Zweitens sollten Schutz und
Wiederherstellung von Ökosystemen sowie ihre nachhaltige Nutzung zum Schwerpunkt
werden. Drittens sollte die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre strategisch vorberei-
tet werden. Als starken Impuls sollten sich Staaten auf der COP  26 dazu bekennen, ihre
Covid-19-Stimulusprogramme im Sinne der Langfriststrategien zu nutzen.

Im Übereinkommen von Paris haben sich die Staaten          Verbindliche Langfriststrategien zu einem
nicht nur auf das langfristige Ziel einer Klimastabili­    ­Hauptthema der COP 26 machen
sierung geeinigt, sondern auch darauf, ihre Finanz-         Langfriststrategien im Rahmen des Pariser Überein-
ströme mit Klimaschutz und Anpassung in Einklang            kommens können Grundlage für eine internationale
zu bringen. Zu beiden Aspekten sollten auf der              Diskussion über Transformationspfade werden. Sie
COP 26 in Glasgow spezifische Beschlüsse gefasst            sollten verpflichtend erstellt und regelmäßig ­überprüft
werden: Staaten sollten Langfriststrategien nutzen,         werden. Die Staaten sollten sich dazu bekennen,
um kurz- und langfristige Ziele und Maßnahmen auf           ihre Langfriststrategien auf Klimastabilisierung
Klimastabilisierung auszurichten, sowie die Covid-19-       ­auszurichten und ihre Covid-19-Stimulusprogramme
Stimulusprogramme für eine Transformation der Wirt-          in diesem Sinne zu nutzen. Für kohärente, effektive
schaft in Richtung Klimaschutz einsetzen.                    und faire Langfriststrategien sowie ihre Mess- und
                                                             Vergleichbarkeit sollten Mindestanforderungen defi­
Klimastabilisierung als Langfristziel internatio­            niert werden.
naler Klimapolitik                                             Langfriststrategien stecken den Rahmen für die
Klimastabilisierung ist die dauerhafte Begrenzung der        Weiterentwicklung kurzfristiger nationaler Beiträge
globalen Erwärmung möglichst auf 1,5 °C über dem vor-        (NDCs) ab. Sie sollten die Nachhaltigkeitsagenda
industriellen Niveau, um eine gefährliche a­ nthropogene     mitdenken und Mehrgewinne erzeugen. Auch lassen
Störung des Klimasystems zu ­      vermeiden. Dies er-       sich die Klimaschutzziele leichter erreichen, wenn
fordert mehr als „Klimaneutralität“, die derzeit von         die Welt insgesamt auf einem nachhaltigeren Ent-
vielen Staaten als Ziel formuliert wird, aber unabhängig     wicklungspfad ist.
von ihrer exakten Definition nur ein Zwischenziel sein         Jede Langfriststrategie sollte primär nationale Klima­­
kann. Erstens müssen anthropogene CO2-Emissionen             schutzpotenziale ausschöpfen. Internationale Aus­­
sehr schnell gestoppt, Nicht-CO2-Emissionen stark            wirkungen sollten beachtet und Entwicklungsländer,
reduziert und gleichzeitig die Biosphäre gestärkt            insbesondere Niedrigeinkommensländer, partner-
werden. Zweitens muss über Klimaneutralität hinaus           schaftlich unterstützt werden (z. B. bei Auf- und Aus-
voraussichtlich CO2 aus der Atmosphäre entfernt              bau von Wertschöpfung, sozialer Absicherung und
werden, um hohe frühere Emissionen und verbleibende          Umweltmonitoring). Nationale Ausgaben für nach-
Erwärmungstrends auszugleichen. Dies sollte anti-            haltigkeitsorientierte, transformative Forschung, Ent-
zipiert werden, so dass technologische Entwicklungs-         wicklung und Bildung sollten auch in Entwicklungs- und
pfade diese Option e­ rmöglichen.                            Schwellenländern deutlich angehoben werden, nicht
                                                             zuletzt um eine breite Wissensbasis für einen ge-
                                                             meinsamen Diskurs zu schaffen. Langfriststrategien
                                                                                                                             3
Politikpapier Nr. 12      Klimastabilisierung       Juli 2021                  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                               Globale Umweltveränderungen

          sollten Richtschnur für verlässliche regulatorische          zeitnah wieder freigesetzt wird (z. B. synthetische
          Rahmenbedingungen und Finanzierungsmechanis-                 ­Kraftstoffe), konkurrieren mit der langfristigen
          men sein. Öffentliche und private Finanzierungsbei-           CO2-Speicherung, und sollten daher nur bei Fehlen
          träge sollten klar unterschieden, die anvisierte Rolle        nachhaltiger Alternativen verfolgt werden. Zudem
          internationaler Finanzierungsmechanismen und                  sollte negativen Auswirkungen auf andere Nach-
          ­Kooperationen ­transparent gemacht und öffentliche           haltigkeitsziele vorgebeugt werden, z.  B. durch einen
           Mittel l­änger­fristig zugesagt werden.                      hohen Biomasse- oder Flächenbedarf. Ein Portfolio-
                                                                        ansatz könnte skalierungsbedingte Nachhaltig-
          Schwerpunkte für Langfriststrategien setzen:                  keitsprobleme einzelner Technologien zur CO2-Ent-
          stoppen, stärken, vordenken                                   fernung mindern. Anreize zur Nutzung technischer
                                                                        Optionen sollten erst gesetzt werden, wenn ein
          Langfriststrategien sollten drei inhaltliche Schwer-
                                                                        Governance-Rahmen Nachhaltigkeit gewährleistet.
          punkte zum Klimaschutz setzen, die nicht unter-
                                                                        Auf die künftige Rückholung des emittierten CO2
          einander substituierbar sind:
                                                                        mit noch wenig erforschten Technologien zu ver-
          1. CO2-Emissionen aus fossilen Quellen stoppen: Der
                                                                        trauen, ist allerdings hoch riskant.
             WBGU empfiehlt, schnell und vollständig aus der
                                                                   Alle drei Schwerpunkte sind notwendig, wobei der
             Verbrennung fossiler Energieträger auszusteigen
                                                                   Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und die
             und ihre stoffliche Nutzung auf Fälle zu begrenzen,
                                                                   Stärkung der Biosphäre grundlegend sind. Sie sollten
             in denen keine nachhaltigen Alternativen ent-
                                                                   jeweils mit eigenen Zielen, Zwischenzielen und Maß-
             wickelt werden können. Die Beendigung der
                                                                   nahmen versehen sowie mit Indikatoren verfolgt
             Extraktion, Exploration und Verarbeitung fossiler
                                                                   werden, ohne fossile Emissionsminderung, Öko-
             Ressourcen senkt zusätzlich CH4-Emissionen,
                                                                   systemleistungen und CO2-Entfernung miteinander
             hat erhebliche Mehrgewinne für Gesundheit und
                                                                   zu verrechnen. Gleichzeitig sind Wechselwirkungen
             Biodiversität und sollte multilateral verhandelt
                                                                   zwischen den Lösungsansätzen zu beachten, um
             werden. Maßnahmen, die den Ausstieg unter-
                                                                   eine umfassende Transformation zu ermöglichen.
             stützen (z. B. CO2-Preise, Subventionsabbau und
                                                                   Auswirkungen geplanter Technologie- und Trans-
             Infrastrukturmaßnahmen) sollten umrissen und
                                                                   formationspfade auf alle Dimensionen der Agenda
             zukünftige Energiebedarfe abgeschätzt werden.
                                                                   2030 sollten abgeschätzt werden.
             Der Zeitpunkt, an dem kein CO2 aus fossilen
             Quellen mehr freigesetzt wird sowie die Zwischen-
                                                                    Recover Forward: Covid-19-Stimuli für
             ziele sollten sich an einem angemessenen Anteil
                                                                   ­Klimastabilisierung nutzen
             am globalen Restemissionsbudget orientieren.
          2. Beitrag der Biosphäre stärken: Schutz und Wieder-     Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie wurden bis
             herstellung sowie nachhaltige Nutzung von Öko-        März 2021 weltweit 16.000 Mrd. US-$ mobilisiert, die
             systemen an Land und im Ozean sollten Bio-            sowohl Chance als auch Risiko für langfristige Klima-
             diversitätserhaltung und Klimaschutz verknüpfen.      stabilisierung sind. Rund 30% der Stimulusprogramme
             Die Senkenwirkung von Ökosystemen ist bereits         betreffen ökologisch sensible Bereiche, berück-
             gemindert und die Erhaltung der Biodiversität         sichtigen Nachhaltigkeitsbelange aber nicht aus-
             gefährdet; beides kann nur bei ambitionierten         reichend (z. B. wird in 15 der G20-Länder ein negativer
             Emissionsreduktionen langfristig gesichert werden.    Gesamteffekt auf die Umwelt erwartet). Darüber
             Die Diversifizierung von Landwirtschaftssystemen      hinaus sind v.  a. Menschen in Südasien und Subsahara-
             (mit niedrigeren CH4- und N2O-Emissionen), die        Afrika durch die Covid-19-Krise zusätzlich von
             Transformation tierproduktlastiger Ernährungsstile    extremer Armut bedroht, aber die Stimulusausgaben
             und eine verantwortungsvolle Bioökonomie tragen       pro Kopf sind in Hocheinkommensländern ca. 580
             zu beiden Zielen bei. Finanzielle Anreize, Steuern    mal höher als in den Niedrigeinkommensländern. Die
             und Berichtspflichten für Unternehmen sollten         unterschiedliche Leistungsfähigkeit nationaler Öko-
             auf die Stärkung von Ökosystemleistungen aus-         nomien droht sich so weiter zu verfestigen und die ge-
             gerichtet und ökologische Fernwirkungen besser        meinsame Bewältigung globaler Herausforderungen
             erforscht und adressiert werden.                      wie Klimawandel, Biodiversitätskrise oder Pandemien
          3. CO2-Entfernung aus der Atmosphäre vordenken:          zu erschweren. Die Covid-19-Stimulusprogramme
             Um auch bei unzureichender CO2-Emissions-             und klimapolitische Rahmensetzungen sollten – wie
             minderung die Chancen auf Klimastabilisierung zu      alle staatlichen Unterstützungen und Investitionen –
             bewahren, sollten Optionen (z. B. BECCS, DACCS,       stärker an den Langfriststrategien ausgerichtet und
             Biokohle) zur dauerhaften CO2-Entfernung offen-       für einen ökologisch und sozial verträglichen, global
             gehalten werden. Technologien, bei denen auf-         ausgewogenen Umbau von Wirtschafts- und Gesell-
             wändig aus der Atmosphäre entzogenes CO2              schaftssystemen eingesetzt werden.
4
Politikpapier Nr. 12         Klimastabilisierung            Juli 2021                      Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                              Globale Umweltveränderungen

Effektive Klimapolitik erfordert
Langfriststrategien

Die Staatengemeinschaft steht im 21. Jahrhundert vor                ausreichend zu berücksichtigen, dass kein reiner
enormen Herausforderungen: Die Auswirkungen des                     Wiederaufbau, sondern ein transformativer Umbau der
Klimawandels werden zunehmend spürbar, mit Risiken                  Wirtschaft notwendig ist. Diese Investitionen werden
und Schäden für Natur und Menschheit von bislang                    den Klimaschutz über Jahrzehnte mitbestimmen.
nicht gekanntem Ausmaß. Hinzu tritt die Covid-19-                   Gleichzeitig arbeiten viele Staaten an der Umsetzung
Pandemie, die eine globale Gesundheits-, Wirtschafts-               des Pariser Übereinkommens (Paris Agreement – PA).
und Finanzkrise ausgelöst hat.                                      Jetzt kommt es darauf an, kurz- und langfristige Ziel-
    Weltweit werden derzeit substanzielle Summen                    setzungen und Maßnahmen zur Überwindung beider
mobilisiert, um die Wirtschaft zu stabilisieren – ohne              Krisen in Einklang zu bringen. Die 26. Vertragsstaaten-

                                                Verbindliche Nationale Langfriststrategien
Emissionen

                                     Klimastabilisierung                                           Nachhaltigkeitsagenda

                                                             Ausstieg aus
                                                               Fossilen
                                                                                         Biosphäre
                                                                                          stärken

                                                                       Strategien zur
                                                                       CO2-Entfernung

                                       Internationale                                                Finanzierung und
                                         Einbettung                                                     Regulierung

             Recover Forward                                  Klimaneutralität                     Klimastabilisierung
                                                                                                                              Zeit

Langfriststrategien für Klimastabilisierung
Für Staaten sollte es verbindlich werden, Langfriststrategien zu erstellen. Sie sollten diese über nationale Klimaneutralität hinaus
auf globale ­Klimastabilisierung ausrichten. Damit verträgliche globale Emissionspfade (IPCC, 2018) sind in blau angedeutet. Dazu
sollten auch Covid-19-Stimulusprogramme einen Beitrag leisten (­ „Recover Forward“). Die Langfriststrategien sollten Mehrge-
winne im Sinne der Nachhaltigkeitsagenda anstreben, international eingebettet sein sowie verlässliche regulatorische Rahmen­
bedingungen und ­Finanzierungsmechanismen vorsehen. Inhaltliche Schwerpunkte sollten den Ausstieg aus der Nutzung fossiler
Rohstoffe, die ­Stärkung der Biosphäre sowie die strategische ­Vorbereitung dauerhafter CO2-Entfernung aus der Atmosphäre
­umfassen. Quelle: WBGU; Grafik: Wernerwerke, Berlin
                                                                                                                                         5
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung         Juli 2021                  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                  Globale Umweltveränderungen

          konferenz der Klimarahmenkonvention (UNFCCC                  friststrategien zur Erreichung von Klimaneutralität
          COP  26) in Glasgow eröffnet hierfür ein Möglichkeits-       und darüber hinaus Klimastabilisierung auf die Tages-
          fenster.                                                     ordnung der COP  26 zu setzen und ihre Erstellung ver-
              Im PA haben sich die Staaten darauf geeinigt, den        pflichtend zu machen. Langfriststrategien mit vergleich-
          Klimawandel deutlich unter 2°C zu halten und                 baren Strukturen und quantifizierten Zielen und Maß-
          Anstrengungen zu unternehmen, ihn auf 1,5°C zu               nahmen verbessern Koordinations- und Kooperations-
          begrenzen, um eine gefährliche anthropogene Störung          möglichkeiten. Sie sollten neben Klimaschutz- auch
          des Klimasystems zu vermeiden (Art. 2 PA i.V.m. Art.         Anpassungsmaßnahmen enthalten; auf letztere wird
          2 UNFCCC), d.h. eine Klimastabilisierung zu erreichen.       im Rahmen dieses Politikpapiers nicht vertieft ein-
          Der Sonderbericht des IPCC (2018) hat gezeigt, dass es       gegangen.
          bei 1,5°C zu deutlich geringeren Schäden für Mensch
          und Natur käme als bei 2°C. Die bislang bis 2030             Der WBGU empfiehlt:
          zugesagten nationalen Klimaschutzanstrengungen der           > Langfriststrategien zu einem Hauptthema der COP  26
          Staaten (Nationally Determined Contributions, NDCs)            in Glasgow machen.
          reichen aber bei weitem nicht aus, um auch nur auf           > Die Erstellung und regelmäßige Überprüfung von
          einen 2°C-Pfad zu gelangen.                                    Langfriststrategien verpflichtend machen.
              Auch der pandemiebedingte temporäre Rückgang             > Langfriststrategien am Ziel der Klimastabilisierung
          der globalen Emissionen um etwa 6% in 2020 hat nichts          über 2050 hinaus ausrichten.
          daran geändert: Zur Umsetzung des PA wären jährliche         > Mindestanforderungen für kohärente, effektive,
          globale Emissionsminderungen von 7,6% erforderlich             sozial und global faire Langfriststrategien sowie ihre
          (UN, 2020). Sehr wahrscheinlich wird es außerdem not-          Mess- und Vergleichbarkeit definieren.
          wendig sein, der Atmosphäre CO2 zu entziehen, um das         > Staaten sollten sich gemäß Art. 2.1c PA dazu beken-
          Klima langfristig bei 1,5°C Erwärmung zu stabilisieren         nen, ihre Covid-19-Stimulusprogramme im Sinne der
          – v.  a. abhängig davon, wie schnell Emissionen lang-          Langfriststrategien zu nutzen. Entwicklungsländer,
          lebiger Treibhausgase (THG) in den nächsten Jahren             insbesondere Niedrigeinkommensländer, sollten
          sinken. „Klimaneutralität“ ist daher für sich genommen         dabei über multilaterale Kooperationsformate unter-
          nur ein punktuelles Zwischenziel: im Sinne des PA              stützt werden.
          und der UNFCCC muss darüber hinaus dauerhafte
          Klimastabilisierung angestrebt werden. Dies erfordert
          ambitionierte Emissionsminderungen und die Stärkung
          der Biosphäre heute sowie eine strategische Vor-
          bereitung der CO2-Entfernung aus der Atmosphäre. Das
          Instrument hierfür sind Langfriststrategien nach Art.
          4.19 PA, die bisher nicht verpflichtend zu erstellen sind.
              Die Staaten müssen jetzt Eckpunkte für nach-
          haltige Transformationen setzen und Pfade vordenken,
          die über 2030 bzw. 2050 hinaus reichen. Das Bundes-
          verfassungsgericht hat jüngst die Pflicht des Gesetz-
          gebers zur Entwicklung von Langfriststrategien sogar
          aus der Verfassung abgeleitet. Entsprechend der Ver-
          pflichtung des Art. 2.1c des PA, Finanzflüsse mit Klima-
          schutz und -anpassung in Einklang zu bringen, sollten
          die Langfriststrategien zudem bei der Verwendung der
          substanziellen finanziellen Ressourcen der Covid-19-
          Stimuluspakete richtungsweisend sein.
              Auf der Agenda der COP  26 stehen bisher u.a. die
          Vervollständigung des Rulebook zum PA, z.  B. Trans-
          parenzanforderungen, die Konkretisierung inter-
          nationaler Kooperationen gemäß Art 6 PA, dringend
          erforderliche Ambitionssteigerungen der NDCs sowie
          die Klimafinanzierung. Bislang haben lediglich 29 von
          197 Vertragsparteien dem UNFCCC-Sekretariat Lang-
          friststrategien gemeldet, andere Staaten erarbeiten sie
          derzeit (Hans et al., 2020). Der WBGU empfiehlt, Lang-

6
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung        Juli 2021                   Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                   Globale Umweltveränderungen

Langfriststrategien auf
­Klimastabilisierung ausrichten

Langfriststrategien im Rahmen des PA haben das              neutralität, und sollte jeweils definiert werden. Da sie
Potenzial, die zentrale Grundlage für eine internationale   global gesehen nur ein bilanzielles Zwischenergeb-
Diskussion über Transformationspfade zur Erreichung         nis eines erfolgreichen Klimaschutzpfades ist, eignet
von Klimaneutralität und dauerhafter Klimastabilisierung    sich Klimaneutralität (unabhängig von der genauen
zu werden. Sie machen Ressourcen-, Finanz- und              Definition) nicht als Endergebnis nationaler Langfrist-
Forschungsbedarfe transparent, verankern die Not-           strategien. Sie sollte auch dort nur als Zwischenziel einer
wendigkeit für Klimaschutz im Bewusstsein aller Akteure     Transformation der Wirtschaftsweise betrachtet werden,
und eröffnen Ansatzpunkte für Kooperationen, etwa           die langfristige globale Klimastabilisierung erlaubt. Daher
bei Forschung und Entwicklung oder Regulierung. Sie         sollten in den Strategien auch die bis zur Erreichung
bieten Orientierung für kurz- und mittelfristige Ent-       von Klimaneutralität (und gegebenenfalls darüber
scheidungen, etwa zu ambitionierteren NDCs, zu inter-       hinaus) emittierten Mengen langlebiger THG sowie der
nationaler Klimafinanzierung und zur Ausrichtung von        angestrebte Pfad negativer Emissionen explizit gemacht
Covid-19-Stimulusprogrammen. Der WBGU hält folgende         werden. Langfriststrategien sollten explizit Klima-
übergreifende Anforderungen an Langfriststrategien für      stabilisierung im Einklang mit den Temperaturgrenzen
zentral:                                                    des PA als Langfristziel benennen. Dies stellt klar, dass
                                                            auch NDCs und andere Zwischenziele so formuliert
                                                            und verfolgt werden müssen, dass sie der langfristigen
Nationale Langfriststrategien am Ziel globaler              globalen Klimastabilisierung dienen bzw. sie nicht
Klimastabilisierung orientieren                             blockieren (z.  B. vorausschauender Infrastrukturausbau
                                                            oder Vermeidung von Trade-Offs zwischen CO2-Nutzung
Langfriststrategien sollten auf die                         und negativen Emissionen, siehe unten).
in Art. 2 PA vereinbarten Ziele und
damit u.a. auf Klimastabilisierung,
also eine Begrenzung des globalen                           Klimapolitische Langfriststrategien und
Temperaturanstiegs auf möglichst                            Nachhaltigkeitsagenda zusammendenken
1,5°C ausgerichtet sein. Aus einer
solchen Begrenzung der Klimaerwärmung ergeben sich          Klimastabilisierung ist ein zentraler
Randbedingungen für die Entwicklung der globalen            Baustein nachhaltiger Entwicklung,
Emissionen. Szenarien des IPCC, die mit den im PA           die in der Agenda 2030 der UN und
genannten Temperaturschwellen verträglich sind,             auf nationaler Ebene in der Deutschen
zeigen in zeitlicher Sequenz zunächst CO2-Neutrali-         Nachhaltigkeitsstrategie vorgegeben
tät, dann Treibhausgasneutralität und schließlich ganz      ist. Klimapolitische Langfriststrategien sollten als
überwiegend eine netto-negative Treibhausgasbilanz          Voraussetzung und Chance für eine nachhaltige Gesell-
– d.h. eine fortdauernde globale Entfernung von CO2         schaft begriffen und zur Umsetzung und Fortent-
aus der Atmosphäre, die über einen Ausgleich weiter         wicklung der Agenda 2030 genutzt werden. Anders-
bestehender Emissionen hinausgeht, um frühere hohe          herum lassen sich Klimaschutzziele leichter erreichen,
Emissionen und verbleibende Erwärmungstrends aus-           wenn die Welt sich insgesamt auf einem nachhaltigeren
zugleichen (Rogelj et al., 2018). Viele Staaten (auch       Entwicklungspfad befindet (Rogelj et al., 2018).
Deutschland mit seinem Klimaschutzplan 2050 aus                 Langfriststrategien zur Klimastabilisierung sollten
dem Jahr 2016) zielen mit ihren nationalen Langfrist-       Zusammenhänge und Konflikte mit anderen Nach-
strategien bisher lediglich auf „Klimaneutralität“, meist   haltigkeitsdimensionen frühzeitig identifizieren und so
bis 2050 oder etwas später (UNFCCC, 2021). Der Begriff      adressieren, dass möglichst Synergien („Mehrgewinne“)
der Klimaneutralität wird unterschiedlich verwendet,        erzeugt werden. So sollten z.  B. Ansätze zur Emissions-
z.  B. im Sinne von CO2-Neutralität oder Treibhausgas-      minderung und CO2-Entfernung aus der Atmosphäre

                                                                                                                              7
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung       Juli 2021                  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                Globale Umweltveränderungen

          mit Biodiversitäts- und Biosphärenschutz vereinbar sein    keiten (Art. 2.2 PA) – in ihren Langfriststrategien ent-
          und veränderte Ressourcen- und Landnutzung, neue           sprechende internationale Beiträge ausweisen. Dabei
          Technologien, Energie- und Mobilitätssysteme im Ein-       sollten sie sich nicht auf Klimafinanzierung, einseitigen
          klang mit Armutsbekämpfung, Freiheitsrechten sowie         Technologietransfer und capacity building (Art. 9, 10
          dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme für krisen-          und 11 PA) beschränken. Stattdessen sollten darüber
          fähigen gesellschaftlichen Zusammenhalt stehen.            hinaus Angebote in den Bereichen Wirtschafts-,
                                                                     Wissenschafts- und Entwicklungskooperation gemacht
                                                                     werden, auch unter Nutzung existierender bi- und
          Internationale Auswirkungen beachten,                      multilateraler Instrumente. Konkret sollte der Aufbau
          Entwicklung und Innovation partnerschaftlich               eigener Forschungs- und Entwicklungskapazitäten,
          ermöglichen                                                z.  B. zur Erschließung erneuerbarer Energiequellen oder
                                                                     für diversifizierte Landwirtschaftssysteme, ermöglicht
          Klimastabilisierung kann nur global                        werden. In Deutschland bzw. der EU kann der Ausbau
          unter Einbeziehung aller Staaten                           ökologischer und sozialer Standards in Lieferketten-
          erreicht werden. In den Langfrist-                         gesetzen die Anreize zur Dekarbonisierung trans-
          strategien sollten Staaten daher                           regionaler Lieferketten erhöhen. Des Weiteren sollten
          explizit die Auswirkungen ihrer Ziele                      Hocheinkommensländer im Rahmen ihrer Langfrist-
          und Maßnahmen auf andere Länder berücksichtigen,           strategien auch den Ausbau sozialer Absicherungs-
          andere Länder partnerschaftlich unterstützen und Ent-      systeme, resilienter Gesundheitssysteme, von Bildungs-
          wicklungschancen eröffnen.                                 systemen und Umweltmonitoring sowie den Ausbau
              Jede Langfriststrategie sollte primär nationale        von Katastrophenschutz für den Umgang mit Klima-
          Klima­ schutzpotenziale ausschöpfen. Zukünftige Be­­       risiken in Entwicklungs- und insbesondere Niedrigein-
          darfe und Potenziale zur Erzeugung und zu Importen         kommensländern unterstützen.
          von Rohstoffen und erneuerbarer Energie für eine                 Schließlich erfordern Langfriststrategien tief-
          nachhaltige Wirtschaftsweise sollten abgeschätzt           greifende technische und soziale Innovationen und
          und transparent dargestellt werden. Auf dieser Basis       eine breite Wissensbasis als Voraussetzung für einen
          kann internationalen Knappheiten bei regulatorischen       gemeinsamen Diskurs. Transformative Forschung
          Maßnahmen sowie Technologie- und Infrastruktur-            für Nachhaltigkeit ist allerdings in vielen nationalen
          entscheidungen Rechnung getragen werden. Lang-             Wissenschafts- und Bildungssystemen bisher kaum
          friststrategien und internationale Kooperation bilden      verankert und sollte gezielt gestärkt werden. Große
          so den notwendigen Rahmen für eine nachhaltige             Schwellenländer wie Indien und Indonesien geben nur
          Koordination, welche die unterschiedlichen regionalen      0,65% bzw. 0,23% ihres BIP für Forschung und Ent-
          Voraussetzungen angemessen berücksichtigt. Das             wicklung aus (UIS, 2021). Nur einige Länder und Ver-
          Anrechnen von Vermeidungsanstrengungen in anderen          bünde formulieren Ausgabenziele, z.  B. strebt Indien
          Ländern auf die eigenen Klimaschutzziele – wie es gemäß    2% bis 2022 an, die Afrikanische Union 1% und die EU
          Art. 6 PA möglich ist – trägt dabei aber nicht effektiv    3% (EAC-PM, 2019; UNECA, 2018; EU-Kommission,
          zum Klimaschutz bei, wenn dadurch frühzeitige eigene       2020). Interdisziplinäre Nachhaltigkeits-, Umwelt- und
          Investitionen in Vermeidung und die Entwicklung von        Klimaforschung sollte in den Langfriststrategien explizit
          Vermeidungstechnologien behindert werden. Auch ist         benannt sein. Ihre Stärkung kann die Strategieent-
          zu beachten, dass neue Produktions- und Versorgungs-       wicklung in vielen Ländern sowie die internationale
          strukturen einer nachhaltigen Wirtschaft ohne fossile      Abstimmung verbessern.
          Energieträger zu erheblichen, bisher kaum abschätz-
          baren Verlagerungen internationaler Wertschöpfungs-
          ketten führen können.                                      Planungssicherheit erhöhen: Finanzierung von
              Nicht alle Länder verfügen zudem über die techno-      Langfriststrategien sicherstellen
          logischen, wirtschaftlichen und institutionellen Voraus-
          setzungen, ambitionierte Langfriststrategien umzu-         Langfriststrategien sollten auch auf­
          setzen. Die meisten Entwicklungsländer brauchen            zeigen, wie die notwendigen Verän­
          Unterstützung sowohl in ihren Beiträgen zu langfristiger   derungs- und Innovationsprozesse in
          Klimastabilisierung und Biosphärenschutz als auch in       Gesellschaft und Wirtschaft finanziert
          ihrer grundlegenden Krisen- und Anpassungsfähig-           werden können. Um den globalen
          keit. Hocheinkommensländer sollten daher – auch            Investitionsbedarf zu decken – allein im Energiesystem
          gemäß dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschied-       liegt er bis 2050 bei ca. 830 Mrd. US-$2010 pro Jahr
          lichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähig-          gegenüber business as usual (Rogelj et al., 2018: 154)

8
Politikpapier Nr. 12        Klimastabilisierung         Juli 2021                   Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                     Globale Umweltveränderungen

– müssen bestehende Kapitalströme sowie der kurz-             und vergünstigte Darlehen klar benennen, über die
fristige starke Impuls der Covid-19-Stimuluspakete mit        ihre Zusagen umgesetzt und private Investitionen in
den klimapolitischen Langfristzielen in Einklang gebracht     Entwicklungs- und insbesondere Niedrigeinkommens-
und weitere private sowie öffentliche Mittel mobilisiert      ländern mobilisiert werden sollen. Die Mechanismen
werden. Zentral dafür ist die Planungssicherheit für          des Art. 6 PA können bei der Mobilisierung privater
Investoren und Mittelempfänger, wobei gleichzeitig eine       Investitionen einen Beitrag leisten, wenn klare Rahmen-
Offenheit für technologische oder gesellschaftliche Ver-      setzungen die ökologische Integrität der Märkte und
änderungen gewahrt werden sollte.                             ihre Vereinbarkeit mit den klimapolitischen Langfrist-
      Zunächst erfordert dies verlässliche klimapolitische    zielen sicherstellen.
Rahmenbedingungen einschließlich finanzieller Anreize,
z.  B. über CO2-Bepreisung, die die langfristigen Rendite-    Der WBGU empfiehlt:
erwartungen der Investoren beeinflussen, insbesondere         > In Langfriststrategien explizit aufzeigen, wie ange-
wenn sie weltweit abgestimmt wird, wie von der Bundes-            messene nationale Beiträge zur Erreichung des globa-
kanzlerin Deutschlands auf dem Petersberger Klima-                len Ziels der Klimastabilisierung geleistet und NDCs
dialog 2021 vorgeschlagen. Auch über konkrete, mit                weiterentwickelt werden können,
einer belastbaren Finanzierung unterlegte Infrastruktur-      >   Mehrgewinne für die Sustainable Development Goals
planungen kann die öffentliche Hand glaubwürdige lang-            (SDGs) anstreben und damit auch über 2030 hinaus
fristige Signale setzen.                                          die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsagenda
      Darüber hinaus können private Investitionen                 inspirieren sowie
mobilisiert oder umgelenkt werden, indem erstens              >   internationale Auswirkungen nationaler Maßnahmen
die Vereinbarkeit von Anlagestrategien mit lang-                  beachten und partnerschaftliche Unterstützung von
fristigen Klimazielen verbessert wird, etwa durch                 Entwicklungsländern bei ihren Beiträgen zur Klima-
transparent strukturierte Finanzierungsinstrumente                stabilisierung und im Umgang mit Klimarisiken vor-
wie green bonds oder sustainability-linked bonds.                 sehen.
Zweitens können staatliche Förder- und Finanzierungs-         >   Nationale Ausgaben für nachhaltigkeitsorientierte
instrumente Investitionshemmnisse mindern, die sich               Forschung, Entwicklung und Bildung deutlich anhe-
aus unsicheren zukünftigen klimapolitischen Rahmen-               ben, v.  a. auch in Niedrigeinkommens- und Schwellen­
bedingungen ergeben. Ein Beispiel sind Finanzierungs-             ländern.
instrumente, die das Risiko unsicherer CO2-Preise ganz        >   Regulatorische Rahmenbedingungen und Finanzie-
oder teilweise auf den Staat übertragen. Ebenso wichtig           rungsmechanismen in den Langfriststrategien veran-
ist eine langfristig angelegte staatliche Förderung risiko-       kern und verlässlich und langfristig ausrichten, um
reicher Forschung und Entwicklung, z.  B. für disruptive          Planungssicherheit zu erhöhen und die Bereitstellung
Sprunginnovationen. Drittens kann höhere Transparenz              privaten Kapitals zu fördern. Öffentliche und private
über Klimarisiken geschaffen werden, z.  B. durch die             Finanzierungsbeiträge sowie Zuschüsse und vergüns-
erweiterten Berichtspflichten für Unternehmen im                  tigte Darlehen sollten klar unterschieden, die anvi-
Rahmen der EU-Taxonomie.                                          sierte Rolle internationaler Finanzierungsmechanis-
      Höhere Planungssicherheit sowie die Mobilisierung           men und Kooperationen (z.  B. unter Art. 6 und 9 PA)
privater Mittel sind auch international bei der Klima-            transparent gemacht und öffentliche Mittel auch län-
finanzierung notwendig. Kurzfristige und unzuver-                 gerfristig zugesagt werden.
lässige Finanzierungszusagen hemmen Investitionen
von Entwicklungsländern in den Umbau und die
Dekarbonisierung ihrer Sozial- und Wirtschaftssysteme
als Teil von Langfriststrategien. Nach dem wahrschein-
lichen Verfehlen des in Kopenhagen vereinbarten Bei-
tragsziels der Hocheinkommensländer von 100 Mrd.
US-$ pro Jahr (Bhattacharya et al., 2020) muss das Ver-
trauen in internationale Kooperation wiederhergestellt
werden. Dafür sollten Staaten ihre Beiträge und deren
perspektivische Fortentwicklung in ihren Langfrist-
strategien darlegen und so auch Verteilungsschlüssel
multilateraler Finanzmechanismen konkretisieren. Sie
sollten dabei zwischen öffentlichen und anvisierten
privaten Mitteln unterscheiden. Zudem sollten sie
bi- und multilaterale Kanäle und Hebel wie Zuschüsse

                                                                                                                                9
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung        Juli 2021                   Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                   Globale Umweltveränderungen

           Schwerpunkte setzen: stoppen,
           stärken, vordenken

           Zentral für die Klimastabilisierung ist, die Akkumulation   und Finanzierungsmechanismen für jeden dieser
           langlebiger Treibhausgase in der Atmosphäre zu stoppen      Schwerpunkte separat angeben und nicht in einem
           und gegebenenfalls auch wieder rückgängig zu machen,        Gesamtbilanzierungsziel (z.   B. Klimaneutralität) mit-
           insbesondere von CO2. Wird Kohlenstoff aus fossilen         einander verrechnen.
           Lagerstätten (Kohle, Erdöl, Erdgas) in Form von CO2             Eine solche Differenzierung sollte auch bei inter-
           oder CH4 in die Atmosphäre freigesetzt, erhöht dies         nationalen Kooperationen berücksichtigt werden. Art. 6
           insgesamt die Menge an Kohlenstoff, die zwischen der        PA, für den ein Regelwerk auf der COP  26 beschlossen
           Atmosphäre, den Ozeanen und der terrestrischen Bio-         werden soll, enthält zum einen den Rahmen für freiwillige
           sphäre zirkuliert. Dieser „schnelle“ Kohlenstoffkreis-      marktbasierte Kooperationen (bi- oder multilateral oder
           lauf ist überwiegend durch natürliche (biologische und      zentral durch ein UNFCCC-Gremium koordiniert, Art.
           chemische) Prozesse gesteuert. Maßnahmen innerhalb          6.2-3 bzw. 6.4-7). Diese sollen insbesondere ermög-
           dieses Kreislaufs (etwa Wiederaufforstung) können den       lichen, Klimaschutzanstrengungen in Partnerstaaten
           fortlaufenden Kohlenstoffeintrag aus fossilen Lager-        auf nationale NDCs anzurechnen (internationally
           stätten nicht kompensieren. Der zusätzliche fossile         transferred mitigation outcomes, ITMOs) oder inter-
           Kohlenstoff ist primärer Treiber des Klimawandels,          nationale Kohlenstoffmärkte zu schaffen. Zum anderen
           darunter auch der Ozeanversauerung.                         soll ein Rahmen für nicht marktbasierte Instrumente
               Bei der Ausgestaltung der Langfriststrategien der       gesteckt werden (Art. 6.8, z.  B. abgestimmte Anreiz-
           Vertragsstaaten sollten daher mit Blick auf die Klima-      systeme zur Energieeffizienzsteigerung). Ein Schwer-
           stabilisierung drei strategische Schwerpunkte gesetzt       punkt der aktuellen Verhandlungen ist die Vermeidung
           werden: Erstens sollte die Nutzung fossiler Rohstoffe,      von Doppelanrechnungen der ITMOs in NDCs. Für
           insbesondere als Energieträger, möglichst schnell voll-     langfristig wirksame Erfolge im Klimaschutz ist es aber
           ständig vermieden werden. Klimafreundliche Alter-           ebenso entscheidend, dass in den Langfriststrategien
           nativen wie der Ausbau erneuerbarer Energien und            dargestellt wird, wie internationale Kooperationen nach
           die Steigerung der Energieeffizienz würden im Gegen-        Art. 6 PA jeweils zu den Schwerpunkten beitragen.
           zug gestärkt. Der zweite Schwerpunkt von Langfrist-             Innerhalb jeder Komponente ist bei der Aus-
           strategien sollte der Schutz und die Wiederherstellung      gestaltung wiederum darauf zu achten, dass Lösungs-
           von Ökosystemen sowie die nachhaltige Nutzung der           ansätze in einen strategischen Fahrplan (Roadmap) ein-
           Biosphäre sein. Diese sind nicht nur unverzichtbare         gebunden und anhand der folgenden Kriterien bewertet
           „Verbündete“ für den Klimaschutz, da sie Kohlenstoff        werden:
           binden, sondern sind über eine Vielzahl von Öko-            > Beitrag zur Zielerreichung: Der Beitrag der Langfrist-
           systemleistungen für das menschliche Leben insgesamt           strategien zur Klimastabilisierung hängt entschei-
           entscheidend. Klimaschutzmaßnahmen im Bereich                  dend von der Wirksamkeit der enthaltenen Maßnah-
           der Biosphäre modifizieren jedoch im Wesentlichen              men ab. Nicht alle Lösungsansätze sind gleich wirk-
           den „schnellen“ Kohlenstoffkreislauf und können den            sam und damit gleichwertig zu behandeln.
           durch Menschen verursachten zusätzlichen Eintrag            > Mehrgewinnorientierung: Maßnahmen zum Klima-
           von Kohlenstoff aus fossilen Quellen nicht rückgängig          schutz sollten so ausgewählt werden, dass sie s­ imultan
           machen. Daher müssen drittens Strategien entwickelt            auch zu anderen (Nachhaltigkeits-)Zielen beitragen
           werden, damit der Atmosphäre zukünftig auch jenseits           und damit Mehrgewinne erzeugen, etwa für den
           der begrenzten Absorptionsfähigkeit natürlicher (z.T.          Schutz der Biodiversität und das menschliche Wohl-
           renaturierter) und bewirtschafteter Ökosysteme CO2 in          befinden sowie weitere Bereiche der Agenda 2030.
           nachhaltiger Weise entzogen werden kann.                    > Operationalisierbarkeit und systemische Einbettung:
               Diese drei Schwerpunkte sind jeder für sich not-           Langfristige Ziele sollten mit Meilensteinen und kon-
           wendig und nicht untereinander substituierbar.                 kret umsetzbaren Maßnahmen unterfüttert werden.
           Nationale Langfriststrategien sollten Ziele, Maßnahmen         Gleichzeitig ist auf die systemische Einbettung der

10
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung        Juli 2021                  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                  Globale Umweltveränderungen

   Lösungsansätze zu achten, um vorausschauend              die Zwischenziele sollten sich an einem angemessenen
   Transformationen zu ermöglichen und unerwünschte         Anteil am verbleibenden globalen Emissionsbudget
   Pfadabhängigkeiten zu vermeiden.                         orientieren.
Die Umsetzung der Langfriststrategien sollte einen trans-
formativen Prozess anstoßen, der positive Wirkungen          Ausstieg aus der Verbrennung fossiler
und Mehrgewinne auch jenseits des Klimaschutzes hat.        ­Energieträger gestalten
                                                            Der WBGU empfiehlt, innerhalb der Langfriststrategien
                                                            einen vollständigen Ausstieg aus der energetischen
Der WBGU empfiehlt:                                         Nutzung fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas)
> Langfriststrategien zur Klimastabilisierung sollten       vorzusehen sowie eine Beschränkung ihrer stofflichen
  drei Schwerpunkte enthalten:                              Nutzung (etwa in der Petrochemie) auf Anwendungen,
  1. Stoppen: schnell und vollständig aus der Ver-          für die noch keine nachhaltigen (erneuerbaren) Alter-
      brennung fossiler Energieträger aussteigen und        nativen entwickelt werden können. Bei der ver-
      ihre stoffliche Nutzung auf Fälle begrenzen, in       bleibenden nicht-energetischen Nutzung fossiler Roh-
      denen keine nachhaltigen Alternativen entwickelt      stoffe sollte ausgeschlossen werden, dass der gebundene
      werden können.                                        Kohlenstoff wieder freigesetzt wird, etwa bei einer
  2. Stärken: Biodiversitätserhaltung und Klimaschutz       späteren Verbrennung oder Zersetzung. Die möglichst
      durch Schutz, Wiederherstellung und nach­haltige      rasche Abkehr von der Nutzung fossiler Energieträger
      Nutzung von Ökosystemen verknüpfen.                   sollte maßgebend für die Umsetzung von Effizienz- bzw.
  3. Vordenken: Strategien zur nachhaltigen Ent-            nachfrageseitiger Maßnahmen und den raschen Aufbau
      fernung von CO2 aus der Atmosphäre entwickeln.        erneuerbarer Energie- und Mobilitätssysteme sowie den
> Alle drei Schwerpunkte sind notwendig, wobei der          Umbau der Industrie sein.
  Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und die              Dieser Umstieg auf erneuerbare Energien und Roh-
  Stärkung der Biosphäre grundlegend sind. Die drei         stoffe könnte nicht nur die CO2-Emissionen aus der
  Schwerpunkte sind nicht untereinander substituier-        Verbrennung fossiler Energieträger auf Null bringen,
  bar. Sie sollten jeweils mit Zielen, Zwischenzielen und   die derzeit insgesamt ca. 80% der globalen, anthropo-
  Maßnahmen versehen sowie mit Indikatoren verfolgt         genen CO2-Emissionen darstellen (Friedlingstein et al.,
  werden.                                                   2020), sondern zusätzlich die mit der Extraktion fossiler
> Die Differenzierung zwischen den Schwerpunkten            Ressourcen und deren Verarbeitung verbundenen
  sollte sich auch in Marktmechanismen und sonstigen        Methanemissionen, die etwa 35% der globalen
  internationalen Kooperationen unter Art. 6 PA wider-      anthropogenen CH4-Emissionen ausmachen, massiv
  spiegeln. Eine Verrechenbarkeit zwischen Beiträgen        senken (Saunois et al., 2020). Darüber hinaus können
  aus unterschiedlichen Schwerpunkten sollte in inter-      im Sinne von Mehrgewinnen erhebliche Gesundheits-
  nationalen Marktmechanismen dringend vermieden            effekte erzielt werden: Lelieveld et al. (2019) beziffern
  werden.                                                   die weltweite Übersterblichkeit (d.h. vermeidbare
> Maßnahmen zu den einzelnen Schwerpunkten s­ ollten        Todesfälle) aufgrund von Luftverschmutzung durch
  anhand ihrer Wirksamkeit für die Erreichung der           die Nutzung fossiler Energieträger auf etwa 3,6 Mio.
  ­Klimaschutzziele sowie ihrer Mehrgewinnorientiert-       jährlich. Auch andere Nachhaltigkeitsdimensionen
   heit im Hinblick auf andere Nachhaltigkeitsziele         können profitieren: Die Exploration und Extraktion
   bewertet und ausgewählt werden.                          fossiler Ressourcen bedroht und zerstört vielfach direkt
                                                            wertvolle und fragile Ökosysteme (z.      B. den Yasuní-
                                                            Nationalpark), während petrochemische Produkte auch
CO2-Emissionen aus fossilen Quellen stoppen                 jenseits des Klimawandels zu weltweiten Problemen
                                                            führen, etwa als Mikroplastik.
Um den Klimawandel aufzuhalten, darf                            Strategien, die auf End-of-pipe-Lösungen zur
insgesamt nur noch eine begrenzte                           Emissionsminderung setzen, etwa den Einsatz von
Menge anthropogener CO2-Emissionen                          Kohlendioxidabscheidung und Speicherung (CCS) in
in die Atmosphäre gelangen (IPCC,                           Kombination mit der fortgeführten Nutzung fossiler
2018: 14f). Die möglichst rasche                            Energieträger, könnten nur einen Teil der genannten
Abkehr von CO2-Emissionen aus der Nutzung fossiler          Mehrgewinne erzielen, und betten sich daher weniger
Energieträger steht dabei im Zentrum. Die Staaten           gut in eine umfassende Transformation zur Nach-
sollten sie mit Zwischenzielen versehen, die in den         haltigkeit ein. Darüber hinaus rät der WBGU weiter-
NDCs aufgegriffen werden. Der Zeitpunkt, an dem kein        hin dringend davon ab, auf Kernenergie zu setzen,
CO2 aus fossilen Quellen mehr freigesetzt wird sowie        insbesondere wegen des nach wie vor nicht ver-

                                                                                                                             11
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung       Juli 2021                  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                 Globale Umweltveränderungen

           nachlässigbaren Risikos schwerster Schadensfälle, der      Auswirkungen auf Gesundheit, Ökosysteme und Bio-
           ungeklärten Endlagerungsproblematik und des Risikos        diversität bewertet werden. Analysen des IPCC zeigen
           unkontrollierter Proliferation.                            etwa, dass geeignete Maßnahmen für eine geringere
                                                                      Energienachfrage sich auch positiv auf andere Nach-
           Technologiepfade systemisch gestalten, Mehr-               haltigkeitsziele auswirken (Roy et al., 2018: 448).
           gewinne anstreben                                          Der WBGU empfiehlt daher, systematische Folgen-
           Langfriststrategien sollten nicht nur die Zielsetzungen    abschätzungen der avisierten Technologiepfade für
           zur Reduktion von CO2-Emissionen und Nutzung               die in der Agenda 2030 angelegten Nachhaltigkeits-
           fossiler Rohstoffe formulieren, sondern strategisch auf-   dimensionen vorzunehmen.
           zeigen, welche (Entwicklungs-)Pfade zur Erreichung
           dieser Ziele unter Berücksichtigung anderer Nach-          Internationale Dimensionen beachten, Rohstoff-
           haltigkeitsziele eingeschlagen werden sollen. Es geht      strategien nachhaltig und solidarisch einbetten
           um angepasste technische wie gesellschaftliche Ent-        Von hoher Bedeutung ist zudem, die internationalen
           wicklungspfade, die Klimastabilisierung im Einklang mit    Auswirkungen und Erfordernisse nationaler Strategien
           der breiteren Nachhaltigkeitsagenda verfolgen und in       zu explorieren und transparent zu machen. Langfrist-
           diesem Sinn explizit auf Synergien und Mehrgewinne         strategien sollten dafür nationale Energieträger- und
           ausgerichtet sind.                                         Rohstoffstrategien für den Ausstieg aus fossilen Roh-
               Mit Blick auf die Klimastabilisierung sollte sicher-   stoffen umfassen. Dadurch können sie einen Bei-
           gestellt werden, dass technologische und infra-            trag leisten, die Konsistenz der unterschiedlichen
           strukturelle Weichenstellungen die Möglichkeiten,          nationalen Strategien zu sichern, etwa im Hinblick auf
           CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, nicht unter-          die internationale Verfügbarkeit zentraler Rohstoffe und
           minieren oder schmälern. Technologien, die faktisch        erneuerbarer Energieträger. Um entsprechende Märkte
           CO2 in die Atmosphäre freisetzen, sollten daher auch       und Lieferketten aufzubauen, sollten v. a. Niedrigein-
           dann m ­ öglichst vermieden werden, wenn sie als klima-    kommensländer beim Aufbau lokaler Produktions- und
           neutral gelten, indem das CO2 der Atmosphäre vorher        Versorgungskapazitäten unterstützt werden. Aus-
           entzogen wurde (sei es durch Photosynthese oder durch      reichende Investitionen vor Ort und, wo notwendig,
           technische Verfahren). Dies gilt insbesondere dort, wo     der Transfer von Technologien sollten daher frühzeitig
           alternative Technologien zur Verfügung stehen, wie         vorgesehen sowie Anpassung und Ausbau vorhandener
           beispielsweise im Verkehrsbereich zu Biokraftstoffen       Infrastruktur unterstützt werden. Insbesondere sollte
           und synthetischen C-basierten Kraftstoffen. Denn die       auch SDG 7 (bezahlbare und saubere Energie) im
           Möglichkeiten, der Atmosphäre CO2 zu entziehen,            Blick behalten werden: Noch immer haben weltweit
           sind begrenzt und vielfach mit Risiken für andere          ca. 789 Mio. Menschen keinen Zugang zu Elektrizität
           Nachhaltigkeitsdimensionen verbunden, etwa für die         (UN, 2020) und Milliarden von Menschen greifen zum
           Nahrungsmittelproduktion oder die Erhaltung der Bio-       Kochen auf feste Brennstoffe zurück, mit erheblichen
           diversität (WBGU, 2020: 55ff). Zum anderen müssen          Gesundheitsfolgen. Langfriststrategien aller Länder
           die begrenzten Potenziale zur sicheren Speicherung von     sollten zur Überwindung dieser Energiearmut beitragen
           CO2 berücksichtigt werden: Die geologischen Speicher-      und sie keinesfalls erschweren.
           potenziale werden zwar als groß eingeschätzt, allerdings
           gibt es offene Fragen in Bezug auf die gesellschaftliche   Forschungsbedarfe benennen, transformative
           Akzeptanz sowie die langfristige Verlässlichkeit der       Forschungsoffensive starten
           Speicher, die nicht nur von den geologischen Gegeben-      Ein vollständiger Ausstieg aus der Nutzung fossiler
           heiten, sondern auch dem Management abhängt                Energieträger geht in Teilen über die Grenze des heute
           (WBGU, 2020: 57). Technologiepfade, die die Ent-           technisch Machbaren hinaus bzw. erfordert aus heutiger
           stehung von CO2 schon im Ansatz vermeiden, sind            Sicht den verstärkten Einsatz einiger Technologien,
           daher Pfaden überlegen, die die begrenzten Speicher-       die noch nicht oder nicht großmaßstäblich erprobt
           potenziale langfristig und in großem Umfang einplanen.     sind, sowie gesellschaftliche Innovationen. Es ist daher
           Staaten sollten daher in ihren Strategien transparent      von hoher Bedeutung, in Langfriststrategien auch die
           machen, welche (auch quantitative) Rolle sie einzelnen     strategischen Forschungs- und Entwicklungsbedarfe
           Technologien zuschreiben.                                  unter Berücksichtigung sozioökonomischer Rahmen-
               Um Synergien mit weiteren Nachhaltigkeitszielen        bedingungen zu adressieren. Unter anderem kommt
           zu erreichen, sollten in den Vergleich verschiedener       dabei folgenden Themen eine hohe Relevanz zu:
           Lösungen grundsätzlich möglichst alle externen Kosten      > Grüner Wasserstoff als zukünftiger Energieträger:
           einbezogen werden, so dass Klimaschutztechnologien            Entwicklung neuer, unkritischer Materialien für Elek-
           beispielsweise auch im Hinblick auf unterschiedliche          trolyse und Brennstoffzellen sowie sozio-technischer

12
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung        Juli 2021                  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                  Globale Umweltveränderungen

  Systemansätze für Produktion, effizienten Verbrauch       unverzichtbaren natürlichen Lebensgrundlagen der
  und Verteilung sowie deren Anwendung in der Breite.       Menschheit. Dennoch sind Ökosystemleistungen stark
> Bioökonomie: Biogene Rohstoffe als Ersatz für stoff-      gefährdet, v.  a. durch Landnutzungsänderungen, Über-
  lich genutzte fossile Rohstoffe sowie die Sicherung       nutzung von Ökosystemen und zunehmend auch durch
  ihrer nachhaltigen Gewinnung durch angemessene            den Klimawandel. Diese wissenschaftliche Erkenntnis
  Steuerungs- und Anreizsysteme.                            wird jedoch viel zu langsam in Handeln umgesetzt. Die
> Intelligente Sektorenkopplung: Steigerung von Effi­       Erhaltung der Biosphäre ist nicht nur unverzichtbar,
  zienz und Flexibilität bei Angebot und Nutzung von        sondern für eine nachhaltige Entwicklung auch höchst
  Energie aus erneuerbaren Quellen mit Blick auf eine       dringlich. Langfristige Klimastabilisierung ist ohne eine
  Vollversorgung mit erneuerbaren Energien. Dazu            intakte und resiliente Biosphäre nicht erreichbar.
  gehören z.  B. Antriebstechnologien für schwer elek­          In einem nachhaltigen Umgang mit der Biosphäre
  trifizierbare Transportmittel sowie nachfrageseitige      lassen sich Klimaschutz und Biodiversitätserhaltung
  Maßnahmen.                                                synergistisch miteinander verknüpfen. Dies gilt sowohl
                                                            für Ökosysteme an Land als auch für Meeres- und
Der WBGU empfiehlt:                                         Küstenökosysteme. Entscheidend dafür ist ein schnellst-
> Ausstieg aus der Nutzung fossiler Rohstoffe anstreben:    möglicher Stopp der Zerstörung naturbelassener Öko-
  Es sollten klare Ausstiegspfade aus der energetischen     systeme und der Übernutzung biogener Ressourcen.
  und möglichst auch stofflichen Nutzung fossiler Roh-      Zusätzlich können „naturbasierte Lösungen“ einen
  stoffe entwickelt werden, die sich an den noch mög-       wichtigen Beitrag zum Klimaschutz wie auch zu anderen
  lichen CO2-Budgets orientieren.                           Zielen nachhaltiger Entwicklung leisten. Die klima-
> Exploration und Extraktion fossiler Ressourcen            relevanten Wirkungen naturbasierter Lösungen sind
  ­beenden: Die Beendigung von Extraktion und Explo-        allerdings nicht nur begrenzt, sondern auch reversibel:
   ration fossiler Ressourcen sollte multilateral verhan-   Naturnahe Wiederaufforstung beispielsweise benötigt
   delt und beschlossen werden. Die Staaten sollten in      Jahrzehnte, aber das gespeicherte CO2 kann durch einen
   ihren Langfriststrategien darlegen, welchen Beitrag      vom Klimawandel induzierten Waldbrand in Stunden
   sie dazu leisten.                                        wieder in die Atmosphäre gelangen.
> Mehrgewinne suchen, Folgenabschätzung institutio-             Für den schnellen Kohlenstoffkreislauf hat der
   nalisieren: Der Ausstieg aus der Nutzung fossiler        WBGU Mehrgewinnstrategien skizziert (WBGU, 2020).
   Energieträger sollte als Chance genutzt werden, Fort-    Damit lassen sich an Land wie auch im Ozean positive
   schritte in weiteren Nachhaltigkeitsdimensionen zu       Wirkungen sowohl für den Klimaschutz als auch für die
   erreichen. Hierfür sollten Abschätzungen der natio-      Biodiversitätserhaltung erzeugen.
   nalen und internationalen Folgen geplanter Techno-       1. CO2-Entfernung durch Renaturierung synergistisch
   logie- und Transformationspfade auf alle Dimensio-           gestalten: Durch Renaturierung degradierter Öko-
   nen der Agenda 2030 standardmäßig vorgesehen                 systeme kann nicht nur der Atmosphäre CO2 ent-
   werden. Möglichkeiten zur ressourcenschonenden               zogen, sondern es können auch Biodiversität und
   Umnutzung vorhandener Infrastruktur sollten                  Ökosystemleistungen gefördert werden. Eine
   geprüft werden.                                              Wiedervernässung von Mooren, eine standort-
> Staaten sollten Langfriststrategien nutzen, um ihre           gerechte Wiederaufforstung degradierter Wald-
   aktuellen und geplanten Maßnahmen und Politiken              flächen und eine Renaturierung von Meeres- und
   (z.  B. CO2-Bepreisung, Abbau fossiler Subventionen,         Küstenökosystemen (etwa Mangroven, Seegras-
   übergangsweise Nutzung internationaler Mechanis-             wiesen und Makroalgenwälder) sind vielver-
   men, Infrastrukturausbau, Effizienz- und weitere             sprechende Ansätze, mit denen sich synergistische
   nachfrageseitige Maßnahmen) zu umreißen.                     Wirkungen für mehrere Nachhaltigkeitsziele
                                                                erreichen lassen. Im Vordergrund sollte dabei
                                                                unbedingt die Wiederherstellung artenreicher,
Beitrag der Biosphäre stärken                                   naturnaher Ökosysteme und nicht die Schaffung von
                                                                Plantagen stehen. Die CO2-Speicherung durch die
Klimaschutz und Biodiversitätserhal­                            Renaturierung von Ökosystemen kann auf langen
tung sind zwei höchst wichtige, aber                            Zeitskalen und bei erfolgreicher Emissionsreduktion
auch sehr unterschiedliche Nach-                                klimastabilisierend wirken, aber ambitionierte
haltigkeitsziele, die miteinander in                            Emissionsreduktionen keinesfalls ersetzen und
Wechselwirkung stehen. Biologische                              daher auch nicht dort verrechnet werden. Der
Vielfalt und Ökosystemleistungen bilden die Basis               WBGU empfiehlt zudem, die in der Bonn Challenge
einer funktionierenden Biosphäre und gehören zu den             gesteckten Flächenziele deutlich zu erweitern.

                                                                                                                            13
Politikpapier Nr. 12       Klimastabilisierung       Juli 2021                  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                 Globale Umweltveränderungen

           2. Schutzgebietssysteme ausweiten und aufwerten:           5. Bioökonomie verantwortungsvoll gestalten und Holz-
              Natürliche terrestrische und marine Ökosysteme               bau fördern: Die Verwendung von Biomasse kann
              speichern bereits große Kohlenstoffvorräte. Gleich-          emissionsintensive Prozesse und fossile Rohstoffe
              zeitig wirken sie auch weiterhin als CO2-Senken.             ersetzen und damit den Weg zur langfristigen Klima-
              Beide Leistungen sind durch die fortschreitende              stabilisierung erleichtern. Der dadurch steigende
              Zerstörung und Übernutzung der natürlichen Öko-              Landbedarf verstärkt jedoch die Konkurrenzen zu
              systeme sowie durch den Klimawandel gefährdet.               Ernährungssicherung und Biodiversitätserhaltung,
              Ökosystemschutz dient also nicht nur der Biodiversi-         was die Potenziale nachhaltig nutzbarer Biomasse
              tätserhaltung, sondern auch dem Klimaschutz. Um              begrenzt. Für eine auf nachhaltige Landnutzung
              diese Synergie zu nutzen, sollten Schutzgebiets-             gestützte Bioökonomie empfiehlt der WBGU daher
              systeme ausgeweitet und aufgewertet werden.                  staatliche Rahmenbedingungen für Angebot und
              Der WBGU empfiehlt, Schutzgebietssysteme auf                 Nutzung von Biomasse. Innerhalb dieses Rahmens
              30% der Land- und Ozeanfläche auszuweiten.                   kann insbesondere das nachhaltige Bauen mit Holz
              Neben der Biodiversitätskonvention (CBD) sollte              aus standortgerechter, nachhaltiger Waldwirtschaft
              auch die UNFCCC diese Zielsetzung unterstützen.              gestärkt werden, das eine Alternative zum deut-
              Dabei sollten die in der CBD international verein-           lich klimaschädlicheren konventionellen Stahl- und
              barten Qualitätskriterien konsequent angewendet              Betonbau bietet.
              und eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen            Für Meeres- und Küstenökosysteme ergeben sich
              Naturschützenden und Klimaschützenden auf allen         entsprechende Handlungsoptionen mit mehrfachem
              Ebenen angestrebt werden.                               Gewinn. Ungestörte marine Sedimente speichern
           3. Landwirtschaftssysteme diversifizieren: Durch die       etwa doppelt so viel organischen Kohlenstoff wie
              Ausweitung von Agrarflächen in natürliche Öko-          terrestrische Böden (Atwood et al., 2020). Der WBGU
              systeme, durch Bodendegradation und durch die           empfiehlt daher, die marine CO2-Speicherung durch
              Anwendung von Agrarchemie trägt industrielle            eine nachhaltige Fischerei und Aquakultur zu stärken.
              Landwirtschaft maßgeblich zu Klimawandel und            Damit wird auch ein wichtiger Beitrag zur zukünftigen
              Biodiversitätsverlust bei. Langfristig ist dies auch    Proteinversorgung der Menschen gesichert (WBGU,
              negativ für die Nachhaltigkeit der Nahrungsmittel-      2013). Eine nachhaltige Nutzung von Biomasse aus dem
              produktion. Um diese Trends umzudrehen und Syn-         Meer bietet zudem Chancen für die Bioökonomie, die
              ergien zwischen Landwirtschaft und Klimaschutz zu       verstärkt erforscht werden sollten.
              nutzen, empfiehlt der WBGU eine Wende hin zu öko-           Eine solche integrierte Betrachtung der Biosphäre
              logisch intensiven, multifunktionalen Produktions-      im Sinn des Zusammendenkens von Land und Ozean
              systemen, bei denen die Effizienzgewinne v.  a. durch   sowie von verschiedenen Nutzungsansprüchen und
              die Förderung von Ökosystemleistungen erzielt           Schutzgütern kann dabei helfen, nachhaltige Zukunfts-
              werden. Damit kann nicht nur die CO2-Aufnahme           pfade ganzheitlich zu identifizieren. Dafür muss sich der
              in Böden verbessert werden, sondern es ließen sich      Umgang der Menschheit mit der Biosphäre grundlegend
              auch aus der Landwirtschaft stammende CH4- und          wandeln. Es sind ehrgeizige und entschlossene Ent-
              N2O-Emissionen absenken.                                scheidungen aller Vertragsstaatenkonferenzen der drei
           4. Die Transformation tierproduktlastiger Ernährungs-      Rio-Konventionen UNFCCC, CBD und Desertifikations-
              stile vorantreiben: Ernährungsstile mit einem großen    konvention (UNCCD) erforderlich, um einen trans-
              Anteil von Tierprodukten erzeugen u.a. durch            formativen Wandel im Umgang mit der Biosphäre einzu-
              Landverbrauch deutlich mehr THG-Emissionen als          leiten. Für eine konkrete Umsetzung auf instrumenteller
              eine überwiegend pflanzenbasierte Ernährung. Die        Ebene ergänzt der WBGU folgende Empfehlungen.
              weltweite Ernährung sollte an der Planetary Health
              Diet (Willett et al., 2019) ausgerichtet werden.        Der WBGU empfiehlt:
              Diese ist nicht nur gesünder als tierproduktlastige     > Finanzierungsmechanismen differenziert an Zielen
              Ernährungsstile, sondern trägt auch zur Erreichung        ausrichten: Ökosystemleistungen haben Gemeingut-
              weiterer globaler Nachhaltigkeitsziele bei. Der           charakter und benötigen besonderen Schutz. Beiträge
              WBGU empfiehlt daher eine konsequente Weiter-             zum Schutz und zur Renaturierung von Ökosystemen
              entwicklung von Rahmenbedingungen, nachhaltig-            sollten in ein breit angelegtes System von Zahlungen
              keitsorientierte Normsetzung (z.     B. Ernährungs-       für Ökosystemleistungen eingebettet sein. Finanzie-
              leitlinien) und Schaffung entsprechender Anreize          rungsinstrumente und -mechanismen für Klima-
              für die Wirtschaft und Konsument*innen. Zudem             schutz und Biosphärenschutz unterscheiden sich
              sollten Potenziale zur Vermeidung von Lebensmittel-       somit in Komplexität und Zeithorizont und sollten
              verlusten und -verschwendung genutzt werden.              entsprechend ihrer Ziele separiert werden. In Steuer-

14
Sie können auch lesen