Bildung und Computerspiele: Potenziale und Probleme
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Bildung und Computerspiele: Potenziale und Probleme F1 Johannes Fromme 45. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik zum Thema „Gaming bildet?! Vor(ur)teile von digitalen Spielen in der Bildung“ am 22. März 2023 Sehr geehrte Damen und Herren, herzlichen Dank für die Einladung und die Möglichkeit, im Rahmen der 45. Stuttgar- F2 ter Tage der Medienpädagogik einleitend ein paar Überlegungen zum Zusammen- hang von Computerspielen und Bildung vorzustellen. Ich möchte mich im Vortrag zunächst dem Phänomen Computerspiel zuwenden und dabei die nach wie vor ambivalente gesellschaftliche Stellung digitaler Spiele und Spielkulturen ansprechen. Es sollen dann zwei Begründungen dafür vorgestellt wer- den, Computerspiele als bedeutsame Bestandteile von Kultur zu betrachten und sich ihnen – auch pädagogisch – in aufgeschlossener Weise zuzuwenden. Im zweiten Teil geht es dann um Computerspiele und Bildung. Die These ist zunächst, dass digitale Spiele selbst Orientierungsfragen verhandeln und zur Reflexion anregen – und in diesem Sinne Bildungspotenziale aufweisen können. Das möchte ich an einigen Bei- spielen veranschaulichen. Im Anschluss erläutere ich die Position, dass für eine selbstbestimmte und sozial verantwortliche alltagsweltliche Beschäftigung mit digi- talen Medien wie Computerspielen Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen benö- tigt werden, die nicht allein im Umgang mit diesen Medien erworben werden kön- nen. Es bedarf also einer medienpädagogischen Förderung von Medienbildung. Hier möchte ich im Anschluss an Henry Jenkins drei relevante Ansatzpunkte skizzieren. Ich schließe mit einem Ausblick, in dem ein paar Probleme der schulischen wie au- ßerschulischen Medienpädagogik angesprochen werden sollen. 1 Das Phänomen Computerspiel F3 Bei einer Annäherung an das Phänomen gilt es zunächst, die Frage der Bezeichnung anzusprechen: Ich verwende „Computerspiel“ als Sammelbegriff für alle Varianten digitaler Spiele, denn sie beruhen alle auf der Computertechnologie. Das gilt für Smartphonespiele ebenso wie für Konsolen- oder PC-Spiele (Fromme/Iske/Biermann 2021). Es handelt sich um ein relativ junges Medienphänomen, das unser Verhältnis zu me- dialen Darstellungen grundlegend verändert hat: Revolutionär neu war/ist, dass sich 1
das Geschehen auf einem Bildschirm mittels spezieller Eingabegeräte interaktiv be- einflussen lässt. Aus dem Zuschauer oder Rezipienten wird also ein Akteur, der nicht nur steuern und Einfluss nehmen kann, sondern muss. Beim ersten weltweit beliebten Computerspiel, der Tischtennissimulation Pong (Atari 1972), erfolgte die Steuerung der beiden „Schläger“ über zwei Drehknöpfe (siehe Abb.). Gespielt wurden die frühen Spiele zunächst in Spielhallen und Gaststätten, ab Mitte der 1970er-Jahre dann auch über Spielkonsolen, die daheim an den Fernseher angeschlossen werden konnten. Entscheidend für die Verbreitung war und ist der Umstand, dass man keine besonderen Computerkenntnisse – etwa Programmierkenntnisse – benötigt, um die Hard- und Software zu bedienen. „Early Adopter“ des neuen Mediums waren vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene. Die offensichtliche Faszinationskraft, die das Computerspiel auf F4 die jungen Menschen ausübte, führte schnell zu öffentlichen Debatten über mögli- che negative Einflüsse wie soziale Isolation, Aggressionssteigerung oder auch Süch- tigkeit. Das war freilich bei früheren „neuen“ Medien auch schon so, z.B. beim Film und den Lichtspielhäusern Anfang des 20. Jhd. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ist der Umgang mit Games und Gaming etwas gelassener geworden. Das Angebot an digitalen Spielen und Plattformen hat sich ausdifferenziert, die Nutzerschaft ist grö- ßer und bunter geworden, Computerspiele sind heute ein weitgehend selbstver- ständlicher Bestandteil des Medienalltags. Und vor allem sind sie ein Wirtschaftsfaktor. Die Entwicklung des deutschen Game- Marktes seit 1995 ist beachtlich: Während der Jahresumsatz 1995 (ohne Hardware) F5 noch unter 200 Mio. € lag, wurden 2021 über 6.000 Mio. € umgesetzt. Einen star- ken Anstieg gab es besonders in den letzten Jahren. Und die Corona-Pandemie war nochmals ein Wachstumstreiber. Das zeigen die folgenden Marktdaten des game- Verbands (www.game.de), dieses Mal inklusive der Umsätze mit Games-Hardware. Ebenfalls sichtbar wird, dass im Games-Markt seit einigen Jahren die Umsätze mit F6 virtuellen Gütern und Zusatzinhalten eine wichtige Rolle spielen. Vom Gesamtum- satz von 9.756 Mio. € entfielen 2021 allein 4.239 Mio. € auf solche In-Game- und In-App-Käufe! Anders formuliert: Vom gesamten Umsatz mit Games als Software gehen knapp 78% auf diese sog. Mikro-Transaktionen zurück. Diese finden wir nicht mehr nur in sog. Free2Play-Spielen (wie der Candy Crush Saga, 2012), sondern auch in AAA-Spielen, für deren Anschaffung man 70 oder 80 Euro bezahlen muss, wie im Rennspiel Gran Turismo 7 (Polyphony Digital 2022) – was die Gamer übrigens teil- weise ganz schön verärgert. 2
Die wirtschaftliche Bedeutung der Branche ist also unstrittig, auch wenn einige Ge- F7 schäftsmodelle durchaus in der Kritik stehen. Wie sieht es aber mit der kulturellen Bedeutung und Anerkennung aus? Bis ins erste Jahrzehnt unseres Jahrtausends hin- ein wurden Computerspiele in öffentlichen Diskursen häufig behandelt wie im spä- ten 19. und frühen 20. Jahrhundert die sog. Schundliteratur, also als triviale und po- tenziell schädliche Medienprodukte. Das zeigte sich u.a. in der „Killerspiel-Debatte“, wie sie vor allem im Anschluss an den Amoklauf an einem Gymnasium in Erfurt 2002 breit geführt wurde, und zwar durchaus nicht nur in der Boulevard-Presse. Der damalige Innenminister Bayerns (Günther Beckstein) gilt als derjenige, der den Kampfbegriff „Killerspiel“ (für Shooter-Spiele wie Counter-Strike, 2000) geprägt hat. Er forderte ein generelles Verbot solcher Computerspiele. In die damaligen Debatten mischten sich allerdings auch die Gamer intensiv mit ein, die sich und ihr Hobby falsch dargestellt und verunglimpft fühlten, und sie fanden durchaus Gehör: Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Me- dien (BPjM) am 16. Mai 2002 entschieden hat, das umstrittene Spiel Counter-Strike nicht auf die Indizierungsliste der jugendgefährdenden Medien zu setzen. Im Rah- men des neuen Jugendschutzgesetzes, das im Anschluss an die Ereignisse in Erfurt verabschiedet wurde, wurde ab April 2003 eine gesetzlich verpflichtende Alters- kennzeichnung von Computerspielen durch die USK eingeführt – und Counter-Strike erhielt die Alterseinstufung „freigegeben ab 16 Jahren“! Das Vorhaben einer Prüfung des Verbots gewaltverherrlichender Computerspiele wurde zwar noch in den Koaliti- onsvertrag von CDU/CSU und SPD vom Nov. 2005 aufgenommen, allerdings nie um- gesetzt. Interessant ist, dass im Rahmen der kontroversen Debatten dieser Jahre auch die Frage aufgeworfen wurde, inwieweit nicht Geschmacklosigkeiten und Gewaltdarstel- lungen in Computerspielen in gleicher Weise durch die grundgesetzlich verbriefte Meinungs- und Kunstfreiheit gedeckt seien wie in Filmen, Romanen oder der Pop- musik. Zumindest Erwachsene müssten im Rahmen dieser Freiheiten das Recht ha- ben, sich auch mit solchen Medienprodukten zu beschäftigen (vgl. Zimmermann 2017). Außerdem sei die Entwicklung von Computerspielen ein kreativer Prozess, daher seien Computerspiele grundsätzlich ebenso ein Kulturgut wie Filme oder Ro- F8 mane. Tatsächlich erfolgte im Jahr 2008 im Sinne dieser Argumentation eine offizi- elle Anerkennung von Computerspielen als Kulturgut. Der Branchenverband game wurde als Mitglied in den Deutschen Kulturrat aufgenommen. Dies war die Voraus- setzung dafür, dass im Folgejahr der Deutsche Computerspielpreis (DCP) als ge- meinsame Initiative der Wirtschaft und des Deutschen Bundestags (vgl. 3
www.deutscher-computerspielpreis.de) ins Leben gerufen werden konnte. Mit dem DCP werden seither in verschiedenen Kategorien innovative Spiele „Made in Ger- many“ ausgezeichnet. Dennoch finden wir in öffentlichen Debatten weiterhin noch pauschal computer- spielkritische Positionen. Viel Resonanz hatte z.B. Manfred Spitzers Buch „Digitale Demenz“ von 2012, das digitale Medien für die Entwicklung von Kindern und Ju- gendlichen pauschal negativ bewertete und für eine rein bewahrpädagogische Medi- enerziehung plädierte. Spitzers Thesen zur Medienwirkung sind wissenschaftlich mehr als umstritten, aber er ist ein medienkritischer Medienprofi, der es versteht, seine Positionen öffentlichkeitswirksam zu verkaufen. Relativ populär sind derzeit Debatten um exzessives oder suchtartiges Gaming-Ver- halten. Gerade die vermehrte Hinwendung zu digitalen Spielen während der Corona- Pandemie wird gern als Indiz für eine Zunahme von Medien- bzw. Computerspiel- sucht betrachtet (vgl. DAK-Studie). Diese Debatten hängen auch damit zusammen, dass die WHO 2019 das Störungsbild „Gaming Disorder“ in die 11. Auflage der ICD aufgenommen hat, die seit Januar 2022 in Kraft ist. Alle seriösen Studien zeigen freilich, dass diese Problematik nur einen kleinen Prozentsatz der Spielenden betrifft (3,5%, vgl. Potzel et al. 2023). Laut ICD muss nicht zuletzt zwischen episodenhaften Formen exzessiven Spielens, die gerade im Jugendalter als normal gelten, und län- gerfristigen Störungen (mehr als 12 Monate) unterschieden werden. Also Vorsicht mit leichtfertigen Störungsdiagnosen! Die auf Risiken und Probleme fokussierten Positionen sind also weiterhin Teil der F9 gesellschaftlichen Rahmung für die pädagogische wie auch wissenschaftliche Ausei- nandersetzung mit Computerspielen. Daher bedarf eine positive oder aufgeschlos- sene Beschäftigung mit digitalen Spielen häufig immer noch einer besonderen Legi- timation. Meine Position, auf die Sie sich gern berufen können, ist klar: Digitale Spiele sind in mindestens zweierlei Hinsicht kulturell bedeutsam und insofern auch ein Phänomen, mit dem sich Wissenschaft und Pädagogik intensiv befassen muss. 1. Computerspiele sind ein relevanter Bestandteil der alltäglichen Medienkultur 2. Das digitale Spiel kann als Kunstform betrachtet werden, also als neues äs- thetisches Phänomen Beide Thesen sollen im Folgenden kurz erläutert werden. 4
1.1 Computerspiele als Bestandteil medialer Alltagskultur Wenn von Alltagskultur die Rede ist, wird ein weiter Kulturbegriff zugrunde gelegt, F10 wie er in der Kulturwissenschaft bzw. den Cultural Studies seit den 1960er Jahren vertreten wird, etwa vom Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Lon- don, das bis zu seiner Schließung 2002 eine wichtige Rolle bei der wissenschaftli- chen Hinwendung zu populärkulturellen Phänomenen gespielt hat. Gegenstände all- tagskultureller Untersuchungen können in dieser Tradition z.B. sein: Essen und Trinken, Autos, Mode, Werbung, Sport, Popkultur oder auch Kino und Fernsehen. Sie werden also ebenso als Ausdrucksformen von Kultur und von Auseinandersetzun- gen um kulturelle Deutungen betrachtet und interpretiert wie klassische Kulturgüter. Spannend in diesem Zusammenhang ist u.a. der Umstand, dass medial vermittelte fiktionale Geschichten, Welten und Charaktere häufig den Ausgangspunkt für krea- tive und eigensinnige alltagskulturelle Praxen bilden. Gerade im Umfeld fiktionaler Medienprodukte (wie Games) finden wir vielfältige Aktivitäten von Nutzerinnen, so z.B. Fan-Fiction, Fan-Sites, Fan-Communities, Let’s Play Videos oder Modding. Henry Jenkins (2006) nennt diese Medienkulturen participatory cultures, da sie auf aktiver Beteiligung der Nutzenden basieren. Das Feld dieser Medienkulturen ist sehr ausdifferenziert und komplex, auch für die meisten Games und Game-Reihen gibt es eine Fan-Basis, die sich heute primär über das Internet organisiert und artikuliert. Ich zeige hier nur eine kleine Auswahl von Beispielseiten: • ein Wiki zu den Assassin’s Creed-Spielen, F11 • ein Verzeichnis von Tomb Raider-Fanseiten, F12 • eine Fanseite zu einem einzelnen Spiel, Life is Strange, F13 • eine Seite mit Fan-Modifikationen für Minecraft F14 • und einen YouTuber, der das Spiel Hay Day vorführt und kommentiert. F15 In allen Fällen handelt es sich um Content, der nicht von den Publishern erstellt wurde, sondern von Fans. Wobei … man muss einräumen, dass auf YouTube und Streaming-Plattformen wie twitch.tv inzwischen auch etliche professionelle und semi-professionelle Akteure zu finden sind, die mit ihren Beiträgen Geld verdienen. Ähnlich wie Sport-, Film- oder Musikstars sind erfolgreiche und bekannte YouTuber für viele Heranwachsende Vorbilder, auch was den Berufswunsch angeht, aber das ist noch mal ein anderes Thema. Die alltagskulturelle Bedeutung der Games zeigt sich natürlich auch in aktuellen F16 Nutzungsdaten, wie sie z.B. durch die KIM- und JIM-Studien in regelmäßigen Ab- ständen bereitgestellt werden. Hier sei nur ganz kurz auf einige Daten verwiesen – 5
da die Studien im Netz frei zugänglich sind, kann man weitere Infos leicht selbst nachsehen. Der KIM-Studie 2020 zufolge spielen von den 6- bis 13-Jährigen 35% ein- oder mehrmals die Woche und 25% (fast) täglich digitale Spiele. Immerhin 26% geben an, nie digitale Spiele zu spielen (MPFS 2021). Laut JIM-Studie 2022 spielen von den 12- bis 19-Jährigen 6% nie digitale Spiele, 76% spielen regelmäßig (täglich/mehrmals pro Woche) (MPFS 2022). Die Nutzungsdauer wird in den JIM-Studien seit 2008 erhoben. Sie ist vor allem mit Beginn der Corona-Pandemie deutlich angestiegen und betrug: • 2008 im Schnitt 74 Min. an Werktagen [94 Min. am Sa./So.] (MPFS 2008) • 2018 im Schnitt 103 Min. an Werktagen [125 Min. am WE] (MPFS 2018) • 2020 im Schnitt 121 Min. an Werktagen [145 Min. am WE] (MPFS 2020) • 2022 im Schnitt 109 Min. an Werktagen [WE nicht ausgewiesen] (MPFS 2022). Interessant ist, welche Plattformen laut JIM-Studie 2022 zum Spielen genutzt wer- F17 den. Insgesamt nutzen – wie gesagt - 76% digitale Spiele täglich oder mehrmals pro Woche (♂ 84%, ♀ 68%). Die wichtigste Spielplattform ist das Smartphone (62% täg- lich oder mehrmals pro Woche). Es folgen Konsolenspiele (33%), Spiele am PC (30%) und Tabletspiele (23%). Man kann also sagen, dass das Smartphone die digitale Spielkultur verändert und auch vergrößert hat. Gestiegen ist mit dem Smartphone nicht zuletzt der Anteil weiblicher Jugendlicher, die regelmäßig spielen. 1.2 Computerspiele als Kunstwerke Wenn die These vertreten wird, dass Computerspiele nicht nur alltagskulturell be- F18 deutsam sind, sondern auch als Kunst betrachtet werden können, stellt sich natür- lich die Frage nach dem Kunstbegriff. Ich möchte an der Stelle auf die Position des Neoformalismus zurückgreifen, konkret auf die Filmwissenschaftlerin Kristin Thompson. Ihre These ist, dass „Kunstwerke“ im Unterschied zu anderen „Artefak- ten“ nicht im Hinblick auf ihren praktischen Nutzen betrachtet werden, sondern in ästhetischer Weise. „Im Gegensatz zur Alltagswahrnehmung verwickeln uns Filme und andere Kunst- werke in eine nicht-praktische, spielerische Form der Interaktion. Sie erneuern un- sere Wahrnehmungsfähigkeiten und andere mentale Prozesse, da sie keine unmit- telbaren praktischen Anforderungen an uns stellen. Gerät etwa der Held oder die 6
Heldin auf der Leinwand in Gefahr, so werden wir nicht etwa von unserem Platz auf- springen und uns als Retter anbieten“ (Thompson 1995, S. 28). Zentrale Annahmen des Neoformalismus, wie er von David Bordwell und Kristin F19 Thompson im Rahmen des sog. Wisconsin-Projekts (siehe auch Bordwell/Thompson 2012) begründet wurde, sind also: Im Alltag erfolge durch wiederholte, gewohnheitsmäßige Handlungen eine Abstumpfung unserer Wahrnehmungsfähigkeit Kunstwerken wird die Fähigkeit zur mentalen Erneuerung zugeschrieben, weil sie ein ästhetisches Spiel mit der Wahrnehmung betreiben und den Blick auf die Welt wieder öffnen können Kunstwerke bringen so den Alltag (und sein Nützlichkeitsparadigma) auf Dis- tanz. Meine These ist, das gilt auch für Computerspiele. Die Besonderheit hier ist, dass das ästhetische Spiel auch eine spielerische Handlungsdimension umfasst: anders als im Film kann bzw. muss ich im Spiel selbst die Rolle des Retters übernehmen, wenn es die Situation erfordert. 2 Bildung und Computerspiele Der Neoformalismus analysiert, wie Kunstwerke mit Gewohnheiten und Erwartungen F20 spielen (z.B. durch Verfremdung) und wie sie menschliche bzw. gesellschaftliche Su- jets variieren. Das Magdeburger Konzept der „Strukturalen Medienbildung“ unter- sucht Medien (wie digitale Spiele) ebenfalls in dieser Perspektive. Die in „medialen Artikulationen“ enthaltenen Spielformen werden als Reflexionsanlässe, und diese wiederum als „Bildungspotenziale“ interpretiert (Jörissen/Marotzki 2009; Fromme/Könitz 2014). Dabei wird eine Brücke zur Tradition der humanistischen Bildungstheorie geschla- gen. Dort wird Bildung als selbstreflexiver Prozess betrachtet, in dem das Verhältnis zur Welt (und zu sich selbst) verändert bzw. erweitert wird. Bildung wird also nicht material als Aneignung bestimmter wertvoller Inhalte bestimmt, sondern formal als Transformation des Subjekts. Wolfgang Klafki spricht in dem Zusammenhang von der Ausbildung dreier Grundfähigkeiten: Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestim- mungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit (vgl. Klafki 2007, S. 52). Bildungsprozesse können somit als Subjektivierungsprozesse betrachtet werden, bei F21 denen es zugleich um Orientierungsfragen geht. Gerade in spätmodernen Risiko- Gesellschaften, die durch nachlassende Verbindlichkeit traditioneller Orientierungen 7
sowie wachsende Kontingenz und Unbestimmtheit gekennzeichnet sind, sind Orien- tierungsfragen in der Welt und in Bezug auf die eigene Identität von hoher Relevanz. In dieser Hinsicht geht der Ansatz über die humanistische Bildungstheorie hinaus, da er an gesellschaftlichen Herausforderungen zurückgebunden wird. Die Struktu- rale Medienbildung geht davon aus, dass Medien als Kunstwerke für die Bearbeitung dieser Fragen und Herausforderungen nicht nur vielfältige Angebote, sondern auch Reflexionsanlässe bereitstellen. Dabei werden (in Anlehnung an Kant, vgl. Jöris- sen/Marotzki 2009, S. 31ff.) vier Dimensionen lebensweltlicher Orientierung unter- schieden: • Wissensbezug: Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen dessen, was wir F22 wissen können • Handlungsbezug: Frage, wie wir handeln und entscheiden sollen • Grenzbezug: Frage nach Grenzen des menschlichen Lebens (z.B. Umgang mit Endlichkeit, Technik [KI], Natur …) • Biografiebezug: Frage nach der Identität, die durch biografische Arbeit immer wieder hergestellt werden muss. 2.1 Beispiele für Bildungspotenziale von Computerspielen Ich möchte im Folgenden an einigen Beispielen schlaglichtartig zeigen, wie Compu- terspiele mit unserer Wahrnehmung spielen und zur Reflexion anregen können. Day of the Tentacle (1993) ist ein klassisches Point-and-Click-Adventure, bei dem mit der Zeit gespielt wird und der Reiz u.a. darin besteht, zeitliche Paradoxa zu nut- F23 zen, um das Spielziel zu erreichen. Die drei spielbaren Charaktere (Bernard, Hoagie, Laverne) sollen von Dr. Fred (Edison) eigentlich mit einer Zeitmaschine 24 Stunden in die Vergangenheit geschickt werden, um die Mutation einer Tentakel zur Purpur- Tentakel mit Weltherrschaftsphantasien zu verhindern. Allerdings landet Hoagie 200 Jahre in der Vergangenheit, wo er u.a. mit den US-Gründungsvätern Benjamin Fran- klin, John Hancock, Thomas Jefferson und George Washington interagieren kann, Laverne landet 200 Jahre in der Zukunft, in der die Tentakel die Welt beherrschen, und Bernard bleibt in der Gegenwart. Die insgesamt humoristische Darstellung trägt zur ironisch-reflexiven Distanzierung vom Alltag mit bei. Auch im Indie-Game Braid (2009) spielen wir mit der Zeit, hier allerdings in der F24 Form, dass die Zeit in jeder Spielsituation zurückgespult werden kann, um Fehler zu korrigieren. Hinzu kommt, dass man das Spiel, ohne es zu wissen, rückwärts vom Ende bis zum Anfang spielt, was am Ende (bzw. Anfang) zu einer kompletten 8
Infragestellung aller Annahmen über die Story und den spielbaren Helden führt, die man im Spielverlauf entwickelt. Eine Reflexion anregende mediale Besonderheit be- steht weiterhin darin, dass mit der digitalen Bildlichkeit gespielt wird: Man sammelt in jeder Spielwelt Puzzleteile, die auf einem gesonderten Bildschirm zusammenge- setzt werden. An einer Stelle kann eine Lücke im Spielparcour nur überquert werden, indem man ein Puzzle sozusagen in die Spielwelt einbaut. Es gibt auch Spiele, die mit der vielleicht größten Angst von Spielern digitaler Spiele F25 spielen, der Angst vor einem Absturz mitten im Spiel. In Batman Arkham Asylum (2009) wird ein Kontrollverlust der Spielfigur vom Spiel inszeniert wie ein Absturz des Spiels – erst nach einer Weile zeigt sich, dass es keiner ist, sondern eine irritie- rende mediale Umsetzung der Gefangennahme der Spielfigur durch den Joker. Eine Reihe von Spielen inszeniert für die Spielenden dilemmatische Entscheidungssi- tuationen. Ein bekanntes Beispiel ist die Action-Rollenspiel-Trilogie Mass Effect F26 (2007, 2010, 2012), in der der Spielende als Commander Shepard zahlreiche Ent- scheidungen fällen muss, die den Verlauf der Ereignisse (teilweise unvorhersehbar) beeinflussen. Was soll ich tun, wenn ich mich entscheiden muss, welche virtuellen Spielkameraden ich zu retten versuche und welche nicht? Welche Figuren versuche ich als Verbündete zu gewinnen? Soll ich einer KI vertrauen? Auch im Spiel Detroit: Become Human (2019) haben Entscheidungen des Spielenden F27 zum Teil weitreichende Konsequenzen. Sie können auch zum Tod der drei Spielfigu- ren führen, der in zwei Fällen dauerhaft ist (sofern man das Spiel nicht neu startet) und im dritten Fall (Connor) zu einer Art Reboot der Spielfigur führt. In dem Spiel geht es um eine fiktionale Zukunft, in der Androiden in vielen Lebensbereichen als Arbeitskräfte und Helfer eingesetzt werden, aber auch Ausgrenzung erfahren, weil Menschen sie für den Verlust ihrer Arbeitsplätze verantwortlich machen. Es geht um die Frage nach dem, was den Menschen menschlich macht. Die Besonderheit ist, es wird aus der Perspektive von drei Androiden (Connor, Kara und Markus) mit unter- schiedlichen Rollen und Aufgaben gespielt. 2.2 Computerspiele und Pädagogik Nach diesen exemplarischen und knapp gehaltenen Einblicken in das, was wir als F28 Bildungspotenziale von Computerspielen ansehen, soll es im Weiteren um die päda- gogische Thematisierung von digitalen Spielen gehen (vgl. auch Fromme 2017). Ausgangspunkt ist hier der Umstand, dass digitale Spiele selbst ein integrativer Be- standteil spätmoderner Gesellschaften sind und somit auch zur Steigerung von 9
Kontingenz und Komplexität beitragen. Das führt zur Frage, welche Fähigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen für die lebensweltliche Auseinandersetzung mit sol- chen Medien benötigt werden. Dass es dabei um mehr geht, als ein instrumentelles Nutzen- und Bedienen-Können, hat Dieter Baacke (1999) bereits in den 1990er Jah- ren in seinen Grundlegungen für eine moderne Medienpädagogik gezeigt. Ange- sichts der zunehmenden Bedeutung von Medien für die alltägliche Kommunikation hat er eine komplexe medienbezogene Kompetenz eingefordert, die vier Dimensio- nen umfasst: neben der Mediennutzung (rezeptiv und interaktiv) gehörte für ihn die Medienkunde, die Mediengestaltung und die Medienkritik dazu. Baacke ging davon aus, dass „Medienkompetenz“ auch bereits in der alltäglichen Mediennutzung erworben werde, dabei aber begrenzt bleibe auf das, was der Mensch zur „Bewältigung seiner realen, vorgegebenen Lebenssituation braucht“ (ebd., S. 52). Um insbesondere „Kindern und Jugendlichen aktive Medienpartizipa- tion“ vollumfänglich zu eröffnen (ebd., S. 56), müsse der Erwerb von Medienkompe- tenz gezielt medienpädagogisch gefördert werden. Da der Medienkompetenz-Begriff einige Nachteile hat, sprechen wir auch an dieser F29 Stelle lieber von Medienbildung und der Fähigkeit, sich im Kontext von komplexen Medienwelten zu orientieren. Der Vorschlag ist, sich pädagogisch vor allem um jene Fähigkeiten und Kenntnisse zu kümmern, die informell im Umgang mit den Medien selbst nicht erworben werden können. Jenkins et al. (2006) haben dargelegt, dass vor allem die Bearbeitung folgender drei Herausforderungen außerhalb der Hand- lungsmöglichkeiten Heranwachsender liege: • Das Problem fundamentaler Ungleichheit hinsichtlich des Zugangs zu digita- len Medien: Participation Gap • Die Grenzen der Möglichkeiten zur kritischen Reflexion der (verborgenen) Strukturen von Medien: Transparency Problem • Der Umstand, dass Heranwachsende bei der Entwicklung angemessener ethi- scher Normen für das Handeln in komplexen und heterogenen sozialen Um- gebungen an Grenzen stoßen: Ethics Challenge. Jenkins et al. fordern eine gezielte Förderung der für das 21. Jahrhundert benötigten „new media literacies“ (ebd.) in Schulen und außerschulischen Einrichtungen, wobei diese drei Herausforderungen in den Fokus gerückt werden. Wie könnte so eine medienpädagogische Förderung aussehen? Zu erinnern ist zu- F30 nächst an zwei grundlegende Prinzipien der (praktischen) Medienpädagogik, einer- seits die Lebensweltorientierung und andererseits die Handlungsorientierung. 10
Lebensweltorientierung bedeutet in Anlehnung an Klaus Grunwald und Hans Thiersch (vgl. Grunwald/Thiersch 2018), dass die Adressatinnen in ihren alltäglichen Lebensverhältnissen und mit ihren Problemen und Ressourcen im Zentrum des pä- dagogischen Interesses stehen. Für die medienpädagogische Arbeit folgt daraus, dass die lebensweltliche Nutzung und Bedeutung von Medien – hier Computerspie- len – in den Fokus rückt bzw. den Ausgangspunkt bildet. Handlungsorientierung bedeutet zunächst eine Abkehr von der Kontrollorientierung, wie sie lange Zeit charakteristisch für den pädagogischen Umgang mit Medien war. Heranwachsende werden als Akteure, also als mit Medien handelnde Subjekte ernst genommen. Im Zentrum der medienpädagogischen Arbeit stehen daher projektori- entierte Settings, in denen den Adressatinnen und Adressaten ein aktiver Zugang zu und Umgang mit verschiedenen Medien ermöglicht wird (vgl. Baacke 1999, S. 56). Zum Abschluss möchte ich kurz einige Ansatzpunkte für eine auf Computerspiele bezogene Medienpädagogik vorstellen, die sich der Bearbeitung der genannten drei Herausforderungen widmen. Participation Gap: Hier geht es darum, Zugänge zu Games und zu Spielkulturen und F31 damit Teilhabemöglichkeiten zu erweitern. Das kann auch heute noch bedeuten, Zugänge zu technischen Geräten und Spielsoftware anzubieten, die im Alltag der Adressaten z.B. aus finanziellen Gründen nicht verfügbar sind. Aus der sozialen Un- gleichheitsforschung ist aber auch bekannt, dass sich Nutzungsweisen in Abhängig- keit von sozialem Status und formalem Bildungsgrad unterscheiden. Die unter- schiedlichen Nutzungsmotive und Nutzungsweisen des Internets in Abhängigkeit vom sozialen Status und formalen Bildungsgrad werden beispielsweise als Gründe für eine Fortschreibung sozialer Ungleichheit im Sinne digitaler Ungleichheit disku- tiert (vgl. Iske/Kutscher 2020) – Dies wird als second level digital divide bezeichnet. Projektthemen in diesem Bereich könnten z.B. sein: • Barrierefreiheit in Computerspielen: Ziel wäre eine Sensibilisierung für Zu- gangsbarrieren für Menschen mit Einschränkungen, z.B. durch Spieletests evtl. auch in gemischten Gruppen; erprobt und diskutiert werden könnten an- gebotene technische und Software-Lösungen, die auf größere Barrierefreiheit zielen, aber auch soziale Unterstützungsmöglichkeiten. • Computerspiele auf YouTube: Ziel wäre, sich mit unterschiedlichen Nut- zungsweisen von Informations- und Unterhaltungsangeboten zu Games zu beschäftigen. Wer kennt/nutzt welche Angebote? Wer mag/kennt/meidet welche YouTuber und warum? Wie lassen sich die genutzten Angebote 11
charakterisieren und unterscheiden? Welche Lernmöglichkeiten sind hier evtl. vorhanden? Transparency Problem: Hier geht es um die kritische Reflexion der (verborgenen) F32 Strukturen von Games und Online-Plattformen. Man kann auch sagen, es geht um ein Medialitätsbewusstsein und Medienwissen im Zeitalter digitaler Medien, die durch Basiskonzepte wie Formalisierung, Algorithmisierung und Semiotisierung ge- kennzeichnet sind. Was verbirgt sich also an digitaler medialer Architektur hinter dem jeweiligen Endgerät? In diesem Zusammenhang wird teilweise gefordert, dass Heranwachsende Program- mieren lernen sollten, um ein Verständnis für digitale Medien zu entwickeln. Ich empfehle eher eine Orientierung an den Überlegungen von Seymour Papert (1994), der das Ziel verfolgt, Computertechnik durch eigene Konstruktionen spielerisch er- leb- und erfahrbar zu machen. Das erste vorgeschlagene Projektbeispiel ist daher: • Eigenes Game Design: Hier kann z.B. auf Projekte von Creative Gaming ver- wiesen werden, oder auf das Magdeburger Projekt „My Video Game“, bei dem im Sinne Paperts ein konstruktionistisches Erfahrungslernen durch die Ent- wicklung eigener Computerspiele ermöglicht wurde (vgl. Jonas/Jonas 2014) • Auf einer etwas anderen Ebene von Transparenz und Intransparenz setzen Projekte an, die sich (stereotypen) Genderdarstellungen in Games widmen (z.B. Groen 2017). Wie wird Geschlecht in Computerspielen visuell und auch spielerisch und narrativ konstruiert? Hierzu können z.B. Bilder von Spielcha- rakteren zusammengestellt und bewertet werden oder eigene Lieblingshel- den/-innen entworfen werden (vgl. auch Groen/Tillmann 2019). Ethics Challenge: Ziel ist hier, Heranwachsende für ethisch-moralische Fragen der sozialen Kommunikation und Interaktion zu sensibilisieren und bei der Entwicklung angemessener ethischer Normen für das Handeln in komplexen virtuellen Umge- F33 bungen zu unterstützen. Als Leitidee mag zunächst eine argumentative Diskurskul- tur fungieren. Bedingung für die Möglichkeit, Werte zu prüfen oder zu diskutieren, dürfte die Klärung und Bewusstmachung der eigenen Werte sein. Gefordert ist wei- terhin eine Empathie bzw. Offenheit für die Sphäre des Anderen und ein Bewusstsein dafür, dass Wertvorstellungen teilweise affektiv verankert sind. Da die Reflexion von Werten nach der Theorie der moralischen Entwicklung (Kohlberg 1996) insbesondere durch Dilemma-Geschichten gefördert wird, bieten sich diese als Bezugspunkt für die Auseinandersetzung an. 12
Themen für Projektbeispiele • Beschäftigung mit Computerspielen, in denen dilemmatische Entscheidungs- situationen eine wichtige Rolle spielen. Vorgeschlagen wird also die Nutzung von Games mit entsprechenden Reflexions- bzw. Bildungspotenzialen. Es könnten ergänzend dann auch eigene Dilemma-Geschichten und spielerische Umsetzungsideen entworfen werden (vgl. auch Spielraum 2018). • Umgang mit Belästigungen und Bedrohungen beim Gaming: Ausgehend von eigenen Erfahrungen (ggf. auch als „Täter“) sollen möglichen Strategien des Umgangs mit „toxischem“ Verhalten erarbeitet werden; ein Einstieg könnte hier der sog. „Bartle-Test“ sein (https://matthewbarr.co.uk/bartle/), mit dem eine eigene Zuordnung zu den Spielertypen „Killer“, „Achiever“, „Explorer“ und „Socializer“ in Multiplayer-Umgebungen ermittelt werden kann. 3 Ausblick F34 Inzwischen gibt es einige Beispiele für schulische wie außerschulische medienpäda- gogische Projekte mit Computerspielen. Aber ist die Lage der Medienpädagogik in der schulischen wie außerschulischen Bildungsarbeit zufriedenstellend? Geht so… Hier und da gibt es Problemchen (siehe auch Fromme 2012). Zunächst ist auf die nach wie vor geringe Nachhaltigkeit zu verweisen. Wir finden oft nur zeitlich befris- tete Einzelprojekte. Insgesamt ist Medienpädagogik nur in geringem Ausmaß insti- tutionell verankert, im Gegensatz zu allen Forderungen der Initiative „Keine Bildung ohne Medien“ (seit 2009, https://www.keine-bildung-ohne-medien.de/ueber- uns/). Gerade in Schulen gibt es nur vereinzelt medienpädagogische Fachkräfte, und auch kaum Fachkräfte für die technische Infrastruktur. Beide wären übrigens auch wichtig, um das Thema Digitalisierung wirklich voranzubringen – wichtiger als die massenweise Anschaffung von Tablets, Whiteboards oder Notebooks. Auch in finan- zieller Hinsicht haben wir es häufig nur mit befristeten Projektfinanzierungen und selten mit einer soliden Grundfinanzierung zu tun. Dies trifft vor allem auch für of- fene außerschulische Einrichtungen zu. Auf ein anderes Problem hat Benjamin Jörissen verwiesen: „Zwischen den kommerziellen Angeboten mit ihren für Kinder und junge Jugendliche nicht unerheblichen Problematiken (…) einerseits und den aus Medienschutzgrün- den zumeist auf dem techno-sozialen Stand der 1990er-Jahre verbleibenden nicht- kommerziellen Angeboten andererseits klafft eine Lücke, die hochgradig bedenklich ist. Nötig sind pädagogische, vorzugsweise nicht-kommerziell betriebene mediale 13
Umgebungen, die es Kindern ermöglichen, Erfahrungen zu machen, die bei hinrei- chendem Schutz dem Social Web strukturell entsprechen“ (Jörissen 2012, S. 67). Ganz so veraltet mögen die nichtkommerziellen Angebote inzwischen vielleicht nicht mehr sein, aber in der praktischen Medienarbeit gibt es nach wie vor einen er- heblichen Bedarf an Projekten, in denen Kinder und Jugendliche in relativ geschütz- tem Rahmen eigene Erfahrungen mit aktuellen digitalen und vernetzten Medien ma- chen können. Das setzt auf Seiten der Pädagogen/-innen auch ein Mindestmaß an eigenen Kenntnissen und Kompetenzen in Bezug auf die jeweils neusten Medien vo- raus. Das leitet über zum letzten Problem, das ich ansprechen möchte, der medienpäda- gogischen Aus- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte. Angesichts der zu- F35 nehmenden Komplexität und Intransparenz digitaler Medienkulturen können wir da- von ausgehen, dass auch diese Lern- bzw. Bildungsaufgaben nicht mehr nebenbei bewältigt werden können. In einigen Bundesländern wird daher im Lehramtsstudium die Möglichkeit geboten, eine medienpädagogische Zusatzqualifikation zu erwer- ben. In Halle (Sachsen-Anhalt) z.B. müssen dafür 35 zusätzliche Leistungspunkte erworben werden (neben den 240 bis 270 LP, die das Lehramtsstudium ohnehin umfasst). Ob dieses Add-On-Modell von vielen Studierenden gewählt wird, weiß ich leider nicht. Ich vermute aber, solche Modelle werden nicht ausreichen, um eine zeitgemäße Medienbildung in der Lehrerbildung – und nachfolgend in den Schulen – wirklich breit und nachhaltig zu verankern. Wenn man der gesellschaftlichen Bedeu- tung von (digitalen) Medien im Bildungsbereich wirklich gerecht werden will, müsste in der Schule Medienbildung als eigenes Fach eingerichtet werden. Eine Alternative könnte darin bestehen, medienpädagogische Fachkräfte an Schulen zu beschäftigen, die nicht Lehramt studiert haben, sondern Medienpädagogik oder Medienbildung als Hauptfach oder als zumindest als Schwerpunkt im Rahmen eines Bachelor- oder Masterstudiums. Diese Fachkräfte müssten freilich gleichberechtigt neben und mit den Lehrkräften agieren und nicht nur als deren „Hilfskräfte“ angesehen werden, wie das bei Schulsozialarbeitern z.T. der Fall ist. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit F36 Wer mehr erfahren will über die kulturelle Bedeutung des Computerspiels, dem sei folgender Band empfohlen, der in Kürze auch digital im Open Access verfügbar sein wird (Biermann/Fromme/Kiefer 2023). 14
Literatur Baacke, Dieter (1999). Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer. Biermann, Ralf/Fromme, Johannes/Kiefer, Florian (Hrsg.) (2023). Computerspielforschung. Interdisziplinäre Einblicke in das digitale Spiel und seine kulturelle Bedeutung. Opladen/Ber- lin/Toronto: Barbara Budrich. Biermann, Ralf/Fromme, Johannes/Unger, Alexander (2010). Digitale Spiele und Spielkultu- ren im Wandel. Zur Entstehung und Entwicklung partizipativer und kreativ-produktiver Nut- zungs-formen. In Sonja Ganguin/Bernward Hoffmann (Hrsg.), Digitale Spielkultur. München: kopaed, S. 61-78. Bordwell, David/Thompson, Kristin (2012). Film Art. An Introduction. Boston: McGraw-Hill, 10th Ed. Fromme, Johannes (2017). Computerspiele. In Bernd Schorb/Anja Hartung-Griem- berg/Christine Dallmann (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik. München: kopaed, 6., neu verfasste Auflage, S. 66-74. Fromme, Johannes (2012). Digital Games and Media Education in the Classroom: Exploring Concepts, Practices, and Constraints. In Johannes Fromme/ Alexander Unger (Hrsg.), Com- puter Games and New Media Cultures. A Handbook of Digital Game Studies. Dordrecht et al: Springer, S. 647-663. Fromme, Johannes/Hartig, Tom (2020). Let’s Plays als Szene informeller Bildung? Möglich- keiten und Grenzen partizipativer Medienkulturen im digitalen Zeitalter. In Valentin Dan- der/Patrick Bettinger/Estella Ferraro/Christian Leineweber/Klaus Rummler (Hrsg.), Digitali- sierung – Subjekt – Bildung. Kritische Betrachtungen der digitalen Transformation. Opla- den/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, S. 159-182. Fromme, Johannes/Iske, Stefan/Biermann, Ralf (2021). Diskussionsfelder der Medienpädago- gik: Digitale Spiele. In Uwe Sander/Friederike von Gross/Kai-Uwe Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-15. DOI https://dx.doi.org/10.1007/978- 3-658-25090-4_81-1. Printausgabe 2022, ebd., S. 679-692. Fromme, Johannes/Könitz, Christopher (2014). Bildungspotenziale von Computerspielen – Überlegungen zur Analyse und bildungstheoretischen Einschätzung eines hybriden Medien- phänomens. In Winfried Marotzki/Norbert Meder (Hrsg.), Perspektiven der Medienbildung. Wiesbaden: Springer VS, S. 235-286. Groen, Maike/Tillmann, Angela (2019). Let’s play (gender)? Genderkonstruktionen in digita- len Spielewelten. In Maike Groen/Angela Tillmann (Hrsg.), Digital Diversity. Wiesbaden: Springer VS, S. 143-159. 15
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